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Der »Roman eines Konträrsexuellen« (»Le roman d'un inverti«) ist kein Roman, sondern eine Autobiographie, geschrieben Ende der 1880er Jahre von einem jungen Italiener. Mit seinen 23 Jahren war er literarisch sehr interessiert, bewunderte er vor allem den Meister des französischen Naturalismus Emile Zola, der damals seit fast zwei Jahrzehnten an dem gewaltigen Romanzyklus um die Familie Rougon-Macquart arbeitete, mit dem er der Gesellschaft seiner Zeit einen Spiegel vorhielt. In dieser literarischen Welt fehlte eine Gestalt, die so dachte und fühlte wie der junge Italiener, wir würden heute sagen: die Gestalt eines Homosexuellen (weder dieses noch ein anderes Wort hat er benutzt). Damit der große Dichter diese Lücke schließen könne, erzählt der Italiener aus seinem Leben. Die autobiographische Skizze sollte zu einem der vielen Dokumente werden, wie sie Zola in der Vorbereitung seiner Romane sonst sogar bewußt gesucht und gesammelt hat. So ließ er sich zu »Nana«, dem Roman um eine Pariser Kokotte (1880), von Schriftstellerkollegen beraten, weil er selbst das Milieu nicht kannte, übernahm er deren Notizen in den Roman, den er dann einen »Affront für jede Prüderie« Vgl. Marc BERNARD: Emile Zola (Hamburg 1959, ergänzte Aufl. Reinbek 1990) S. 57-58; Emile ZOLA: Frankreich. Mosaik einer Gesellschaft. Unveröffentlichte Skizzen und Studien. Herausgegeben und kommentiert von Henri MITTERAND (Wien – Darmstadt 1990) S. 289-294. nannte.

Die Autobiographie des jungen Italieners hat Zola wenige Jahre später dem befreundeten Arzt Georges Saint-Paul überlassen, der mit Studien über ›sexuelle Inversion‹ beschäftigt war. Dieser veröffentlichte den Text unter Pseudonym – aus Saint-Paul wurde Dr. Laupts – zunächst stückchenweise in einer wissenschaftlichen Zeitschrift (1894/95) und nahm ihn ein Jahr später als Kapitel II in sein Buch »Perversion et perversité sexuelles« auf. Archives d'anthropologie criminelle 9 (1894) S. 212-215, 367-373, 729-737; 10 (1895) S. 131-138, 228-241, 320-325 – Dr. LAUPTS: Perversion et perversité sexuelles (Paris 1896) S. 47-95. In der erweiterten 2. Auflage, die unter dem Titel »L'homosexualité et les types homosexuels« (1910) erschien, gab sich der Autor zu erkennen: »Le Docteur Laupts (G. Saint-Paul)«; der »Roman« steht auch hier S. 47-95, eine Fortsetzung (dazu unten S. 55-57) S. 432-441. In der neu konzipierten 3. Auflage (»Invertis et homosexuels«, 1930) hat der Autor auf sein Pseudonym ganz verzichtet; der »Roman« steht hier S. 69-128 (»Portrait d'inverti«). Zola hat für das Buch ein in Briefform abgefaßtes Vorwort beigesteuert, in dem er darlegt, warum er selbst das Thema Homosexualität nicht aufgegriffen habe. Ein Brief Emile Zolas an Dr. Laupts über die Frage der Homosexualität. Übersetzt und eingeleitet von Rudolf VON BEULWITZ, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 7 (1905) S. 371-386, hat seiner Übersetzung (S. 379-384) den französischen Originaltext beigegeben (Emile ZOLA: Mélanges. Préfaces et Discours [Paris 1929] S. 261-263).

Allein schon die Summe der äußeren Umstände – ein umfangreicher autobiographischer Text aus der Frühzeit des ›Homosexuellen‹, die Scheu vor dem Thema Homosexualität bei einem der größten Romanciers des 19. Jahrhunderts und schließlich die ›Verwertung‹ durch einen Mediziner, der an sexuellen Perversionen interessiert ist – machen diese Autobiographie zu einem einmaligen Dokument. Vgl. Philippe LEJEUNE: Autobiographie et homosexualité en France au XIXe siècle, in: Romantisme. Revue de la Société des Études romantiques Nr. 56 (1987) S. 79-94 (S. 95-100 sind acht »Vies d'homosexuels« vorgestellt, Nr. 4: »Le Roman d'un Inverti«); Vernon A. ROSARIO: Inversion's Histories – History's Inversions. Novelizing Fin-de-Siècle Homosexuality, in: Science and Homosexualities. Edited by Vernon A. ROSARIO (New York – London 1997) S. 89-107; DERS.: The Erotic Imagination. French Histories of Perversity (New York – Oxford 1997) S. 89-98.

Die Autobiographie wurde wohl 1888/89 niedergeschrieben: Der Verfasser erwähnt Zolas 1887 erschienenen Roman »La Terre« (»Die Erde«) und hält sich in Rom zu Jubiläumsfeierlichkeiten Papst Leos XIII. auf, der 1887 sein goldenes Priesterjubiläum und 1888 den 10. Jahrestag seiner Erhebung zum Papst feiern konnte. Die Absicht, Zola zu schreiben, mag er schon länger gehabt haben; ausgelöst wurde seine »Beichte« durch die Wiederbegegnung mit einem jungen Mann, für den er einst »die edelste Leidenschaft« gehegt, den er jedoch nie angesprochen hatte.

Der Autor kennt offensichtlich die Diskussion über die »sexuelle Inversion« unter Medizinern und Psychologen. Gleich zu Beginn betont er, daß »diese menschlichen Dokumente . . . von den Gelehrten unserer Zeit so gesucht« seien, und wenn er immer wieder darauf zurückkommt, daß er sich wie eine halbe Frau fühle, erinnert das an Karl Heinrich Ulrichs' Formel von der weiblichen Seele im männlichen Körper (»Anima muliebris virili corpore inclusa«).

Unser Italiener, 1866 geboren, entstammt einer adligen Familie und wohnt in Neapel, für ihn eine der schönsten Städte der Welt. Einen Teil seiner Jugend hat er in Paris verbracht, geblieben ist ihm davon das Interesse an französischer Geschichte und Kultur.

Der Autor schreibt in einer Zeit, da viele »Urninge«, »Konträrsexuelle« und »Homosexuelle« über sich, und das heißt vor allem über ihre sexuelle Entwicklung, berichten. Diese Autobiographien sind Teil eines im Laufe der Jahre immer umfangreicher gewordenen Dialogs, den die Homosexuellen nicht etwa untereinander, sondern mit den Medizinern und Psychiatern führten. Diese hatten etwa seit der Mitte des Jahrhunderts die Gestalt des Homosexuellen geschaffen und die Betroffenen aufgefordert, das abstrakte Bild auszumalen. 1858 hatte Johann Ludwig Casper, ein bedeutender Gerichtsmediziner, von dem Tagebuch eines »Grafen Cajus« berichtetet, das er nur als »unerhört« bezeichnen konnte: ». . . denn wer hat wohl von schriftlichen Tagebüchern gehört, von täglichen Aufzeichnungen eines Päderasten über seine Abentheuer, Liebschaften, Empfindungen . . .?« »Höchst voluminös« seien diese Tagebücher gewesen, in denen die Erlebnisse aus 26 Jahren festgehalten waren. Zur Person des Grafen merkt der Mediziner an: »Im Übrigen war er keineswegs etwa geistesschwach oder gar indispositionsfähig.« Johann Ludwig CASPER: Practisches Handbuch der gerichtlichem Medicin. Biologischer Theil (Berlin 1858) S. 182-185. Vgl. Klaus M&UUML;LLER: »Aber in meinem Herzen sprach eine Stimme so laut«. Homosexuelle Autobiographien und medizinische Pathographien im neunzehnten Jahrhundert (Berlin 1991) S. 341-343, dazu S. 182-185. Doch nicht diese Art Tagebuch wurde prägend für die autobiographischen Texte der Folgezeit, sondern die Theorien und Vermutungen der Mediziner, die die zumeist unbekannten Verfasser von Autobiographien dann mehr oder weniger deutlich in ihrem eigenen Leben wiederfanden. Am Ende steht Richard von Krafft-Ebing mit seiner »Psychopathia sexualis«, die, zunächst nur eine schmale »klinisch-forensische Studie« (1886), zunehmend »mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung« verfaßt und dann von Auflage zu Auflage immer umfangreicher wurde, weil die Zahl der Autobiographien und Fallgeschichten von »Konträrsexuellen« immer größer wurde.

Das Besondere an dem »Roman eines Konträrsexuellen« ist, daß dieser junge Italiener nicht für Mediziner und Psychiater schreibt, sondern für einen Schriftsteller. Sein Stil ist schlicht, schreibt er doch in einer ihm fremden Sprache, wird aber ausgesprochen lebendig und warm, sozusagen romanhaft, wenn es um Schlüsselerlebnisse seiner emotionalen und sexuellen Entwicklung geht, sei es um die Aufklärung durch einen Hausburschen, die Beziehung zu einem Unteroffizier oder seine Sprödigkeit gegenüber einem jungen Spanier, in dem er zu sehr sich selbst erkennt. Im Mittelpunkt aber steht die Beziehung des jungen, zierlichen Aristokraten zu einem alten Haudegen, dem »Hauptmann«. Der Zufall beschert dem Italiener in Rom eine sexuelle Begegnung, von der wir als Leser nur noch den quasi stenographischen Bericht erhalten, die aber offensichtlich zur Selbstvergewisserung des Autors als Homosexueller beigetragen hat. In einem Gedenkartikel für Zola erzählt Dr. Laupts viele Jahre später (1907), wie es zu der Zusammenarbeit mit Zola kam, und erwähnt dabei auch, daß ein Exemplar seines Buches durch Zufall in die Hände des Italieners gelangt sei. Dieser habe ihm dann einen langen Brief mit »vielen neuen Beobachtungen« geschrieben. Dr. LAUPTS: A la mémoire d'Emile Zola, in: Archives d'anthropologie criminelle 22 (1907) S. 825-841, hier S. 837.

In seinem Vorwort nennt Zola den »Roman d'un inverti« ein »in physiologischer (gemeint ist wohl: psychologischer) und sozialer Hinsicht merkwürdiges Dokument«. Das gilt auf seine Art auch für Zolas Vorwort selbst, denn Zola stellte zwar das Dokument seinem Freund zur Verfügung, wollte aber mit der Veröffentlichung nicht allzu eng in Verbindung gebracht werden. Auf dem Umschlag des Buches sollte nur der Name Dr. Laupts stehen, er, Zola, könne höchstens ein Vorwort in Form eines kurzen Briefes beisteuern.

Zola wertet und bewertet das »naive, spontane Bekenntnis« zunächst als quasi literarisches Zeugnis mit Worten, wie sie passender kaum zu finden sind: er rühmt die »absolute Aufrichtigkeit«, die »Beredsamkeit der Wahrheit«, den »bewegten Stil tief empfundener . . . Gefühle«. Aufhorchen läßt, daß er ein anderes Bekenntnis eines Homosexuellen zum Vergleich heranzieht, das für ihn »den herzzerreißendsten Schrei menschlicher Qual« darstellte. Gemessen daran ist ihm der »Roman d'un inverti« von »glücklicherer Unbewußtheit«. Damit wird die zuvor ausgesprochene Bewertung als »naives, spontanes Bekenntnis« relativiert und verliert ihren positiven Aspekt. Die Invertierten sind eben doch »vom Dämon Besessene« und »dem unbekannten Verhängnis des Geschlechtstriebes« preisgegeben; sie müssen, so läßt sich folgern, das ihrem Elend entsprechende Bewußtsein entwickeln, um dann als »Bejammernswerte« »ein wenig Mitleid und ein wenig Billigkeit« zu verdienen.

Unverhüllter äußert sich Zola zum »sozialen Übel der sexuellen Perversionen«. Von Interesse und Verständnis ist nichts mehr zu spüren, wenn es am Schluß heißt: »Ein Invertierter ist ein Zerstörer der Familie, der Nation, der Menschheit. Mann und Weib sind sicherlich nur deswegen hienieden, um Kinder zu zeugen, und sie töten das Leben an dem Tage, wo sie nicht mehr das tun, was notwendig ist, um solche zu zeugen.« Zola teilt hier eine Grundüberzeugung seiner Zeit. Die Geburtenrate war in Frankreich stark gesunken, der Fortbestand der Nation schien gefährdet. Eine unheilige Allianz aus Theologen, Moralisten, Statistikern und Militärs versuchte die Franzosen an ihre bevölkerungspolitischen Pflichten zu erinnern. An dieser Diskussion der ›Fortpflanzungsfanatiker‹ (»procreatomanes«) hat sich Zola als Publizist und Schriftsteller beteiligt. Peter GAY: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter (München 1986), bes. S. 280-281. So erschien 1896 im »Figaro« sein Artikel »Depopulation«, in dem er bekannte: ›Jede Liebe, die nicht ein Kind will, ist im Grunde nur Ausschweifung‹, und einer seiner letzten Romane (1899) trägt ebenfalls sein Programm im Titel: »Fecondité« (»Fruchtbarkeit«).

Gleich am Anfang der Autobiographie wird Zolas Roman »La Curée« (»Die Beute«) von 1872 erwähnt wegen der Gestalt des Baptiste, doch Baptiste ist nur eine Randfigur und der Hinweis auf seine sexuellen Vorlieben nur marginal. Der Roman schildert die verwilderte Moral im Wirtschaftsleben und im privaten Bereich. Aristide Saccard ist als Bauspekulant auf Beute aus, seine junge Frau Renée läßt sich mit ihrem Stiefsohn, dem verweichlichten Maxime, ein. Der Diener Baptiste scheint der »einzige anständige Mensch im Hause« zu sein, doch am Ende lüftet das Dienstmädchen Celeste sein Geheimnis: »Und dabei tat der durchtriebene Kerl so, als liebte er die Pferde! Die Stallburschen hat er geliebt!« Emile ZOLA: Die Beute (»La Curée«). Herausgegeben von Rita SCHOBER (München 1974) S. 448.

Dies ist einer der wenigen deutlichen Hinweise auf das Phänomen der männlichen Homosexualität im französischen Roman des 19. Jahrhunderts überhaupt. Ausführlicher und mit einer gewissen Nachsicht begegnet der »Sapphismus«. Jean-Paul Aron und Roger Kempf haben das Verhältnis des Bourgeois zur Sexualität und seine Scheintoleranz gegenüber der lesbischen Liebe analysiert: »Als Heuchler kommt dabei seine Männlichkeit auf ihre Kosten: er bemißt an diesen verbotenen Spielen die Überlegenheit des starken Geschlechts. Als Voyeur mit zweifelhaften Wünschen projiziert er sein Teil verdrängter Homosexualität in empörende Szenen und befreit sich davon kampflos durch das wirkliche oder imaginäre Schauspiel der sklavischen Weiber«. Jean-Paul ARON – Roger KEMPF: Der sittliche Verfall. Bourgeoisie und Sexualität (Frankfurt am Main 1982) S. 68.

Männliche Homosexualität ist dagen kaum ein literarisches Thema. Verknüpft mit dem Thema Impotenz oder als Androgynie klingt es an, benannt wird es kaum. Vor Zola ist am deutlichsten Balzac, bei dem beispielsweise ein Gefängnisdirektor einem hohen Gast auch die Abteilung der »Tunten« zeigt, oder der in literarischer Kühnheit bei der Schilderung der »köstlichen Tage« einer Freundschaft unter Schülern einen Protagonisten sagen läßt: »Wie zwei Liebende gewöhnten wir uns daran, gemeinsam zu denken und unsere Träumereien einander mitzuteilen.« Vgl. ARON – KEMPF: Der sittliche Verfall S. 61 und 62-63. Und bei Vautrin, der in mehreren Romanen auftritt, unterstreicht die Homosexualität den undurchsichtigen, leicht kriminellen Charakter. Es ist bemerkenswert, daß die wichtigsten literarischen Werke zum Thema unserem Italiener bekannt waren. Er erwähnt mehrere Werke von Balzac und hat gerade Theophile Gautiers »Mademoiselle de Maupin« gelesen.

Beim Abdruck des Textes in der Zeitschrift hat Dr. Laupts kürzend eingegriffen – vor allem an Stellen, die ihn doch eigentlich interessieren mußten: Wo der Autor in besonderer Weise von sich redet, von seinen sexuellen Begegnungen und Gefühlen, dekretiert der Herausgeber: ›Aus Gründen, die unsere Leser verstehen werden, sehen wir uns veranlaßt, zahlreiche (!) Passagen zu unterdrücken.‹ Archives d'anthropologie criminelle 10 (1895) S. 131. In seinem Buch glaubte er seinen Lesern doch mehr zumuten zu können, der Text ist jetzt vollständiger, Hinweise auf Kürzungen ›aus Gründen, die unsere Leser verstehen werden‹, fehlen – doch die ›Stellen‹ stehen nicht mehr im originalen Wortlaut da, sondern sind ins Lateinische übersetzt! Ebenso wie Dr. Krafft-Ebing und andere, die auch bei den erotisch getönten Stellen der ihnen überlassenen Autobiographien zum Übersetzer werden und sich damit nur noch an die ›Gebildeten‹ unter ihren Lesern wenden, weicht auch Dr. Laupts auf diesen »Mittelweg zwischen dem Bericht und dem Verbergen« ARON – KEMPF: Der sittliche Verfall S. 41. aus – und sichert diesen Stellen damit besondere Aufmerksamkeit. Selbst Sätze, die beim ersten Abdruck im Original stehen bleiben durften, werden jetzt ins Lateinische gewendet. Soweit die wenigen Stellen, die auf Französisch und auf Lateinisch vorliegen, einen Vergleich erlauben, hat Dr. Laupts allerdings recht genau und vollständig übersetzt.

Große Schwierigkeiten hatte Dr. Laupts mit dem Schluß, der mit seinem happy end nicht zu einer medizinischen Fallgeschichte passen will. Im ersten Abdruck teilte er lediglich in einer Fußnote mit, daß es noch »ein letztes Postskriptum« gebe, das allerdings nicht veröffentlicht werden könne. Doch wenigstens referierte er dessen Inhalt:

 

›Es existiert noch ein letztes Postskriptum, das aber nicht veröffentlicht werden kann. Von der langen Beichte, die er eben geschrieben hat, erschöpft, erzählt der Autor, daß er in dem Hotel, in dem er abgestiegen ist, einen Fremden getroffen hat, der eine mächtige Anziehungskraft auf ihn ausübt. Der Ton verändert sich plötzlich, keine Traurigkeit, keine Langeweile mehr, sondern Leidenschaft und Aufregung vor einem nahen Kampf mit sich selbst, in dem er, wie er wohl weiß, unterliegen wird. Nicht einmal die Furcht vor dem Hauptmann hält ihn zurück, er fürchtet dessen Eifersucht nicht mehr. Nur die Zähne der betreffenden Person lassen ihn etwas schwanken, denn sie sind nicht schön, wie er betont. Doch er wird zu ihm gehen und sagt zu sich selbst: »Sei's drum! Hoffen wir das Beste!«

Am nächsten Morgen sendet er Zola eine letzte Postkarte, auf der er sein Glück verkündet, das er »in die ganze Welt hinausschreien« möchte. Triumphierend verkündet er, daß er sich endlich zu dem hergegeben habe, was er dem Hauptmann, nicht aus Scham, sondern aus Angst vor Schmerzen, habe verweigern müssen. »Was keinem geglückt ist, ihm (gemeint ist die Reisebekanntschaft) ist es gelungen.« Mit diesen Worten endet die Beichte dieser seltsamen und zutiefst beklagenswerten Person.‹ Archives d'anthropologie criminelle 10 (1895) S. 325.

 

Was der Autor als erlösende und beglückende Erfüllung erlebt und schildert, wird in der Wiedergabe durch den Mediziner zu einer erneuten Niederlage, der Autor bleibt für ihn eine ›beklagenswerte Person‹. In der Buchausgabe zitiert Dr. Laupts dann doch das Postskriptum und die Postkarte, allerdings nicht ohne anzumerken, daß »diesem weibischen Homosexuellen« das »Verlangen nach dem eigentlichen Akt« angeboren« sei.

Die deutsche Übersetzung erschien 1899 im Verlag Max Spohr (Leipzig) als »autorisierte Ausgabe von Wilhelm Thal«. Der Roman eines Konträrsexuellen. Mit einer Einleitung: Der Uranismus von Marc-André RAFFALOWITSCH (!). Autorisierte Ausgabe von Wilhelm THAL (Leipzig 1899). Vgl. Mark LEHMSTEDT: Bücher für das »dritte Geschlecht«. Der Max Spohr Verlag in Leipzig (Wiesbaden 2002) S. 229 Nr. 262. Wilhelm Thal ist vielleicht ein Pseudonym des »Bühnenschriftstellers« Wilhelm Lilienthal, der vor allem als Komödienschreiber hervorgetreten ist. Vgl. Marita KEILSON-LAURITZ: Die Geschichte der eigenen Geschichte. Literatur und Literaturkritik in den Anfängen der Schwulenbewegung am Beispiel des »Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen« und der Zeitschrift »Der Eigene« (Berlin 1997) S. 177-178. Der Übersetzung lag jedoch nicht die Buchausgabe von 1896, sondern der Zeitschriftenabdruck zugrunde. So fehlte nicht nur das Vorwort von Emile Zola, sondern auch der gesamte Abschnitt über die Kindheit des Autors (dieser war im Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift nicht eigens aufgeführt und konnte so leicht übersehen werden). Das Vorwort von Emile Zola erschien auf Deutsch erst 1905 im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. Die zusammen mit dem Originaltext abgedruckte Übersetzung von Rudolf von Beulwitz zeigt, daß sich der Sprachgebrauch inzwischen verfestigt hatte: Beulwitz behält den Terminus »Konträrsexueller« nicht bei, sondern übersetzt das französische »inverti« selbstverständlich mit »Homosexueller«.

Von Beulwitz erweist sich in seiner Einleitung zu der Übersetzung als der »große Verehrer Zolas«, als den ihn Magnus Hirschfeld bezeichnete. Magnus HIRSCHFELD: Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung 1897-1922. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Manfred HERZER und James STEAKLEY (Berlin 1986) berichtet S. 98-99 ausführlich über diese Veröffentlichung; Rudolf von Beulwitz, ein »grundgütiger und grundgescheiter Mensch«, ist für ihn »das ausgezeichnete Mitglied unseres Komitees und einer seiner Obmänner, zugleich einer der besten Kenner und größten Verehrer Zolas«. Vgl. auch Magnus HIRSCHFELD: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes (Berlin 1914) S. 1016. In fast panegyrischen Worten stellt er Zola und seinen Romanzyklus dar, der als »erhabene Schöpfung eines einzigartigen Genies das ganze Leben« umfasse und dennoch unvollständig sei: »In dem Lebenswerke Zolas gähnt eine große Lücke. Ein Werk, welches das ganze Leben umfaßt, das keine Wunde, keine Schmach, kein Gräuel und keine Schönheit verheimlicht oder übergeht, das in die verstecktesten Winkel der Menschenseele hineinleuchtet, übergeht die männliche Homosexualität.« Zola habe sich »sicherlich stark« für das Problem der Homosexualität interessiert, »zwischen den Zeilen« sei eine »überall deutlich durchschimmernde Sympathie mit den Uraniern« zu erkennen, Dr. LAUPTS: A la mémoire d'Emile Zola S. 832-833, will wissen, daß Zola keines der Werke gelesen habe, die sich mit Homosexualität befaßten; der Anblick und der Kontakt mit Invertierten sei ihm unangenehm gewesen, und er habe eine ›instinktive Abneigung‹ gehabt, ihnen die Hand zu geben. doch vor dem allgemeinen Vorurteil habe er sich beugen müssen: »Es gibt nichts, das die furchtbare Macht und Stärke des schier unausrottbar erscheinenden Vorurteils, das die Homosexuellen verfehmt und so oft in Schande und Tod hetzt, Diese Wendung zitiert HIRSCHFELD: Von einst bis jetzt (S. 99), wenn er vom Freitod Rudolfs von Beulwitz berichten muß, den auch »das schier unausrottbare Vorurteil« in den Tod gehetzt habe. eindringlicher zum Ausdruck brächte!«

Und noch ein Name muß im Zusammenhang mit dem »Roman eines Konträrsexuellen« genannt werden: Marc-André Raffalovich, von dem in der deutschen Ausgabe von 1899 als Einleitung der Beitrag »Der Uranismus« abgedruckt ist. Nach Meinung des Übersetzers Wilhelm Thal ist Raffalovich ein »genauer Kenner und strenger Beobachter der konträren Sexualempfindung«, der »in ungeschminkter Weise das Wesen des Uranismus« beleuchte. Der Roman eines Konträrsexuellen (1899) S. 4. Der Artikel von Raffalovich (S. 5-34) war zuvor schon als eigene Broschüre in einer erweiterten Textgestalt in einer namentlich nicht gezeichneten Übersetzung erschienen: Marc André RAFFALOVICH: Die Entwickelung der Homosexualität (Berlin 1895). Vgl. Patrick CARDON: Discours littéraires et scientifiques fin-de-siècle. La discussion sur les homosexualités dans la revue »Archives d'anthropologie criminelle« du Dr Lacassagne (1886-1914) autour de Marc-André Raffalovich (Paris 2008). Es verdient gewiß Interesse, worin Raffalovich, der »katholische Apologet der keuschen Männerliebe«, Hans HAFKAMP: Een katholiek apologeet van de kuise mannenliefde: Marc-André Raffalovich (1864-1934), in: Hans HAFKAMP – Maurice VAN LIESHOUT: Pijlen van naamloze liefde. Pioniers van de homo-emancipatie (Utrecht 1988) S. 62-67. Raffalovich hatte mit 20 Jahren (1884) einen ersten Gedichtband (»Cyril and Lionel and Other Poems«) veröffentlicht, in dem viele Gedichte einen ›homoerotischen Unterton‹ haben (S. 62). Vgl. Timothy D'ARCH SMITH: Love in Earnest. Some Notes on the Lives and Writings of English ›Uranian‹ Poets from 1889 to 1930 (London 1970) S. 29-34; Lad's Love. An Anthology of Uranian Poetry and Prose. Edited with an introduction by Michael Matthew KAYLOR (Kansas City 2012), Band 2 S. 175-208. das Wesen des Uranismus sah – nur mit dem »Roman« hat das wenig zu tun; dieses Dokument diente ihm wie Dr. Laupts im wesentlichen nur zur Abstützung seiner Theorie und als Beleg für einen Punkt auf seiner Skala der Homosexualitäten. Dr. Laupts und Raffalovich waren nicht nur freundschaftlich verbunden, sie waren beim Thema Homosexualität in den Grundzügen einer Meinung, so daß Dr. Laupts in sein Buch ausführlich Ausführungen von Raffalovich übernehmen konnte Marc-André RAFFALOVICH: Uranisme et unisexualité. Étude sur différentes manifestations de l'instinct sexuel (Lyon – Paris 1896). Dr. LAUPTS: Perversion et perversité sexuelles (1896) druckt die Abhandlung über den »Uranismus« fast vollständig ab (S. 252-276), und auch sein Kapitel über Oscar Wilde ist zu einem großen Teil (S. 125-160) eine Übernahme aus dem Wilde-Kapitel bei Raffalovich. und Raffalovich im Gegenzug lange Abschnitte aus dem »Roman d'un inverti« zitierte.

Die Autobiographie des jungen Italiener ist für Dr. Laupts Beleg für einen »Inverti-né feminiforme«, für einen »geborenen konträr Sexuellen mit weiblichen Formen: zeigt die accessorischen Sexualcharaktere des Weibes; hat den Beruf als Weib verfehlt; liebt wahrhaft männliche Männer, die den idealen Typus des männlichen Geschlechts besser realisieren, als er«. Dr. LAUPTS: Perversion et perversité sexuelles S. 24, Zitat nach der deutschen Übersetzung des 1. Kapitels des Buches unter dem Titel »Betrachtungen über die Umkehrung des Geschlechtstriebes«, in: Zeitschrift für Criminal-Anthropologie 1 (1897) S. 321-357, hier S. 340. Bleibt Dr. Laupts weitgehend bei einer beschreibenden Klassifikation, entwirft Raffalovich eine Stufenleiter der Uranisten, von den Wüstlingen bis zu den ›höheren‹ Uranisten. Seine ganze Verachtung gilt den weibischen Uranisten; was er von deren Bekenntnissen hält, sagt er unverblümt: »Die weibischen Uranisten (sind) die bekanntesten, weil sie weit mehr an der Manie leiden, Geständnisse zu machen und zu renommieren.« Der Roman eines Konträrsexuellen (1899) S. 18. Der höhere Uranist dagegen ist derjenige, der sich nicht seinen ›Neigungen‹ überläßt, sondern durch Keuschheit zu einem ›nützlichen Glied der Gesellschaft‹ wird. Ihn dahin zu führen, ist Aufgabe der Erziehung! RAFFALOVICH: Die Entwickelung der Homosexualität (1895) S. 37. Zuweilen wird er zu einem wahren Eiferer: »Aber der Gott, der die Säufer beschützt, muss wohl auch die Conträren unter seine Fittiche nehmen, jedenfalls mehr als ihre eigene Vorsicht, denn sie sind ebenso heuchlerisch wie verwegen« (S. 15); ». . . die Homosexualen sind Lügner und wenn sie von ihrer Kindheit sprechen, suchen sie sich rein zu waschen oder sich durch Leidenschaft oder Gemeinheit interessant zu machen« (S. 18).

Der »schwule Selbsthaß« des Raffalovich fand durchaus Zustimmung. Im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen äußerte sich Numa Praetorius nur sehr zurückhaltend über den »Roman eines Konträrsexuellen« (». . . die Autobiographie eines typischen Effeminierten, der sicherlich nicht zu den edleren und höheren Homosexuellen gerechnet werden kann. Ob ein Bedürfnis bestand, gerade diese Autobiographie zu übersetzen . . . möchten wir bezweifeln«), wertet den Beitrag von Raffalovich dagegen als »sehr bedeutsame, psychologisch tief gehende Einleitung«. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 2 (1900) S. 389.

 

Die Fortsetzung des »Romans eines Konträrsexuellen«

Die Neuausgabe des »Romans eines Konträrsexuellen« (1991) gab den Text in der Form wieder, wie er 1896 von »Dr. Laupts« in seinem Buch »Perversion et perversité sexuelles« veröffentlicht worden war. Doch die Ausgabe hätte noch vollständiger sein können, denn den von ihm in seinem Gedenkartikel auf Zola erwähnten ›langen Brief mit vielen neuen Beobachtungen‹, den er nach der Veröffentlichung seines Buches von dem jungen Italiener erhielt, hat er später (in Auszügen) in die zweite (erweiterte) und dritte (neu konzipierte) Auflage seines Buches aufgenommen. In der zweiten Auflage (1910) war die Fortsetzung des »Romans« leicht zu übersehen, denn sie schließt nicht an den Text von 1896 an, sondern findet sich erst in dem neu hinzugefügten Teil; erst in der dritten Auflage (1930) sind der Text von 1896 und die Fortsetzung miteinander verbunden. Auf die Fortsetzung wurde ich aufmerksam durch die Edition von Daniel Grojnowski: Confessions d'un inverti-né, suivies de Confidences et aveux d'un Parisien, par Arthur W., préface d'Emile ZOLA. Edition etablie et presentée par Daniel GROJNOWSKI (Paris 2007) S. 39-147. Vgl. Queer Lives. Men's Autobiographies from Nineteenth-Century France. Translated, edited, and with an introduction by William A. PENISTON and Nancy ERBER (Lincoln – London 2007) S. 172-247: »The Novel of an Invert«.

Der junge Italiener beschreibt, wie er durch Zufall das Buch von Dr. Laupts in einer Buchhandlung gesehen, sogleich erworben und darin seine eigene Lebensgeschichte entdeckt habe. In den Jahren zuvor habe er bei jedem neuen Roman von Zola gehofft, dort auf eine Figur zu treffen, die von der gleichen »terrible passion« getrieben sei wie er, gezeichnet von dem gleichen »mal perfide«; denn er hätte sich lieber in einem Roman wiedergefunden als in einem medizinischen Traktat. So stehe er jetzt nicht an der Seite von Hyazinth, Apoll oder Alexis, sondern neben (Charles) Parker und (Alfred) Taylor (bekannt aus dem Prozeß gegen Oscar Wilde im Jahr zuvor). Vielleicht ist ihm der 1892 erschienene Roman »La Débâcle« entgangen, Zolas Roman um den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 (deutsche Übersetzung von Hans Balzer: Der Zusammenbruch [München 1977]). Bei der Schilderung der sich allmählich entwickelnden Freundschaft zwischen Maurice Levasseur und Jean Macquart habe sich Zola sehr wohl von dem (damals noch unveröffentlichten) »Roman eines Konträsexuellen« anregen lassen, argumentiert Michael ROSENFELD: Zola et l'homosexualité, un nouveau regard, in: Les Cahiers naturalistes 89 (2015) S. 213-228.

Er sei jetzt 30 Jahre alt, glücklich, egoistischer als je zuvor und zum Glück nicht mehr so sehr von seiner Leidenschaft getrieben wie früher, erfahren wir. Da er reich und unabhängig ist, kann er überall in Europa sein Glück suchen. Zu Hause hat er sich in seiner Luxuswohnung mit allerlei schönen Dingen umgeben (»une véritable ›musée‹«), empfängt dort nicht nur (vorzugsweise verheiratete) Damen, sondern auch einen kleinen Kreis guter Freunde, unter denen er »naturellement« auch einen Favoriten (»un favori à belle barbe«) habe. In Bezug auf das weibliche Geschlecht sei er immer noch Jungfrau; seine Natur sei zwar ›pervers‹ wie eh und je, aber er könne inzwischen auch schon mal über Monate vollkommen keusch leben (»Je passe des mois dans l'abstinence la plus complète, la chasteté la plus absolue«). Mit Nachdruck wehrt er sich dagegen, als weibischer Homosexueller eingestuft zu werden (»mon aspect n'est pas du tout efféminée«), er kleide sich zwar elegant, aber wie ein »gentleman«, nicht wie ein »homme-fille«.

Ausführlich geht er auf seine Familie, ihre Geschichte und sein Verhältnis zu seinen Verwandten ein – doch diesen Teil hat Dr. Laupts zum größten Teil weggelassen, weil durch die vielen Einzelheiten die Familie identifizierbar sein könnte. Was Dr. Laupts seinen Lesern vorenthielt, wird wohl bald zu lesen sein, denn im Zola-Archiv hat der Zola-Forscher Alain Pagès das Originalmanuskript der ›Fortsetzung‹ aufgefunden. Es zeigt sich, daß Dr. Laupts nur etwa ein Viertel des neu niedergeschriebenen Textes veröffentlicht hat. Über den Fund informierte Michael ROSENFELD auf einer Tagung des International Institute for Social History im Frühjahr 2016 in Valencia: »The Novel of an Invert – unique testimony of gay life in late nineteenth century Italy«, abrufbar unter: academia.edu. Die Angaben zu seiner Familie dürften es erlauben, den Autor, der aus höchsten süditalienischen Adelskreisen zu stammen scheint, bald zu identifizieren, zumal Michael Rosenfeld nun auch zum ersten Teil des Romans Teile des Manuskript aufspüren konnte. Dazu gehören neben dem dortigen Abschnitt über seine Familie auch die unterdrückten bzw. ins Lateinische übersetzten Passagen. So darf wohl bald mit einer vollständigen Neuausgabe gerechnet werden, die dann wohl einen Autorennamen tragen wird. Persönliche Mitteilung von Michael Rosenfeld.

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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von © Roland Setz. Projekt Gutenberg-DE


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