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Stilles Leben

D Die Gemäldeausstellung hatte begonnen; ein voller Menschenstrom wogte durch die Säle und drängte mich nach flüchtiger Betrachtung von einem Bilde zum andern. Ich überließ mich dem bunten Treiben und ergötzte mich an den oft gar wunderlichen Urteilen, die hier und da laut wurden. Die meisten suchten vor jedem Bilde eifrig im Kataloge, nicht nach dem Namen des Malers, der das Bild eingesandt hatte, sondern nach dem Preise, um welchen das Bild käuflich war, und machten diesen zum Maßstab ihres Kunsturteils.

Am dichtgedrängtesten standen die Männer um einige Bilder, die durch ihre Größe in die Augen fielen, während Frauen und Mädchen ungewöhnlich lange vor einigen Blumen- und Fruchtstücken verweilten, die von einer bekannten Meisterhand entworfen waren. Und in der That verdienten diese Bilder die Aufmerksamkeit, die ihnen zu teil wurde. Die Frühlingsblumen waren mit einer seltenen Wahrheit gemalt; die Tulpe öffnete eben ihren bunten Kelch ein wenig, an der Maiblume hingen glänzende Tautropfen, und das Veilchen sah so frisch und so tiefblau, daß man meinte, es sei soeben erst am Strahle der Frühlingssonne erwacht. Leichte Flittergräser gaben dem Strauß ein überaus graziöses Aussehen.

Das Gegenstück zu dem Frühlingsstrauße bildete ein Körbchen mit Obst. Die Früchte waren verlockend schön; auf der Pflaume lag noch der leichte blaue Duft, und an der weichen Pfirsiche erkannte man deutlich die Stelle, wo sie von der rauhen Hand des Gärtners berührt worden war; die Beeren der Weintraube waren durchsichtig klar, und da wo eine naschhafte Wespe an einer Beere genagt hatte, sah man einen hellen Tropfen aus der Wunde träufeln.

Auf die Dauer jedoch konnten mich diese Bilder nicht fesseln, und weil einige Gebirgslandschaften, bei denen ich gern länger verweilt hätte, von der hochstehenden Sonne ungünstig beleuchtet wurden, schickte ich mich zum Heimgehen an. Als ich durch den Saal ging, hörte ich plötzlich neben mir ein leises, schüchternes: »O, wie schön!« Unwillkürlich blickte ich nach der Richtung hin, aus welcher der Ruf kam, und sah zwei seelenvolle Mädchengesichter, deren kindlichfromme Augen auf einem Bilde ruhten, das sich meinen Blicken bisher entzogen hatte.

Ich trat näher heran, die Mädchen wichen scheu zurück, und ich stand allein vor einem Ölgemälde von mittlerer Größe.

Eine weibliche, edle, schlanke Gestalt saß zurückgelehnt in einem Armsessel am geöffneten Fenster; die Sichel des Mondes stand mit mattem Glanz am Abendhimmel, während noch die letzten Strahlen der untergehenden Sonne die leichten Lämmerwölkchen am Himmel vergoldeten. Die Fensternische, in der die Gestalt saß, war mit einem grünen Schlinggewächs umzogen, das auch das Kreuz des Fensters leicht umrankte; einzelne Ranken hingen lose herab und dienten dem weichen, warmen Abendwinde zum Spiele, der auch das aufgelöste Haar leicht kräuselte, von dem das bleiche Gesicht beschattet wurde, auf dem mein Blick wie gefesselt ruhte. Das Auge, mit langen dunkeln Wimpern, war nach oben gerichtet; o welch eine Fülle von Liebe und welch ein heiliges Feuer gab in diesem Blicke nach oben sich kund! Ein dunkles Gewand umschloß die Glieder der lieblichen Gestalt; um den zarten Hals kräuselte sich eine einfache schneeig-weiße Spitze; die durchsichtig bleichen Hände ruhten gefaltet im Schoße.

Auf dem Sims des Fensters stand ein Rosenstock, und eine weiße Taube saß auf dem Geländer des Blumenbeetes. Zu den Füßen der edlen Gestalt saß ein Mädchen, halb noch Kind, mit einem rosigen Gesicht, blonde volle Zöpfe um das Köpfchen gelegt, das Kinn auf den Arm gestützt, und blickte freundlich auf zu der erwachsenen Schwester.

Nach langer Zeit erst vermochte ich es, mich von diesem Bilde zu trennen; endlich that ich es mit dem Vorsatz, die erste stille Stunde dazu zu verwenden, mich ungestört in das Bild zu vertiefen. Am Rahmen las ich die Zahl 35, und als ich im Katalog nachschlug, fand ich das Bild mit den Worten bezeichnet: »Stilles Leben; zwei Mädchengestalten in Abendbeleuchtung.« Der Name des Malers war nicht genannt. Gerade dieser Umstand bestätigte in mir die Vermutung, daß es sich hier nicht um eine freie Schöpfung der Kunst handle, sondern daß diese Gestalten dem Leben entnommen seien.

Ich konnte kaum den nächsten Morgen erwarten; so wie die Galerie geöffnet wurde, trat ich ein und befand mich allein in dem Saale. Ich setzte mich still vor das Bild, drapierte den dunkeln Vorhang am Fenster günstiger für meinen Zweck, und ließ meine Blicke wieder auf dem Bilde ruhen. Ich faßte nun auch die Einzelheiten mehr ins Auge und entdeckte immer neue Schönheiten. Das Bild war mit einer außerordentlichen Sorgfalt gemalt und verriet auch in den geringsten Kleinigkeiten die Spuren einer Meisterhand.

Das Stübchen war offenbar ein Dachstübchen mit schiefen Wänden, es mußte sehr hoch gelegen sein; man sah einige hohe Giebel vor dem Fenster und in größerer Ferne die Spitzen der Türme in Abendduft gehüllt. Auf dem ganzen Bilde ruhte ein wehmütiger Hauch, aber ein Hauch jener Wehmut, die mit himmlischem Frieden Hand in Hand geht.

Je länger ich meine Blicke auf dem Bilde ruhen ließ, um so mehr gewann es an Leben. Die Augen schienen mit einem fast überirdischen Glanze zu leuchten; die feine weiße Haut des Gesichtes wurde immer durchsichtiger, und die leichte Röte auf den Wangen schien nur ein flüchtiger Wiederschein des Abendrots zu sein, das selbst die Flügel der weißen Taube leise zu röten schien. Die Gestalt hob sich immer deutlicher von dem Grund ab, auf dem sie ruhte, und das leise Wehen der Luft machte sich selbst bei der Rose bemerkbar, die am Strauche blühte; einige Blätter waren leicht gehoben.

Versunken in den Gegenstand meiner Betrachtung, hatte ich nicht bemerkt, daß ich nicht mehr allein war; ein leises Geräusch hinter meinem Rücken gab mir Veranlassung, mich umzusehen, und ich bemerkte dicht hinter dem Stuhle, auf dem ich saß, einen Fremden mit mächtigem schwarzen Bart und auffallend bleichem Gesicht. Ich wandte mich ab, und der Fremde entfernte sich still, wie er gekommen war.

Seit diesem Tage traf ich noch oft vor dem Bild mit ihm zusammen und konnte mich eines Tages nicht enthalten, ihn mit den Worten anzureden:

»Wir scheinen beide gleiches Wohlgefallen an diesem Bilde zu finden.«

Ein wehmütiges Lächeln glitt über sein Gesicht, und er entgegnete:

»Wohl nicht ganz ein gleiches.«

»Finden Sie den Kopf dieser schlanken Gestalt nicht wunderbar schön? Es liegt eine seltsame Macht in diesen so stillen und doch so belebten Zügen; ich muß immer wieder zu diesem Ölbilde zurückkehren, und doch stimmt es mich wehmütig und ernst.«

»Hätten Sie diese Gestalt im Leben gesehen, so würden Sie das Bild weniger gelungen finden, als es der Fall zu sein scheint.«

»So haben Sie dieses Mädchen gekannt,« rief ich aus, »und sind vielleicht selbst der Schöpfer dieses Bildes?«

Und wieder glitt über sein Gesicht das wehmütige Lächeln; er nickte leicht und entfernte sich mit flüchtigen Schritten. Seitdem sah ich ihn wohl noch oft, wagte aber nicht wieder ihn anzureden, um nicht zudringlich zu sein.

Die Ausstellung hatte längst ihr Ende erreicht, als ich an einem sonnigen Herbsttage in einem öffentlichen Garten saß, um einem Konzert beizuwohnen. Der Garten füllte sich immer mehr mit Gästen; endlich stand nur ein Stuhl neben mir noch leer. Da trat der fremde Maler freundlich an mich heran, bot mir die Hand wie einem alten Bekannten zum Gruß und nahm an meiner Seite Platz. Er verwickelte mich in ein lebhaftes Gespräch über Kunst, und als er sich von mir verabschiedete, forderte er mich auf, ihn einmal in seinem Atelier heimzusuchen. Ich folgte seiner Einladung noch in derselben Woche, und bald wurde mir der Umgang mit dem reichbegabten tief-gemütlichen Künstler zum Bedürfnis. Unser Verhältnis gestaltete sich immer inniger; aber auch dann noch, als ich ihn in Wahrheit meinen Freund nennen durfte, erlaubte ich mir nie, ihn nach dem Bilde zu fragen, auf das er, wie ich wohl fühlte, absichtlich nicht wieder zu sprechen kam.

Eines Tages hatten wir einen gemeinsamen Ausflug in die Berge gemacht; wir kehrten spät zurück, und mein Freund Alban, dies war sein Name, forderte mich auf, den Rest des Abends gemeinsam mit ihm in seinem stillen Zimmer zuzubringen. Wir traten in das Zimmer ein, und die alte Aufwärterin meines Freundes trug ein einfaches Abendessen auf, das mir trefflich mundete, denn die Bergluft hatte mich hungrig gemacht. Alban aß wenig und sprach, solange wir am Tische saßen, kein Wort. Als die Speisen abgeräumt waren, verabschiedete er die Aufwärterin, deren Gegenwart ihn zu stören schien. Er trat an das offene Fenster und blickte still in die Wolken, und als er sich nach mir umwandte, waren seine Augen feucht. Er zündete eine Kerze an und führte mich in ein kleines Nebenzimmer, das ich bis zu dieser Stunde noch nicht betreten hatte. An der Wand hing ein Bild mit Flor bedeckt. Er entfernte die Hülle, hielt die Kerze hoch und fragte:

»Kennst Du es noch? Sieh Dir's noch einmal an; heute soll das Bild lebendig vor Dir werden. Ich habe kein Geheimnis vor Dir und will Dir von vergangenen Tagen erzählen. Heute vor fünf Jahren sah ich sie zum erstenmal; o Kornelie! du bist bei den Kindern des Lichtes, und ich muß noch immer freudlos und voll heißer Sehnsucht der Stunde harren, die mich erlöst, der seligen Stunde, die mich wieder mit dir vereint, die mir gewähren soll, was mir hier versagt wurde. Ich weiß ja wohl, dort freit man nicht und läßt sich nicht freien, doch dieser Bund war ja geheiligt und geweiht vom Herrn, und wahre Liebe ist stärker als der Tod, sie trägt die Bürgschaft der Ewigkeit in sich selbst.«

Er verhüllte das Bild wieder, zog mich auf ein Sofa an seine Seite, legte eine kleine verschlossene Mappe vor sich auf den Tisch und fuhr fort zu erzählen:

»Ich will Dich mit meiner Vergangenheit bekannt machen; sie ist still dahin geflossen, wie ein Bächlein durch Wiesen rinnt. Meine Mutter, die frühzeitig Witwe geworden war, wandte alle Liebe eines reichen Herzens, alle Sorgfalt eines ängstlichen Mutterauges auf meine Erziehung; wir waren auf das innigste miteinander verwachsen, und ihr Wunsch ging dahin, dereinst einen Landschullehrer in mir zu sehen. Ich besuchte das Gymnasium, aber ein entschiedenes Talent zum Zeichnen gab meinem Leben eine andere Richtung. Da ich meiner Neigung folgen durfte, widmete ich mich der Malerei und machte schnelle Fortschritte. Mein liebes Mütterchen schränkte sich aufs äußerste ein, um mir die nötigen Mittel zu schaffen. Sie machte mir es möglich, mich in verschiedenen Malerschulen auszubilden. Nach einer längeren Reise mietete ich mich in Nürnberg ein; ein Giebelstübchen mit einem bescheidenen Kämmerchen nahm mich auf, und ich ging mit gutem Mute an die Ausführung eines größeren Entwurfs. Meine Mutter, gewohnt auf dem Lande zu leben, mietete in einem nahe gelegenen Dorfe eine kleine Wohnung, um mir nahe zu sein. Ihr kleines Zimmer befand sich im Seitengebäude eines Bauerngutes und gewährte eine freundliche Aussicht in umliegende Gärten. Am Sonnabend wanderte ich regelmäßig zu ihr hinaus und verlebte den Sonntag in ihrer lieben Nähe. Sie war eine seltene Frau, und ihr Andenken ist auch denen unvergeßlich, die sie nur flüchtig kennen lernten. Ihr ganzes Wesen war durchdrungen von jener Liebe, die nur aus dem Glauben geboren wird.

Wie so mancher Sonntag steht mir noch lebhaft vor der Seele, an dem wir am Morgen in die kleine Kirche wallfahrteten, die sie regelmäßig besuchte, und am Abend den nahen Berg erstiegen, um uns dort am Untergang der Sonne zu erfreuen. Es waren schöne, stille Zeiten.«

Er schwieg eine Weile und blickte trüb' vor sich hin; dann fuhr er fort:

»Um jene Zeit saß ich einst in meinem Stübchen, als es leise an meiner Thür klopfte. Ich öffnete die Thür, und vor mir stand ein zerlumpter Knabe mit einem Vogelbauer in der Hand. In dem Bauer saß ein weißes Täubchen, das er mir so dringend zum Kauf anbot, daß ich mich überreden ließ, die Taube einzuhandeln. Sie war so zahm, daß ich sie im Zimmer frei gab. Endlich öffnete ich sogar das Fenster in der Hoffnung, daß die Taube hinlänglich an ihre neue Heimat gewöhnt sei. Eine kurze Zeit saß sie auf dem Fenster still, dann aber flog sie fort und war meinen Blicken entschwunden. Da sie auch am Abend nicht zurückkehrte, ergab ich mich darein, sie nicht wieder zu sehen.

Am frühen Morgen jedoch saß sie vor dem Fenster, pickte an die Scheiben und begehrte Einlaß. Ich öffnete das Fenster und ließ es offen stehen, da ich nun aus Erfahrung wußte, daß sie ihre Heimat kannte. Bald aber benutzte sie die Freiheit aufs neue und abermals fand sie sich erst am nächsten Morgen wieder ein. Dieses Mal trug sie ein Zettelchen an ihrem Hals, auf dem mit zierlicher Schrift geschrieben die Worte standen: »Wir bitten den jetzigen Besitzer dieses Täubchens, den Flüchtling festzuhalten; er kann seine frühere Heimat nicht vergessen, und wir haben kein Recht mehr an ihn.« Diese Zeilen erregten meine Neugier, und das kleine Abenteuer machte mir Vergnügen. Es sollte für mein ganzes Leben von Bedeutung werden. Ich hielt die Taube bis gegen Abend gefangen, dann gab ich sie frei und beobachtete von meiner hohen Warte aus ihren Flug. Sie flog der nahen Vorstadt zu und neigte den Flug, als sie bei einem Hause angekommen war, in dessen Nähe zwei hohe italienische Pappeln standen. Ich machte mich nun sogleich auf den Weg, um den Flüchtling mit eigner Hand zurück zu holen. Als ich in die Nähe des Hauses kam, dem die Taube zugeflogen war, und aufblickte, sah ich sie hoch über mir auf dem Geländer eines Blumenbrettes sitzen. Ich stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Thür eines Dachstübchens, wie ich meinte. Als niemand herein! rief, öffnete ich die Thür und trat in ein kleines Vorzimmer, dessen Fenster mit Grün umrankt waren. Die Thür des Wohnzimmers stand offen, und in ihm sah ich ein lebendes Bild vor mir, das mich durch seine wunderbare Lieblichkeit und durch die Fülle von Poesie, die es in sich barg, mächtig überraschte. Das Fenster stand weit offen, der Abendwind trieb sein Spiel mit den grünen Ranken, die es schmückten, und das Abendrot warf ein rosiges Licht auf eine edle, schlanke Mädchengestalt. Sie saß zurückgelehnt in einem Armsessel, die Hände lagen im Schoße gefaltet, und das seelenvolle Auge ruhte auf der Mondessichel, die mit noch mattem Licht am Abendhimmel stand. Es war Cornelia! Ihr zu Füßen saß ihre jüngere Schwester, Anna; sie hatte die blonden Zöpfe um das niedliche Köpfchen gelegt, stützte den Kopf mit der Hand und blickte mit hellen, freundlichen Augen zur Schwester auf. Auf dem Blumenbrett vor dem Fenster saß die weiße Taube.

Es war ein Bild so einfach und doch so ergreifend schön, daß es mir unendlich schwer wurde, mich bemerkbar zu machen. Endlich mußte es geschehen; Cornelia bemerkte mich zuerst, und ein tiefes Rot färbte plötzlich ihre blassen Wangen. Sie erhob sich und blickte mich fragend an. Ich entschuldigte meine Anwesenheit und gab mich als den Eigentümer der Taube zu erkennen. Sie deutete lächelnd auf den Flüchtling, den Anna auf ihren Wink ins Zimmer lockte und einfing. Ich nahm ihn dankend in Empfang, bat nochmals um Entschuldigung und erzählte offen, daß mich die Neugier gequält habe, zu erfahren, von wem das Zettelchen stamme.

Eine ältliche Frau trat jetzt ins Zimmer, die Mädchen nannten sie Muhme Barbara und erzählten ihr, was sich während ihrer Abwesenheit zugetragen hatte. Muhme Barbara nötigte mich, auf dem Lehnstuhl Platz zu nehmen, auf dem soeben noch Cornelia geruht hatte, und die Mädchen erzählten mir, daß die Taube ihnen gehört habe, und daß sie dieselbe großgezogen hätten; der Muhme Barbara zu Lieb', deren Sinn für Reinlichkeit die Taube nicht beachtet habe, hätten sie den Pflegling verschenkt und über sein späteres Schicksal nichts erfahren. Nach längerer Zeit sei jedoch die Taube wieder am Fenster erschienen und habe auf dem Blumenbrett übernachtet.

Wie es kam, daß ich mich so schnell in dem Stübchen heimisch fühlte und die Mädchen mich fast wie einen Bekannten behandelten, weiß ich nicht zu sagen. Als ich mich entfernte, erhielt ich auf meine Bitte die Erlaubnis, meinen Besuch zu wiederholen.

Ich trug die Taube heim und wanderte dann noch lange zwischen den Gärten und Feldern umher, denn im Zimmer fühlte ich mich beengt.

Es war mir unaussprechlich wohl zu Mut; ich hätte zum Himmel auffliegen mögen und fühlte mich doch auch wieder fester denn je an die Erde gebunden. Erst nachdem die Nacht ihre dunkeln Flügel über Berg und Thal gebreitet hatte, wanderte ich meiner Wohnung zu, wußte meinen Weg aber so zu wählen, daß er mich an Cornelias Fenster vorüber führte. Ich sah den Schein der Lampe durch die grünen Ranken schimmern, aber sie – sah ich nicht.

Bei einem späteren Besuche erfuhr ich von den Mädchen, daß sie die Eltern verloren hatten. Ihr Vater war Bildhauer gewesen, und es hatte ihm nicht an Mitteln gefehlt, seinen Töchtern eine gute Erziehung zu geben. Beide Eltern waren kurz nacheinander gestorben; die Mädchen hatten das Dachstübchen gemietet und Muhme Barbara zu sich genommen, die die Kinder bemutterte. »Die Kinder«, so nannte die gemütliche Alte ihre Pflegetöchter und mit vollem Recht, denn ein unverdorbenes kindliches Herz war ihr reiches Erbe.

Von den Tagen, die ich mit ihnen verlebte, sollen Dir die Blätter Kunde bringen, die Du in dieser Mappe findest. Nimm sie mit heim, und wenn Du Dich mit ihnen bekannt gemacht hast, so will ich Dir später noch einige Mitteilungen mündlich machen, damit Du ein vollständiges Bild von meinem vergangenen Leben gewinnst.« –

Das Licht war tief herabgebrannt; auf dem Gesicht meines Freundes lag eine tiefe Schwermut, und als er mir die kleine Mappe reichte, konnte er die Thränen nicht zurückhalten; er drückte mir krampfhaft die Hand, und ich schied mit schwerem Herzen von ihm. Daheim saß ich noch lange bei dem Scheine der Lampe vor den Blättern, die sich in der Mappe fanden.

Sie waren mit einem blauseidnen Band zusammengebunden. Ich löste den Knoten und fand Briefe, die von verschiedenen Verfassern herrühren mußten, was ich an den Schriftzügen sah, die mir in die Augen fielen. Die Briefe waren nach der Zeit geordnet, aus der sie stammten, und zwischen ihnen lagen einzelne Tagebuchblätter von meines Freundes Hand.

Der erste Brief, der mir in die Hand kam, war ein Brief Albans an seine Mutter. Am Rande stand mit Bleistift von seiner Hand geschrieben: »Ich entnehme diesen Brief dem Nachlasse meiner Mutter. Es ist das erste duftige Blatt aus meinem Liebesfrühling und ist ganz dazu geeignet, Dich mit dem Kreise meiner Lieben bekannt zu machen, die Dir in den folgenden Zeilen nahe treten sollen.« – Der Brief lautete:

»Verzeih', geliebte Mutter, daß ich am Sonnabend nicht erschien; es ist das erste Mal, daß ich einen Sonntag ohne Dich verlebt habe, seitdem ich in Nürnberg wohne. Hoffentlich hast Du Dich über mein Ausbleiben nicht geängstigt. Daß Du mir freundlich Nachsicht schenkst, wenn ich Dir den Grund meines Ausbleibens mitgeteilt habe, davon bin ich fest überzeugt. Nur ein Gedanke quält mich: ich hätte Dir einen Boten senden sollen; liebste Mutter, vergieb mir diesen Mangel an Rücksicht, ich hatte am Sonnabend meine Gedanken nicht beisammen, sie waren mir alle durchgeflogen; ich bin am hellen Tage wie ein Nachtwandler umhergegangen. Mütterchen, hab' ich Dich neugierig gemacht? – Wenn mich nicht eine Arbeit hier festhielt, die ich im Laufe dieser Woche vollenden muß, ich wanderte noch heut' zu Dir hinaus, um Dir zu erzählen, was ich erlebt habe. So kann ich erst am nächsten Sonnabend in Deine Arme eilen, bis dahin aber kann ich nicht schweigen, das Herz ist mir zu voll. Der gestrige Sonntag gehört zu den glücklichsten Tagen meines Lebens; hätte ich mein Glück mit Dir teilen können, hätte ich Dich in meiner Nähe gehabt, so wäre mein Glück vollkommen gewesen. Der Gedanke, daß Du allein in deinem Stübchen säßest und Dich wohl gar um mich sorgtest, war die einzige Wolke, die mir die Freudensonne des gestrigen Tages verdunkelte. Du weißt, liebe Mutter, wie sehr mich meine neue Bekanntschaft interessiert; Du kennst bereits Cornelia und Anna so genau aus meinen Schilderungen, daß Du sie aus Tausenden herausfinden würdest. Ich hatte den lieben Mädchen manchen kleinen Dienst erwiesen, und sie waren darauf bedacht, mir einen heitern Tag als Dank für meine Bemühungen zu erweisen. Sie forderten daher ihren Bruder, wie sie mich scherzend nannten, freundlich auf, sie und Muhme Barbara zu ihrem Oheim, dem Pfarrer in D., zu begleiten. Dies geschah am Sonnabend Nachmittag, und der Sonntag wurde für die Landpartie bestimmt. Sie hatten vorausgesetzt, daß ich einwilligen würde, und ihren Oheim bereits von unserm Besuch benachrichtigt.

Du kannst Dir wohl denken, daß ich mit Freuden zusagte. Ich schlief unruhig und erwachte frühzeitig. Der Morgen war wunderbar schön, und vor mir lag ein Tag, der mir einen Lieblingstraum zur Wirklichkeit machen sollte. Ich fühlte mich unaussprechlich glücklich, und als ich das Fenster öffnete, die Morgenluft mich erquicklich anwehte und die Glocken vom nahen Turme mir ihren Sonntagsgruß zuriefen, trat mir das Lied auf die Lippen:

Ach, daß ich tausend Zungen hätte
Und einen tausendfachen Mund,
So stimmt' ich damit um die Wette
Aus allertiefstem Herzensgrund
Ein Loblied nach dem andern an
Von dem, was Gott an mir gethan.

Festlich gekleidet holte ich die Mädchen und Muhme Barbara ab, und wir wanderten durch die sonntäglich stillen Straßen der Stadt.

Als wir die Stadt im Rücken hatten und durch die betauten Wiesen rüstig dahin zogen, wurden auf einem nahe liegenden Dorfe die Glocken laut, und Cornelia sagte: »Gleichen diese Glocken nicht lieben Freunden, die uns mit ihrer tief zu Herzen gehenden Stimme ernst und liebevoll ermahnen, in der Fremde der Heimat zu gedenken, die unsrer Wanderschaft Ziel sein soll?« – Als ich später ihr einen Strauß von duftenden Feldblumen reichte, sagte sie wehmütig lächelnd: »Ich weiß nicht, woher es kommt, ich muß bei jeder Blume, die ich pflücke, immer daran denken, daß sie nur um so schneller verwelkt. Mir ist zu Mut, als hätt' ich ihr das Leben verkürzt, und doch – kann ich nicht widerstehen, mir, so oft ich durchs Feld wandre, einen Strauß zu pflücken.« Einer Lerche, die über uns jubilierte, rief sie zu: »Recht so, liebes Vöglein, du verstehst es, mit frohem Liede den Herrn zu preisen!« Und dann forderte sie uns zum Singen auf und stimmte mit ihrer glockenreinen Stimme das schöne Morgenlied von Eichendorff an:

O wunderbares, tiefes Schweigen,
Wie einsam ist's noch auf der Welt!
Die Wälder nur sich leise neigen,
Als ging' der Herr durchs stille Feld.
Ich fühl' mich recht wie neugeschaffen,
Wo ist die Sorge nun und Not?
Was mich noch gestern wollt erschlaffen,
Ich schäm' mich des im Morgenrot.
Die Welt mit ihrem Gram und Glücke
Will ich, ein Pilger, froh bereit
Betreten nur wie eine Brücke
Zu dir, Herr, überm Strom der Zeit.

Wir begleiteten sie, und das Lied klang weithin über die stillen Felder.

So gelangten wir, wenig von der Wanderung ermüdet, am Pfarrhause an. Es lag freundlich vor uns, von einer mächtigen Linde überschattet, und war von altertümlicher Bauart. Wir traten ein und wurden herzlich bewillkommnet. Die Pfarrerin mochte ein Fünfzigerin sein und war eine freundliche, rasche Frau; die erwachsene Tochter war ein frisches, gutherziges Wesen, eine Marthanatur. Den bedeutensten Eindruck auf mich machte der Pfarrer, eine hohe Gestalt mit schneeweißem Haar, aber mit noch frischen Wangen und klaren, hellleuchtenden Augen; das Schönste an ihm war der feingeformte weiche Mund, um den ein freundlich milder Ernst sich lagerte. Er reichte mir zum Gruße die Hand und sagte scherzend: »Ich freue mich, den neuen Neffen kennen zu lernen.« Nach einigen Minuten entfernte er sich jedoch mit der Entschuldigung, daß er noch einiges vor dem Beginn des Gottesdienstes zu besorgen habe.

Die beiden jungen Mädchen gingen der Hausfrau an die Hand, und ich blieb mit Cornelia allein im Zimmer zurück, denn auch Muhme Barbara war verschwunden. Cornelia brach zuerst das Schweigen und erzählte mir, daß sie in diesem Hause ihren Konfirmationsunterricht genossen habe, und konnte nicht genug die tiefe Frömmigkeit und die unermüdliche, opferfreudige Liebe ihres Oheims rühmen.

Als die Glocken riefen, wanderten wir insgesamt in die Kirche; ich befand mich in einer gehobenen Stimmung und stimmte freudig in den Gesang der kleinen andächtigen Landgemeinde ein. Auf der Kanzel trat die Johannesnatur des Pastors recht an den Tag; er predigte über die Worte: »Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.« Nie habe ich tiefere Gedanken über das Wesen der heiligen Liebe vernommen, als hier in dem kleinen Dorfkirchlein.

Er ließ von diesen Worten aus ein verklärendes Licht auf die verschiedensten Lebensverhältnisse fallen und erhob sie im Glanze dieses Lichtes auf eine ideale Höhe. Ich hatte meinen Platz auf dem Chore gewählt; unter mir saß Cornelia in tiefe Andacht versunken.

Nach dem Gottesdienst gingen wir still in das Pfarrhaus zurück; nur einmal traf mich ein leuchtender Blick aus Cornelias Auge. Nach einem einfachen Mittagsmahle verlebten wir die Stunden bis drei Uhr, wo der Nachmittagsgottesdienst endete und der Pfarrer wieder in unsere Mitte zurückkehrte, teils im Zimmer, teils im kleinen Hausgärtchen.

Als wir uns eben zu einer Wanderung in den nahen Wald gerüstet hatten, wo der Kaffee getrunken werden sollte, fielen schwere Regentropfen, und die Mädchen entschlossen sich schnell und deckten den Kaffeetisch in einer grünumrankten, überdachten Laube. Hier saßen wir eng beisammen, lauschten auf den lustig rauschenden Regen und erquickten uns an der frischen, würzigen Luft. Der Pfarrer rauchte behaglich sein Pfeifchen und erzählte uns viel aus seinem Leben. Als der Himmel sich aufheiterte und der Regen aufgehört hatte, mahnte Muhme Barbara dringlich an die Heimkehr. Der Abend war kühl, und wir wanderten fröhlich, wie Kinder, der Heimat zu.

Einen so ausführlichen Brief wie diesen hast Du seit meinen Reisen nicht von mir erhalten, und doch wirst Du von dem schönen Sonntage noch viel hören müssen, wenn ich am Ende dieser Woche zu Dir eile.

In treuer Liebe

Dein
Alban.«

An diesen Brief reihten sich einige Blätter aus Albans Tagebuche. Sie gewährten mir einen tiefen Einblick in sein bewegtes Herz.

Aus Albans Tagebuch.

 

1.

Ich trage ein süßes Geheimnis in mir und fühle mich doch so mutlos und so voll quälender Sorge. Daß ich Cornelia unaussprechlich liebe, weiß ich nur allzu gewiß, aber ob sie mich liebt? ich darf es kaum zu hoffen wagen. Gestern lockte mich der milde, sonnige Oktobertag ins Freie. Ich wanderte lange ohne Ziel im Walde umher und hatte meine Freude an der tiefen Stille um mich, und an den hellen Sonnenstrahlen, die hier und da auf dem frischen grünen Moose spielten. Plötzlich lag ein betretener Pfad vor mir, ich folgte ihm, und bald sah ich in der Ferne das freundliche Waldhaus durch die Bäume schimmern, das mir von einer frühern Wanderung her wohl bekannt war. Wen aber sah ich, als ich näher kam? Auf der Moosbank unter dem bunten Dache des Ahorns saßen die beiden Schwestern und hielten einander umschlungen, und neben ihnen saß Muhme Barbara mit ihrem Strickzeug. Von der Bank aus kann man weit in die Ferne hinausschauen, denn vor ihr ist der Wald gelichtet. Ich sah, wie Cornelia träumerisch in die fernen blauen Berge blickte, während Ännchen auf das leise Wehen in den Wipfeln zu lauschen schien. Eine namenlose Freude überkam mich, und ich wurde mit der harmlosesten Herzlichkeit begrüßt. Die Schwestern machten mir auf der Moosbank freundlich Platz, aber meine Freude mußte bald einer tiefen Wehmut weichen, die ich bis zu dieser Stunde nicht überwunden habe.

Cornelia sah ungewöhnlich bleich aus, und ihre Augen leuchteten mit einem fast überirdischen Glanze. Als sie den Blick von dem fernen Gebirge abwandte, fragte sie mich: »Ergeht es Ihnen wohl auch ähnlich wie mir, wenn Sie lange auf ferne blaue Berge hinausschauen? Es überkommt mich dann immer eine tiefe, tiefe Sehnsucht; ich möchte Flügel haben und mich aufschwingen und hinausfliegen in die endlose Weite.«

»Ich kann Sie wohl verstehen, liebe Cornelia,« entgegnete ich, »auch in mir rufen Berge in der Ferne immer die Lust zum Wandern wach. Man träumt sogar von einem Paradies hinter den Bergen. Aber heut' fühle ich von dieser Sehnsucht nichts in mir, ich verweile lieber hier in dieser süßen Waldeinsamkeit.«

Sie lächelte und entgegnete: »Sie haben mich nicht ganz verstanden. Nicht in die Welt hinein möchte ich fliegen; meine Sehnsucht ist andrer Art. Ich fühle beim Anblick blauer Gebirge ein stilles Heimweh nach dem fernen, fernen schönen Heimatland, das uns beschieden ist, und dieses Heimweh erwacht immer auch dann in mir, wenn ich am Abend in den Mond hineinschaue, oder wenn mein Blick in den unermeßlichen Räumen des gestirnten Himmels sich verliert. Am lebendigsten aber,« setzte sie leise hinzu, »regt sich diese stille Sehnsucht in mir im Hause des Herrn. So mag es einem gefangenen Vogel zu Mute sein, den es im Herbst nach dem fernen schönen Süden treibt und der vergeblich in seinem engen Bauer umherflattert.«

Ein schneidendes Weh durchzuckte mich; sie sehnt sich nach dem Tode, und vor ihr liegt das Leben und neben ihr schlägt ein Herz, das sein Glück nur in ihr sucht. Ich konnte kein Wort sprechen und preßte meine Lippen fest zusammen und sah meine schönsten Träume zerrinnen. Ännchen blickte mich besorgt an und fragte: »Sie fühlen sich doch nicht unwohl, lieber Alban?« Es überfiel mich ein Frostschauer, antwortete ich kurz, lassen Sie uns aufbrechen, der Abend ist kühl geworden.

Auf dem Heimwege sprach ich fast nur mit Ännchen; beim Abschiede reichte mir Cornelia die Hand, ich fühlte einen leichten Druck und sah, daß ihr Auge feucht war. Im stillen Zimmer wurde es nach und nach auch in mir stiller. Hatte ich denn ein Recht an sie? Kein Wort von Liebe war über meine Lippen gekommen. Sie sah nur einen Bruder in mir, – konnte sich aber der Bruder nicht in einen Bräutigam verwandeln? Es stand ja in meiner Macht, der peinigenden Ungewißheit ein Ende zu machen. Warum soll ich verzagen, ehe ich eine Anfrage gewagt habe? – Hat sie mir doch beim Abschied heute das erste Mal leise die Hand gedrückt. Und diese Sehnsucht nach dem Himmel, diese unbestimmte Sehnsucht, kann sie nicht in einem Verlangen des Herzens nach vollem Genügen ihren verborgenen Grund haben? Sollte dieses Heimweh sich nicht in ein Heimatgefühl verwandeln können, und ist nicht vielleicht meiner Liebe die Bestimmung geworden, Cornelia an diese schöne Gotteswelt zu fesseln? Senkt sich doch mit reiner, treuer Liebe ein ganzer Himmel voll Seligkeit in die Brust. Und wenn ihr nun auch dieses stille Heimweh bliebe, könnte es nicht von ihr auch in mich übergehen, so daß wir gemeinsam als zwei Kinder Gottes der fernen Heimat zuwanderten? – O solch ein gemeinsamer Gang mit ihr durch die Erde hin, dem Himmel zu! Cornelia, reiche mir Deine Hand und gieb mir das Geleite durch dieses Leben als mein Raphael, als mein getreuer guter Engel, der mich sicher der Heimat zuführt.

 

2.

Der November ist eingezogen. Der Regen schlägt an die Fenster und der Wind heult. Kein Stern ist zu sehen und aus den Straßen ist's still und stiller noch in meinem Zimmer; ich höre nur den eintönigen Pendelschlag der schwarzwälder Uhr, die mir aus dem Vaterhause hieher hat folgen müssen. Ich habe heute mit angestrengtem Fleiß gearbeitet. Meine »heilige Familie« sieht ihrer Vollendung entgegen, doch muß ich noch manchen Tag fleißig arbeiten, ehe die Kopie bis zur Einrahmung fertig ist. Es soll meine Weihnachtsgabe für Cornelia sein! Nie habe ich an einem Bilde mit größerer Lust gemalt. Friede ist um mich und Friede ist auch in mir. Ich sehe der Zukunft hoffend entgegen, und doch – wenn meine Hoffnung mich täuschen sollte? – Es muß zur Entscheidung kommen, ich fühle es tief in mir, daß ich ihr nicht länger als Bruder, als Freund zur Seite gehen kann, ohne sie zu täuschen. Sie muß es wissen, was ich ihr nicht länger verbergen kann; sie muß es aus meinem Munde hören. – Und doch bangt mir vor dem entscheidenden Augenblick. Seit jenem Tage im Walde sah ich sie nicht wieder, nur mein kleiner Bote trug ihr täglich meine Grüße zu. So aber kann es nicht länger bleiben; Cornelia, morgen lege ich mein Leben in deine Hand! Ob sie wohl meiner jetzt gedenkt? – Ob sie eine Ahnung hat von der Innigkeit und Tiefe meiner Liebe? – Du alte Freundin aus meinem Vaterhause, morgen schlägst du mir eine Stunde, wie du mir noch keine geschlagen!


Daß am andern Morgen die mir wohlbekannte schwarzwälder Uhr ihm die glücklichste Stunde seines Lebens schlug, ersah ich aus dem Briefe, den er diesen Tagebuchblättern beigelegt hatte, und in dem er sein Glück jubelnd seiner Mutter verkündigt.

»Herzliebste Mutter,« so lautet der Brief, »wenn doch der Himmel den Regenströmen Einhalt thun wollte, damit ich zu Dir eilen könnte, um an Deinem Herzen mein Glück auszujubeln und mit Dir in Lob und Dank auszubrechen gegen den Herrn dort oben, der mein Leben und meine Liebe so herrlich gekrönt hat. Ich bin nicht wert der Barmherzigkeit und Treue, die der Herr an mir gethan hat. O, meine Mutter, Cornelia ist mein! Du weißt, daß ich mich einige Zeit lang den beiden lieben Mädchen fern gehalten habe. Ich wollte ruhig werden in mir; ich wollte mein Herz streng prüfen vor Gott, bevor ich wieder mit Cornelia zusammenträfe. – Und ich wurde ruhig – aber ich hatte auch die Gewißheit gewonnen, daß ich Cornelia gegenüber nicht länger schweigen durfte von dem, was so mächtig meine Seele bewegte.

Vorgestern abend faßte ich den Entschluß, am nächsten Tage Herz und Hand meiner lieben Cornelia anzutragen. Deines mütterlichen Segens war ich ja längst gewiß. – So oft ich aber gehen wollte, wurde ich wieder unruhig in mir. – Es ist mir noch nie so seltsam bang ums Herz gewesen. Plötzlich pocht es an meine Thür; ein Knabe tritt herein und reicht mir ein Briefchen von ihrer lieben Hand. Die Mädchen machten sich über mein ungewohntes Wegbleiben Sorge. – Ich eilte hastig in das wohlbekannte Haus. Hier traf ich die beiden Schwestern allein. Ännchen kam mir plötzlich viel fremder, größer und jungfräulicher vor; ihr Blick ruhte ernst und fragend auf mir und nach einer flüchtigen Begrüßung verschwand sie. Cornelia aber reichte mir die Hand und fragte, warum ich so ganz die kleine Familie miede, ob ich unwohl gewesen sei oder mir eins von ihnen wehe gethan habe.

Der entscheidende Augenblick war gekommen, ich konnte meinem Herzen nicht länger Gewalt anthun, der Sturm der Gefühle riß mich fort; was ich aber in jenen bewegten Augenblicken gesprochen habe, das, liebe Mutter, weiß ich nicht mehr zu sagen; nur soviel weiß ich, daß sich Cornelias Augen mit Thränen füllten, daß ihre Wangen sich röteten und ihre Hand zitternd in der meinigen ruhte, daß sie ihr schönes Haupt immer tiefer neigte und eine Thräne auf meine Hand tropfte. Sie bat mich um Verzeihung für den Schmerz, den sie mir bereitet habe, ohne es zu ahnen; sie sprach es offen aus, daß sie mich als ihren teuersten Freund auf Erden liebe, daß sie auch alles thun wolle, was in ihrer Kraft stehe, mein Leben zu schmücken, daß sie aber gar wenig Vertrauen zu ihrer Kraft habe. Sie war so voll tiefer Demut und inniger Liebe, sie stand so rein und leuchtend vor mir, daß ich vor ihr auf die Kniee sank und ihre Hände an meine brennenden Augen drückte. Sie aber rief, indem sie neben mir niederknieete und ihre Hände mir entzog: »Laß uns vereint Gott für seine Liebe danken; seine Hand hat uns geführt.«

Aus voller Seele sprach sie ein herzinniges Gebet, das tief in mir nachklang, und in diesen Augenblicken habe ich zum erstenmal die Seligkeit gefühlt, die in der gemeinsamen Erhebung zu Gott ruht. – Wir standen dann beide noch lange tiefergriffen Hand in Hand im Zimmer; unsere Herzen waren eins in jener Liebe, die die heilige Schrift eine Flamme des Herrn nennt und von der sie rühmt, daß sie stark sei wie der Tod.

Als Ännchen zurückkehrte und Licht brachte und Barbara mit ihr kam, teilten wir mit den beiden lieben Seelen unser Glück. O könnte ich Dir nur, liebe Mutter, schon heute Cornelia zuführen, daß Du Dein Töchterlein ans Herz nehmen und Deine Hände segnend auf uns legen könntest. So wie der Himmel sich aufhellt, darfst Du uns erwarten. Ännchen und Barbara werden uns begleiten. O wie unaussprechlich glücklich fühle ich mich in dem Gedanken, Dir eine solche Tochter ans Herz zu legen! Bis dahin lebe wohl.

Dein getreuer
Sohn.«

An diesen Brief reihte sich folgendes Blatt aus Albans Tagebuche, das mir einen tiefen Einblick in das zarte Verhältnis gestattete, das zwischen den beiden edlen Seelen stattfand:

»So ist es denn vorüber, dies schöne liebliche Christfest, das wir so sehnlich erwartet, so froh begrüßt, so schön gefeiert haben. Aber es ist nicht spurlos verschwunden, gleich einem leuchtenden flüchtigen Meteore, sein Licht erhellt noch mit seinem sanften Schimmer die Herzen. Der Morgenstern ist auch mir aufgegangen in dir, mein Herr und Heiland Jesus Christus. Ich fühle es, du lebst in mir, giebst dir in meinem Herzen mehr und mehr Gestalt. Der Kinderglaube meiner lieben Cornelia wird täglich mehr der meinige, Herr nimm mich ganz dahin und heilige mich und gieb mich geheiligt ihr zurück. Laß mich nicht müde werden dir zu danken und dich zu preisen für das reiche Glück, das du mir beschert hast und laß mich den Wert meines Kleinodes täglich mehr erkennen. – Wenn ich an die vergangene Woche denke, steht eine Reihe der glücklichsten Stunden vor meiner Seele. O wie köstlich waren die stillen Abende in dem kleinen traulichen Zimmer, wenn wir um den runden Tisch saßen, das Feuer im Ofen lustig knisterte, die Lampe das Stübchen bis in die fernsten Winkel erhellte und der Theekessel vor uns sein Heimchenlied sang. – Wir waren für das Fest beschäftigt, oder wir lasen, oder wir plauderten, – was wir auch treiben mochten, immer hatten wir nur über eins zu klagen, über die allzuschnelle Flucht der Stunden. Es lag ein unbeschreiblicher Zauber auf jenen Abenden, und dennoch, du thörichtes Herz, schlugst du auch in jener seligen Zeit oft unruhig, bang und ahnungsschwer in mir. – Was verlangst du von ihr? – Weißt du doch nun, daß sie dich liebt! – Ach, Cornelia, an der Innigkeit und Treue deiner Liebe zweifle ich nicht, aber du liebest nicht, wie andre Frauen lieben, deine Liebe ist leidenschaftslos, sie ist nur der Wiederschein einer anderen Liebe, du liebst mich, wie man einen Freund liebt, aber die Liebe, wie sie das stürmisch bewegte Herz deines Bräutigams verlangt, kennst du nicht. – Ach, wenn sie oft so still neben mir sitzt und fast teilnahmlos bei unserm Plaudern bleibt, als weilte ihr Geist in fernen Regionen, möchte ich an ihrer Liebe zweifeln, und doch bringt dann ein leiser Druck der Hand, ein Blick aus ihrem leuchtenden Auge immer wieder die süßeste Kunde von ihrer Liebe zu mir. Will sie mir eine besondere Freude machen, dann übernimmt sie die Rolle der Hausfrau, bereitet den Thee, legt mir vor und ist heiter wie ein Kind, wenn sie bemerkt, daß mich ihr geschäftiges Treiben glücklich macht. Dann färben sich auch ihre Wangen röter und ihr ganzes Wesen wird lebendiger; aber nur zu schnell verschwindet die flüchtige Röte wieder und auf die augenblickliche Erregung folgt eine Müdigkeit, die sie vergeblich zu verbergen sucht. Die liebsten Augenblicke sind mir immer jene stillen Augenblicke, während welcher wir allein im tiefen Fenster sitzen und die Vorhänge eine leichte Wand bilden, die uns von den übrigen trennt.

So saßen wir gestern am Weihnachtsabend allein bei einander. Nachdem die laute Freude einer stillen Befriedigung Raum gegeben, die Lichter am Baume erloschen, Cornelia einen Platz für meine »Familie in Bethlehem« ausgesucht hatte, mein liebes Mütterlein in der Nähe des Ofens im weichen Lehnstuhle saß und Ännchen und Barbara mit ihr plauderten, zogen wir uns in die Fensternische zurück.

Die Sterne funkelten freundlicher am klaren Winterhimmel, aber heller leuchteten Cornelias liebe Augen; ihre Mienen und ihre Worte gaben Zeugnis von ihrem stillen, innern Glück. Und doch, wie sie da saß im Sternenlicht, so schön und ach! so bleich, trat mir immer wieder der Gedanke nahe, daß sie mehr einer andern höhern Welt, als dieser Erde angehöre, und ich konnte nur mit Mühe bange Ahnungen zurückdrängen. Ach! und doch liebe ich sie täglich inniger! Ich möchte jeden Augenblick des Tages in ihrer lieben Nähe zubringen, aus Furcht, es möchten die Tage meines Glücks gezählt sein. Auch meine Mutter liebt Cornelia auf das herzlichste, aber auch ihr Blick scheint oft mit Sorgen auf der neu gewonnenen Tochter zu ruhen.« –

Daß der Braut die schwermütige Stimmung des Bräutigams nicht entgangen war, ohne daß sie den Grund derselben erkannt hatte, bezeugt der folgende Brief, der erste von ihrer Hand, den mein Freund den Blättern beigelegt hatte.

Cornelia an Alban.

»Mein innig geliebter Freund, ich bin recht unruhig und traurig darüber, daß Du gestern so unbefriedigt und in so trüber Stimmung von mir schiedest. Ich habe mich die ganze Nacht hindurch mit Fragen gequält, auf die mir doch niemand Antwort geben kann. Ich bereute, was ich doch nicht ändern kann, meine Offenheit, die Dir oft wehe thut, und sieh! ich liebe Dich doch wieder zu innig, als daß ich nicht meine ganze Seele wie ein Buch vor Dir möchte aufgeschlagen sehen. Es streiten in mir zwei Gewalten um mich und ich vermag es nicht, den Streit zu schlichten und ich fühle, daß jede ein Recht an mich hat. Lieber Alban, so war es nicht immer in mir; meine Liebe zu Dir hat den Kampf hervorgerufen. Ehe ich Dich kennen lernte, gehörte mein Herz dem Herrn allein und es zog mich mit unwiderstehlicher Sehnsucht nach oben, und jetzt! ach dies Leben ist mir so lieb geworden durch Dich und ich fühle mich heimisch auf Erden und fürchte doch auch wieder, diese Welt könnte mir durch Dich einen allzu hohen Wert gewinnen. In der Welt möcht' ich zwar mit Dir leben, aber nie möchte ich von der Welt sein.

Du sagtest mir, daß meine Liebe zu Dir eine von Gott gewollte sei, daß er ja selbst dieses Feuer in dem Herzen entflammt habe, daß die h. Schrift deswegen auch diese Liebe eine Flamme des Herrn nenne, daß Christus selbst das Wort der Weihe über den Bund liebender Herzen spreche, daß die irdische Liebe gar wohl mit der himmlischen zu vereinigen sei, daß die letztere die erstere nur läutere und verkläre: Du hast recht, lieber Alban, das fühle ich tief, aber habe Geduld mit mir, ich muß diesen Kampf erst in mir auskämpfen, wenn es in mir wieder still werden soll. – Ich habe mich solange der Sehnsucht nach oben, dem himmlischen Heimweh hingegeben, daß es seine Macht über mich nicht so leicht verlieren kann. Es hat vielleicht dieser Sehnsuchtszug auch seinen Grund mit in dem Gefühl der Schwäche, das mich oft überfällt. Es überkommt mich oft eine niederdrückende Ermüdung, daß sich in mir unwillkürlich der Wunsch regt nach einem Leben, in dem es keine Müdigkeit, keine Schwäche mehr giebt. – Aber ach! da mache ich Dich wieder traurig; ich bin doch ein recht thörichtes Kind! – Zu Deiner Beruhigung will ich Dir nur sagen, daß der Arzt, als ich ihm meine kleine Not klagte, so wenig Gewicht auf meine Klagen legte, daß er mir nicht einmal eines seiner winzigen Pülverchen verordnet hat. – Ach, habe nur Geduld mit mir und laß in Dir keinen Zweifel an meiner Liebe aufkommen; ich habe ja keinen liebern Wunsch, als den, Dich glücklich zu machen. Gott sei mit Dir!

In treuer Liebe
Deine Cornelia.«

Die folgenden Briefe Cornelias sind einzelne Zeugnisse aus späteren Monaten; aus allen trat mir das Bild einer unendlich zarten und innigen Liebe entgegen und es hatte den Anschein, als sollte mein lieber Freund einer glücklichen Zukunft entgegengehen. Wie ich einen Brief nach dem andern las, trat mir die geistige Gestalt Cornelias immer lebendiger vor die Seele. Hier sind die Briefe.

 

1.

Da Du, mein Freund, heut' abend nicht zu mir kommen kannst, muß ich Dir schreiben und ein Zeichen geben von meinem Nahesein. Ich bin mit allen meinen Gedanken bei Dir, und ich weiß, daß Du eben jetzt auch an mich denkst. Wie könnte dies auch anders sein? Es schlägt ja eben die Stunde, in der ich immer Deinen Schritt höre, die liebe Stunde, die mir den Freund, den Bräutigam bringt.

Ich habe den Abend so gern. Soll ich Dir sagen, warum er mir so lieb ist? Es war ja eine Abendstunde, die mich reich gemacht hat in Dir! Daher mag es wohl auch kommen, daß sich meine Seele immer am Abend am weitesten aufthut für Dich, für Deine Liebe, die mich so unaussprechlich glücklich macht. Der laute Tag zerstreut die Gedanken, der stille Abend sammelt sie. Doch schon nehmen die Tage wieder zu, der Frühling liegt nur noch im leisen Morgenschlummer und regt sich schon dann und wann und wird sich nun bald die Augen reiben und aufspringen und mit Blumen sich bekränzen und singend durch die Fluren ziehen.

Denke Dir, bei einem Gang in das nahe Wäldchen, den ich an Ännchens Arme heut' unternahm, fand ich an einem sonnigen Orte die erste Blume, ein Schneeglöckchen, von dem die Dichter behaupten, daß es den Frühling einläute. Ich sende es Dir, mein Alban; hörst Du das leise Klingen? es läutet unsern Liebesfrühling ein.

Ach, mein Alban, es wird immer herrlicher und lieblicher zwischen uns, wir verstehen uns immer mehr und alle Bangigkeit ist von meiner Seele gewichen. Ich fühle es tief in mir, daß die Liebe alle Furcht austreibt, und darf nun nicht mehr sorgen, Dich mit einem Worte zu betrüben. O wie danke ich meinem lieben Herrn dafür, daß er unsre Liebe geläutert und geweiht hat! Je mehr ich mich ganz und unbedingt an sein Herz lege, um so wärmer und selbstloser lerne ich die Menschen umfassen, und je mehr sein Bild mich erfüllt, um so schöner erscheint mir die Erde und um so glücklicher fühle ich mich auf dieser schönen Erde in Deiner Liebe.

Deine Cornelia.

 

2.

Ich muß mich oft fragen: ist es nur ein schöner Traum, oder ist's Wirklichkeit, daß ich hier bin, hier in der Nähe Deiner lieben Mutter, deren ganzes Wesen mir so unendlich wohlthut, hier in dem stillen Dörfchen unter den treuen einfachen Landleuten? Hier ist gut wohnen! hier laßt uns Hütten bauen! rufe ich oft unwillkürlich aus. – Das Leben, das ich hier mit Deinem Mütterlein führe, ist die Verwirklichung eines meiner liebsten Träume. Könnte ich doch dieser frommen Naemi eine getreue Ruth sein! Ihr Thun ist lauter Liebe und ihr Wandel Gottseligkeit. Wir sind fröhlich wie Kinder und haben den ganzen Tag hindurch Gott zu loben und zu danken für all das Gute, das er uns zu teil werden läßt. – Wir lesen viel miteinander in der heiligen Schrift und sind immer von neuem beglückt von der ewig neuen Fülle, die uns aus dem Brunnen des Lebens entgegenquillt. Oft erfreuen wir uns auch an den schönen Liedern, von denen Deine liebe Mutter einen reichen Schatz besitzt. – Dann wirtschaften wir wieder gemeinsam, ja lächle nur, Du Lieber, ich helfe wirtschaften und lerne nach Herzenslust. Sogar ein Wirtschaftsbuch habe ich mir angelegt und in diesem sammle ich alle guten Ratschläge, die mir Dein Mütterlein erteilt. Aber Du darfst nicht denken, daß wir immer im engen Hause sitzen, wir besteigen die umliegenden Hügel und freuen uns an den Wundern unsers lieben Herrn.

Auch auf ernsten Wegen folge ich Deiner frommen Mutter, in die Hütten der Armut hinein und an das Schmerzenslager der Kranken. Hier lerne ich so recht ihr frommes Herz kennen, das so teilnahmvoll für fremde Not schlägt und so freundlich zu trösten und so sanftmütig zu tragen und so aufopfernd zu helfen versteht. Mit einem Wort, lieber Alban, ich fühle mich hier heimisch. Auch meine Lebenskraft wächst hier, ich fühle mich täglich kräftiger und blicke mit klarem Auge hoffend in die Zukunft. Aber eins fehlt mir – was mag dies Eine sein?

Bitte, schreibe recht bald und recht ausführlich. Dein Mütterchen grüßt Dich schön.

Deine Cornelia.

 

3.

Wie hat mich Dein lieber Brief so glücklich gemacht! Ich sehne mich unaussprechlich nach Dir und kann die Zeit des Wiedersehens kaum erwarten. Ich bitte Gott täglich, daß er uns recht bald zusammenführt, denn ich fühle es, ich kann eine lange Trennung nur schwer, sehr schwer ertragen. Bei innig verbundenen Herzen giebt es freilich kein eigentliches Getrenntsein mehr, aber – das Herz verlangt doch hienieden noch mehr als ein geistiges Nahesein des Geliebten. Ach, in dem: Aug' in Auge! liegt ein unbeschreibliches Glück!

Ich kann Dir nicht sagen, wie unendlich glücklich ich mich fühle, wie wohl mir in der tiefsten Seele ist, und wie leicht es mir jetzt wird, in Geduld die kleinen körperlichen Leiden zu tragen, die sich mir seit einiger Zeit wieder fühlbar machen. Ich habe es jetzt so recht erfahren, was der Apostel mit den Worten sagen will: »Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.« Deshalb kann ich auch nur lobsingen und Gottes Güte rühmen, die den Schwachen stark macht. Lieber Alban, bete für mich, wie ich für Dich bete, daß ich in der Liebe Gottes bleibe und immer freier werde von allem eignen Willen. Es ist so selig, sich ganz in den Willen Gottes zu legen. Vermag man dies, dann hat man auch allezeit Frieden und kann fröhlich sein auch in der Trübsal; man lernt unter dem Kreuze lobsingen.

Wir machten heut' eine kleine Wanderung auf den »hohen Wald«; es war wunderherrlich. Wir legten uns in das schwellende, weiche Moos; unter uns und über uns grüne Wipfel; welche Waldruhe, welche süße Waldeinsamkeit! Unsre Gedanken flogen aus; wohin mögen sie geflogen sein? Sie waren bei Dir. In der Waldmühle erquickten wir uns und wanderten heim durch das liebliche Wiesenthal, immer dem Waldbach entlang, der lustig neben uns rauschte. Von der Wanderung haben wir gewaltige Blumensträuße mit nach Hause gebracht, die Dein Mütterlein zierlich in Vasen und Schalen geordnet hat, so daß wir unter lauter Blumen sitzen und das Zimmer von Maiendüften erfüllt ist.

Morgen wollen wir das ganze Haus mit grünen Maien schmücken zu Deinem Empfang. Wie freuen wir uns auf Dich! Wir streiten uns oft darüber, welche von uns beiden Dich wohl mehr liebe. Wenn Du kommst, sollst Du selbst entscheiden. Dein Mütterchen meint, sie habe die ganze Vergangenheit für sich, ich aber setze dagegen die Zukunft ein. Es ist nur ein Glück für uns, daß wir wissen, daß in Deinem Herzen Raum ist für uns beide. Auf Wiedersehen!

Deine Cornelia.

Auf diese drei Briefe folgte wieder ein Blatt von Albans Hand; er schreibt:

Hier muß ich wieder eingreifen und weiter erzählen, denn es trat eine Zeit ein, in der ich nur kleine, flüchtige Blättchen von Cornelias Hand erhielt. Diese Zeit war die eigentliche »Maienzeit« meines Lebens. Ich wanderte oft hinaus in das liebe Dörfchen, wo meine Lieben weilten, und fand zu meiner Freude Cornelias Wangen rosiger, ihr ganzes Wesen frischer und freudiger. Der Einfluß meiner Mutter, die sich sowohl ihrer äußern Erscheinung als auch ihren Empfindungen nach jugendfrisch erhalten hatte, war deutlich an Cornelia wahrzunehmen und die frische Landluft hatte in gleicher Weise wohlthuend eingewirkt. Die beiden Frauen führten ein stillfröhliches Leben miteinander. Cornelia war bemüht, alles für ihren zukünftigen Hausstand zu lernen, was denselben dem Hausstande meiner lieben Mutter ähnlich machen konnte, und in diesem thätigen Gebaren war sie außerordentlich liebenswürdig, und meine Mutter hatte ein sichtbares Wohlgefallen an ihrer eifrigen Schülerin. So oft ich kam, wurde ich mit lautem Jubel begrüßt und immer erwartete mich eine neue Überraschung. Bald hatten sie das Zimmer lieblich geschmückt, bald den Tisch im grünen Obstgarten gedeckt, ein andermal hatte Cornelia mit eigner Hand ein kunstvolles Gebäck bereitet oder mir eine kleine Stickerei gefertigt.

Kleine Wanderungen gaben uns viel Genuß und wir überließen uns der harmlosesten Fröhlichkeit. Dazu kam, daß Cornelia täglich kräftiger wurde; sie konnte die Berge leichter steigen und das Atmen fiel ihr dabei weniger schwer, als früher. So trat meine Befürchtung immer mehr zurück. Als sie wieder zur Stadt zurückgekehrt war, wanderte ich alle Abende nach dem traulichen Hause, und da die Sommerabende warm waren, saßen wir oft bis nach neun Uhr in dem kleinen Gärtchen hinter dem Hause. Anna half fleißig an der Ausstattung und suchte hinter ihrem Fleiß den tiefen Ernst zu verbergen, der mir seit einiger Zeit an ihr ausgefallen war. Sie hatte sich entschlossen, Diakonissin zu werden, und wir neckten sie zuweilen über ihr ernstes Gesichtchen und gaben ihr schuld, sie suche sich auf ihren Stand vorzubereiten; als wir aber einst bei einer derartigen Neckerei bemerkten, daß sich ihr Auge mit Thränen füllte, berührten wir diesen Punkt nicht wieder und ließen sie gewähren. So wurde sie allmählich wieder heiterer und oft machte sich ihr früheres munteres, schalkhaftes Wesen wieder geltend.

Sie wurde immer schwesterlicher und herzlicher gegen mich und war bald die Seele der Unterhaltung geworden. Als der Herbst kam, mußte ich eine Reise ins Gebirg unternehmen. Der Abschied wurde mir unendlich schwer und eine bange Ahnung lastete auf meiner Seele. Cornelia begleitete mich bis zur nächsten Anhöhe; hier hatten wir oft die Sonne untergehen sehen, und hier stand sie von der Abendsonne beleuchtet unter einer grünen Birke, in deren tief herabhängenden Zweigen der Wind spielte, und wehte mir mit ihrem Tuche noch den letzten Gruß nach.

Im Gebirge richtete ich mich in einer Mühle wohnlich ein, arbeitete fleißig und sandte von Zeit zu Zeit eine kleine Waldskizze an Cornelia; ich schrieb Briefe und erhielt Briefe, von denen ich zwei ausgewählt habe, die ich beilege.

Cornelia an Alban.

 

1.

Heute erhielt ich endlich Deinen ersehnten Brief. Mit der Schilderung, die derselbe enthält und mit der die Schilderung veranschaulichenden prächtigen Waldskizze hast Du mir eine große Freude gemacht. Die schöne Partie steht klar vor mir, die baufällige Hütte mit dem bemoosten Dach unter dem Schutze des vorspringenden Felsens, zur Seite die dunkeln mächtigen Fichten, bilden den Vordergrund, dessen düstern Charakter die grüne sanft aufsteigende, von der Sonne beschienene Wiese mit dem weidenden Vieh als Hintergrund freundlich mildert. Diese Skizze mußt Du einst an meiner Seite ausführen am eignen Herde.

Jetzt, wo die Sterne hereinschauen in mein Stübchen, wo die Milchstraße mit ihren Myriaden Welten vor mir liegt, jetzt suchen Dich meine Gedanken unter dem Schutze eines niederen Daches, und gewiß suchen auch Deine Augen die Sterne und Du sendest Deine Grüße mir zu. Empor! Aufwärts! lieber Alban, so soll es immer bei uns heißen. Aufwärts wollen mir miteinander blicken, aufwärts wollen wir streben. Morgen, so Gott will, siedle ich nach Moosbach über. Die Mutter soll mich für die Abwesenheit ihres Sohnes entschädigen. Mit ihr muß ich von Dir wenigstens reden können, wenn mir die Tage ohne Dich nicht allzu lang und zu traurig werden sollen. Dein nächster Brief findet mich in Moosbach. Gott behüte Dich!

Deine Cornelia.

 

2.

Moosbach, Ende September.

Wie herbstlich wird es jetzt schon! Unter allen Jahreszeiten ist mir der Herbst immer die liebste gewesen, und meine Vorliebe für ihn ist von Jahr zu Jahr gewachsen. Im Herbste fühle ich mich in der Natur am wohlsten und freiesten. Unter dem klaren blauen Himmel, bei der duftigen eigentümlichen, alle Gegenstände wunderbar verklärenden Beleuchtung der Herbstsonne kommt ein tiefer Frieden über mich, ich fühle das Entschlummern der Natur um mich her und werde still mit ihr, stille zu Gott. Heut' halten die Schwalben eine große Volksversammlung, sie rüsten sich zur Auswanderung und halten Rat. Die ganze Luft ist voll Gezwitscher. Nun geht es wieder dem fernen Süden zu. Es ist doch etwas Wunderbares um diese Wanderzüge der Vögel im Herbst. Eine unwiderstehliche Sehnsucht treibt sie dem fernen Lande zu und sie verfehlen nie ihren Weg und versäumen nie die rechte Zeit. Dieser Zug in weite Fernen, diese Sehnsucht nach einem nur geahnten Lande regt sich im Herbste immer auch in mir, wenn ich auf einem freien Hügel stehe, die Sonne untergeht, die Dämmerung eintritt und der kühle Herbstwind mit dem welken Laube um mich spielt. Und doch bin ich jetzt so gern, ach so gern auf dieser Welt. In solchen Augenblicken bin ich mir selbst ein Rätsel. Es ist doch auch gar schön hienieden! Komm und tritt ein! Dein Mütterlein steht eben am Kochherde, das Feuer hat ihre Wange gerötet. Jetzt bringt sie ein köstliches Gericht getragen; der Herbst hat es uns beschert, prachtvolle Erdäpfel. Nach Tisch könntest Du helfen; wir arbeiten für unsern zukünftigen Haushalt; Bohnen sollen geschnitten und Äpfel sollen geschält werden. Dein Mütterchen trägt Sorge dafür, daß Du einmal eine gute Hausfrau bekommst. Hätte ich doch nie gedacht, daß ich an derartigen Arbeiten soviel Freude finden könnte. Der Gedanke, daß ich für Dich arbeite, giebt jeder häuslichen Arbeit Reiz. Lebe wohl! ich darf die Mutter nicht länger warten lassen.

Deine Cornelia.

Hiermit schlossen die schönen Tage für immer. Die Freude verwandelte sich in Schmerz und Kummer. Die Sonne meines Glücks ging unter und es wurde Nacht um mich. Aber die Nacht war nicht ohne Sterne. Ich wollte einen steilen Felsen ersteigen, stürzte und fiel mir den Fuß aus. Holzarbeiter trugen mich in die Mühle und hier mußte ich vier Wochen auf einer Stelle liegen. Schon am ersten Tage erhielt ich einen Brief von meiner Mutter, die mir schrieb, Cornelia sei an einer Brustentzündung erkrankt. Von da an hatte ich qualvolle Tage und Nächte zu durchleben, denn auch die folgenden Briefe brachten keinen Trost. Als endlich die Entzündung gewichen war, trat bei Cornelia ein Zustand so großer Schwäche ein, daß wir es uns nicht verhehlen durften, daß ihr Leben sich dem Ende zuneige. Ein Briefchen von Cornelias Hand enthüllte mir die volle Wahrheit, die traurigste Gewißheit; sie schrieb:

»Lieber Alban! endlich kann ich Dir, Du Freund meiner Seele, selbst schreiben; der Arzt hat es mir erlaubt, und ich weiß wohl, warum er es jetzt gethan hat. Gott sei Dank, daß mir soviel Kraft geblieben ist, Dir, wenn auch mit müder Hand und in großen Pausen, zu schreiben. Ach, mein Alban, ich fühle es, ich muß von Dir scheiden; die letzte Hoffnung auf Genesung ist entschwunden. Könnte ich Dich doch mit mir nehmen in das Reich des Lichtes, in die schöne Heimat, in das liebe Vaterhaus und Dir den Schmerz der Trennung ersparen! Mein Kampf ist nun ausgekämpft; es war ein schwerer, schwerer Kampf. Ehe ich Dich kennen lernte, ehe ich Dich mein nannte, wäre es mir leichter geworden, von dieser Erde zu scheiden; stand doch meine Sehnsucht immer nach oben. Aber durch Dich, durch Deine Liebe war ich heimisch geworden auf Erden und träumte so gern von den kommenden Tagen. Dieser Traum ist zerronnen – ich habe hienieden keine Zukunft mehr; aber es ist still geworden in mir, denn ich habe nach manchem heißen Gebete mich vertrauensvoll in Gottes Hand legen lernen.

In diese Hand lege ich auch Dich, mein Alban; ich weiß einen herrlichen Garten, einen köstlichen Ort, wo die Palmen des Friedens am Strome des Lebens rauschen; wie schön wäre es, wenn wir zusammen dort wohnen könnten! Jetzt steht meine ganze Sehnsucht nach dem Garten, denn dort soll ich ja auch ihn finden, meinen lieben Herrn und Heiland. Ach, ich sehne mich daheim zu sein bei ihm! Wann darf ich freie Flügel regen? Wann zerreißt das letzte, schwache Band, das meine Seele, die voll Heimweh ist, noch an diesen müden und wunden Leib bindet? Laß Dich durch diese Worte nicht betrüben! Ich habe Dich nie weniger geliebt, als ich Dich jetzt liebe. Ich nehme meine Liebe mit mir hinüber in das Reich des Lichts. Ich bin Dein und Du bist mein, und wir beide sind des Herrn; wer kann uns scheiden? In ihm bleiben wir eins in Zeit und Ewigkeit. Meine Seele preist den Herrn und lobsingt seinem heiligen Namen, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes. – Die Liebe, die Liebe ist stark wie der Tod, – stärker wie der Tod, denn sie überwindet den Tod. Die Liebe bleibt. Es ist mir immer zu Mute, als müßte sich der Himmel über mir aufthun; ich weiß von keiner Trauer, von keinem Schmerze mehr, ich schmecke in mir schon die Kräfte der zukünftigen Welt. Darum traure nicht um mich, mein Alban, wie die Kinder dieser Welt ihre Heimgegangenen betrauern; sie haben keine Hoffnung, wir aber sind ja voll Hoffnung der Unsterblichkeit, wir kennen ja beide den, der zu uns spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, obgleich er stürbe. – Wir kennen ihn und glauben an ihn und lieben ihn und sind in ihm eins. Ich muß mir immer im stillen jenen Vers von Spitta vorsagen, den Du ja kennst:

Wie soll ich doch die Wonne nennen,
Die jetzt mein ganzes Herz durchdringt,
Daß ich zu dem mich darf bekennen,
Der mir das ew'ge Leben bringt?

Seiner getröste ich mich in aller Angst und Beklemmung; ich weiß doch, daß die Leiden dieser Zeit nicht wert sind der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.

So sind wir immer wohlbehalten,
So sind wir immer wohlgemut
Und lassen den mit Freuden walten,
Der lauter Wunder an uns thut.

Wir sind auch gern bereit zum Sterben,
Denn unser Sterben führt zum Erben
Der unverdienten Seligkeit
Nach dieser kurzen Pilgerzeit.

Nur eins ist mir schmerzlich: ich muß Dich einsam und traurig auf Deinem Schmerzenslager wissen und habe Dich nicht pflegen dürfen. Doch habe ich auch Dich in meines treuen Gottes Hände gelegt; in diesen treuen Händen ist mein Freund wohl aufgehoben. Laß uns immer im Gebet zum Herrn eins bleiben; leben wir miteinander in Gott, dann verschwindet vor uns Raum und Zeit; in Gott ist alles ewig und alles gegenwärtig. – Lebe wohl für heute, mein Alban; die matte Hand will nicht mehr gehorchen. Mein Herz ist bei Dir.

Deine Cornelia.«

Dieser Brief meiner Cornelia übte einen mächtigen Einfluß auf meine Seele aus. Auf der einen Seite erhöhte er nur meinen Schmerz noch, auf der andern aber fühlte ich mich wunderbar getröstet und erhoben. Ich schaute in die Ewigkeit hinaus und das Leben dehnte sich vor mir ins Unendliche aus. Eine innere Stimme sagte mir, daß auch meine Tage gezählt seien und meine Wallfahrt nicht allzu lange währen würde. Eine stille, alle stürmischen Gefühle beschwichtigende Todesfreudigkeit kam auch über mich; wußte ich doch, daß ich eins mit meiner Cornelia war, eins im Herrn, daß mich nichts von ihr scheiden konnte; sie lebte in mir und lebte für mich fort, auch dann noch, wenn unter dem stillen grünen Hügel das zerfallende Wanderzelt der Seele ruhte.

Ich war soweit hergestellt, daß ich meine Abreise betreiben konnte. Als ich an der Wohnung meiner Mutter vorfuhr, begrüßten mich die Mutter und Ännchen unter stillen Thränen und führten mich in Cornelias Krankenzimmer. Sie saß an dem Fenster, das die Aussicht in den Garten bot, im wärmenden Sonnenschein auf einem bequemen Lehnstuhle, licht und verklärt wie eine Heilige, und um den Mund spielte ihr ein freundliches Engelslächeln. Mit unendlicher Innigkeit begrüßte sie mich, sie nahm meine Hand und hielt sie fest umfangen und blickte mir lange schweigend und innig in die Augen, als wollte sie in den Tiefen meiner Seele lesen. Im Zimmer standen noch duftende Herbstblumen; sie mußte auch jetzt noch ihre Lieblinge um sich haben. Es folgten nun stille, friedreiche Tage, denn der Todesengel hatte sich für sie in einen Engel des Lichtes verwandelt. Oft, wenn wir bei ihr saßen, erinnerte sie uns an ein Schriftwort oder an eins ihrer Lieblingslieder, und wenn sie einen Vers mit leiser Stimme sprach, da war es mir immer zu Mute, als hörte ich die Worte zum erstenmal, denn immer lag ihre ganze Seele in denselben; es klang mir jedes Wort so fremd und doch wieder so heimatlich und so vertraut. Einst, als sie Thränen in meinem Auge bemerkte, sprach sie mit freundlichem Lächeln zu mir, indem sie mir die Hand reichte:

Was macht ihr, daß ihr weinet
Und brechet mir das Herz?
Im Herrn sind wir vereinet
Und bleiben's allerwärts.

Das Band, das uns verbindet,
Löst weder Zeit, noch Ort;
Was in dem Herrn sich findet,
Das währt in ihm auch fort. –

Doch kamen auch für Cornelia oft noch schwere Stunden, so daß sie leise seufzte: »Ach Herr, wie lange willst du säumen?« Sie wurde von Tag zu Tag schwächer, ihre Freundlichkeit aber blieb sich gleich. Jeden Tag, wenn die Sonnenstrahlen durch das Fenster fielen, ließ sie sich an das Fenster rücken und saß dann still im Sonnenschein mit gefalteten Händen; oft schlief sie in dieser Stellung ermüdet ein. Eines Tages schlief sie am Fenster im Lehnstuhle sanft ein – und erwachte nicht mehr. Der Tod hatte sie leise geküßt. Kein lauter Schmerz störte den Frieden des stillen Zimmers; unsre Thränen flossen und, erfüllt von einer tiefen Wehmut, reichten wir einander schweigend die Hände. Einsam wanderte ich fortan meine Straße, denn meine Mutter folgte Cornelia bald nach und Anna trat in eine Anstalt als Diakonissin ein.


Ich war am Ende. Die Blätter lagen vor mir, aus denen mir das Bild meines Freundes und seiner schönen frommen Braut so lebendig entgegengetreten waren. Ich fühlte mich tief ergriffen und wußte nun die stille Trauer und den tiefen, aber freundlichen Ernst zu deuten, den ich an meinem Freunde wahrgenommen. Ich liebte ihn noch inniger als zuvor. Bald aber trennte mich mein Beruf von ihm und vor einigen Tagen gelangte die Kunde an mich, daß auch er nicht mehr unter den Lebenden weilte. Seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen; er sollte seiner Cornelia bald nachfolgen. Im Krankenhause einer größeren Stadt hatte er einige Wochen krank gelegen; eine jugendliche Frauengestalt weinte heiße Thränen an seinem Lager, als er den letzten Seufzer ausgehaucht hatte. Es war eine Diakonissin des Krankenhauses; sie hatte ihn mit schwesterlicher Treue gepflegt.

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