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Meisterwerke neuerer Novellistik. Erster Band
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Einleitung.

Die Novelle ist zu allen Zeiten gepflegt worden. Einer größeren Vorliebe erfreut sie sich jedoch erst seit der Zeit der Romantiker. Wenn nun die Gegenwart ihre Kultur besonders begünstigt, so dürften hier verschiedene Umstände gleichzeitig und günstig zu ihrer Entwicklung beigetragen haben. Der Naturalismus und nach ihm die Heimatkunst und in den letzten Jahren die Neuromantik haben den Sinn für das Einzelne, Subtile bis zur höchsten Vollendung ausgeprägt. Da nun die Novelle, im Gegensatz zum Roman, eine ebenmäßige Abrundung und Ausgestaltung eines Einzelvorgangs – in der Hauptsache – darstellt, so mußten sich bisher verschlossene Gebiete, namentlich der Seelenanalyse, der Novelle erschließen. Dazu kommt die Nervosität der Übergangszeit, die, wie sie auch auf andern Gebieten kurze, gedrungene Darstellungen einem zeitraubenden Studium vorzieht – man denke nur an die zahlreichen Anthologien und Breviere –, der kürzeren Novelle mit Dank und Verständnis entgegenkam. Die starke Produktion legte es den Verlegern nahe, ganze Novellenbüchereien einzurichten. Sie konnten dabei mit dem wachsenden literarischen Bedürfnis des Publikums, seiner höheren Bildung und besseren pekuniären Lage rechnen, Faktoren, die sich bei der Kalkulation als nicht trügerisch erwiesen haben. Doch fehlte bislang eine geschlossene Sammlung der Einzelheftchen in einem Werke. Dieses soll nun in der vorliegenden Ausgabe gegeben werden.

Denn wenn auch ältere Ausgaben der Art – ich denke besonders an die von Gottschall und Heyse und Kurz – bestehen, so dürften sie, wenn sie ihrer Zeit auch das Beste und Vorzüglichste boten, der Gegenwart ihrer literarischen Lücken wegen nicht mehr voll dienen. Eine Sammlung dieser Art soll aber nicht nur über einige tote Stunden angenehm hinweghelfen, sie muß auch ein ziemlich vollkommenes Bild des Gebietes geben, dessen Pflege ihr obliegt. Wenn in der vorliegenden Ausgabe nun auch nicht alle Namen vertreten sind, die dieser oder jener glaubt billigerweise erwarten zu dürfen, so muß bedacht werden, daß Sammlungen dieser Art bei Überwindung aller möglichen negativen Kräfte wohl nie auf absolute Vollständigkeit rechnen können. Doch dürften in der Hauptsache wohl alle Gebiete und Arten der Erzählung zur Genüge vertreten sein, so daß das Fehlen dieses oder jenes Autors an dem Gesamtbilde nichts ändert. Auch sind einige ältere Novellisten herangezogen worden, die die Brücke in die Vergangenheit schlagen und zu den Klassikern führen, deren Werke als Grundstock jeder Familienbibliothek gefordert werden müssen und denen die vorliegende Sammlung eine belletristische zeitgemäße Ergänzung sein will. – Des weiteren konnten, da die Grenzlinien, die von der Novelle zum Roman und zur Skizze führen, nicht fest gezogen sind, und Auslösungen breiten Spielraum gestatten, eine Anzahl guter Arbeiten in den Kreis eingezogen werden, die bei strenger Festlegung des Gebietes hätten ausgeschlossen werden müssen. Jedenfalls hüte man sich, die Elle als Begriffsmaßstab anzulegen.


Am nächsten bringt uns Levin Schücking an die Klassiker heran. Hat er auch keine Werke von unvergänglichem Ruhme geschaffen, so ist er doch auch in keinem von seiner achtunggebietenden künstlerischen Höhe in die Tiefen der Oberflächlichkeit gestiegen. Dazu war sein Gewissen als Künstler und als Westfale zu streng, und beides war er in glücklicher Mischung: ein echt westfälischer Künstler, der die Forderungen der Heimatkunst erfüllte, ehe dies Wort zum Schlagwort geprägt wurde. Gewiß hat er keine erschütternden und erlösenden Ideen in das Zentrum seiner Novellen und Romane gelegt, sie sind Unterhaltungsprosa alter Art, in der die Technik der Handlung mit ihrer Verwicklung, Steigerung und Lösung den Wesenskern bildete; doch sind sie eng mit der Natur seiner Heimat verbunden, atmen so unverkennbar echt westfälischen Heimatduft, daß gerade die Heimatwerke den Ruhm des Autors festhalten dürften. Zur Kenntnis westfälischer Landschaft und Charakteristik ihrer Bewohner, die er in ihrem ganzen wechselreichen Umfange und ihren verschiedenen Typen mit tiefer Beobachtung erkannt und mit seltener Treue zeichnete, dürften seine Schriften auch heute noch neben anderen modernen Erzeugnissen der Art bestehen. An die politische und Pamphletliteratur der vierziger Jahre erinnert der Name Karl Vogt, von dem ein Stück seines Humors und seiner packenden Anschaulichkeit auch in seine Novellen übergegangen ist. Da seine Bedeutung aber vorzugsweise politischer Art ist, kann hier auf eine ausführliche Würdigung seiner literarischen Arbeiten verzichtet werden.

Über Schücking und Vogt hinweg brauste der Sturm und Drang des jungen Deutschland, kam die Revolution mit Brand und Blut und ihren kühlen Nachwehen. An diese Zeit gemahnen die Novellen Johannes Scherrs, der als Politiker, Gelehrter und Dichter seiner Zeit mehr gab als der gebliebene Rest seines Ruhmes der heutigen. Die unentwegte Gesinnungstreue des Achtundvierzigers und sein derber Stil, dazu auch einige romantische Einschläge in seine Romane verschafften ihm eine Anerkennung und Bedeutung, die heute nur noch durch seine vorzügliche »Allgemeine Geschichte der Weltliteratur« und den »Bildersaal« aufrecht erhalten wird, wenngleich einzelne seiner Erzählungen und Romane von den Einseitigkeiten seiner Anschauungsweise und den Auswüchsen seines Stils frei sind und auch heute noch gern gelesen werden dürften.

Als sein Gegenpol könnte Otto von Roquette hingestellt werden, in dessen Dichtungen sich die zahme Gesinnung der späteren Jahre deutlich kundgibt. Wenn er auch Einspruch dagegen erhebt, als Maibowlendichter eingeschachtelt zu werden, so hat er doch trotz ernsthafter Versuche, diesem Milieu zu entrinnen (Gevatter Tod; Buchstabierbuch der Leidenschaft), in diesem sein und der Zeitstimmung Bestes geboten. Auch lassen sich in seinen Erzählungen immer wieder ein idyllischer Grundton, eine optimistische Daseinsbetrachtung feststellen, wie sie eben im stärksten Maße in »Waldmeisters Brautfahrt« vertreten sind. Von seinen besten Erzählungen gilt, was Löbner sagt, daß ein feiner Künstler, ein liebenswürdiger Mensch hinter ihnen stehe und sie deshalb so leicht nicht veralten würden.

In dieser geruhigten Zeit fanden auch die Erzählungen »Aus dem Ghetto« von L. Kompert, die schon 1848 veröffentlicht waren, Anerkennung und Bewunderung, zumal er sich in ihnen und den nachfolgenden (Böhmische Juden; Neue Geschichten aus dem Ghetto; Geschichten einer Gasse) von einer tendenziösen Färbung frei hielt und nur bestrebt war, bei einer gerechten Darstellung des Volkstypischen auch Andersgläubigen die seelischen Vorzüge seines Volkes zu zeigen, von der glaubensstarken Tapferkeit und den Nöten seines Volkes zu erzählen. Mit einer gewissen realistischen Darstellung verband er eine ergreifende Innigkeit der Schilderung, und beides und der versöhnende Ton seiner Erzählungen trugen dazu bei, sie vor der Vergessenheit zu bewahren.

Noch ein anderer Österreicher Stephan Milow wäre hierhin zu rechnen. Von Gottschall seinerzeit freudig begrüßt und auch noch von neuzeitlichen Literarhistorikern achtungsvoll behandelt, hat er sich, durch seine Lyrik gut eingeführt – seine Elegien und Liebeslieder dürften die wertvollsten Stücke enthalten – und nach einem mißglückten Drama (König Erich) seinen Ruhm dann durch seine Novellen (Verlorenes Glück; Wie Herzen lieben; Arnold Frank) befestigt und verstärkt. Wenn er sich auch nicht immer von Künsteleien frei gehalten hat, so zeichnet sich doch die größte Anzahl seiner Novellen durch eine bescheidene, anspruchslose Führung der Handlung, die trotzdem zu fesseln weiß, und durch seine psychologische Erfassung eigenartiger Seelenvorgänge aus. Er verschmäht allen äußerlichen Aufputz und jegliche romanhafte Ausschmückung durch Raffinement der Geschehnisse oder Konflikte. Er ist stets ruhig und still seinen Weg gegangen, ohne sich je in den Vordergrund zu stellen, so ist er in Deutschland unverdientermaßen wenig bekannt geworden.

Auch Ernst Eckstein wurzelt in dieser Epoche, die die Geschichte neu belebte und den historischen Roman begünstigte. Doch trotz seines fließenden Stils und der oft glänzenden Pracht seiner Schilderungen hat er doch weniger im Roman, denn in den Novellen sein Bestes geboten, weniger in den flachen Schulhumoresken, denn in seinen italienischen Erzählungen, »die sich durch belebte Handlung und landschaftlichen Glanz« auszeichnen.

Mehr noch als Eckstein hat Adolf Stern den geschichtlichen Roman gepflegt (Die letzten Humanisten, Camoëns). Ihnen schließen sich zwei mehr dem modernen Leben entnommene (Bis zum Abgrund; Ohne Ideale) an. Die Zahl seiner Novellenbändchen ist groß. Die besten Erzählungen stellte er in strenger Selbstkritik zu den »Ausgewählten Novellen« zusammen. Sowohl in den geschichtlichen wie den modernen Romanen hat Stern die Darstellung des Historischen oder Kulturellen nicht als Endzweck betrachtet, sondern durch sie stets nur das Allgemein-Menschliche in seiner besonderen Färbung gezeigt, in den »letzten Humanisten« z. B. die Widerspiegelung humanistischer oder strenggläubiger Zeitideen in den Charakteren seiner Vertreter, in »Ohne Ideale« die Rückwirkung der Moderne in ihren verschiedenen Lebensauffassungen auf die gesellschaftlichen Zustände. So gehen Geschichte und Kultur restlos in der dichterischen Behandlung auf. Doch wenn auch seine Romane, namentlich »die letzten Humanisten«, sich einer stets wachsenden Anerkennung erfreuen, dem Erzähler Stern dürfte trotzdem die erste Palme zu reichen sein. Von strenger Komposition bezeugen seine Novellen eine Lebenswahrheit, die den Verfasser dauernd in die Reihe deutscher Meistererzähler stellen wird. »Man bewundert nicht nur des Dichters Formvollendung, Gestaltungskraft und Darstellungskunst,« sagt G. Klee, »sondern man fühlt sich auch innig ergriffen durch das warme Mitempfinden, das gesunde und tief-fühlende Herz, das diesen Dichtungen das eigentliche innere Leben verleiht.« Seine Erzählungen entsprechen vollkommen der Definition Vischers, »daß sie nicht das umfassende Bild der Weltzustände, sondern nur einen Abschnitt daraus geben sollen.« Und wenn auch in einzelnen Novellen Erinnerungen an die Technik Tieks wachgerufen werden, so ist doch, wie Löbner hervorhebt, Stern psychologisch tiefer, warmblütiger und gemütvoller. Und Richard Stiller urteilt in einer Studie über die Prosakunst Sterns: »Überblickt man Adolf Sterns gesamte dichterische Tätigkeit, so wird man finden, daß der Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens auf seinen Novellen ruht, in die er, da er kein ausschließlicher Lyriker ist, den Reichtum seines lyrischen Empfindens ausgießt. Obwohl er einige seiner Stoffe, die er mit Vorliebe und besonderem Glück der Geschichte entnimmt, auch im breiten Rahmen epischer Dichtungen und Romane ausgeführt hat, liegt seine Hauptstärke doch in seiner Kunst, mit wenigen sicheren Zügen einen deutlichen stimmungsvollen Hintergrund aufzurichten, der die vergangenen Kulturzustände in bewundernswürdiger Treue spiegelt, und ihn mit den Gestalten klar aber knapp gefaßter Erzählungen zu beleben, die vor allem durch ihren rein menschlichen und poetischen Gehalt fesseln. Den meisterhaften Charakteristiken seiner Menschen stehen seine bewundernswürdigen Naturschilderungen, die oft schon mit ein Paar Linien die ganze Szenerie festhalten, würdig zur Seite.«

Als moderner Vertreter des Geschichts- und Reflexionsromans darf August Niemann betrachtet werden (Die Grafen von Alten Schwert; Eulen und Krebse; Des rechten Auges Ärgernis), der dann weiter namentlich (Backchen und Thyrsusträger) die Scheinkultur und den Materialismus unserer Zeit geißelt, wie denn überhaupt sein Eigenwert darin bestehen dürfte – von den rein militärischen Werken abgesehen – seine Gestalten und Ideen auf den Boden einer Weltanschauung zu stellen, die den Buddhismus und den Platonismus mit den Ergebnissen moderner Wissenschaft verbunden zeigt. Begegnen wir demgemäß in seinen Werken Denkern aller Art und breit ausgeführten wissenschaftlichen Diskussionen, so überwuchern diese doch nicht den Entwurf der Handlung derart, daß der ganze Aufbau darunter litte. Stets weiß er durch Maß und lichtvolle Hebung der künstlerischen Auffassung seine Romane über das Niveau starrer Tendenz und des lieben Durchschnittsmaßes zu heben. Sein bekanntester Roman der letzten Jahre »Der Weltkrieg« ist in alle lebenden Kultursprachen übersetzt und in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet.

Außer dem Freiherrn von Dincklage, dessen Militärerzählungen als Unterhaltungslektüre vielfach begehrt sind, gehört der Norddeutsche Wilhelm Jensen noch hierhin. Dieser erinnert in seinen weichen traumhaften Stimmungen vielfach an Th. Storm, in seinem Humor an W. Raabe. Den Lyriker hat Jensen auch in seinen Prosaschriften nicht zu verleugnen gewußt. Seine Bedeutung als Erzähler liegt in der Wiedergabe geschichtlicher Kulturzustände, in die hinein er seine Gestalten verwebt, namentlich hat er die Zeit des Dreißigjährigen Krieges (Aus schwerer Vergangenheit; Über der Heide; Ein Menschenalter später; Um den Kaiserstuhl) und die Umwälzungen der französischen Revolution (Nirwana) dichterisch zu erfassen versucht, ohne jedoch seine Persönlichkeiten allein durch den Geist der Zeit zu beleben. Ihre Charakteristik erscheint zuweilen forciert, ins Superlative hineingehoben. Immer jedoch erfreuen der Glanz seiner farbenreichen Stimmung und seines eleganten Stils, seine lebendige Darstellung sowohl in den Geschichts- wie kulturellen Zeitromanen, seine versöhnende Perspektive in der Darstellung divergierender Zeitströmungen und seine vornehme Denkweise.

Eine ebenso sonnenhelle Natur ist Victor Blüthgen, der seine heitere Kunst in zahlreichen Jugendschriften und Märchen niedergelegt hat; aber auch als Romancier (Aus gärender Zeit; Poirethouse; Der Preuße; Die Stiefschwester) hat er Bedeutendes geleistet. Seine Novellen sind geschickt, doch ohne übertriebenes Raffinement aufgebaut; ein Strom warmer Leidenschaft belebt sie und stellt die seelischen Eigenschaften seiner Charaktere vorteilhaft hervor. Fritz Droop sagt von dem Dichter:

»Victor Blüthgen gehört zu den wenigen hervorragenden Talenten, die weder zu den Epigonen, noch zu den Modernen zu rechnen sind; die sich zwanglos bald den Normen der Alten fügen, bald dieses, bald jenes mit den Neueren gemein haben. Er partizipiert demnach an dem Ruhm dieser Übergangstalente, die insofern Bedeutung für die Entwicklung der modernen Literatur haben, als sie fortwährend die Verbindung zwischen alter und neuer Kunst herstellen und aufrecht erhalten. Was Peter Rosegger einst von sich selbst bekannt hat, das paßt auch auf Victor Blüthgen, nämlich, daß er sich nicht hat betören lassen von jener Lehre, daß der Poet neben dem Schönheitprinzipe keine Absicht haben solle, aber auch nicht von jener, die im Dichterwerke nur Zweck will, sei es nach dem Idealen oder Materiellen hin.

Er hat die Menschen genommen, wie sie das Leben gab, aber er hat sie nach eignem Ermessen beleuchtet. Er hat die hellsten Lichtpunkte dorthin fallen lassen, wo er das Schöne und Gute zu finden hoffte. Er hat des Niedrigen gespottet, das Verderbliche bekämpft, das Vornehme geehrt, das Heitere und das Versöhnende gesucht.

Blüthgen hat im Gegensatz zu den schnellebenden Menschen der Gegenwart meist stille, glückliche Gestalten ohne ausgeprägte Leidenschaft geschaffen; Menschen, die sich noch zu erfreuen vermögen an der Herrlichkeit der Gotteswelt, deren zartbesaitete Seelen erfüllt sind mit warmer Sehnsucht nach der Natur; die andächtig lauschen, wenn am murmelnden Quell des Vögleins Lied ertönt. Der Dichter gehört eben selbst zu den Bevorzugten, die er in der Novelle ›Die schwarze Kaschka‹ als die glücklichen Sonnenkinder bezeichnet, die ihr schöner Instinkt zwingt, den leuchtenden Strahlen des Glückes nachzugehen und sie zu finden, und zu flüchten vor düsteren Schattenarmen, die sich nach ihnen ausstrecken; die dem blühenden Leben um den Hals fallen und es küssen wie eine Geliebte.«


Um zu den Dichtern überzugehen, die mit ihrem Empfinden mitten im Strome modernen Lebens stehen, wäre zunächst Wilhelm Weigand zu nennen. Er ist, namentlich wegen der 1889 erschienenen »Frankenthaler« eine Zeitlang den Heimatdichtern zugerechnet worden. Das geschah, da die Heimatkunst zu ihrer Proklamationszeit auf die Suche nach Vorbildern ging. Wenn auch diesem Roman ein lokales Kolorit nicht abzusprechen ist, so liegt das Wesentliche der Weigandschen Kunst doch nicht im Heimatlichen, sondern in der Darstellung der Schönheit, die er in ihren Erscheinungen und Betätigungen künstlerisch zu erfassen und restlos wiederzugeben versucht, sowohl in seinen Gedichten und Dramen, als auch in seinen Novellen, ja seine feierliche Art, alles, was er sinnend – und zuweilen etwas ironisch lächelnd – besieht und berührt, in Schönheit zu tauchen, birgt die große Gefahr in sich, der auch Weigand nicht entgangen ist, sich in der Charakterzeichnung zu wiederholen und, da er alles von der schönen Höhe seiner erträumten Lebensauffassung aus beschaut, der Wirklichkeit des Lebens mit ihren rauhen Kanten und Ecken und ihren gramverzerrten Zügen auszuweichen. Ich weise auf die vortreffliche Einleitung hin, die Holzamer den beiden Erzählungen des Dichters vorangesetzt hat. Er charakterisiert dessen Gesamterscheinung mit den Worten: »Ein feines Genießen, eine genußvolle Verarbeitung, eine reife und gewählte Bildhaftigkeit. Nirgends banal, immer auf einer gewissen Höhe, immer vornehm ... Sein Grundmotiv bleibt die Schönheit, die erhöht und erfüllt, zu der alles strebt, als zu einer Befriedigung geradezu und einer Ganzheit. In dem Verhältnis zu ihr tut sich das Wesen des Menschen auf, scheiden sich geradezu die Menschen voneinander. In ihnen strebt ihre Abstraktion zur Verwirklichung. Und mit einer leisen, schweigenden Geste, gemessen und distinguiert, wird man in seinen Novellen zu ihr geladen.«

Viel tiefer und wahrer und echter erfaßt Detlev von Liliencron das Leben in seinen Höhen und Tiefen, energischer und lebendiger. Er ist ein echter Lebenskünstler, ein Dichter des Lebens und der Sinne. Das offenbart seine ganze Dichtung, zum Teil auch seine Novellistik, die hier allein in Betracht kommt. Was das Leben ihm an Sonnen und Güten, an Schmerzen und Enttäuschungen geboten, er hat es gekostet bis zur Neige. Er sagt: »Ich will hinein ins Leben, die Menschen will ich mit mir reißen, ein Eroberer will ich sein!« Ja, »mit blinden Händen«, mit einer prachtvoll-naiven, selbstverständlichen Sinnlichkeit hat er sich ins Leben gestürzt und seine Wonnen dem Philister mit lachender Freude erzählt. Lachend und sorglos. Diese Verachtung des Herkömmlichen hat sich auch vielfach auf die Technik seiner Erzählungen übertragen, die, wie »Die Mergelgrube« und »Die Schnecke« durch ihre Formlosigkeit aller Technik Hohn sprechen. Was aber diese Zügellosigkeit ihnen an Wert raubt, wird durch das warmblütige Leben, das in ihnen rauscht, mehr denn doppelt ersetzt. – Strenger geformt sind seine Kriegsbilder. Hier, wo er in lyrischen Augenblicksbildern Einzelzüge zu anschaulicher packender Darstellung bringt, wird er auch den strengeren Richtern der Ästhetik gerecht. Mit einer ruhigen Gelassenheit und doch jugendlichen Begeisterung zeichnet er Strich für Strich, bis ihre ganze schauerliche Schönheit in naturwahrer Beleuchtung vor uns steht. – Mit seiner brünstigen Liebe für tatkräftiges Leben verbindet sich eine tiefe Naturverehrung, ein starkes Heimatsgefühl. Ein würziger Duft von Wald, Heide und Marsch steigt aus seinen Erzählungen auf und tränkt die Stimmung. Er ist in noch stärkerem Maße Norddeutscher wie Weigand Süddeutscher, ja man darf behaupten, daß die von Jugend an in ihm lebendige Heimatkraft den Dichter erzogen und geweckt hat. Die Frische seines Stils, die Anschaulichkeit der Schilderungen und die heimatliche Grundstimmung bilden den Hauptwert seiner Novellen.

In der Heimat ist auch die Kunst Wilhelm Holzamers geboren, wenngleich er sich in seinen späteren Werken von ihren beengenden Grenzen befreit hat. Beengend insofern, als zur Darstellung gewisser Menschheitsideen der kleine Horizont der Heimat eben zu eng ist. Und unsere Kultur wurzelt nicht allein in der Heimat. Ein starres Steckenbleiben in ihr mußte dann zur Winkelkunst werden, die wohl kulturhistorischen aber keinen Ewigkeitswert in sich birgt. – Heimatkünstler ist Holzamer in seinen Skizzenbändchen »Auf staubiger Straße«; »Im Dorf und draußen« und den Novellen »Peter Nockler« und »Der arme Lukas«. Liebevoll, aber durchaus nicht beschönigend charakterisiert er Land und Volk. Hauptgewicht legt er stets auf peinliche Sezierung des Charakters, den er bis in seine geheimsten Tiefen aufzudecken sucht. Ich denke dabei auch an seine späteren Novellen, mit denen er das Gebiet der Frauenbewegung betreten, »Die Sturmfrau«; »Inge«; »Ellida Solstratten.« Der Sehnsucht der modernen Frau nach einer Weiterentwicklung ihres weiblichen und menschlichen Wesens zu einer schönen Harmonie hat er in diesen Büchern die Erfüllung geben wollen. Ich glaube aber, daß er mehr Antithese zur sklavischen Frau der Vergangenheit gegeben und in seiner allzu starken Betonung des Menschlichen die Harmonie zerstört hat. Gewiß hat Holzamer in seinen Heimatbüchern abgeschlossenere einheitlichere Kunst geboten; hier brauchte er nur zu gestalten, was jahrhundertalte Kultur gereift hatte, in der Gestaltung seiner ringenden und suchenden Frauencharaktere aber war er nur auf die problematische Kultur der Jetztzeit angewiesen und die ungewissen Richtlinien, die in die Zukunft weisen. Ist er in den ersten Werken nur gestaltender, so in den letzten auch schöpferischer Künstler. Und wenn er hier das Typische des Zukunftsideals nicht immer rein getroffen hat, das Typische der Jetztzeit, wie es in einigen selbstherrlichen Einzelcharakteren sich bietet, jedenfalls. »Irrtümer,« sagt Hebbel in seinem Tagebuche, »sind der Menschheit ebenso nützlich, wie des großen Mannes Wahrheiten.« Künstler ist Holzamer in seinen dörflichen Wahrheiten, ein größerer Künstler in seinen Irrtümern.

Nicht so tief schürft ein naher Landsmann Holzamers, der Thüringer Trinius, ein frohgemuter Wanderer, der, was er sieht und empfindet, in leichten, anmutigen Erzählungen niederlegt, die vollkommen dem Naturell der heiteren Thüringer entsprechen.

Von neuzeitlichen Schriftstellern wäre dann noch Anton von Perfall zu nennen, der gute Jagdgeschichten geschrieben hat. In anderen sucht er gärende Probleme der Jetztzeit zu erfassen und den in ihnen gezeichneten Charakteren eine typische Bedeutsamkeit zu geben. – Und Richard Nordhausen, der mit bedeutsamen Epen begonnen Joß Fritz; Der Landstreicher; Vestigia Leonis), erst später zur Novelle (Urias Weib; Gespenst) und zum Roman (Die rote Tinktur; Was war es?) übergetreten ist. In beiden hat er Bedeutsames geleistet, ohne jedoch auf der Höhe, die er in Vestigia Leonis so kühn bestiegen, dauernd geblieben zu sein.


Ich käme nun zu einer Gruppe ausgesprochener Heimatkünstler, zumal Österreicher oder doch Süddeutscher. Da ist zunächst Ludwig Anzengruber. So interessant und verlockend es auch für mich wäre, diesen Dichter als den Meister des modernen Volksstücks zu charakterisieren, ich muß mich auch bei ihm mit der Skizzierung des Prosaschriftstellers begnügen. – Wie schon in seinen Dramen eine besondere Vorliebe für die ländlichen Typen auffällt, die er mit großer Liebe zeichnet, so noch mehr in seinen »Dorfgängen« und »Geschichten«, in denen sein psychologischer Drang sich gerade der Dorfseltsamen angenommen hat, um aus der besonderen Art ihres Standes das Allgemein-Menschliche herauszuholen, wenngleich dies Vorhaben oft unter einer Fülle abenteuerlicher Erzählungen verdeckt erscheint. Größer erscheint der Dichter in seinen Romanen »Der Schandfleck« und »Der Sternsteinhof«. Ersterer zeigt zwar auch in der auf Anraten Bolins erfolgten Umarbeitung zum reinen Dorfroman noch technische Unebenheiten, der zweite dagegen ist ein Kunstwerk, der Anzengrubers Ruhm allein schon sichern würde. Die konsequent durchgeführte, psychologisch einwandfreie Charakteristik der Heldin, mit der die Idee des Künstlers steht und fällt, ist wunderbar. Anzengruber sagt, »er hätte zeigen wollen, wie es auf der Welt zuginge.« Das hat er mit harter Treue getan und ist dadurch allen Sonntagsdorfdichtern und auch Auerbach, dessen Einfluß auf seine ersten Schriften nicht wegzuleugnen ist, durch seine realistische Schilderung, die auf tiefer Kenntnis und feinster Beobachtung – bei der bekannten Aversion des Dichters gegen landläufige Naturbeobachtung muß der Ausdruck im weiteren Sinne genommen werden – und mitfühlendem Verständnis basierte, entgegengetreten. David sagt in seiner Monographie über den Dichter: »Er war durchdrungen von der Fülle des Lebens und von seiner Liebe. In die Bergschlucht sogar, in die der Held (des Schandfleck) seinen verruchten Gegner mitreißend stürzt, läßt er einen Strahl davon gleiten. Der Optimismus ist ihm in einer Weise Herzensbedürfnis, wie kaum einem zweiten. Er bekennt das Leben immer wieder; hellauf und fröhlich sein und das Rechte tun – dies allein ist notwendig. Und in diesem feinem Bekenntnis, würde es allgemein begriffen und geübt, läge sein Wert als Erzieher für unser nur zu leicht verzagtes Volk.« »Die Spuren seiner Wirksamkeit zu tilgen, ist keine Zeit mehr mächtig genug. Und immer wieder wird man zu seinen Werken greifen, denn in ihnen spricht ein Kundiger der Herzen, der mit den einfachsten Mitteln, fast mit Urelementen arbeitet und seine größten Wirkungen erzielt; hier ist Fülle und wahrhafte Erquickung.«

Das Leben ist Anzengruber nicht in lauter Sonnentagen dahingerauscht, er hat schwer ringen und darben müssen. Glücklicher war sein Freund Peter Rosegger, freilich in seinen Schriften, mit Ausnahme einiger letzten, religiös gefärbten, weniger tiefgründig. Seine Erzählungen sind nie ganz absichtslos, sind tendenziös oder didaktisch angehaucht, ohne daß dieses auch nur plump oder gar nur angedeutet hervorträte. Es liegt aber in der ganzen Art seines Schaffens und läßt sich aus den Charakteristiken und Ideen seiner Gesamtwerte herausschälen; denn in dem Einzelwerk kommt nur die schlichte und anspruchslose Erzählung zu Wort. Aber in dieser scheinbaren Kunstlosigkeit liegt eben seine Kunst, die kein Wort zuviel, aber auch keins zu wenig sagt, um die volkstümliche Stimmung festzuhalten, die er zu seinen Erzählungen nötig hat. Mit dem Worte »volkstümlich« ist schon angedeutet, daß der Untergrund seiner Geschichten der Volkscharakter der deutsch-österreichischen Älpler ist. Selbst ein Kind der Berge kennt er Land und Leute aus eigenster Lebenserfahrung und scharfer Beobachtung. Dem Bauer gilt seine ganze Liebe, in ihm erblickt er den einzig gesunden Volksbestandteil seines Vaterlandes. Ich, der ich selbst von einer tiefen Verehrung für diesen, aus den Werten ganzer Jahrhunderte hervorgegangenen und diese zum Teil noch in sich bergenden Stand erfüllt bin, aber auch den Kulturwert der Stadt nicht verkenne, glaube, daß Rosegger in einseitiger, selbst bäuerlich-starrer Voreingenommenheit vielfach die städtische Kultur zu arg mitgenommen und ihre Bedeutung nicht recht eingeschätzt hat. So hat er seine aufrichtigsten Verehrer im Volke, aus derem Schoße auch seine Schriften hervorgingen. Wie Anzengruber ist er ebenfalls bewußter Optimist – in ihren Schriften kommt kaum ein Selbstmord vor – ein rechter Sohn seines lebenskräftigen Heimatlandes. Tragische Töne findet er nur dann, wenn er die allmähliche Zersetzung des Bauernstandes schildert (Jakob der Letzte; Das ewige Licht), wie sie unter der unvermeidlich vordringenden städtischen Kultur, die weder Verständnis noch Hochachtung vor dörflicher Sitte und dem Dorfgesetz kennt, eintreten muß. – Weil der Dichter eben mit allen Fasern seiner Seele im Volkstum wurzelt, kann er zu kaum anderen Anschauungen gelangen. Anton Bettelheim betont besonders, daß das Naturell des Dichters in ungewöhnlicher Reinheit den Volkscharakter des Älplers offenbare; »die derbe, sinnliche Lebenslust des Bauernburschen, dem es am wohlsten ist, wenn er bergansteigend dem Schatz auf der Alm jodelnd und jauchzend sein Kommen, seine Liebe und sein Werben ankündigt, findet in Rosegger einen so sichern Dolmetsch, wie die schweren Himmel- und Höllenfahrt prüfenden Zweifel der Bergleute, die auf ihrem Abstieg in die Unterwelt der Salz- und Eisenwerke in endlosen, einsamen Arbeitsstunden auch in die Rätsel und Widersprüche von Kirchenglauben und Weltordnung niederteufen. Über alle Not des gemeinen Lebens hebt jedoch Roseggers Eigenbrödler und Naturkinder der Arbeitsmut, der Lebensmut und der Frohmut empor: Wundergaben, die sie befähigen, mit wenigem sich zu begnügen, jede Prüfung mit christlicher Ergebung in unerforschliche Gewalten zu tragen, die kleinste Gunst des Schicksals mit überschwenglicher Laune zu verherrlichen.« Am wohltuendsten berühren die Werke, in denen der Dichter ans seiner objektiven Reserve hervortritt (Waldheimat; Als ich noch jung war; Schriften des Waldschulmeisters), da der warme Ton des Dichters unwillkürlich ihn und die bäuerlichen Zustände mit einem die dörflichen und städtischen Gegensätze versöhnenden Hauche umweht. Lulu von Strauß und Torney sagt darüber in ihrer Studie »Die Dorfgeschichte in der modernen Literatur«: »Ob wir nun in die Alphütte zu den schlichten Bauersleuten hineinschauen, denen der Sohn in seinem ›Weltleben‹ ein so wunderbar schönes Denkmal gesetzt hat, – ob wir mit dem Schneiderbuben von einer ›Ster‹ zur andern, vom ›Bachrüppel im Fischgraben‹ zum ›Bauer auf der breiten Eben‹ ziehen, – ob wir mit dem Waldschulmeister, jener echt deutschen, mystisch-grübelnden und doch so kindlichen Seele, durch die Wälder um Winkelsteg wandern, in die Hütten der Pecher und Holzer einkehren, uns an der Waldlilie freuen oder am alten Rüpel, jener Verkörperung des ›allwaltenden, allumfassenden und unfaßbaren Sängertums des Volkes‹ – überall ist es dasselbe urwüchsige Sein in und mit der Natur, derselbe schalkhafte Humor, dasselbe ›wunderliche Seelenleben, welches sich in dem Schatten der Tannenwälder, in den tauigen Wiesentälern und auf den stillen Hochmatten entwickelt‹.«

Als einer der treuesten Pioniere deutscher Art verdient Adolf Pichler genannt zu werden, gleichbedeutend als Gelehrter, Dichter und Mensch, ein Kind seiner Tiroler Heimat, deren schroffe Härten und freiheitliche Gesinnung er sein Lebtag gern hervorkehrte, und die ihm als Staatsbelohnung eine mißtrauische Beaufsichtigung eintrugen. Aber vielleicht entquillt seinem leidenschaftlichen Deutschtum ein größerer Segen, denn seinen Dichtungen schlechthin; vielleicht ist es der stimmunggebende nationale Grundton seiner Erzählungen, dem der starke Einfluß zuzuschreiben ist, den er auf die Literatur seiner jüngeren Heimatgenossen ausübte und sie dadurch dem Deutschtum rettete, die Kraft seiner urwüchsigen Persönlichkeit und nicht der rein ästhetische Wert seiner Werke; wenngleich auch dieser nicht gering anzuschlagen, ist Pichler doch nach der Zeit des Minnegesangs der erste heimatliche Dichter, den Tirol aufzuweisen hat. Sein literarischer Ruhm gründet sich namentlich auf die Novellen, »schlichte, einfache Erzählungen, ohne viel Aufputz«, wie er sie selbst einmal nennt. Der strenge Ästhet fände an der oft wunderlichen Komposition vielleicht des öfteren etwas auszusetzen. Wenn Hugo Greinz über Liliencron schreibt: »Er arbeitet nicht nach Regeln, nicht ästhetisierend. Die Art und Weise, wie er schrieb, war für ihn überhaupt nur die einzig mögliche, die einzig individuell bestimmte, die von der eines jeden andern durch das tonangebende Moment des persönlichen Verkehrs streng geschieden ist«, so läßt sich dies mit ebenso starker Berechtigung von der Kunst Pichlers sagen. Sein Stil war er selbst, wie er denn auch in jede seiner charakteristischen Figuren einen Teil seines Selbst legte. Nicht um die literarische Fixierung geschichtlicher Tatsachen war es ihm zu tun, sondern um die Herausarbeitung historisch und landschaftlich bedingter Charaktere. Hierin gleicht er Adolf Stern, wie er auch gleich diesem auf die Charakterisierung größten Wert legte. Darin liegt das Geheimnis seiner naturtreuen Landschafts- und Menschenschilderungen, die seinen Büchern direkt kulturhistorischen Wert geben. Was sein Land an Kraft und Schönheit, seine Bewohner »stark in der Liebe, dem Haß«, mit der Urkraft der Burschen, der Lustigkeit der Dirnen boten, weiß er mit volkstümlicher Wärme und Behaglichkeit in seine Erzählungen zu verweben, wobei er noch einen Reichtum landläufiger Gewohnheiten und Gebräuche und Sitten, eigentümlicher Scherze und Überlieferungen als Zugabe gibt. Wer das Unterinntal kennen lernen will, greife zu den Erzählungen Pichlers. Sie sind in die Gesamtausgabe seiner Werke (Georg Müller – München) aufgenommen.

Diesen dreien muß Hans Grasberger hinzugesellt werden, der Freund Roseggers, ein weitgereister und in allen Kunstsätteln gerechter Ästhet, der in mancher seiner Dichtungen über seine Heimat hinausgewachsen und uns manche schönen Gaben (Aus der ewigen Stadt; Sonette aus dem Orient) beschert hat, die der Stimmung fremder Landschaften und dem Lebensreichtum fremder Volksstämme entnommen sind. Und doch liegt sein Eigenstes, sein Wertvollstes in den Poesien, in die er die raunenden und geheimen Stimmungen seines steirischen Alpenlandes oder die kerngesunde Art seiner Naturmenschen hineinlegen konnte. Seine Gedichte in steirischer Mundart (Zan Mitnehm; Nix für ungut; Plodersam; Geistlingsschichten) sind eine Fundgrube echt volkstümlicher Lyrik; sie bergen jene schöne Mischung von Trutz und Demut und weher Innigkeit, die gerade das Volkslied auszeichnet. Viele seiner vierzeiligen Verse können den echten Schnaderhüpfeln ebenbürtig an die Seite gestellt werden. Seine Erzählungen sind zusammengestellt zu den »Novellen aus Italien und der Heimat« und den »Geschichten aus Wien und Steiermark«. Sie zeichnen sich durch formvollendete Kunst, sowohl in der Anlage als auch in der Sprache und der Charakteristik aus. Interessant ist, wie der Autor selbst über seine Dichtungen dachte: »So wollen meine Schriften aufgefaßt sein: Als Dank an das Leben, soweit es mich berührt hat, als Dank an den Boden, auf dem ich Gastfreundschaft gefunden. Die Sonette aus dem Orient, die Novellen aus der ewigen Stadt, die Geschichten Auf heimatlichem Boden sprechen dies deutlich aus. Anderes begreift sich unschwer daraus, daß meine Denkweise mehr geschichtlich als philosophisch, meine Anschauungen mehr realistisch als idealistisch, und mein Wesen mehr hingebend als selbstsüchtig, mehr beschaulich als tätig ist. Ich darf mich eines arbeitsamen Lebens rühmen, sowie auch, meinen Namen nie feilgeboten oder preisgegeben zu haben. Das übrige steht in Gottes Hand.«

Als ein freier und fein gebildeter Geist, eine ringende, nach höchster Erkenntnis strebende Seele offenbart sich uns einer der jüngsten schweizerischen Dichter Adolf Vögtlin. In fast alle seine Werke hat er Bekenntnisse seines Lebens oder Glaubens niedergelegt, von der historischen Novelle »Meister Hansjakob« an, in der neben landschaftlicher oder kulturhistorischer Schilderung doch das Hauptgewicht auf die lichtvolle Charakteristik humanistischer Bestrebungen gelegt wird, über die kürzeren Erzählungen »Sein größter Freund« und »Sephora«, die beide ebenfalls einer freieren Ethik das Wort reden bis zu dem »Vaterwort« und dem Roman »Das neue Gewissen«, in denen eigene Jugenderlebnisse und Erfahrungen künstlerisch ausgestaltet und verwertet werden oder doch als unterstützende Faktoren zum Siege der Grundidee, eines weltfrohen, diesseitigen Christentums beitragen. Seine letzte Novellensammlung überrascht namentlich durch die psychologisch feine Verquickung ernster und scherzhafter Züge. Hat sich Vögtlin auch nicht immer von seinen großen Landsleuten Keller und C.F. Meyer frei gehalten, so besitzt er – abgesehen davon, daß solche Anlehnungen durchaus nicht als Merkmale künstlerischer Minderwertigkeit angesehen werden können – doch einen starken Bodensatz eigener Kunst, die eben in seiner optimistischen Weltanschauung und seinem spezifischen Schweizertum begründet ist. Die wenigen technischen Uneigenheiten wird er in seiner Entwicklung, der gerade jetzt, da er als freier Schriftsteller lebt, das günstigste Prognostikon gestellt werden darf, schon ablegen können.

Auf die bayrische Hochebene führen uns die Romane und Erzählungen A. Achleitners, dessen Kunst ganz in dem starkzügigen Leben jenes harten und frohen Bauernlandes steckt. – Ebenso gibt Karl v. Heigel seine reichste Kunst in den Novellen, die dem bayrischen Volksleben entnommen sind, während er in andern durch eine etwas gewollte Steigerung der Idee die Wirkung zuweilen beeinträchtigt. Im allgemeinen gefällt er durch eine natürliche und lebenswahre Schilderung neuzeitlichen Lebens und seiner Menschen.

Und um den Lesern einen kleinen Geschmack echt amerikanischen Humors zu geben, sind dieser Sammlung einige Humoresken Mark Twains angehängt. Wenn es wahr ist, daß dieser große Lebenskünstler, der nacheinander die verschiedensten Berufe erprobte und durchlebte, in Deutschland seine meisten Anhänger und aufrichtigsten Bewunderer habe, was bei der Grundverschiedenheit zwischen deutschem und amerikanischem Humor, dem eben die seelische Innerlichkeit, das weltbezwingende Lächeln fehlt, verwunderlich genug ist, so wird seinen Freunden diese fremde Zugabe sicherlich willkommen sein.


Die moderne Frauenbewegung, die der Frau die Schranke öffnete, tätig am öffentlichen Leben Anteil zu nehmen, und der Naturalismus, der auf seiner Suche nach neuen Lebensverhältnissen das moderne Weib entdeckte, bewirkten, daß das in der Frau frei gewordene literarische Interesse sich mit ungewohnter Stärke und Leidenschaft der Roman- und Novellenkunst zuwandte. Gerade die feine Ziselier- und Filigranarbeit, wie sie die letzte Kunstform benötigt, und auf die das Frauenauge besser eingestellt ist, denn der weit umfassende, männliche Blick, und das fieberhafte Bestreben, zu der Aufgabe, ihr neues Menschsein mit den Forderungen ihrer Natur in Einklang zu bringen, begünstigten die Produktion eine Zeitlang so sehr, daß es schien, als seien Roman und Novelle unrettbar an die Frau verloren gegangen, bis in den letzten Jahren erst wieder einige männliche Autoren das Gleichgewicht herstellten. Es liegt ja nahe, in der Frauenliteratur viel Tendenz und, absichtlich hineingetragene Wünsche zu finden, daß es aber eine ganze Reihe Verfasserinnen gibt, »denen die Kunst nicht nur ein Sprungbrett für die Herausschleuderung ihrer Geisteswünsche ist, sondern denen die Verkörperung der in der Phantasie reproduzierten Wirklichkeitswelt und des verborgenen Innenlebens Selbstzweck ist, daß der Boden für weibliches Kunstschaffen bereits genügend vorbereitet ist,« hat Brausewetter seinerzeit schon durch die Veröffentlichung seiner ›Meisternovellen deutscher Frauen‹ bewiesen und geht heute, zehn Jahre später, aus dieser Sammlung noch offensichtlicher hervor.

Zu den berufensten und gelesensten Schriftstellerinnen der Gegenwart gehört unstreitig Clara Viebig. Ihr Debüt »Kinder der Eifel« machte sie bekannt und berühmt; ist sie in den folgenden Romanen und Novellen auch nicht immer ihrem Acker treu geblieben, hat sie auch hin und wieder sich zu Experimenten auf nicht eigenem Gebiet (Weiberdorf; Einer Mutter Sohn) verführen lassen, so steht sie doch in andren (Wacht am Rhein; Schlafendes Heer; Tägliche Brot; Absolve te) auf so hoher künstlerischer Warte, daß man wegen der einzelnen Irrgänge nicht mit ihr rechten darf. Jedenfalls darf ihr Ernst und Begabung auch dann nicht bestritten werden, wenn man ihren Ausführungen und Ideen nicht beistimmen kann und seiner Überzeugung das Urteil nicht vorenthalten darf, sie gehe hin und wieder dem Tierischen im Menschen zu sehr nach. Doch spekuliert sie, soweit ich sehe, niemals auf die niedrige Gesinnung des Lesers. Sie kann wohl mit ihrer Kunst in die Irre gehen, sie wird sie aber niemals mißbrauchen. Ihre Stärke liegt in der Schilderung ihres heimatlichen Lebens, der Eifel und der Rheingegend, weniger ihrer jetzigen Heimat, der Großstadt Berlin, sowie des natürlichen erdgeborenen Menschen. Wo sie Menschenmassen und Menschenklassen lebendig zur Gestaltung bringt, daß wir ihren geheimen Wünschen und Hoffnungen, ihren Schmerzen und Qualen lauschen können, wo sie Einzelzüge und Einzelregungen zu einer Gesamterscheinung zusammenfaßt, wo sie die Volksseele, vom Rhythmus einheitlicher Kräfte durchpulst, symbolisch, wuchtig und riesenhaft vor uns erstehen läßt, wo sie Jammer und Elend mit dem Hauche einer erhebenden Kunst und alles Trostlose und Graue mit dem Schimmer echter Poesie verklärt, wo sie das unbewußt Göttliche, das jenseits alles Guten und Bösen Liegende hervorholt und endlose, weite und beruhigende Perspektiven eröffnet, wo sie Himmel und Erde verbindet und unsichtbare Brücken baut, wo sie die Enge und Weite der Landschaft gleich glücklich und sicher umfaßt und von unsichtbaren Gewalten durchfluten läßt: da ist ihre Kunst zu Hause, da ist sie unumstrittene Meisterin.

Leicht erklärlich ist auch, daß das frühstarke und scharf beobachtende Talent der Frauen sich an Stoffe und Charaktere wagte, die bislang von der Literatur etwas stiefmütterlich behandelt worden waren: der Bauer und sein Land. Die Heimatbewegung drängte ja geradezu auf dieses Studium, war man doch zu der Einsicht gekommen, daß der Bauer weder ein sentimentaler Waschlappen noch ein grober Klotz war, und daß auch die Salonbauern Auerbachs der Natur nicht entsprachen. So galt es, diesen Stand ziemlich neu zu entdecken. Da sind es namentlich einige Frauen, die mit unermüdlichem Eifer und treuer Liebe den Schlüssel zu ihrer Seele gesucht und auch glücklich gefunden haben.

Zunächst Lulu von Strauß und Torney. Ihren Ruf begründete sie durch das Novellenbändchen »Bauernstolz«, Dorfgeschichten aus dem Weserlande; denn sie zeugen von einer Schärfe der Beobachtung, von einer Kenntnis des heimatlichen Bauernlebens, daß sie in allen dem Bauernstande Nahestehenden freudiges Erstaunen lösten. Die Dichterin hat dem Bauer in die tiefsten und verborgensten Winkel seines Herzens geschaut, sie hat in schwerer Stunde bei ihm gesessen und von den schmalen Lippen gelesen, was sie hartnäckig verschwiegen. Der Bauer ist ihr kein Rätsel; sie weiß, daß unter der harten äußeren Schale ein Herz steckt gar zart und weich und treu wie Gold. Die Romane »Aus Bauernstamm« und »Ihres Vaters Tochter« haben dann ihren Ruhm wohl befestigt, doch ihm keine neuen Züge verliehen. Der erste ist zuweilen etwas konventionell, der zweite als ethisches Lebensbekenntnis wertvoll. Einen tüchtigen Schritt vorwärts tat die Dichterin dann mit den Erzählungen »Der Hof am Brink« und »Das Meerminnecke«. Die Bauernerzählung ist wiederum die wertvollste. Da ist alles restlos verarbeitete Anschauung, großzügige Charakteristik und lebendiges Leben. Namentlich ist ihr die Verschmelzung der vielen divergierenden Eigenschaften des Bauern zu einem einheitlichen Charakter gut gelungen. – Ihr letztes und reifstes Buch ist »Luzifer«, in dem sich ihre Kunst namentlich wieder in der Charakterisierung und Anschaulichkeit der Schilderung bewährt, ja in einzelnen erreicht sie die Viebig, so in der Verbrennungsszene und in der nächtlichen Abrechnung zwischen Ketzer und Bischof. Ihre Sprache ist dann von wunderbarer Modulation; majestätisch und klangvoll in der Wiedergabe der Messe, hart und spitz in dem Rededuell der beiden Priester.

Mit der Bückeburgerin verwandt ist die Schleswig-Holsteinerin Helene Voigt-Diederichs. Auf einem Landgut in der Nähe Eckernfördes geboren und erzogen, ist sie, wie von dem Duft ihrer Heimatscholle, so auch von dem geheimnisvollen Weben und Fühlen im Seelenleben ihrer Bewohner so stark durchdrungen, daß auch den Ausflüssen ihres eigenen Innenlebens durch die empfangenen Kräfte ganz bestimmte Linien gezogen wurden. Den leisen tief verborgenen Seelen- und Gemütsregungen geht sie mit seinem Verständnis nach, den Kräften, die unter der Oberfläche ihre geheimnisvollen Kreise ziehen, den Hauptströmungen vielfach entgegengesetzt oder sie bewußt oder unbewußt beeinflussend und lenkend, manchmal nur in stillen, perlenden Wirbeln ihr Leben verratend, manchmal aber auch wild aufbrausend und alles überflutend und vernichtend. Schon in ihrer Lyrik, mehr noch in ihren Prosadichtungen treten diese Unterströmungen mit ihren rätselhaften Gewalten auf, sowohl in ihren Skizzenbändchen (Leben ohne Lärmen, Schleswig-Holsteiner Landleute), als auch in ihren größeren Erzählungen (Abendrot, Regine Vosgerau, Karen Nebendahl). Sie alle beweisen, wie tief die Dichterin dem Empfinden des Volkes nachzuspüren weiß und wie menschlich nahe sie seinen Schmerzen und Freuden, seinen Sorgen und Sonnen, seinem drückenden Alltage und seiner stillen Sabbatruhe steht. Und gerade weil sie ihre Menschen so losgelöst von allem hemmenden und entstellenden Außenputz vor uns stellt, in ihrer ganzen Seelennacktheit und Erdenschwere, ergreifen sie uns in ihrer seelischen Unbeholfenheit, in ihrer Schwäche den starken bezwingenden Unterströmungen gegenüber so sehr. Der Kampf, den diese stillen Menschen mit ihrem Gewissen kämpfen, muß ja vielfach tragisch enden, und was ihre langsam arbeitende Seele in ihrem naiven Rechtsbewußtsein sich einmal zu eigen gemacht hat, kann für das Wohl und Wehe des Trägers ein furchtbarer Tyrann werden, so in »Nachbarskinder«, »Sonntags«, »Engelmakersch Kostkind« (Leben ohne Lärmen) oder in »Vom alten Schlage«, »Vater«, »Schutt«, »Balsaminen« (Schleswig-Holsteiner Landleute). Zuweilen geben sie auch die geängstete Seele aus den strudelnden Wirbeln wieder frei, daß sie Sonne und Tag wieder sehen, wie in den Skizzen »Balsaminen« und »Mutter«.

Das Gebiet, dem Helene Voigt ihre Stoffe entnimmt, kann, weil es sich auf das jener Unterströmungen beschränkt, nicht sehr groß sein. So ist es auch erklärlich, daß manche Gestalten doppelt oder doch in ähnlicher Zerspaltung auftreten, und daß eine einmal verwandte Idee uns hier und da in ähnlicher Gewandung noch einmal begrüßt. Manche Gedichte und manche Geschehnisse im »Abendrot«, »Karen Nebendahl« und in »Regine Vosgerau« verdanken jedenfalls einer, allerdings völlig ausgekosteten Stimmung ihre Entstehung. Regine, Karen und Anna im »Abendrot« sind in ihrer keuschen, stolzen Zurückhaltung, in dem Widerstreben gegen die sie umflutenden Liebesströmungen überhaupt verwandte Naturen, und wenn wir die Gedichte der Dichterin lesen, finden wir, daß der Quell für die Empfindungswellen der Mädchen die eigene Seele der Autorin ist. Wohl wiederholt sie sich, allein sie schöpft immer tiefer und voller, bis sie reinstes, edelstes Goldwasser findet, den Roman Karen Nebendahl.

Einen schleswig-holsteinischen Bauernroman »Jens Larsen« stellt auch Elisabeth Gödicke als Beitrag zu dieser Sammlung. Die Dichterin ist bislang nur mit kürzeren Novellen und Skizzen hervorgetreten, so daß die glückliche Abfassung dieses längeren Lebensabschnittes und die ziemlich getroffene Charakteristik des Bauern Jens Larsen angenehm überraschen und uns Hoffnung auf noch reifende Gaben der jungen Dichterin geben. Hof- und Heimatduft weht auch vielfach in den Skizzen und Erzählungen der Hamburgerin Charlotte Niese, obwohl sie keine reine Dorfdichtung geschrieben hat. Am anziehendsten ist vielleicht in dieser Beziehung die Titelnovelle der Sammlung »Revenstorfs Tochter und andere Erzählungen«, während in dem Roman »Auf der Heide« der Bauer etwas idealisiert erscheint. Sie besitzt ihrem ganzem Wesen nach auch nicht die Kraft, verborgenen rätselhaften Schätzen nachzuspüren, kompliziertere Seelen zu analysieren. Ihr Eigenstes gibt sie meines Erachtens dann, wenn sie im breiten, ruhigen Fluß der Erzählung, in einfacher, natürlicher, aber reiner und stilvoll-edler Sprache, besonnen und anschaulich Gestalten und Geschichten vor uns aufleben läßt, einerlei, ob sie der »Vergangenheit« angehören oder dem »Licht und Schatten« der Hamburger Cholerazeit. Damit soll dem Werte ihrer Charakterisierungskunst jedoch nichts geraubt werden, im Gegenteil, die Treffsicherheit und Treue ihrer Persönlichkeiten, die sie ihren engeren bekannteren Kreisen entnimmt, wird von allen Kennern rühmend hervorgehoben. Dazu kommt ihre eigene Art der Kleinschilderung und sonnigen Humors, den sie mit tiefer Innigkeit zu verschmelzen weiß und deren Harmonie über alle Erzählungen sein versöhnendes Licht gießt. Von ihrem Humor sagt Iven Kruse: »Ihr Humor begreift alles, und darum verzeiht er alles; deshalb ist er auch nicht zimperlich und hütet sich ganz instinktiv, an der äußeren und inneren Beschaffenheit dieser Leute irgend etwas zu ändern. Mögen sie immerhin zunächst sich recht wenig sympathisch präsentieren, Menschen sind sie auch, und ab und zu tritt ihr Menschentum unter der Kruste des angeborenen und anerzogenen Egoismus zutage. Dann lächelt die Dichterin ihr liebenswürdigstes Lächeln. Sie hat es ja gewußt. Und es macht ihr Freude, uns davon zu überzeugen. Das gelingt ihr vortrefflich; mit manchem Lächeln und manchem herzlichen Lachen erfreuen wir uns an ihren mit so freundlicher Laune vorgetragenen Geschichten, die so Prächtig dazu angetan sind, uns diese grauen Tage zu vergolden.« Es ist in dem engen Rahmen dieser Skizze natürlich unmöglich, auch nur andeutend auf die besten Romane und Erzählungen einzugehen; nur bemerkt sei, daß außer den beiden schon genannten Werken namentlich »Aus dänischer Zeit«, »Geschichten aus Holstein« und »Die braune Marenz und andere Geschichten« zu ihren reifsten Erzeugnissen gehören, und daß sie auch gern gelesene Erzählungen für jüngere Mädchen »Eine von den Jüngsten«, »Die Allerjüngste«, »Das Dreigespann« geschrieben hat, ohne auch in ihnen einer seichten Unterhaltungslektüre auch nur die geringste Konzession zu machen.

Einseitiger ist die Hamburgerin Marie Hirsch (Pseudonym Ad. Meinhardt), deren Stoffgebiet in den Patrizierkreisen Hamburgs liegt, jener Häuser, die von einem ruhigen, stillen, vornehm-gedämpften Milieu durchflossen sind. Und gerade dieser Stimmungswelt entspricht auch ihre Kunstform. So geht sie allen Leidenschaften und schroffen Gewalten sowie den persönlichen Vertretern derselben aus dem Wege und zeichnet mit größter Kunst ältere Personen, die sich durch Haß und Streit und die Nöte des Lebens hindurch in ein stilles Fahrwasser ruhiger Beschaulichkeit gerettet haben (vgl. Herrn Heilwig in der Erzählung »Auf dem Heilwigshof«). Auch ihre Technik, die des öfteren in Briefen und Tagebüchern den geeignetsten Ausdruck findet, entspricht ihrer besonnenen Denkweise. Von ihrer Kunstform sagt Irma Schneider-Schönefeld in einer Besprechung, daß sie vielleicht die glückliche Vermittlerin zwischen der nur-subjektiven, oft aphoristischen Andeutemanier der Bücher von gestern und der uns völlig fremd gewordenen nur-objektiven der Romane von vorgestern und ehedem sei – und fährt dann fort: »Wird noch oder wird schon wieder so geschrieben. So schlicht und still, ohne andere Ambition als die des Erzählens hinterläßt sie (Frau Hellfrieds-Winterpost) eine sachte beruhigte Stimmung, das Gefühl, eine Stunde in guter Gesellschaft verbracht zu haben, die er morgen vielleicht vergessen hat, die aber anziehend genug war, ihn heute zu Nachdenklichkeit und Mitleben, ja zu herzlichem Interesse zu nötigen.«

Zwischen dem festen Erdreich dieser Dichterinnen, das durch das lokale Element, dem gemeinsamen Nährboden ihrer Kunst gebildet wird, und den Traumlanden und isolierten Gärten einer Ricarda Huch klafft ein weiter Riß. An Clara Viebig erinnert vielleicht der symbolische Zug, wie er in deren Romanen »Das tägliche Brot« und im »Schlafenden Heer« hervortritt, der aber erst in seiner ganzen Tiefe von Ricarda Huch in ihre Romane verwebt worden ist. Sie gemahnt auffallend stark an die schönheittrunkne Zeit der Romantiker, die in selbst geschaffenen Welten ihre Gestalten leben und träumen ließen. In fast allen ihren Werken, ausgenommen vielleicht »Mondreigen von Schlaraffis« und »Aus der Triumphgasse« überwiegt ein lebensfroher Optimismus, die Freude an der Schönheit des wirklichen Lebens. Dieses darzustellen ist ihre einzige Sehnsucht, die sie am besten wohl in ihrem Meisterwert »Erinnerungen von Ludolf Ursleu, dem jüngeren« erfüllt hat. Eine reiche Fülle glanzvoller und starker Stimmung ist über ihre Romandichtungen ausgegossen und durchströmt sie mit einheitlicher Kraft, wobei doch wiederum die Einzelabschnitte mit selbständigem Gehalte gefüllt sind. Hin und wieder sind Anlehnungen an den Stil Kellers (Episoden in »Ludolf Ursleu«, auch in der »Mondnacht von Schlaraffis«) nicht zu verkennen; im allgemeinen gelingt ihr jedoch eine realistischere Darstellung des Erschauten weniger – ihre Choleraschilderungen sind ungleich schwächer denn die der Charlotte Niese. Besonders tritt diese Darstellungsschwäche in dem Roman »Von den Königen und der Krone« hervor, dessen Einheitlichkeit unter einer ungleich abgewägten Vermengung von Wundersamkeit und phantastischem Realismus leidet. – Jedenfalls müssen wir Ricarda Huch neben der Viebig zu unseren ersten Künstlerinnen zählen. Von ihr sagt Richard Meyer in seiner deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts: »Ein reiches Talent trat Ricarda Huch unter die vielen kleinen Begabungen unserer Tage. Ihr fast allein schien eins gegeben, was den Genius charakterisiert: verschwenderischer Reichtum und lächelnde Leichtigkeit der Erfindung.«

Ganz isoliert steht Bertha v. Suttner. Sie ist Künstlerin, Dichterin immer erst in zweiter Linie, Philosophin, Predigerin einer dauernd fortschreitenden Entwicklung in erster Linie. Um die Gestaltung ihrer Idee ist es ihr stets zu tun. Die Tendenz, die Polemik beherrscht ihre Romane. Das Romanhafte selbst dient ihr nur als angenehme, der Verbreitung ihrer Ideen dienende Einhüllung. Mit allen Mitteln ihres hochgebildeten Geistes geht sie mit den rückständigen Resten unserer Kultur scharf ins Gericht; am bekanntesten ist in dieser Beziehung ihr Roman: »Die Waffen nieder« geworden, in dem sie mit flammender Begeisterung die Unmoral des Krieges bekämpft. Und hier strömt die Flut ihrer Worte und Anklagen in so rauschender und mächtiger Fülle, daß sie wohl, wie Brausewetter sagt, »den Eindruck voller Lebensfülle hervorruft«. Von neueren Autoren hat vielleicht nur Robert Reinert in seinen Dialogen »Der Krieg« mit gleich packender Gewalt die Grausamkeiten des Krieges zu geißeln vermocht. – Daß sie aber auch, wo sie zwecklos nur erzählen, unterhalten will, eine angenehme, liebenswürdige Novellistin ist, beweisen die »Erzählenden Lustspiele« dieser Sammlung, die »Phantasien über den Gotha« und die Novellensammlung »Schmetterlinge«. Brausewetter charakterisiert ihren Wert treffend, wenn er sagt: »Was ihren Werken trotz allem Theoretisieren und Dozieren so überaus Frisches, Lebensvolles, Packendes verleiht, das sind die siegesfrohe Begeisterung, das freudige mutvolle Draufgehen, die innige Menschenliebe und das tiefe Herzensmitleid.«

So wäre ich bei den Unterhaltungsschriftstellerinnen angelangt, die die Frauenliteratur durch ihre flache und leichte Vielschreiberei teilweise in den Verdacht des Dilettantismus und der künstlerischen Unreife gebracht haben. Gewiß soll hier nicht der ödesten Familienlektüre und ihren Verfasserinnen das Wort geredet werden – sie sind auch aus dieser Sammlung ausgeschlossen – aber bei der auch vielfach gering geachteten Marie Bernhard möchte ich doch zu bedenken geben, ob ihr Talent nicht doch den Weg in die Höhen und Tiefen des Lebens gefunden hätte, wenn das Gesellschaftsniveau, dem sie, durch die Verhältnisse gezwungen, ihre Erzeugnisse anpassen mußte, auf höherer literarischer Stufe gestanden hätte. So wurde sie eben in eine Bahn gedrängt, von der aus ihr ein eben nur beschränkter Kreis – beschränkt in der Weite und Tiefe – zur Verfügung stand. Aber man wird gestehen müssen, daß sie ihr Publikum liebenswürdig und angenehm zu unterhalten weiß. – Dasselbe ließe sich von Cl. v. Glümer und M. v. Sydow sagen die sicherlich nicht denen zugerechnet werden dürfen, die die Frauenliteratur in Mißkredit gebracht haben, wenngleich sie auch weniger über markante und hervorstechende Züge verfügen. – Frida Schanz hat sich namentlich als Lyrikerin einen geachteten Namen gemacht, sich dann aber auch mit viel Glück in der Novellendichtung und der Novelle versucht und als Herausgeberin der Jahrbücher »Junge Mädchen« und »Kinderlust« der Jugend manche Sinngedichte und Spruchstrophen geschenkt. – Vom Berner Oberland bis zu den nordischen Heidestrecken ist ein weiter Weg; wer wollte die überwältigenden Schönheiten des ersteren nicht bewundern, wer aber auch nicht den letzteren volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, sofern er seine Augen nur recht eingestellt und seinen Maßstab modifiziert hat!

Damit hätte ich die Runde beendigt. Nicht alle Dichter und Dichterinnen konnten in dem Maßstäbe berücksichtigt werden, wie sie, isoliert oder in anderer Zusammenstellung, es wohl verdient hätten, bei ihnen muß, wie bei allen, das Studium der Werke nachhelfen, das hoffentlich durch die hier gegebenen Proben nicht umsonst angeregt werden soll.

W. Lennemann.


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