Claude Anet
Russische Frauen
Claude Anet

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Nadja

Ein Jahr lang hatte der junge Dragonerleutnant Alexander Naudin den ausgezeichneten Kurs über russische Sprache besucht, den Professor Paul Boyer an der Akademie für lebende orientalische Sprachen in Paris hielt. Grammatik, Syntax und die schwierigen Regeln der Aussprache waren ihm schon geläufig, er vermochte auch fließend zu lesen, aber das Sprechen machte ihm noch große Mühe. So entschloß er sich, seinen theoretischen Studien nun auch eine praktische Ausbildung folgen zu lassen und erbat einen dreimonatigen Urlaub ins Zarenreich, der ihm bewilligt wurde. Will man der Wahrheit ganz gerecht werden, so muß man hinzufügen, daß nicht allein die Sorge um seine Ausbildung diesen Plan in ihm reifen ließ, vielmehr waren es auch die verlockenden Berichte von Kameraden, die früher schon in Rußland gewesen waren und in zärtlichen Erinnerungen schwelgten.

Alexander Naudin (Sohn von Eduard Naudin, der Firma Leredu, Naudin, Jounast & Cie., Wirkwaren en gros, in Troyes, beste Referenzen) verfügte über einen ausreichenden Monatswechsel, der ihm erlaubte, seine Reise in behaglichster Weise einzurichten, ohne daß er nötig gehabt hätte, jeden Abend nach dem Inhalt seiner Börse zu fragen.

So fuhr er von Paris über Warschau geradeswegs nach Moskau. Hier machte er die Bekanntschaft eines russischen Kameraden, Sergius Platonow, mit dem er manchen Abend verbrachte. Sie besuchten allerlei Vergnügungslokale, hörten französische Soubretten, sahen englische Girls, unterhielten sich über japanische Akrobaten und bewunderten karelische Ringer. Doch Moskau war schon in diesen ersten Julitagen heiß und staubig, so daß unserem Freund der Aufenthalt bald reizlos schien. Sein Kamerad aber wußte ihm Rat.

»Nach Moskau muß man im Winter kommen. Jetzt sind schon alle unsere Freunde auf ihren Gütern, im Kaukasus oder in der Krim. Nur dort können Sie um diese Zeit die gute Gesellschaft treffen. Da Sie so glücklich sind, in jeder Beziehung unabhängig zu sein, reisen Sie doch in den Kaukasus. Die Landschaft ist dort herrlich, voll wilder Romantik, wie ihr in Europa nichts dergleichen kennt. Die Frauen sind hinreißend und – zugänglich, was auf Reisen auch nicht zu verachten ist! Ich will Ihnen eine Empfehlung an einen meiner Freunde, der Adjutant des Vizekönigs in Tiflis ist, mitgeben und bin sicher, daß er alles tun wird, um Ihnen den angenehmsten Aufenthalt zu verschaffen.«

Zwei Tage später saß Alexander Naudin im Luxuszug, der über Rostow am Don nach den kaukasischen Bädern fährt. Doch nirgends hielt er sich auf, weder in Bjatigorsk noch in Essentuki machte er Station. Die modernen Kurorte schienen ihm keines Interesses wert. Er wollte Gegenden und Städte sehen, die ihm Neues bieten konnten und darum setzte er seine Reise bis Wladikawkas fort, jenem reizenden, kleinen Städtchen, das hart an dem Befestigungsgürtel liegt, der den hohen Gebirgszug des Kaukasus, die natürliche Grenze zwischen Asien und Europa begleitet.

Den Nachmittag verbrachte er in dem schönen Stadtpark, an den Ufern des Terek, dessen schäumende Fluten geradeswegs aus den Bergen herunterbrausen. Die Hitze in der Stadt war bereits hochsommerlich und der Garten bevölkerte sich schon von sechs Uhr ab mit seinen Stammgästen, die allabendlich im Schatten der Bäume längs des Flußufers Kühlung suchen. Die Älteren blieben auf der Terrasse des Restaurants, plaudernd oder beim Kartenspiel, die Jugend belebte die Gartenanlagen. Junge Mädchen, Gymnasiastinnen und auch erwachsenere, die die Schule nicht mehr besuchten, spazierten paarweise durch die Alleen. Alle trugen nur ganz leichte, weiße Leinenkleider, unter denen sie wegen der großen Hitze buchstäblich nur ihr Hemd anhatten, wovon sich ein neugieriger Beobachter leicht überzeugen konnte, wenn sie, die sinkende Sonne hinter sich, an ihm vorbeischlenderten.

Der junge Alexander Naudin glaubte sich in das Paradies der Huris versetzt. Auf einer Bank ruhend, genoß er in vollen Zügen die weiche Sinnlichkeit dieser Abendstunden und seine Augen folgten entzückt den jungen Mädchen, die bald kichernd, bald in ernsten Gesprächen dahinzogen und von denen mancher lebhafte Blick zu ihm herüberhuschte. Ausdrucksvolle, schwarze Augen hinter halbgesenkten Lidern, ein Schimmern weißer Zähnchen zwischen Lippen, die ihr Rot dem frischen Pulsschlag des jugendlichen Blutes allein verdankten, dazu die leichten, fast durchsichtigen Stoffe, die diese schlanken Körper mehr entschleierten als bedeckten – man muß gestehen, dies alles vermochte einem jungen Dragonerleutnant wohl die Sinne zu verwirren. Alexander Naudin spielte auch wirklich schon mit dem Gedanken, in Wladikawkas zu bleiben und hier den Rest seines Urlaubs zu verbringen. Wo konnte er einen schöneren Garten, erfrischender rauschende Flüsse, ein überwältigenderes Gebirge und – bezauberndere Frauen finden?

Aber es sei verraten, daß er all seiner Begeisterung zu trotz ein leises Unbehagen in sich wachsen fühlte. Diese verführerischen Schönen ringsum, sie waren ja alle nur junge Mädchen! – Alexander Naudin hatte eine ausgezeichnete Erziehung genossen, zunächst in seinem Vaterhaus voll gutbürgerlicher Grundsätze, später in der Kadettenschule und schließlich im Regiment und, wie es sich für einen wohlerzogenen jungen Mann ziemt, hätte er niemals die Kühnheit erwogen, an den traditionellen Grundsätzen, die ihm förmlich eingeimpft waren und den Regeln des Anstands, die ihm gleichermaßen in Fleisch und Blut übergegangen waren, auch nur zu rütteln. Nun, und es ist doch unbestritten und selbstverständlich, daß einem jungen Mann, besonders einem jungen Offizier und ganz besonders einem jungen Kavallerieoffizier, die ganze Welt zu Füßen liegt, daß alle Türen ihm offenstehen und alle Kerzen ihm zufliegen und man gern, wenn es nötig ist, beide Augen zudrückt, sein Vergnügen nicht zu stören – nur Eines fordert man von ihm: junge Mädchen seien ihm heilig! Junge Mädchen, die verführt man nicht, junge Mädchen heiratet man!

Darum war es auch die Gegenwart dieser jugendlichen Geschöpfe, die sein Unbehagen verursachte. Alexander Naudin dachte mit Leibnitz, den er nie gelesen hatte, daß in dieser vollkommensten aller Welten alles aufs beste eingerichtet sei, daß es junge Mädchen gibt, damit man sie heirate, daß sie, einmal verheiratet, Kinder bekommen und dadurch schon der Madonnenschein der Mütterlichkeit sie unseren Wünschen unerreichbar macht; und daß den nur allzu natürlichen Freuden junger Männer eine andere Art Frauen bestimmt sei, unter deren vielfältiger Zahl man ohne Gewissensbisse seine Auswahl treffen könne. Oh, ich weiß es wohl, mit dreißig Jahren wird auch Alexander Naudin, der ja kein Mucker ist, in diesem Punkte seine Meinung geändert haben und Dinge begreifen, die ihm jetzt noch fremd sind, aber was hilft's, zur Zeit, da diese Erzählung spielt, war er bloß vierundzwanzig . . .

Und er zögerte, trotz aller freundlichen Blicke, die ihn streiften, die Mädchen anzusprechen. Im Feuer ihrer Augen geriet er wohl in Flammen, doch wagte er nicht, seine Glut einzugestehen. Zwanzigmal gab er sich einen Ruck und ebensooft scheute er immer zurück. So streifte er im Widerstreit seiner Gefühle durch die hell erleuchteten Alleen und, wie um sein Mißgeschick voll zu machen, waren alle Mädchen, die er traf, zu zweit, meist sogar in Gruppen von drei oder vier. Wäre er nur einer allein begegnet, vielleicht hätte er dann doch den Mut aufgebracht, ihr zu folgen. Aber man begreift, wie schwierig es ist, mit einer ganzen Schar lachender, spöttischer, junger Damen ein Gespräch anzuknüpfen, besonders, wenn man ihre Sprache, trotz aller guten Lehren eines Professor Boyers nicht ganz beherrscht.

So verbrachte er einen zwar reizvollen, aber bewegten Abend und mit schwerem Herzen verließ er spät und voll Bedauern den schönen Garten, um in seinem wenig behaglichen Hotelbett eine unruhige Nacht zu verbringen.

Zeitig am nächsten Morgen nahm er in einem der vielen Automobile Platz, die von Wladikawkas auf der berühmten grusinischen Heerstraße quer über die Gebirgskette des Kaukasus nach Tiflis fahren.

Die Schönheit der Landschaft, die er durchfuhr, der Wechsel der Szenerie mit ihren häufigen Kontrasten schroffer Gebirgspartien und lieblicher Täler führten das Gemüt unseres Reisenden bald wieder zu Ruhe und Frieden. Der erste Teil des Weges führte ihn durch die engen Schluchten, in denen die schäumenden Wirbel des Terek dahinbrausen. Er bewunderte die auf einem vereinzelten, hohen Felsblock am Flußufer sichtbaren Ruinen der Burg der Königin Tamara, von wo des Morgens jene Reisenden in die reißenden Fluten geschleudert wurden, die diese hochmütige Frau sich zu Geliebten einer Nacht erkoren hatte.

Nach zweiundeinhalbstündiger, ununterbrochener Steigung erreichte der Wagen die Poststation Kasbek, wo ein Frühstück vorbereitet stand. Naudin verzehrte mit großem Appetit eine Schüssel mit Krebsen, die in den eisigen Gebirgsbächen gefangen worden waren und trank dazu den berauschenden persischen Wein, den man ihm vorsetzte. Während er auf die Abfahrt seines Wagens wartete, bewunderte er noch den vulkanischen Kegel des Kasbek, der seinen ewigen Schnee und seine Felszacken, an deren einer Prometheus einst angeschmiedet war, in mehr als fünftausend Meter Höhe emporstreckt. Alle diese Eindrücke erhoben das Gemüt Alexander Naudins zu festlicher Stimmung und er fühlte sich glücklich, dem Rat seines Freundes in Moskau zu dieser Fahrt gefolgt zu sein. Die Stunden, die er im Park von Wladikawkas verbracht hatte, verloren in seiner Erinnerung jeden bitteren Beigeschmack und schienen ihm unvergleichliche Wonnen für die nahe Zukunft zu versprechen. In solch freudiger Erregung durchfuhr er das in seiner wilden Romantik überwältigende Land der Osseten.

Nach weiterem eineinhalbstündigen Emporklettern auf der Automobilstraße erreichten sie den Gebirgssattel beim zweitausendfünfhundert Meter hohen Kreuzpaß und die lange Abwärtsfahrt nach Tiflis brachte wieder neue Schönheiten. Wie durch Zauberkraft wechselte die Landschaft in einem Augenblick ihren Charakter und statt der zerklüfteten Schluchten waren es jetzt breite Flächen, über die der entzückte Blick unseres Leutnants weit hinaus schweifte. Bei dieser eiligen Fahrt, die dem Süden und den sonnendurchglühten Ländern entgegenführte, wurde die Vegetation fast mit jedem Kilometerstein üppiger, duftende Wellen zogen durch die Luft, und sogar die Namen der Orte, an denen der Wagen vorbeikam – Passanam, Ananam – hatten einen weichen, sinnlichen Klang.

Gegen vier Uhr entdeckte Alexander Naudin in der Ferne, eingebettet in ein Tal, dessen Seiten als kahle Felsen in die Höhe stiegen, eine große Stadt, über der eine Dunstwolke hing. Das war Tiflis.

Erst gegen sechs Uhr langte das Auto dort an. Noch war die Hitze unerträglich und staubbedeckt und gerädert von den Stößen des Wagens betrat Naudin das am Ufer der Kura liegende Hotel London.

Er brannte so ungeduldig darauf, sich den Genüssen, die er vom Leben im Kaukasus erwartete, in die Arme zu stürzen, daß er noch am Abend seiner Ankunft das Einführungsschreiben, das ihn an den Ordonnanzoffizier des Vizekönigs empfahl, überbrachte und als er erfuhr, daß dieser erst drei Tage später von seinem Urlaub zurückkehren werde, erfaßte ihn eine fast verzweifelte Enttäuschung. Er hatte das Gefühl, daß er nie mehr diese drei Tage werde einbringen können, denn unser Freund war sich dessen wohl bewußt, daß er in einem so fremden Lande eines erfahrenen Führers bedurfte und sich allein überlassen, die verborgenen Reize von Tiflis niemals würde entdecken können.

Doch es blieb ihm nichts übrig, als sich in Geduld zu fügen und er benutzte diese, wie er sagte, aus seinem Leben gestrichenen drei Tage, um die Stadt zu durchstreifen und sich wenigstens mit ihren Äußerlichkeiten vertraut zu machen. Und obwohl er allein war und auch nicht in rechter Stimmung zu beschaulichem Betrachten, fand er doch ein größeres Vergnügen an diesen Spaziergängen durch Tiflis, als er erwartet hatte.

Er bummelte durch die Bazare und durch die Altstadt, in der die Kura in ihrem Lauf noch von den Mauern altertümlicher Häuser eingeengt wird; er besuchte das Persische Viertel und wagte sich bis zum Botanischen Garten vor, der sich innerhalb der Ruinen der ehemaligen Festung der Sefewiden Schahs ausbreitet. Er trank Kefir, ohne daran Geschmack zu finden. Gegen sechs Uhr fand er sich auf dem Prospekt Golowina bei dem französischen Konditor zum Tee ein und plauderte dort ein wenig. Die Theater waren unglücklicherweise geschlossen, so daß er mit seinen Abenden nichts Rechtes zu beginnen wußte. Und da die Hitze tagsüber ihn bestimmt hatte, der Gewohnheit der Einheimischen zu folgen und nach seinen vormittägigen Gängen durch die Stadt seine Siesta bis in den Spätnachmittag auszudehnen, war er abends ausgeruht und sehr wenig damit einverstanden, sein Bett zu so früher Stunde aufsuchen zu müssen. Tiflis aber besitzt keinen Stadtpark, der mit dem von Wladikawkas vergleichbar wäre . . .

Doch auch diese drei öden Abende zogen vorüber, und endlich hatte Alexander Naudin das Vergnügen, seinem Schutzgeist, dem Hauptmann Iwan Iljitsch Putilow, gegenüberzustehen. Er fand in ihm einen jungen Mann von kaum dreißig, dessen Brust aber schon mit Ordensbändern reich geschmückt war und dem, nach seinem ganzen Auftreten, die glänzendste militärische Karriere sicher schien. Mit größter Freude begrüßte er seinen französischen Waffenbruder, ja, wenn man sein Entzücken, mit dem er ihn empfing und sich ihm für die ganze Dauer seines Aufenthalts in Tiflis zur Verfügung stellte, wörtlich nehmen wollte, dann schien es fast, als hätte das Leben des armen Kapitäns bisher jedes Zwecks und Sinns entbehrt und als würde erst die Ankunft Alexander Naudins eine qualvoll empfundene Leere ausfüllen. Schon nach den ersten Worten erkundigte sich der Hauptmann nach dem Vaternamen seines neuen Freundes und im Handumdrehen wurde aus Alexander Naudin ein Alexander Eduardowitsch.

Schon am elften Abend führte der russische Offizier seinen Kameraden in eines der Sommeretablissements am linken Ufer der Kura. Es war ein Gartenrestaurant, in dem man ab elf Uhr im Freien dinierte. Fast die ganze gute Gesellschaft von Tiflis war hier versammelt und als Naudin sah, mit welchem Appetit sie den Speisen zusprach, fand er endlich die Lösung eines Rätsels, das ihn seit seiner Ankunft in der kaukasischen Hauptstadt beschäftigt hatte: wann essen die Leute hier? Wohl hatte er beim Mittagstisch in den Hotels und Restaurants, die er besuchte, immer noch eine Anzahl anderer Gäste angetroffen, doch wo immer er auch sein Abendessen einnehmen wollte und zu welcher Stunde es auch gewesen war, stets blieb er allein im Saal. Was steckte für ein Geheimnis dahinter?

Er sprach von dieser Erfahrung zu Iwan Iljitsch, und dieser klärte ihn auf: »Mein verehrter Alexander Eduardowitsch, ihre Beobachtung ist ganz richtig. Unsere Essenszeit mittags ist so wie bei euch zwischen Zwölf und Eins. Dann aber kommt die Siesta, die Ruhestunden, die in unserem glühenden Sommer jedem Russen und Kaukasier heilig sind. Nachher, gegen Fünf oder Sechs, nehmen wir unseren Tee entweder in einer Konditorei oder – und das mit Vorliebe – bei uns zu Hause. Das gesellschaftliche Leben aber beginnt erst wieder beim Souper, wie sie es hier sehen. Wer auch würde hier im Kaukasus, wo die Nächte so unvergleichlich schön sind, bei Tag seine Kräfte vergeuden wollen! Männer, Frauen und junge Mädchen kommen spät abends hier in diesem Gartenrestaurant zusammen und bleiben bis ein, zwei Uhr nachts. Man geht herum, man unterhält sich, man lauscht der Musik ißt und trinkt, und überdies freut man sich der Aufregungen des Lottos, in das ich sie gleich einweihen will.«

Alexander Naudin sah im Hintergrund des Gartens eine große, in hundert Felder eingeteilte Tafel, auf der die gezogenen Nummern, die der Spielleiter mit lauter Stimme ausrief, sichtbar wurden. Die Gäste verfolgten alle von ihren Tischen aus das Spiel mit leidenschaftlichem Interesse.

Auch die beiden Offiziere kauften jeder um einen Rubel eine Karte, auf der eine gewisse Anzahl von Nummern verzeichnet war, und beteiligten sich am Spiel, welches darin bestand, die ausgerufenen Nummern, soweit sie auf der eigenen Karte vorkamen, auf dieser zu streichen. Der Zufall wollte es, daß unser junger Freund als Erster alle Nummern seiner Karte gezogen sah. Er reichte sie seinem Freund hinüber, der sogleich mit lauter Stimme »Davolno!« rief.

Das Spiel wurde daraufhin unterbrochen. Ein Angestellter kam herbei und übernahm die gewinnende Karte, um sie überprüfen zu lassen. Einen Augenblick später kam er wieder zurück und zählte sechsundsechzig Rubel auf den Tisch. Von allen Seiten blickten die Leute herüber, um den glücklichen Gewinner zu sehen und da es ein Fremder war, schauten sie ihn nur umso länger und aufmerksamer an. Der junge Alexander Naudin strahlte über seinen Erfolg und hielt, straff aufgerichtet, allen Augen stand.

»Sie haben ja ein unglaubliches Glück, mein lieber Alexander Eduardowitsch,« meinte sein Begleiter, »da müssen wir ihrem Sieg zu Ehren eine Flasche Champagner trinken.«

Aber er wollte um keinen Preis zugeben, daß sein verehrter Kamerad die Flasche zahle und so sah Alexander Naudin sich genötigt, eine zweite zu bestellen.

Indessen waren Freunde des russischen Offiziers herangekommen und nahmen an seinem Tische Platz. So lernte unser Leutnant in einer Stunde mehr Menschen kennen, als wenn er allein ein Jahr lang in Tiflis gewesen wäre und als er gegen drei Uhr morgens in sein Hotel zurückkam, beglückwünschte er sich zu dem vortrefflichen Gefährten, den er in Putilow gefunden hatte.

Diese Feste im gemütlichen Kreis wurden zur ständigen Einrichtung. Bei Tage sah er Iwan Iljitsch wohl nicht, aber die Nächte verbrachten sie stets zusammen in einem der Sommergärten und meist waren die Freunde des Hauptmanns mit von der Partie. Naudin selbst ward auf diese Weise mit manchen Notabeln der Stadt befreundet, so mit dem Notar des Vizekönigs und dem Verwalter der Krongüter. Die Ehefrauen dieser hohen Beamten waren Damen, die schon ihre erste Blüte hinter sich hatten, und ihre verstohlenen Avancen erreichten unseren Leutnant nicht. So begann er mit der Zeit zu empfinden daß seine russischen Freunde ein recht monotones Leben führten und daß der Wein bei ihnen alle anderen Genüsse ersetze. Eines Abends äußerte er sich darüber zu Putilow:

»Mein lieber Iwan Iljitsch. gibt es denn in eurer schönen Stadt nicht auch jüngere und weniger tugendhafte Damen, als die, denen ich bisher begegnet bin?«

Iwan Putilow brach in helles Lachen aus.

»Jüngere gewiß, aber ob sie auch weniger tugendhaft sind . . .?«, womit er offenbar andeuten wollte, daß es nicht ganz am Platze sei, gerade Tugend bei den Frauen seiner Freunde vorauszusetzen.

Nach einer Weile fuhr er fort:

»Sie wollen unsere kaukasischen Mädchen kennenlernen, Alexander Eduardowitsch, und da haben Sie recht, denn sie sind wirklich bezaubernd. Ich werde Sie zu ihnen führen. Übrigens hatten wir selbst schon die Absicht es zu tun und in unserem Programm war vorgesehen, Ihnen, als unserem Freund und Verbündeten, ein kleines Fest zu geben, das ganz im Stil des kaukasischen Geschmacks gehalten werden soll. Nun, wenn sie wollen, machen wir's übermorgen. Bis dahin aber stärken Sie sich und schlafen Sie im Vorrat, denn Sie werden ihre Kräfte brauchen, wenn Sie uns beweisen wollen, daß Sie etwas aushalten und leichte Weine werden es auch nicht gerade sein, die wir Ihnen vorsetzen werden. – Also dann bleibt's dabei, wir sehen uns wieder übermorgen im Hotel London, um drei Uhr.«

»Wie, um drei Uhr?« frug Alexander Naudin erstaunt.

»Ja, warten Sie mit dem Mittagessen, wir setzen uns dann gleich zu Tisch. Und den Abend halten Sie sich auch frei.«

»Und wird das schöne Geschlecht dabei sein?« erkundigte sich Naudin, noch immer an den Ausgangspunkt der Unterhaltung denkend.

»Alles wird Ihnen zu seiner Zeit offenbar werden,« entgegnete Putilow mit geheimnisvoller Miene.

Am besprochenen Tage erwartete Alexander Naudin seine Gäste zur festgesetzten Stunde. Der Tisch war in einem Séparé gedeckt worden, einem großen Raum, dessen Fenster wegen der Hitze ganz geschlossen blieben. Die Geladenen waren pünktlich. Als erster erschien Putilow, der Veranstalter des Festes, dann kamen seine Freunde, ein Kavallerieoberst, Kommandant eines Regiments der »Wilden Division«, ein junger Leutnant des gleichen Regimentes, der Notar des Vizekönigs und ein Prinz aus einem jener grusinischen Adelsgeschlechter, die ihren klingenden Namen bis tief ins Dunkel der Vergangenheit nachzuweisen vermögen.

Als Einleitung aß man stehend und plaudernd »Zakuski«, wie die Hors d'oeuvres dort genannt werden, Kaviar aus Astara, Schnitten rohen Schinkens, kleine, heiße Pasteten mit Champignons, Fischen oder gehacktem Kohl gefüllt, und alles dies wurde, wie es sich gehört, mit Wutki heruntergespült.

Dann setzte man sich zu Tisch. Das Mahl war reich und vorzüglich zubereitet. Der Koch des Hotels, der in ganz Rußland eine Berühmtheit war, hatte sich diesmal selbst übertroffen. Nach einer Rübensuppe, zu der kleine Käsebrötchen gereicht wurden, gab es Pastete von einem Stör aus dem Kaspisee, dann eine Schüssel Riesenkrebse, wie sie im Terek gefangen werden und diesen folgte ein Birkhahn und gebratene Hühner, alles mit Trüffeln gefüllt. Es war eine begreifliche Eitelkeit, daß nur kaukasische Weine und zwar die besten der kaiserlichen Güter, auf den Tisch kamen, jene tiefgefärbten, starken Weine, die zu Kopf steigen.

Tischreden gab es ungezählte. Man trank auf den Zaren und auf den Präsidenten, man ließ die russische Armee leben und die französische, erhob das Glas auf die Kavallerie der beiden Länder und dann wieder besonders auf die Regimenter, denen die einzelnen Anwesenden angehörten und so ging das fort. Und bei jedem Trinkspruch mußten die Gläser, wie die Sitte es verlangt, bis an den Rand gefüllt und bis zur Neige geleert werden. Der französische Champagner hielt erst mit dem schwarzen Kaffee seinen Einzug.

Unser Freund Alexander Naudin tat sein Bestes, um diesen schweren Anforderungen standzuhalten. Im übrigen waren seine Gäste, noch ehe die halbe Mahlzeit vorüber war, schon in derartige Glut geraten, daß sie nicht mehr allzu sorgfältig zu beobachten vermochten, was der französische Leutnant trank und der ließ seinen Vorteil nicht ungenützt und schwindelte so gut es ging. Wie viele seiner Landsleute, hatte auch er einen wahren Abscheu davor, sich zu berauschen. Wohl hatte er für ein paar Gläschen guten Weines manches übrig, aber es wäre sehr schwierig gewesen, ihn über die Grenze seiner Leistungsfähigkeit, die er genau kannte, hinauszulocken. Und an diesem Abend hatte er noch besonders gewichtige Gründe, um alle seine Sinne beisammen zu behalten, wußte er doch, daß das Fest nicht im Hotel London schließen würde und er wollte nicht in einen Zustand geraten, der den Genuß der Freuden, die man ihm versprochen hatte, beeinträchtigt hätte.

Mit Einbruch der Dämmerung verließ man den stickigen Saal und suchte eine jener Terrassen auf, die über der Kura gelegen sind. Der grusinische Prinz, ein bleicher, stiller, junger Mann, wurde immer schwermütiger. Er setzte sich etwas abseits in einen Fauteuil und begann, auf der Balalajka zupfend, ein fremdartig klagendes Lied mit seltsam gebrochenem Rhythmus vor sich hinzusummen. Anfangs wirken ihre Klänge nur eintönig, doch nach und nach ergreifen diese Steppenlieder das Herz, verstricken es in ihr schimmerndes Gewebe . . . Die Nacht sank nieder und Alexander Naudin, an der Brüstung der Terrasse lehnend, gab sich ganz dem Zauber dieser Stunde hin. Unten rauschte der Fluß, der stellenweise silbern aufschimmerte, und auf dem tiefblauen Himmel, der schon in fahleres Licht hinüberzuleuchten begann, glimmten die ersten Sterne auf. Ein leises Wehen der Luft schien wie Erfrischung nach der Glut des Tages und war der Vorbote der ersehnten Kühle der Nacht. In die halblaute Klage des Prinzen mengten sich Stimmen und gedehntes Flötenspiel aus der Ferne, sonst herrschte tiefste Stille. Alexander Naudin war ganz dem Zauber der orientalischen Nacht verfallen und träumte, gegen seine sonstige Gewohnheit, lange vor sich hin . . .

Der Reiteroberst, ein prachtvoller, fast sechs Fuß großer Riese, leerte indes die Champagner- und Likörgläser, die man ihm anbot, ohne daß sich dadurch das Geringste an seinem Aussehen oder seinem Gehaben änderte. Er wurde nicht lustiger, auch nicht trauriger und auch nicht gesprächiger, als er bisher gewesen. Er hielt sich eben so stramm, wie bei seinem Kommen, kein Fältchen an seiner eleganten Gestalt hatte sich verschoben, und aus seinem schönen, unbeweglichen Gesicht las man in wahrstem Sinne des Wortes – nichts. Der Notar hatte schon ein rotes, glänzendes Gesicht und debattierte leidenschaftlich mit Putilow über den Tod, ein Thema, zu dem jeder Russe nach einem üppigen Mahl mit guten Weinen vieles zu sagen hat. Und was schließlich den russischen Leutnant betrifft, der hatte, seit man vom Tisch aufgestanden war, kein Wort gesprochen. Er saß rittlings auf einem Sessel, rauchte in kurzen, hastigen Zügen eine Zigarette nach der anderen und begleitete manche Akkorde der Balalajka mit einem erstaunlichen Wirbel seiner Füße auf dem Boden, was darauf schließen ließ, daß er lange Abende der Beobachtung der Stepptänzer in Varietés gewidmet haben mußte.

Naudin war durch einen dieser Wirbel seines Kameraden aus dem Traumzustand gerissen worden, in dem er lange Zeit versunken gewesen und begann, wie sehr er an diesem Abend auch Gefallen fand, doch etwas ungeduldig der Fortsetzung zu harren. Wohl war es selbstverständlich, daß er es seinen Freunden überlassen mußte, das Programm für dieses Fest ganz nach ihrem Belieben zu gestalten, aber er hoffte sehr, daß man den Aufenthalt auf dieser Hotelterrasse nicht ins Unendliche ausdehnen werde. Doch seine Geduld wurde noch auf eine harte Probe gestellt, ehe Putilow endlich seine Unterhaltung mit dem Notar unterbrach und mit erhobener Stimme rief:

»Ich denke, Freunde, es wäre Zeit, daß wir ein wenig Landluft atmen gehen.«

Kein Widerspruch wurde laut. Und Naudin begann zu merken, daß für solche Feste im Kaukasus ein unverrückbares Zeremoniell bestand, das fast genau auf die Minute das Programm im voraus regelte.

»Von unserer Unterhaltung zwischen Männern sei's nun genug,« fuhr Putilow fort, »und wenn unser verehrter Gast keinen Einspruch erhebt, bin ich dafür, einige Vertreterinnen der holden Weiblichkeit zu unserem Souper zu entführen. Auf, zu unserer alten Freundin in der Ringstraße! Ich habe ihr telephonisch unseren Besuch angekündigt und bin überzeugt, daß sie das Allerbeste aus ihrem Bekanntenkreis zusammengetrommelt haben wird!«

Vor dem Hotel warteten drei Automobile, davon zwei ärarische mit Soldaten am Volant. Während der kurzen Fahrt erkundigte sich Naudin bei seinen Wagengenossen nach dem Orte, der ihr nächstes Ziel sein sollte.

»Aber, Alexander Eduardowitsch, Sie werden doch solche Häuser kennen. Man findet sie ebenso in Paris wie bei uns. Es gibt dort liebenswürdige, junge Mädchen, die man zum Souper mitnimmt.«

»Deren Geschäft es ist?« frug Naudin. der gern jeden Zweifel im Keime erstickte.

»Natürlich, lieber Freund, selbstverständlich. Obzwar manche darunter sich gern als eine Dame aus der Gesellschaft ausgibt, die ein Abenteuer erleben möchte. Kommt das bei euch nicht auch vor?«

Alexander Naudin mußte zugeben, daß sich Derartiges auch in Frankreich ereigne.

Die Kraftwagen hielten am linken Kuraquai, an der Ecke einer Straße, die so schmal war, daß sie nur von Fußgängern benutzt werden konnte. Putilow trat, von seinen Freunden gefolgt, in ein kleines Haus, dessen Front auf den Fluß zu gelegen war. Eine bejahrte Frau empfing sie wie gute, alte Bekannte und geleitete sie in ein geräumiges Gemach, in dem eine ganze Anzahl Mädchen um einen großen, runden Tisch saß und Lotto spielte. Sie alle waren in ihr eifriges Spiel so vertieft, daß sie nicht einmal von ihren Karten aufblickten, um zu sehen, wer gekommen sei. Die Offiziere gingen zur Begrüßung ihrer Freundinnen um den Tisch herum, schüttelten Hände, die sich ihnen entgegenstreckten oder streichelten über im Spieleifer erglühte Wangen und drückten wohl auch hier oder da einen Kuß auf duftende Scheitel.

Alexander Naudin betrachtete erfreut diese Szene. Alle Mädchen waren jung und die meisten auch hübsch. Gekleidet waren sie, wie es im Sommer in Tiflis allgemein üblich ist, in weiße Leinenröcke und dünne Blusen, die je nach dem zufälligen Wohlstand ihrer Besitzerinnen mehr oder minder luxuriös waren.

Viele der Mädchen hatten kurzgeschnittene Haare; was aber Naudin am meisten auffiel, war das vollkommene Fehlen jener gewissen, oft nur kleinen, äußerlichen Anzeichen, die in Europa solche Mädchen kenntlich machen. Nicht in ihrem Sprechen, in ihren Gesten, im ganzen Benehmen oder in ihrem Aussehen und ihrer Kleidung war das geringste zu bemerken, das ihn, bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße, hätte erraten lassen, wer sie seien.

Er erwartete umringt, angeschmachtet und bedrängt zu werden und war sehr erstaunt, daß all diese reizenden, kaum erwachsenen Geschöpfe ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkten, obgleich er als Ausländer doch sicherlich ihre Neugier erwecken mußte.

Einige von ihnen hatten indes doch den Spieltisch verlassen und Putilow nahm Naudin untern Arm, um ihn bekannt zu machen. Man unterhielt sich und scherzte harmlos, da bemerkte Naudin, daß eines der Mädchen, das ihm schon früher aufgefallen war, weil es am Spiel nicht teilgenommen hatte, sich auch jetzt abseits hielt und mit den übrigen wenig sprach. Sie gefiel ihm, und er wollte sie zur Freundin dieses Abends wählen. Er erkundigte sich bei Putilow nach ihrem Namen.

»Die, die kenn' ich ja gar nicht. Sie muß erst ganz kurz hier sein. Aber wirklich, sie ist sehr hübsch.« Und während er dies zu Naudin sprach, gingen beide auf sie zu, und Putilow redete sie an:

»Wie heißen Sie?«

»Nadja.« gab sie gleichmütig zurück.

»Nun denn, Nadja, hier stelle ich Ihnen meinen Freund Alexander Eduardowitsch vor, wie Sie sehen, ein Franzose und ein ganz famoser Bursche. Er spricht das Russische zwar langsam, aber fast fehlerlos. Ihr werdet euch vortrefflich verständigen.«

Alexander Naudin drückte die Hand, die Nadja ihm reichte.

»Wollen Sie mir das Vergnügen machen, mit meinen Freunden und mir draußen auf dem Land zu soupieren?«

Nadja betrachtete den Fremden nicht ohne ein gewisses Mißtrauen, zögerte einen Augenblick und erwiderte dann, leicht die Schultern hebend:

»Warum nicht?«

Der Notar, der seit seinem Gespräch über den Tod voll Munterkeit war, neckte sich indes mit einer ausgelassenen, üppigen Blondine.

Putilow blickte im Saal herum.

»Zwei junge Schönheiten brauchen wir noch,« rief er und ohne weiter die Meinung der anderen abzuwarten, wählte er zwei der Mädchen und alles ging wieder zu den wartenden Wagen zurück.

Putilow als Zeremonienmeister brachte Naudin zwischen Nadja und einem Mädchen, namens Narussia, im Fond eines der großen Militärautos unter, während er selbst vorn neben dem Soldaten Platz nahm. Den anderen überließ er es, sich nach Belieben in den beiden übrigen Wagen zu verteilen.

Die Autos ratterten durch die Stadt und hatten bald die offene Landstraße erreicht. Noch war die Luft milde, aber während der Fahrt und im Gegensatz zur Stadt erschien es hier draußen fast kühl. Naudin war besorgt, daß seine Freundin Nadja in ihrer leichten Bluse sich erkälten könnte.

»Nitschewo« erwiderte sie bloß.

Er betrachtete sie. In dem herrschenden Halbdunkel vermochte er nur ihren kleinen Kopf mit dem reinen Profil und einem schlanken, zarten Hals zu erkennen.

Durch das Rütteln des Wagens auf unebener Straße, das alle Drei aneinanderstieß, glaubte er sich berechtigt, seinen Arm um ihre Hüfte zu legen. Sie ließ es zu, und er genoß die Freude, einen ungemein schlanken Körper zu umspannen, der in seiner dünnen, sommerlichen Tracht fast unbekleidet schien. Entzückt preßte er seine junge Freundin an sich.

Aber zu seinem großen Erstaunen entzog sie sich dieser Umarmung und drängte die Hand, die allzu kühn geworden war, zurück.

»Oh, es scheint, daß die Dinge hier in Rußland nicht so rasch gehen, wie bei uns,« dachte er, »und daß diese Mädchen erobert sein wollen.« Aber er fühlte sich stark genug, diesen doch nur leichten Sieg zu erringen und verschob seinen Angriff auf später.

Die Fahrt unter dem schweigenden Sternenhimmel war indessen zu Ende gegangen. Die Wagen polterten noch über eine Brücke und hielten dann vor einem vereinzelt stehenden Haus. Dies war das Restaurant »Phantasie«, dessen Name allein schon in allen Tifliser Frauenherzen lockende Träume erweckte, denn es hatte einen großen Garten voll schattiger Pfade und in diesem Garten gab es, an einem Nebenarm der Kura gelegen, verschwiegene, kleine Pavillons, in denen man soupierte.

Einen dieser Pavillons hatte Hauptmann Putilow für diese Nacht bestellt und der junge Franzose bewunderte die Bequemlichkeit seiner Einrichtung. Er umfaßte zwei oder drei recht geräumige Zimmer mit weichen, kaukasischen Teppichen auf den vielen Divans und vor diesen Zimmern befand sich eine kleine Galerie, von der man in den Garten und auf den Fluß hinabblickte, dessen rastlos heiteres Plätschern die Stille belebte. Auf dieser Galerie war der Tisch gedeckt.

Die »Zurna«, ein kleines Orchester, harrte schon auf der einen Seite der Galerie der Gäste. Es waren vier Kaukasier von persischem Schlag, deren einer die Flöte blies, ein anderer Klarinette, der dritte spielte Akkordeon und der vierte hockte neben einer großen Trommel, die er mit seinen Fingerknöcheln zum Tönen brachte. Diese vier Gesellen, die weder Takt noch Rhythmus zu kennen schienen, vereinigten sich zu einem Tönewirrwarr, der unserem jungen Leutnant nach den einfachen, klangvollen Melodien der Cafékonzerte, an die er gewöhnt war, ganz unverständlich schien. Diesen bizarren, eintönigen, kurzen Phrasen, die sich mit geringen Variationen unaufhörlich wiederholten, vermochte er weder Rhythmus noch Melodie abzulauschen. Es waren Zusammenklänge von Tönen, die ihm ganz fremd erschienen, und ein gehämmerter Rhythmus, als würde Peitschenknallen ein im Kreise trabendes, todmüdes Roß immer wieder auf kurze Augenblicke zu Galoppsprüngen anfeuern.

Obwohl man erst nach sieben Uhr vom Mittagessen aufgestanden war und es jetzt noch nicht ganz zehn war, mußte man wieder eine Mahlzeit bewältigen und Naudin bewunderte den Appetit, mit dem seine Freunde dem Menu zusprachen. Man begann mit kleinen Forellen in Aspik und endete beim unvermeidlichen schwarzen Kaffee – was dazwischen lag, war für Naudin nur die Erinnerung an eine schier endlose Reihe immer neuer Schüsseln und Teller. Die Weine waren nicht weniger zahlreich und ihre Mischungen gefährlich. Alexander Naudin, der sich hart an der Grenze seiner Besinnung fühlte, mußte auf seiner Hut bleiben, um das Ende des Festes im Vollbesitz seiner fünf Sinne zu erleben.

Er beobachtete Nadja, die neben ihm saß. Sie war trotz des Lebens, das sie führte, ganz jung und hatte ein frisches Aussehen. Ihre Haut hatte jenen bleichen Schimmer, wie man ihn im Orient oft sieht und keinerlei künstliche Mittel suchten ihr lebhaftere Farben zu geben. Nicht einmal die Lippen waren geschminkt, nur ein wenig Puder verschmähte Nadja nicht in ihrem Gesicht. Sie machte keinerlei Bemühung, um Naudin zu gefallen, warf ihm keine Blicke zu und blieb überhaupt auffallend still. Sie schien ganz teilnahmslos und unberührt. Weder der Glanz des Festes, noch die vorzüglichen Speisen, nicht die Glut der Weine oder die aufwühlenden Klänge des Orchesters schienen sie zu erreichen. Selbst die Pracht der warmen, stillen, orientalischen Nacht ringsum ging spurlos an ihr vorüber. Trotzdem war sie keineswegs verstimmt und sie wirkte auch durchaus nicht dämpfend auf die lebhafte Stimmung der anderen. Sie blieb wohl still, aber nicht wie ein nörgelnder Beobachter, sondern es war einfach ihre Art, und man konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen. Alexander Naudin verstand sie.

Ein- oder zweimal hatte er versucht, sie zu umarmen, sie an sich zu ziehen und ihren Hals zu küssen, diesen biegsamen, matten Hals, dessen weiche Linien in so reizvoller Art bis zu den Knospen ihrer jugendlichen Brüste verliefen, die er durch die dünne Bluse schimmern sah, denn er war ganz bezaubert von ihr und der Gedanke, daß alle diese Reize sich ihm entschleiern würden, machte es ihm schwer, kaltes Blut zu bewahren. Aber Nadja war für solch lebhafte Huldigungen nicht zu haben. Sanft zwar, aber unerbittlich drängte sie den hitzigen Leutnant zurück und nur ihre Augen sprachen vorwurfsvoll: »So etwas tut man bei uns nicht!«

Und wirklich »so etwas« gab es nirgends rund um die Tafel. Bloß der Notar hatte einmal zwei klingende Küsse auf die Wangen der Blondine gedrückt, aber das waren sozusagen bloß väterliche Küsse gewesen, denen jeder sinnliche Beigeschmack gefehlt hatte und sowie diese Formalität erfüllt war, hatte er sich um seine Nachbarin nicht im geringsten mehr gekümmert. Und die Offiziere machten es nicht anders. Kaum, daß sie einmal das Wort an ihre reizenden Tischgenossinnen richteten. Ihr Hauptinteresse galt an diesem Abend dem Weine und nicht den Frauen, und diesem blieben sie nichts schuldig. Als würden die scharfen Dissonnanzen der Musiker, diese ewig sich wiederholenden, eindringlichen, asiatischen Variationen, diese hoffnungslosen Klagen der Instrumente ihre Adern zur Fieberglut erregen und sie zwingen unaufhörlich zu trinken, um die Hitze ihrer Körper zu kühlen. Süßer französischer Champagner wechselte mit den herbsten, schwersten Weinen des Kaukasus. Der Notar erhob sich manches Mal, um mit breiten, wuchtigen Armbewegungen das kleine Orchester zu dirigieren, oft auch sang er mit voller Kraft eines der kaukasischen Volkslieder. Dem russischen Leutnant wieder ließen die Klänge der Lesginskaja keine Ruhe, und kaum ertönten die ersten Takte, so verließ er schwankend seinen Platz und tanzte, trotz seines Rausches, zur Verblüffung Alexander Naudins, eine Champagnerflasche am Kopf balancierend, voll Anmut und Geschmeidigkeit, wie ein Akrobat.

Der Prinz hatte sich mit einem der Mädchen ins Nebenzimmer zurückgezogen und man sah ihn dort auf dem Divan liegen und hörte hie und da Bruchstücke aus Liebesliedern Lermontows, die er mit dunkler, leidenschaftlicher Stimme rezitierte. Bloß Naudin machte Nadja in seiner Art den Hof. Aber er war durch sein mangelhaftes Beherrschen der Sprache empfindlich gestört, und die mühsam eingeleitete Unterhaltung erstarb immer wieder allzu rasch. Nachdem er lange einem Gedanken nachgehangen, gelang es ihm mit vieler Mühe und sich unzählige Male verbessernd, ihn seiner Nachbarn verständlich zu machen:

»Würde man einen Russen und einen Franzosen zwischen einem Abend mit Alkohol und mit Frauen wählen lassen, dann würde sich der Russe für den Alkohol, der Franzose aber für die Frauen entscheiden.«

Mindestens fünf Minuten hatte es gedauert, ehe es ihm gelungen war, diesen schwierigen Satz in russischer Sprache auszudrücken. Nadja blickte ihn mit einer gewissen Verwunderung an und meinte dann: »Trinken muß man.«

Und sie füllte sein Glas mit Rotwein. Es war das erste Mal, daß sie sich um ihn kümmerte, daß sie für ihn sorgte und wie sonderbar auch ihre Antwort gewesen war, Alexander Naudin nahm sie als Zeichen ihres erwachenden Interesses und hielt sich verpflichtet, den Wein, den sie ihm eingeschenkt hatte, bis zur Neige zu leeren.

Verstohlen blickte er auf seine Armbanduhr. Es war schon zwei Uhr morgens! »Es sind bald zwölf Stunden,« überlegte er, »daß wir nichts anderes tun, als essen und trinken. Es muß doch alles seine Grenzen haben! Ich würde lieber die Nacht nach meinem Geschmack beschließen und mit diesem reizenden Mädchen allein bleiben.«

Aber die anderen Gäste ließen keine Anzeichen von Müdigkeit erkennen und schienen offenbar das begreifliche Verlangen des jungen Franzosen durchaus nicht zu teilen. Er entschloß sich schließlich, seinen Freund Putilow, der äußerst lebhaft war, während der prächtige Oberst nach jedem Glas Wein, das er trank, noch statuenhafter wurde, mit seinen Wünschen vertraut zu machen. Doch auch da fand er kein Verständnis.

»Aber, was fällt Ihnen ein!« rief Putilow ganz empört. »Wir wollen doch zusammen bleiben! Heute nacht wird gezecht, für die Liebe bleibt morgen Zeit genug. Im übrigen, mein lieber Alexander Eduardowitsch, sind Sie heute unser Gast, für heute haben wir Sie ganz mit Beschlag belegt und die Nacht ist noch nicht zu Ende. Wir wollen noch nach Mzehet, wo in der Kathedrale die alten, georgischen Königsgräber sind. Wir werden dort wohl eine offene Schänke aufspüren können. Es sind bloß zwanzig Werst bis dahin, die frische Luft wird uns gut tun.«

Alexander Naudin befand sich schon in jenem glücklichen Zustand, in dem man keinen großen Widerstand mehr zu leisten vermag, besonders einer so herzlichen Einladung gegenüber nicht und eine halbe Stunde später brach die ganze Gesellschaft auf. Nur der Prinz blieb auf dem Divan, wo er mitten in den leidenschaftlichsten Strophen von Lermontow in tiefen Schlaf gesunken war. Der Notar vermochte seine Beine nicht mehr recht zu gebrauchen und mußte von Putilow und dem Oberst in seinen Wagen gehoben werden. Kaum fühlte er die frische Luft, als auch er einschlief. Tiefer Schlaf lag auch über der alten Königstadt Mzehet. Nur mit Mühe gelang es den Offizieren, einen Wirt zu wecken, der Wein bringen mußte. Der russische Leutnant stöberte im Hof der Herberge einen dort angebundenen jungen Bären auf, der glücklicherweise einen Maulkorb vor hatte und begann zur Freude der übrigen mit ihm zu kämpfen. Er vermochte ihn schließlich zu Boden zu strecken, aber es war ein heißer Kampf gewesen und die zerfetzte Uniform des Offiziers bewies, daß der Bär verstanden hatte, von seinen Tatzen ausgiebig Gebrauch zu machen.

Endlich gab man das Signal zur Heimkehr. Schon schimmerte es hell im Osten, und über den felsigen Hügeln im Norden von Tiflis strahlte in majestätischem Glanze Venus. Alexander Naudin lehnte den Kopf an die Schulter seiner Nachbarin und flüsterte ihr zärtliche Torheiten zu, auf die sie keine Antwort gab. Die kalte Luft, die auf seinen Wangen brannte, verscheuchte jede Spur des Alkohols, der doch begonnen hatte, seine Gedanken zu trüben. Er fühlte sich stark und frisch und zitterte in der Vorfreude des baldigen Besitzes der reizvollen Nadja.

Aber in Tiflis angekommen, erkannte er die Weisheit von Putilows Worten. Mädchen und Männer sagten einander Gute Nacht und jeder ging seiner Wege. Naudin aber verspürte keine Lust, dasselbe zu tun und frug Nadja, ob er sie begleiten könne.

»Unmöglich,« war ihre lakonische Antwort.

»Aber dann kommen Sie doch wenigstens mit mir in mein Hotel.«

»Wenn Sie wollen,« erwiderte sie gleichmütig, »ich bin schläfrig.«

Im Hotel London wollte der Nachtportier sie nicht einlassen. Naudin, der sich zu ärgern begann, erkundigte sich nach einem Ort, wo sie die Nacht verbringen könnten.

»Für die ganze Nacht müßten Sie Ihre Pässe mithaben,« meinte der Portier, »aber für ein, zwei Stunden nimmt man Sie sicher im Hotel Belmont auf.«

Naudin, immer wütender, gab dem Chauffeur die Adresse, ohne erst Nadja nochmals zu befragen.

Einige Minuten später wurden sie in einem schäbigen, kleinen Hotel von einem Burschen in bloßem Hemd empfangen, der ihnen, nachdem Naudin ihm einige Rubel im vorhinein bezahlt hatte, ein Zimmer aufsperrte.

Die Luft hier, hinter den geschlossenen Fenstern, war zum Ersticken. Nadja sank, wie sie war, sofort aufs Bett.

»Ich will schlafen,« murmelte sie mit halbgeschlossenem Mund, wie ein müdes Kind.

»Machen Sie sich's bequem, mein kleines Täubchen,« redete Naudin ihr zu, der selbst sich zu entkleiden begann und in einer winzigen, wackeligen Waschschüssel Gesicht und Hände vom Staub der Landstraße reinigte.

Nadja hatte sich indessen geräuschlos ausgezogen und als Naudin sich zu ihr umwandte, sah er sie nackt ausgestreckt auf dem Bette liegen. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Arm stützte den nach hinten geneigten Kopf.

Die weichen Linien ihrer schmalen Beine, die kaum ausgeprägten, jugendlichen Hüften, der mattglänzende, kindlich schlanke Körper und die zartgeformten, kleinen Brüste boten den entzückten Augen des jungen Leutnants ein liebliches Bild.

Er setzte sich auf den Bettrand und ergriff ihre freie Hand, die er an seine Lippen führte, doch als er sie losließ, fiel der Arm kraftlos auf das Bett zurück. Er neigte sich über sie und küßte ihren halbgeöffneten Kindermund. Nadja erwiderte seine Küsse nicht, sie schien sie kaum zu fühlen. Aber ihr Kopf rollte nach der Seite und ihre Wange lehnte sich an ihre Schulter. Immer noch blieben ihre Augen geschlossen.

»Aber sie schläft ja,« sagte sich Alexander Naudin. »sie schläft wie ein Murmeltier! Sie muß doch aufwachen!«

»Nadja,« rief er und schüttelte sie leicht. »Nadja!«

Sie hörte nicht. Er verstärkte seine Bemühungen, er sprach lauter, er versuchte sie im Bette aufzurichten. Der geschmeidige Körper setzte ihm keinerlei Widerstand entgegen, entglitt aber bald seinen Fingern und sank in die frühere Lage zurück.

Für einen Augenblick blinzelte sie traumverloren aus halbgeöffneten Lidern.

»Ich schlafe.« flüsterte sie sanft.

Und sie drehte sich nach der Seite, legte einen Arm über ihre Augen, um sie gegen das Licht zu schützen und schlief sofort weiter.

Unser Freund Alexander Naudin war eine Beute der widerstreitendsten Gefühle. Wie es verständlich ist, fühlte er einen gerechtfertigten Zorn. Aber Nadja böse zu sein, daß sie nach einem lärmenden Fest, nach einem üppigen Gelage mit allzu starken Weinen und nach einer langen Autofahrt dem stärksten und natürlichsten aller Triebe, dem Schlaf unterlag, fiel ihm doch schwer. Sie war so rührend schön, wie sie da vor ihm lag, daß er zugleich mit dem größten Verlangen nach ihrem Besitz ein noch größeres Mitleid mit ihrer Schwäche fühlte, die sie ihm entrückte. Er erinnerte sich, was Iwan Iljitsch Putilow gesagt hatte. Was er von seiner Freundin dieser Nacht begehrte, waren eben Dinge, die unter solchen Umständen nicht üblich waren. Wollte man im Kaukasus leben, dann mußte man auch seine Sitten annehmen!

So kleidete Naudin sich mit einem tiefen Seufzer wieder an, ohne seine Blicke von der schönen Nixe auf dem Bett fortwenden zu können. Wie schwer es ihm auch war, sie zu verlassen, die Hoffnung, ihr in einer günstigeren Stunde wieder zu begegnen, erleichterte ihm sein Opfer.

Er nahm eine Banknote aus der Brieftasche und malte mit großer Sorgfalt einen russischen Abschiedsgruß auf seine Visitkarte: »Morgen, Dienstag fünf Uhr, Hotel London, Zimmer sechzehn« und mit Galgenhumor fügte er noch hinzu: »Schlafen Sie gut!«

Dann schob er das Geld und die Karte zwischen die Finger der Schlafenden und verließ leise das Zimmer. Es war heller Morgen, als er endlich in seinem Bette lag, das er nach wohltätigem Schlaf, aber schon um ein Uhr wieder verließ. Nach Tisch streckte er sich mit einer Zigarette im Mund auf seinen Divan und – erwartete Nadja. Aber würde sie denn kommen? Ihr verlockendes Bild, das er nachts vor Augen gehabt, umgaukelte ihn . . . Und er konnte ein Lachen nicht zurückhalten, wenn er an sein gestriges Pech dachte. Ein entzückendes Weib nackt in seinen Armen zu halten und sie bloß einmal auf den Mund zu küssen! Wie würden seine Kameraden im Regiment lachen! Einzelne Takte kaukasischer Melodien tauchten in seinem Kopfe auf. Merkwürdig, daß er sie sich gemerkt hatte. – Etwas hatte in der Stimmung dieser Nacht gelegen, durch das dieses Fest sich keinem je im Westen verlebten gleichstellen ließ. Diesem »Etwas« grübelte Naudin nach . . . Waren es die feuchten, rauschenden Gärten, der Duft der ländlichen Erde, die Klänge der Instrumente, die aus den Tiefen der asiatischen Seele zu quellen schienen? Oder die stillen Frauen, die Schönheit und Wärme der berauschenden orientalischen Nacht . . .?

Mitten in diesen angenehmen Erinnerungen schlief Naudin wieder ein. –

Leichtes Pochen an der Türe weckte ihn.

»Wer ist's?« rief er auffahrend.

Er blieb am Divan sitzen und rieb sich die Augen.

Die Tür ging auf und Nadja trat ein.

Aus dem Erstaunen, in das ihre Erscheinung Naudin versetzte, konnte man schließen, daß er an ihr Kommen nicht allzufest geglaubt hatte. Er begrüßte sie stürmisch, rückte ihr eifrig einen Stuhl zurecht und da er die russischen Sitten schon kannte, ließ er gleich den Samowar und Bäckereien bringen.

Nadja war so ruhig wie gewöhnlich. Auch heute gab sie sich keine Mühe zu gefallen. Sie lächelte kaum zu den vielen Torheiten, die Naudin in seinem gebrochenen Russisch begeistert heraussprudelte und selbst, als er sie zu entkleiden begann, behielt sie immer noch ihre gleichmütige Ruhe. –

Gegen neun Uhr abends machte Alexander Naudin, der in glücklichster Laune war, den Vorschlag, vor dem Abendessen noch eine Spazierfahrt zu unternehmen. Nadja stimmte zu und so fuhren die beiden jungen Leute los und nahmen erst um zwei Uhr morgens voneinander Abschied.

Von da ab sahen sie einander täglich. Nadja kam, kaum daß sie aufgestanden war, das heißt gegen sechs Uhr abends, ins Hotel London und blieb mit Alexander Eduardowitsch bis spät in die Nacht zusammen, die man stets nach der Sitte des Landes in einem der Gärten in der Umgebung der Stadt zubrachte. Sie war immer in derselben gleichmäßigen Laune, nie sah er sie aufgebracht, nie hörte er ein lautes Wort von ihr, sie suchte keinen Streit, blieb still und ließ wenig von ihren Gefühlen erkennen. Unser Leutnant aber verfügte über um so mehr Beredsamkeit und jugendliches Schwärmen und er fand kaum Zeit, sich ihrer Zurückhaltung recht bewußt zu werden. Sie war hübsch, jung, gesund und man konnte sich gut mit ihr vertragen, überdies legte er mit ihr Ehre ein, wo immer sie sich öffentlich zeigten, denn ihr Benehmen war untadelhaft und ihre Schönheit erregte Aufsehen, wofür Alexander Naudin mit einer bei einem jungen Menschen verständlichen Eitelkeit äußerst empfänglich war. Was verlangt man von der Freundin weniger Wochen mehr?

Ursprünglich hatte Naudin die Absicht gehabt, bloß zwei oder drei Wochen in Tiflis zu bleiben und dann in Kaukasien zu reisen. Aber bald war er so an das träge, gleichmäßige, nachtschwärmerische Leben, das er mit Nadja führte, gewöhnt, daß er seine Abreise in immer weitere Fernen verschob.

Er betrachtete seine Freundin, wie ein kleines, fremdartiges Tierchen, das er ganz reizend fand, obgleich es ihm stets unverständlich blieb. Um die Wahrheit zu gestehen, besonders eines überraschte ihn ungemein, das war der Umstand, daß sie in den Armen ihres Geliebten keinerlei übermäßiges Vergnügen zu empfinden schien. Wirklich zeigte sie – es war unglaublich – nicht ein bißchen Verliebtheit. Nun war Alexander Naudin aber ein bildhübscher, junger Bursche, der sich in seiner Heimat in den Kreisen der Halbwelt, die, seinem Alter entsprechend, bisher sein Studiengebiet gewesen, unbestrittener Triumphe erfreut hatte. Darum hätte er es nicht anders erwartet, als auch von Nadja tausend Schmeicheleien zu hören und ihr jene Zärtlichkeiten zu entlocken, die den Frauen als Kleingeld dienen, mit dem sie denjenigen belohnen, der es versteht sie glücklich zu machen. Und Nadja gab ihm nichts von beiden! Das war höchst sonderbar und nur durch eine offenbare Empfindungsarmut dieser »kleinen Sibirin«, wie er sie nannte, seitdem er erfahren hatte, daß sie aus Omsk stammte, zu erklären.

»Es ist zu wenig Sonne bei euch,« sagte er, »du bist noch nicht aufgetaut.«

Worauf Nadja erwiderte: »Es gibt in Omsk mehr Sonne als in Tiflis, denn wir sehen sie Sommer und Winter. Selbst wenn die Temperatur auf dreißig Grad unter Null sinkt, ist der Himmel immer gleich klar und die Sonne scheint.«

Immerhin konnte Alexander Eduardowitsch trotz alledem zu keinem klaren Urteil über die Sonderbarkeit in Nadjas Wesen gelangen. Gern wäre er der Pygmalion dieser nordischen Galathea geworden, aber sie blieb so kalt wie der Winterschnee ihrer Heimat, ja selbst ihre Haut war von eigenartiger Kühle.

»Für den glühenden Sommer von Tiflis bist du die vollendetste Geliebte. Wie aber mag man im Winter mit dir leben können?«

Nadja lächelte rätselhaft und gab keine Antwort. –

Sie wohnte nun mit ihm zusammen im Hotel London. Er staunte über ihre Fähigkeit, untätig oder schlafend ihre ganzen Tage zu verbringen. Sie lebten, wie alle Welt, im sommerlichen Tiflis, erst nachts, gingen nicht vor drei, vier Uhr morgens zur Ruhe und es kostete ihn alle Mühe, seine Freundin nachmittags endlich zu erwecken. Gleich nach dem Mittagessen hielt man Siesta, und erst zum Tee wurde Nadja wirklich wach. Manchmal gelang es ihm, sie zu überreden, solange es noch Tag war, mit ihm auszugehen, meist aber blieb sie in ihrem Zimmer, rauchte Zigaretten und träumte – weiß Gott wovon.

Er war mit ihr in einigen Geschäften gewesen, um ihr Wäsche und Kleider zu kaufen, denn sie besaß kaum mehr als sie anhatte. Doch als sie Hemden, Strümpfe, einen Hut und einen Reisemantel ausgewählt hatte, erklärte sie, genug zu haben und wollte kein Geschäft mehr betreten. Niemals hatte sie Geld verlangt. Er bot es ihr an.

»Was soll ich damit?« frug sie.

Oft gingen sie zusammen in die Bäder nach Orbeliani, ganz draußen in der Altstadt, wo die heißen Schwefelquellen entspringen. Die Masseure aus Azerbeidschan, die dort ihre Kunst üben, sind in ganz Rußland berühmt. Zwei Kabinen pflegten sie zu belegen, eine als Bad, die benachbarte als Ruheraum. Naudin ließ sich von einem dieser Künstler bearbeiten, und Nadja schaute, in ein Badecape gehüllt, zu. Ein dürrer Perser, dessen Muskeln wie Seile an seinem Körper vorsprangen, bemächtigte sich seines Opfers, breitete es auf einem Marmortisch aus, knetete dessen Glieder, daß alle Knochen und Gelenke krachten und drehte es schließlich um, daß man flach, mit dem Gesichte nach unten gekehrt, auf dem Bauch lag. Dann kletterte er auf den Rücken des wehrlos Daliegenden, zog dessen beide Arme nach rückwärts in die Höhe und rutschte mit geschlossenen Fersen auf der Wirbelsäule seines Patienten vom Halse bis zur Hüfte. Nachdem diese Übung etliche Male wiederholt worden war, blies der Perser in einen kleinen Leinenbeutel, der fast wie ein Dudelsack aussah und Seifenpulver enthielt, das sich wie eine Wolke über Alexander Naudins Körper legte. Dann folgte als Abschluß ein heißes Bad. Wenn dann der Perser sich empfohlen hatte, stieg auch Nadja ins Wasser und nun war es ihr Geliebter, der in ungeschickter Weise die Künste des Masseurs nachzuahmen versuchte. Auf den Ruhebetten des zweiten Zimmers erholten sie sich nach längerer Zeit erst von der ermüdenden Prozedur dieser Schwefelbäder und erfrischten ihre Lebensgeister durch den Genuß von eisgekühlten Getränken.

Sie machten auch Ausflüge ins Gebirge und wollten, um der unerträglichen Hitze von Tiflis zu entfliehen, einige Tage in Boriom verbringen. Das zahlreiche Ungeziefer aber, das sie dort im Hotel vorfanden und an das Nadja – es muß gestanden werden – sich wohl gewöhnte, machte dem jungen Franzosen den Aufenthalt unerträglich. Sie sahen die berühmten Ruinen von Ani, der Stadt der tausend Kirchen, besuchten auch Etschmiadsin am Fuße des Ararat und drangen selbst bis nach Eriwan vor, wo Nadja sich besonders wohl fühlte.

Alexander Naudin war von seiner Reisegefährtin entzückt. In ihrer Gesellschaft langweilte er sich niemals. Wohl sprach sie auch weiterhin wenig, aber Naudin war verständigerweise der Meinung, daß alles in allem genommen eine schweigsame Geliebte immer noch besser sei, als eine geschwätzige.

Er verglich sie mit den französischen Frauen ihrer Art, die er gekannt hatte. Selten kam es bei jenen vor, daß sie sich bei längerer Bekanntschaft nicht vollkommen gehen ließen und abstoßend wurden. Nun, bei Nadja konnte man unbesorgt sein. Die Französinnen hatten gewiß etwas Blendendes an sich, sie suchten stets sich in Szene zu setzen – manchmal gelang es ihnen, öfter aber nicht. Nadja war ganz ohne Ehrgeiz. Ein stilles, einfaches Wesen – so weit Naudin dies zu beurteilen vermochte – und so vollkommen natürlich, daß ihr niemals der Gedanke kam, sie könnte auch anders sein, und noch weniger der, daß es vielleicht von Vorteil für sie wäre, anders zu scheinen als sie wirklich war.

Vielleicht wäre eine Französin unterhaltender gewesen, aber von einer Art Unterhaltung, der man auf die Dauer müde wird, während Nadja einen gewissen verborgenen Liebreiz besaß, dessen Anziehungskraft Naudin allmählich wachsend erkannte, obwohl es ihm schwer gefallen wäre, ihn zu analysieren.

Immer wieder überraschte ihn die Tatsache, daß er trotz des vertrauten Zusammenlebens von seiner Geliebten eigentlich gar nichts wußte. Gewiß hatte solche Unkenntnis auch einige Vorteile, aber sie machte ihn doch oft unsicher.

Er beobachtete mit einem gewissen Erstaunen ihre gute Erziehung und einen Grad von Bildung, wie er ihn bei ihresgleichen nicht gesucht hätte. Sie hatte das Gymnasium absolviert und ihre Kenntnisse im Verein mit ihrem reizenden Benehmen mußten bei jedem, der nichts weiter von ihr wußte, die Meinung erwecken, ein junges Mädchen aus der guten Gesellschaft vor sich zu haben.

»Warum, zum Teufel, hat sie sich bloß diesem Leben in die Arme geworfen?« frug sich Alexander Naudin in seinem kindlichen Gemüt.

Aber es war nicht leicht, dieses Thema mit ihr zu besprechen. Allzu neugierigen Fragen ihres Freundes wußte sie geschickt auszuweichen und als leichtester Ausweg blieb ihr immer die Möglichkeit, die Antwort einfach schuldig zu bleiben. Er hatte bloß erfahren können, daß sie neunzehn Jahre alt sei und gerade am Tag, bevor er ihr begegnete, aus Omsk in Tiflis angekommen war. Dieser Umstand erfreute Alexander Naudin ganz besonders, denn im Grunde genommen hatte er sehr romantische Ideen und der Gedanke, Nadja aus den Armen des Notars oder des schönen Reiterobersten übernommen zu haben, wäre ihm äußerst peinlich gewesen.

»Und in Omsk«, frug er, »hattest du einen Freund, so wie mich?«

»Ja«, entgegnete sie.

»Was war er von Beruf?«

»Offizier.«

»Warum hast du ihn verlassen?«

Ein Achselzucken war die einzige Antwort.

Naudin schloß daraus, daß der Abschied nicht von ihrer Seite erfolgt war. Er setzte sein Verhör fort.

»Gibt es auch in Omsk solche Häuser, wie jenes hier in der Ringstraße?«

»O gewiß.«

»Sind sie ebensogut eingerichtet, wie hier in Tiflis?«

»Das weiß ich nicht!«

»Warst du denn niemals darin?« frug Baudin mit einigen Zweifeln.

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

»So bist du deinem Geliebten also treu gewesen?« folgerte er mit anfechtbarer Logik.

Wieder entgegnete sie nichts.

Einige Tage später nahm Naudin das gleiche Gespräch wieder auf. Nach eifrigem Nachdenken glaubte er eine Möglichkeit gefunden zu haben, seine Freundin in eine Falle zu locken.

»Ach«, begann er, »ich habe etwas über deinen Offizier in Omsk erfahren. – Er war ein Säufer.«

»Wer hat dir das gesagt?« frug Nadja.

»Nun, ich weiß es eben, das genügt«, entgegnete Naudin, von dem Erfolg seiner List entzückt. »Er war ein ganz unverbesserlicher Trinker.«

Nadja schaute ihn erzürnt an.

»Und warum hätte er nicht trinken sollen, wenn es ihm gefiel?«

Alexander Naudin war wieder entwaffnet. Er bemühte sich vergeblich, Nadja aus ihrer Zurückhaltung hervorzulocken und behielt schließlich die Überzeugung, daß sie das Leben mit einem rohen Menschen, der ein Trinker war und sie zweifellos schlecht behandelt hatte, nicht länger habe ertragen können. Sicher war das der Grund gewesen, daß sie Omsk verlassen hatte. Nicht ohne eine gewisse Naivität teilte er ihr stolz diese seine scharfsinnige Entdeckung mit.

Aber Nadja ließ sich noch immer in keine Debatte ein und sprach nur im Tone ruhigster Überzeugung:

»Die Franzosen verstehen doch gar nichts«, und damit war das Thema erschöpft, übrigens auch die Neugier Naudins vollständig befriedigt, da der Gegenstand für ihn restlos klargestellt schien.

Eines anderen Tages, vielmehr in einer anderen Nacht, denn sie unterhielten sich meistens nachts, frug er:

»Liebst du mich?« obgleich der Augenblick, in dem er diese Frage stellte, jede Antwort überflüssig zu machen schien, so unzweifelhaft schien sie von den Umständen selbst gegeben.

»Nein«, erwiderte sie sanft.

Unser Leutnant meinte seinen Ohren nicht zu trauen und glaubte schließlich an einen Scherz seiner Geliebten, zu dem er herzlich lachte.

Er war davon überzeugt, daß Nadja mit allen Fasern an ihm hing und daß sie an dem leider allzunahen Tage, da er sie verlassen mußte, tief betrübt sein werde, denn schließlich, warum sollte ein junges Mädchen, die dieses wenig glänzende Leben gewählt und es zu keinen Reichtümern gebracht hatte, einen jungen, reichen und gesunden Burschen nicht lieben, der sie mit zarter Rücksicht behandelte und ihr alles Vertrauen entgegenbrachte? Sollten ihr vielleicht alle die Vorteile einer solchen Verbindung noch nicht ganz klar geworden sein?

Indessen war es September geworden und sein Urlaub ging bald zu Ende. Da kam Alexander Naudin auf einen Einfall, den er sogleich seiner Freundin mitteilte. Warum sollte er nicht über Konstantinopel den Heimweg antreten und warum sollte sie ihn nicht begleiten? Sie würden in Batum ein Schiff nach Konstantinopel besteigen und noch eine Woche an den Ufern des Bosporus verleben. Dann würde er nach Frankreich weiterreisen und sie nach Rußland zurückkehren . . .

Nadja erhob keinerlei Einwände und Alexander Naudin stellte erstaunt fest, daß sie diesen verlockenden Vorschlag, von dem er sich eine große Wirkung versprochen hatte, mit der gleichen kühlen Ruhe aufnahm, als wenn er sie zu einer Spazierfahrt in die Vororte von Tiflis eingeladen hätte. Er war einigermaßen enttäuscht darüber, aber da es nicht in seiner Natur lag, sich unnötige Gedanken zu machen, gewann er bald wieder seine alte, gute Laune zurück.

Sie begannen ihre Reisevorbereitungen zu treffen und ließen auch ihre Pässe für die Türkei vidieren. Nur noch eine Woche sollte ihr Aufenthalt in Tiflis währen.

Zu dieser Zeit geschah es, daß Nadja, die ihn, seitdem sie zusammenwohnten, buchstäblich nicht für eine Stunde verlassen hatte, plötzlich allein auszugehen begann. Als er eines Morgen seine Geliebte schlafend in ihrem Zimmer verlassen hatte, um einige Besorgungen zu machen, sah er sie zu seiner größten Überraschung ganz kurz nach seinem Weggehen in ein Telegraphenamt eintreten, an dem er eben vorüberkam. Sein erster Gedanke war, ihr zu folgen, doch zögerte er ein wenig, aber schließlich ging er ihr nach. Er sah, wie sie an einem Pult stand und eifrig ein Telegrammformular ausfüllte. Er näherte sich ihr, sie nickte ihm zu und beendete ohne sonderliche Eile ihre Depesche, die sie zum Schalter trug.

Als sie gemeinsam das Amt verließen, erwartete Naudin irgendein Wort der Erklärung darüber, welche dringende Angelegenheit sie aus dem Schlafe geschreckt und zu so ungewohnter Stunde auf das Postamt getrieben habe.

Nadja aber schien gar kein Verständnis dafür zu haben, daß es geboten wäre, die Neugier ihres Freundes zu befriedigen, und berührte mit keinem Worte die Gründe ihres Tuns. Dieses Schweigen verfehlte nicht auf den jungen Leutnant Eindruck zu machen, der schließlich selbst zu der Überzeugung kam, daß über eine so nichtige Sache eigentlich kein Wort zu verlieren sei.

An diesem Tage war Nadja ein wenig zärtlicher zu ihm. Wie man weiß, war er daran nicht gewöhnt und daher überrascht und entzückt. Er schrieb sich selbst das Verdienst an dieser Änderung zu und beglückwünschte sich zu seinem Triumph. »Also ist es mir doch gelungen, sie auftauen zu machen«, sprach er zu sich selbst.

Aber es war nicht bloß die Befriedigung seiner Eitelkeit, die Naudin verspürte. Er hatte ein recht empfindsames Herz und es kam ihm auf einmal zum Bewußtsein, daß dieses Herz sich unbemerkt an einem Spiel beteiligt hatte, zu dem es nicht geladen worden war. Diese Feststellung war der Ausgangspunkt einer Reihe von Betrachtungen, die ihn mit unerwarteter Geschwindigkeit zu einem Punkt führten, an dem anzulangen er niemals auch nur vermutet hätte. Er frug sich nämlich, warum es eigentlich nötig wäre, sich von Nadja zu trennen, da es doch am einfachsten sei, sie mit nach Frankreich zu nehmen. Bald sah er nur die verlockendsten Möglichkeiten dieses naiven Projektes. Sie würde eine Geliebte sein, mit der er bei seinen Kameraden Aufsehen erregen konnte. Ihr Liebreiz, ihre Jugend, dieses unbestimmbare Etwas, das sie so anziehend machte, würden nicht verfehlen, die Offiziere seines Regimentes zu bezaubern. Und sie war die Anspruchslosigkeit selbst, nie würde sie ihn zu übermäßigen Ausgaben veranlassen. Schließlich war er auch so an sie gewöhnt, daß er sie nicht mehr vermissen konnte . . .

Naudin dachte stets nur laut und so sprach er auch diese Betrachtungen alle aus, während er mit Nadja beim Mittagessen saß. Sie erhob auch diesmal keinerlei Einwände und er fand dies nur ganz selbstverständlich, denn welches Mädchen wäre wohl so dumm gewesen, eine derartige Einladung abzulehnen?

Soweit standen die Dinge, als Nadja zwei Tage vor ihrer Abreise ihn bat, ihr hundertundfünfzig Rubel zu geben.

Wenn sie hundertfünfzigtausend von ihm verlangt hätte, wäre Naudin auch nicht mehr erstaunt gewesen.

»Du willst Geld?« frug er, »ja, was ist denn los?«

In einem unnachahmlichen Ton erwiderte Nadja mit der ganzen unfehlbaren Kunst einer Frau, das Thema zu wechseln, um mit einem Angriff, von dem sie sicher war, daß er ihr den Sieg bringen würde, eine Debatte, die ihr unangenehm war, abzuschneiden:

»Ach, ist es dir jetzt ungelegen? Sag' mir's nur frei heraus, dann werde ich trachten, mir das Geld anderwärts zu verschaffen.«

»Aber, was fällt dir ein, davon kann gar keine Rede sein«, beeilte sich Alexander Naudin stolz zu versichern, dem der Gedanke unerträglich war, daß sie ihn für geizig halten könnte.

Denn dieses Gebiet war in der Tat ein recht heikles. Er wußte, daß auch Nadja die in Rußland sehr verbreitete Ansicht teilte, daß die Franzosen recht genau auf ihre Taschen sähen, während für einen Russen die Geldfrage ja überhaupt keine Rolle spielt. Es braucht natürlich nicht betont zu werden, daß Naudin sich in diesem Punkte nicht das geringste vorzuwerfen hatte. Er gab seine Renten gern aus, allerdings nicht sinnlos, sondern mit jener bedächtigen Überlegung eines Westeuropäers, der auch den Wert und Preis seiner Vergnügungen zu beurteilen vermag. Und gerade dieser Lebensanschauung wegen, die ihm den Russen als einen größeren Kavalier erscheinen ließ, fühlte er sich Nadja gegenüber manchmal schuldbewußt. Da sie früher nie von ihm Geld verlangt hatte, begriff er jetzt auch sofort, daß er nicht einen Augenblick zögern dürfe, ihr den gewünschten Betrag ganz nach russischer Art, ohne eine weitere Frage zu stellen, auszuhändigen. So nahm er denn seine Brieftasche heraus und überreichte Nadja eine jener schönen, mit dem Bilde Katharinas der Großen geschmückten Noten und zwei kleinere zu fünfundzwanzig Rubel.

Am gleichen Abend feierten sie mit ihrem Freund, dem Hauptmann Putilow, den Abschied. Sie fuhren im Regimentsauto ins Restaurant »Phantasie« hinaus, wo die Freundschaft zwischen Naudin und Nadja begonnen hatte. Aber Putilow, der ein Mann von Takt war, brachte diesmal keine andere Frau mit, denn das Verhältnis Naudins hatte zufolge seiner langen Dauer etwas von der Ehrbarkeit einer legitimen Verbindung angenommen.

Auch vermied Putilow, aus Rücksicht für Nadja, in ihrer Gegenwart mit seinem Freund französisch zu sprechen und er konnte Naudin mit Vergnügen zu den großen Fortschritten, die er in der russischen Sprache gemacht hatte, aufrichtig beglückwünschen.

Der Abend war immer noch milde. Nur ein kühlerer Wind strich durch die Zweige der Bäume rings um den Pavillon, die Sichel des abnehmenden Mondes strahlte inmitten der schimmernden Sterne und bloß die zuckenden Rhythmen der Zurna störten den tiefen Frieden der Nacht. Sie konnten sich alle drei der weichen Stimmung des Abends nicht entziehen und Alexander Naudin begann in seinem Gedächtnis nach Versen zu suchen, die seine Gefühle auszudrücken vermöchten. Zu seiner großen Überraschung fielen ihm vier lateinische Worte ein, die seit der Schulzeit seinem Gedächtnisse entschwunden gewesen waren: Per amica silentia lunae . . . . . .

Ein vorzügliches Souper mit allerlei schweren Weinen verscheuchte bald die Befangenheit die die ungewöhnliche Schönheit dieses Herbstabends hatte aufkeimen lassen. Beim Dessert erhob sich Putilow, um einen Toast auf seine Wirte auszubringen.

»Mein lieber, verehrter Alexander Eduardowitsch,« begann er, »als Offizier erhebe ich mein Glas auf die Niederlage, die die französische Armee in einem ihrer hervorragenden Mitglieder auf russischem Boden erlitten hat. Um sie zu besiegeln genügte eine Frau meines Vaterlandes. Nadja, ich trinke jetzt auf Ihr Wohl, auf Ihren Sieg und auf die Fortsetzung Ihrer Erfolge. Unser geschätzter Freund entführt Sie nach Frankreich, wo Sie seinen Landsleuten zeigen werden, was ein wahres Mädchen von russischem Blute ist. Hurra!«

Worauf der Hauptmann in einem Zuge sein Glas leerte, um es sodann am Tisch zu zerschellen, was ihn indes nicht hinderte, mit einem neu herbeigebrachten Glase Bacchus weiter zu huldigen.

Alexander Naudin fühlte sich am Gipfel seines Glücks. Sogar Nadja, die für gewöhnlich fast gar nichts trank, hatte an diesem Abend einige Gläser Wein geleert. Iwan Iljitsch Putilow umarmte beide, ehe sie wieder ihren Wagen bestiegen, um nach Tiflis zurückzukehren.

In der Nacht aber, als sie allein in ihrem Zimmer waren, schlug die Stimmung Nadjas mit einem Male um. Sie wurde traurig, warf sich auf den Divan und vergrub den Kopf in ihre Hände. Alexander Eduardowitsch beachtete dies zuerst nicht. Er entkleidete sich und pfiff dabei, so gut es ihm gelingen mochte, was nicht viel sagen will, ein kaukasisches Lied, das seine Lieblingsmelodie geworden war. Erst, als er im Bette war, bemerkte er, daß Nadja noch immer, ohne sich zu rühren, auf dem Divan lag. Er rief sie, sie antwortete nicht. Es blieb ihm nichts übrig, als wieder aufzustehen und sie zu holen, aber auch da fand er Widerstand.

»Ich bin müde«, brummte sie, »ich will mich heut' nicht ausziehen, ich werde hier schlafen.«

Sie war unruhig und schien aufgeregt.

»Aber«, redete Naudin ihr gutmütig zu»»du wirst im Bett an meiner Seite viel besser schlafen. Es ist doch unsere vorletzte Nacht in Tiflis.«

Nadja ließ sich überreden und kam in das gemeinsame Bett.

Als er später eben im Begriffe war, sich ermüdet ganz dem Schlafe zu überlassen, hörte er die weiche Stimme Nadjas ganz nahe seinem Ohr flüstern:

»Ich bin sehr unglücklich.«

»Schlafe,« erwiderte Naudin, nur noch halb bei Bewußtsein, in das der Sinn ihrer Worte gar nicht mehr eingedrungen war.

Sie seufzte noch einige Male schwach und dann flüsterte sie von neuem:

»Ich habe dich ja so lieb.«

Alexander Naudin vernahm wohl diese Worte und behielt sie in seinem Gedächtnis, aber in diesem Augenblicke machten sie keinerlei Eindruck auf ihn, obwohl es das erstemal war, das Nadja sie ausgesprochen hatte. Unter anderen Umständen hätten sie ihn tief beglücken können, jetzt aber begnügte er sich damit, sie – ohne ihren Sinn zu erfassen – zu bewahren.

»Schlafe, Liebste.« gab er zurück. »Bis morgen . . .«

Und er versank selbst in tiefen Schlaf.

Am Nachmittag des nächsten Tages packten sie ihre Koffer. Abends ging Naudin aus, um einige Abschiedsbesuch zu machen und verabredete mit seiner Freundin, sie gegen zehn Uhr abzuholen. Pünktlich zur vereinbarten Stunde kam er zurück. Nadja war nicht im Zimmer. Er streckte sich eine Weile auf dem Divan aus, plötzlich fuhr er auf und lief zum Portier.

»Ist die Dame ausgegangen?« frug er.

Der Portier erwiderte halblaut:

»Allerdings, vor zwei Stunden. Mit ihrer Handtasche. Sie hat einen Wagen bestellt und ist zur Bahn gefahren.«

Naudin gelang es mit großer Mühe, vor dem Portier seine Erregung zu verbergen und langsam stieg er wieder zu seinem Zimmer hinauf. Erst jetzt kam er auf den Gedanken sich umzusehen und er fand auf dem Tische ein Blatt Papier, recht sichtbar hingelegt, das die Schrift Nadjas trug.

»Man ruft mich nach Omsk, dort muß ich leben, verzeih' mir.« –

»Der Teufel soll diese russischen Weiber holen, sie sind verrückt, reif fürs Irrenhaus . . . ein Alkoholiker . . . ein ganz brutaler Kerl! . . . Sie verdient nichts Besseres . . . Ein Glück nur, daß ich sie nicht liebe,« fügte er tapfer hinzu.

Trotzdem aber fühlte er einen sonderbaren Druck in der Kehle und einen merkwürdigen Kitzel in den Augen. Da niemand im Zimmer war, zog er sein Taschentuch und trocknete sich die Lider . . . . . .

 

Sechs Monate später sprach er zu einem seiner Freunde in Vincennes:

»Mein Liebster, mit den russischen Frauen, das ist so eine eigene Sache. Man darf nicht versuchen, sie begreifen zu wollen – Du hast eine Freundin, sie liebt dich, sie ist dir treu, sie lebt mit dir, wie dein Schatten . . . und krach – eines schönen Tages verschwindet sie ohne jeden Grund . . . Es scheint, daß sie mehr als ein gewisses Maß von Glück nicht zu ertragen vermag . . . Ja, ich hab' so was dort unten erlebt . . . Diese Frauen, du würdest es gar nicht für möglich hallen, überkommt ganz plötzlich ein geradezu krankhafter Trieb danach, unglücklich zu sein. Und wenn sie das packt, dann läßt sich gar nichts machen, dann gehen sie auf und davon . . . Nun und unsereiner kann sich in so etwas gar nicht hineinfinden, solche Katastrophen sind nicht nach unserm Geschmack. Und trotzdem, mein Lieber . . . diese russischen Frauen . . . es gibt halt nichts auf der Welt, was ihnen gleichkommt . . .«

Und er begann, nicht ohne eine Menge falscher Noten, das Kaukasische Lied zu pfeifen, das seine Lieblingsmelodie war . . .

 


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