Claude Anet
Kleinstadt
Claude Anet

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Louis Marthe

Louis Marthe gab den Kindern der Bürger von Valleyres Klavierstunden.

Er war der Sohn eines Stadtschreibers und da er schon als kleiner Junge auffallendes Interesse für die Musik gezeigt, hatte der alte Organist Faguet sich seiner angenommen und ihn alles gelehrt, was er selbst von seiner Kunst verstand. Als Faguet starb, wurde Marthe sein Nachfolger. Er wäre gern in die Provinzhauptstadt gegangen, um sich weiter auszubilden, doch es fehlten ihm dazu die Mittel: so blieb er in Valleyres. Er erwarb aus dem Nachlasse seines Lehrers ein altertümliches Klavier mit vergilbten Elfenbeintasten, dessen Saiten einen rauhen Ton gaben. Auch die Noten übernahm er, die Sonaten von Diabelli, die Übungen von Czerny und einige Glanzstücke. Um diese umfangreichen Ankäufe zu bezahlen, verpflichtete er sich, zehn Jahre hindurch zu Mariä Lichtmeß und zu Mariä Himmelfahrt kleine Raten zu erstatten. Sein Vater starb, ohne ihm einen Sou zu hinterlassen. Louis Marthe verließ sein Zimmer, das er seit Jahren bewohnt hatte, behielt die besten Möbel der väterlichen Einrichtung, verkaufte die übrigen und mietete sich bei Frau Poiret, der Krämerin in der Hauptstraße, ein. – Hier erwartete er seine Schüler.

Er mußte nicht lange warten. Die Art und Weise, mit der er beim Gottesdienste die Orgel spielte, hatte die Aufmerksamkeit der Bürger von Valleyres bald auf ihn gelenkt. Man erkundigte sich und erfuhr, daß Marthe das Klavier nicht weniger gut zu spielen verstand; der Herr Pfarrer empfahl ihn wärmstens und so fanden sich bald seine ersten Schülerinnen ein. Es waren die Mädchen Vertot. Louis Marthe kam in Mode. Das alte Fräulein Proteau, das die Ehre gehabt hatte, drei Generationen im Klavierspiel zu unterweisen, sank in Vergessenheit. Marthe aber hatte bald soviel Schüler, als er nur gebrauchen konnte. Die Stunden, die er bei sich gab, berechnete er mit eineinhalb Francs, in der Wohnung seiner Schülerinnen verlangte er vierzig Sous für einen Unterricht von fünfzig Minuten. Sein stets korrektes Benehmen und seine Schüchternheit verschafften ihm das Vertrauen selbst der mißtrauischsten Damen der Stadt. Zu seinen Schülerinnen sprach er nur in der dritten Person.

Nach achtzehn Monaten schon waren seine Schulden bezahlt und er entschloß sich sogar, einen Erard-Flügel zu kaufen.

Nach Beendigung seiner Stunden verbrachte Marthe fast alle seine Abende beim Ehepaar Mathieu Fleuriot. Dies waren zwei alte Leutchen, Freunde seines verstorbenen Vaters, die geruhsam ihren Lebensabend verbrachten. Sie besaßen einen kleinen Laden an der Ecke des Rathausplatzes und der Hauptstraße, und nach dem Abendessen, pünktlich um sieben Uhr, pflegte Marthe bei ihnen einzutreten. Im Winter sahen sie alle drei plaudernd vor dem Kamin, im Sommer gingen sie gemächlich den Ufern der Ourche entlang, die Vallenres durchfließt. Marthe liebte das langsam dahinsickernde Gespräch mit den stets gleichen Gesten, die harmlosen Scherze, die er seit Jahren von ihnen zu hören gewohnt war und die heitere Gelassenheit ihrer Stimmung. Die Alten hatten einen Sohn Julius, der im Staatsdienste in Lyon tätig war und sie alle zwei, drei Jahre auf einige Tage besuchen kam. Ein jüngerer Bruder von Mathieu, Anton Fleuriot, war aus Valleyres fortgezogen, doch sein Leben hatte einen üblen Verlauf genommen. Er hatte sich aus reinem Übermut anwerben lassen und den Krieg in Algier mitgemacht. Einmal war ein Brief von ihm gekommen, man solle ihm augenblicklich dreihundertfünfzig Francs senden, sonst drohe ihm Schimpf und Schande und noch Schlimmeres. Frau Fleuriot hatte gejammert, »so viel Geld auf einmal, wo es doch so schwer war, einige Sous beiseitezulegen!« Mathieu indes hatte entschieden, daß man zahlen müsse. Seither war keine Nachricht mehr gekommen. Von anderer Seite aber hatte man erfahren, daß Anton nach Beendigung seiner Militärzeit in Algier ein kleines Kaffeehaus erworben habe, ja, Gerüchte wollten auch wissen, daß er mit einer Frau zusammenlebte, die sich keines guten Rufes erfreute. In dem friedlichen Haushalte der Familie Fleuriot erregte das abenteuerliche Leben dieses Entgleisten ein Staunen, das niemals nachließ. Seit undenkbaren Zeiten waren die Fleuriot, Vater, Großvater und Ahnen, stets seßhafte Leute und Stützen der Ordnung gewesen, schüchtern, friedliebend, jedem Lärm und jeder Störung ihrer ererbten Gewohnheiten abhold. Wenn Frau Fleuriot das gutmütige Gesicht ihres Mannes betrachtete, die weichen, freundlichen Runzeln, seine glattrasierten Züge, seine dicke, gemütliche Nase, seinen Mund mit der hervorquellenden Unterlippe, seine kleinen Augen, die beim Sprechen listig blinzelten, dann fragte sie sich, durch welchen sonderbaren Zufall der zu Abenteuern neigende Anton von den gleichen Eltern habe gezeugt werden können, wie dieser Mathieu, die personifizierte Behäbigkeit und Ruhe.

Mit Ausnahme der Fleuriot hatte Marthe keinen Verkehr. Er vermochte sich schwer anzuschließen und hatte auch wenig Anziehendes an sich.

Im Frühjahr, wenn die lauen Abende dazu verlockten, wandelten die jungen Mädchen Arm in Arm, etwas außerhalb der Stadt unter den hundertjährigen Ulmen am Ufer der Ourche auf und ab. Zu zwei und zwei schlenderten sie kichernd vorüber und betrachteten die Männer. Marthe aber senkte die Augen. Sein einsames Leben, die spärlichen Worte, die er nur an seine so hoch über ihm stehenden Schülerinnen zu richten pflegte, hatten ihn seinesgleichen entfremdet. Es fehlte ihm die nötige Derbheit, um mit den jungen Leuten seines Alters Freundschaft schließen zu können. Im Kaffeehaus zu sitzen, vergnügte ihn nicht, und wenn er außerhalb seiner Mahlzeiten Wein trank, schmeckte er ihm nicht.

Er hatte keine Freunde und beim großen Ball der Stadt sah er nur von ferne auf die Paare, die sich zum Klange des Orchesters drehten, das aus der Violine des buckligen Schusters Michael, der Flöte des Laufburschen Jacques, der Klarinette des Uhrmacherlehrlings Michot und der Trompete des Taglöhners Tirebras bestand. Das rauschende Fest zog ihn an, doch er selbst wagte den Schatten eines Pfeilers nicht zu verlassen.

Manchmal, wenn ein Pärchen ihm vor der Stadt begegnete, erschrak das Mädchen über die plötzlich hinter einem Baum auftauchende, dunkle Gestalt. »Ach, das ist nichts,« pflegte der junge Mann dann zu sagen, »das ist nur der kleine Marthe!« Und lächelnd gingen sie weiter.

Jahre verstrichen. Marthes dreißigster Geburtstag ging vorbei. In der Sparkasse wuchs sein Guthaben. Er gab kaum ein Drittel seiner Einnahmen für sich aus. Wenn er noch fünfzehn Jahre so fortfuhr, würden seine Zinsen genügend groß sein, um ihm die Erfüllung des Traumes aller Kleinbürger von Valleyres zu ermöglichen: leben ohne zu arbeiten. –

Louis Marthe war eine gute Partie. Wenn er in seinem sauberen, ein wenig engen, dunklen Rocke durch die Hauptstraße ging, dann sahen ihm die Ladenbesitzer mit Kopfnicken nach und sprachen vor sich hin: »Da geht der kleine Marthe noch ein Zweifrancsstück verdienen.« Und die Mutter Barbet, die Gemüsehändlerin, die eine heiratsfähige Tochter und drei andere zwischen zwölf und sechzehn Jahren besaß, seufzte, während sie ihren Salat bespritzte: »Ja, der Herr Marthe, der ist wohl vornehm, der verdient schwer, und seine Frau wird sich nicht zu beklagen haben.« Doch ihre Tochter Julia, die hinter dem Pulte saß, mochte nichts hören, sie dachte nur an den großen Lardy, der ihr gestern abend so sehr den Arm gedrückt hatte, als sie mit Anne Rosat der Ourche entlang gingen. Er verdiente zwar nur fünfzig Sous täglich beim Tapezierer Noirot, doch hatte er eine ganz besondere Art, den Mädchen in die Augen zu blicken.

Marthe blieb in der Einsamkeit, zu der ihn seine Schüchternheit verurteilte.

Er fühlte wohl, daß er niemals den Mut haben würde, seine armselige Persönlichkeit einem dieser jungen Mädchen, zu denen er nicht einmal die Augen zu erheben wagte, zur Ehe anzubieten. Von seinen Schülerinnen kannte er tatsächlich kaum mehr als ihre Hände und auch gegenüber den Leuten seiner Klasse wagte er sich aus der gleichen Zurückhaltung nicht hervor. Nicht einmal an Marie, die Tochter der guten Frau Poiret, die ihm einen Teil ihrer Wohnung überlassen hatte, traute er sich das Wort zu richten. Diese Marie Poiret war ein derbes, hochaufgeschossenes Mädchen, dem seine Mutter plötzlich, in Gedanken an ihre Heiratsfähigkeit und an die zunehmenden Ersparnisse ihres Mieters, die Aufgabe zugeteilt hatte, dessen Zimmer morgens, während er außer Hause seine Stunden abhielt, in Ordnung zu bringen. Doch Frau Poiret, die die Einteilung des Klavierlehrers nicht weniger gut kannte, als ihr Vaterunser, rief Marie immer wieder in den Laden, so daß diese stets erst kurz vor Rückkehr des Herrn Marthe in seinem Zimmer zu arbeiten begann. Marie brauchte nicht lange, um zu begreifen, welche Rolle man ihr zugeteilt habe. Sie zog ihre Arbeit immer mehr hinaus, störte Marthe durch unzählige Entschuldigungen und suchte jede Möglichkeit, ihn mit ihrem hageren Körper eines kaum mehr als halbwüchsigen Mädchens zu streifen. Marthe fühlte ihre Gegenwart mit einer dumpfen Unruhe. Vergeblich versuchte er, sich durch Übung eines schwierigen Stückes von dem Gedanken an ihre Anwesenheit abzulenken. Marie Poiret stellte sich neben ihn an das Klavier und lauschte mit aufgerissenem Munde und fiebernden Augen. Dann wußte er sich nicht anders zu helfen, als fluchtartig, eine Besorgung vorschützend, sein Zimmer zu verlassen, um erst zu einer Zeit zurückzukehren, da schon ein neuer Schüler auf ihn wartete. Mutter Poiret begleitete seinen ungewohnten Ausgang mit verächtlichen Blicken.

Zu jener Zeit verursachte ein bedeutsames Ereignis im Leben der Fleuriot einschneidende Veränderungen. Als Marthe an einem Herbstabende in das Speisezimmer seiner alten Freunde trat, fand er sie niedergeschlagen und erregt. Statt jeder Erklärung wies Frau Fleuriot mit ihrem Finger auf zwei Briefe, die geöffnet auf dem Wachstuche des runden Tisches lagen und forderte ihn auf, sie zu lesen.

Das erste Schreiben war von einem Anwalt in Algier, der Herrn Fleuriot in dürren Worten mitteilte, daß sein Bruder Anton im Spital gestorben sei und seine Geschäfte in einem recht üblen Stande hinterlassen habe. Er hoffe, durch den Verkauf der Hinterlassenschaft die Schulden eben noch decken zu können.

Nachdem Marthe dies gelesen hatte, begann er einen Satz, der sein Beileid ausdrücken sollte, zu formen. Doch Frau Fleuriot unterbrach ihn.

»Sie wissen noch nicht alles,« sprach sie und hielt ihm den zweiten Brief hin.

Als er diesen in die Hand nahm, spürte er einen starken Duft daraus emporsteigen. Das rosa Papier, auf das er geschrieben war, zeigte eine Menge vergoldeter, kleiner Schnörkel, in deren Mitte ein Blumenbouquet erhaben eingepreßt war. Der Inhalt des Briefes aber, von ungeübter Hand geschrieben, lautete folgendermaßen:

»Mein lieber Onkel! Als Papa krank wurde, trug er mir auf, im Falle eines Unglücks, an Sie, als meinen einzigen Verwandten zu schreiben; denn Mama ist schon vor langer Zeit, wie man glaubt, mit einem Spanier, fort und man weiß nicht, wo sie ist. Mein armer Papa ist vorgestern im Spital, wohin man ihn wegen der Krämpfe, an denen er in letzter Zeit litt, gebracht hatte, gestorben. Heute hat man ihn begraben. Ich bin bei den Nonnen. Herr Dosson, der Anwalt, hat mir eine Fahrkarte bis Marseilles genommen und mir Geld gegeben, damit ich bis Valleyres reisen kann. Ich nehme das Schiff, das erst in sechs Tagen abgeht, um in Begleitung einer Nonne fahren zu können, die damit nach Frankreich zurückkehrt. Ich freue mich Euch bald zu sehen und bleibe indes Euere zärtliche Nichte

Zora Fleuriot

Marthe ließ den Brief sinken. Er wußte nichts zu sagen. Dieser Schlag, der das friedliche Alter seiner Freunde störte, war allzu unerwartet. Bei dem bloßen Gedanken an all die Veränderungen, die das Auftauchen dieser Fremden, dieser Afrikanerin, im Leben der beiden alten Leute verursachen mußte, für die jeder Tag nur die methodische Wiederholung aller Handlungen und Worte des vorhergehenden bedeutet hatte, verlor man den Boden unter den Füßen.

Zuerst war Herr Fleuriot aufgebraust, und seine Frau hatte bittere Worte fallen lassen. Jetzt, ihrem Freunde Marthe gegenüber, überboten sie einander in ängstlich bekümmerten Klagen. Die völlige Unkenntnis, in der sie über des verstorbenen Anton Kind waren, vermehrte noch ihre Unruhe und ihre Besorgnis.

Wußte man denn überhaupt, wie alt dieses Mädchen war? Würde man ihr Unterricht erteilen müssen? Was für unabsehbare Ausgaben mußten wohl aus diesem Schicksalsschlage entstehen! Ja, war sie denn überhaupt eine Christin – mit einem solchen Namen wie Zora? –

An diesem Abende blieb Marthe länger als sonst. Allmählich kamen die beiden Alten zu einiger Ruhe. Im übrigen hatten sie nicht einen Augenblick an die Möglichkeit gedacht, ihrer hilfesuchenden Nichte die Gastfreundschaft zu versagen. Herr Fleuriot bewies in diesem Falle von neuem sein Familiengefühl und seine Frau war eine gute Christin. In ihren Gebeten flehte sie zu Gott, daß er ihr helfen möge, diese Seele, die bisher in einer verdorbenen Welt gelebt hatte, zu retten. Und so harrte sie ergeben, doch mit zunehmender Angst, der Ankunft des Mädchens. Eines nur war für Frau Fleuriot gewiß: Zora würde dunkel sein wie jene spanischen Zigeunerinnen, die einmal in der Nähe von Valleyres kampiert hatten und deren bronzefarbener Teint und glühende Augen den Schrecken aller guten Christenmenschen gebildet hatten. In den engbegrenzten Gedanken der guten Frau verkörperten jene Weiber die ganze orientalische Sünde der fremden, sonnendurchglühten Länder. Sollten sie jetzt wirklich eine Nichte haben, die jenen glich? Marthe bemühte sich sie zu beruhigen und suchte mit ihnen in alten illustrierten Zeitschriften Ansichten von Algier. Er überzeugte sie, daß diese Stadt schon lange europäischen Charakter angenommen habe, daß sie nichts anderes mehr sei, als das Marseille eines anderen Kontinents.

Fünf Tage vergingen in Vorbereitungen und Mutmaßungen. Endlich kündete ein Telegramm die bevorstehende Ankunft und am nächsten Tag war die Erwartete in Valleyres.

Obgleich sich Marthe in Neugierde verzehrte, kam er an diesem Abend, da er zu stören fürchtete, nicht zu seinen Freunden. Am nächsten Morgen ging er an dem kleinen Laden vorbei, doch wagte er auch diesmal nicht einzutreten. Abends zögerte er immer noch, bei den Alten anzuklopfen; denn wie immer, wenn er einer Sache nicht sicher war, gewann die Schüchternheit in ihm die Oberhand. Auch am zweitnächsten Tage hätte er sich zu einem Besuche nicht aufraffen können, wenn nicht Vater Fleuriot selbst ihn holen gekommen wäre.

Zu gewohnter Stunde öffnete er mit klopfendem Herzen die Türe des kleinen Wohnzimmers. Frau Fleuriot saß beim Tisch und neben ihr erblickte er ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren mit schweren, rötlichblonden Haaren und einem rosigen, ein wenig durchsichtigen Teint wie aus Wachs – es war Zora. Sie trug ein einfaches, schwarzes Kleid und ihre Blicke waren auf die Handarbeit gesenkt, mit der sie beschäftigt war.

Frau Fleuriot stellte vor. Das junge Mädchen begrüßte den Klavierlehrer und er bemerkte, daß ihre Augen wohl klein, doch schwarz und funkelnd seien. Er lächelte gezwungen, in größter Verlegenheit, versuchte einige Begrüßungsworte zu stammeln, die er zu keinem Satze formen konnte, und ließ sich schließlich auf einen Stuhl nieder.

Eine Weile sahen sie schweigend nebeneinander.

Dann begann Frau Fleuriot von ihren Befürchtungen und Aufregungen zu erzählen und beschrieb, wie sie es in diesen zwei Tagen schon zehnmal getan hatte, wie groß ihre Überraschung beim Einfahren des Zuges gewesen sei. In alle Waggons hatte sie geschaut und vergeblich nach dem dunkelhäutigen, halbwilden Kind gesucht. Der Stationschef hatte sie darauf aufmerksam machen müssen, daß in seiner Kanzlei ein junges Mädchen auf sie warte und dort habe sie dann endlich diese große, blonde, junge Dame gefunden. – War es denn möglich, daß die Nichte aus Algier so aussah? Und, da sie daran zweifelte, ihre gerechtfertigte Überraschung den Zuhörern auch genugsam geschildert zu haben, begann sie im gleichen Atem die ganze Geschichte noch einmal zu erzählen. Zora blieb indessen stumm, ebenso Marthe, der nicht weit von ihr saß und in tiefen Zügen den Duft einatmete, der aus ihren Kleidern aufstieg und ganz jenem glich, der ihrem Briefe angehaftet hatte.

Herr Fleuriot holte aus dem Laden eine kleine Flasche Punsch und einige Biskuits und man trank auf die Gesundheit der Waise. Frau Fleuriot wurde recht aufgeräumt, sie leugnete ihre Ängste nicht, lachte aber jetzt selbst über ihre Dummheit. Zora hatte sich schon als gute Katholikin erwiesen, war sie doch bei den Nonnen aufgewachsen; sie hatte nähen gelernt und spielte sogar – »das wird unseren Freund Marthe besonders freuen« – Klavier!

Das junge Mädchen trat aus seiner zurückhaltenden Beobachtung nicht heraus. Zu einer lustigen Bemerkung des alten Fleuriot lachte sie indes herzhaft, vielleicht ein wenig allzulaut, doch mißfiel dies nicht. Sie ergänzte den Bericht, den Frau Fleuriot von ihrer Ankunft gegeben hatte, nur durch einige Einzelheiten und erzählte auch ein wenig von ihrer Reise. Ihre Aussprache war nicht ganz fehlerfrei. Sie hatte einen leicht singenden Tonfall wie ein kleines Kind. Marthe fand, daß sie außerordentlich hübsch sei. Er wagte sogar ihre Hände zu betrachten und die kleinen, gepflegten Nägel ihrer Finger entzückten ihn. Auch ihre bescheidene Zurückhaltung beruhigte ihn. So verlor sich bald seine anfängliche Verlegenheit und Scheu, denn schließlich saß er doch hier bei Freunden, die ihm seit Kindertagen vertraut waren und nur sie war die Fremde. Er wagte es sogar, einige Scherze vorzubringen, die er dem gewohnten Repertoire seiner täglichen Gespräche mit den Fleuriots entlehnte.

Als der kleine Louis Marthe an jenem Abend seiner Wohnung zuschritt, summte er mit leiser Stimme vor sich hin. –

Es war Anfang Oktober, und die Regenperiode setzte in diesem Jahre ungewöhnlich bald ein. Die Spaziergänge abends waren unmöglich geworden, und Zora mußte zu Hause sitzen und kam nicht dazu, in der Stadt Bekanntschaften zu machen, wie die schöne Jahreszeit sie so leicht vermittelt. Frau Fleuriot, die zu dem geringen Wäschevorrat ihrer Nichte tadelnd den Kopf geschüttelt hatte, beschäftigte sie mit Näharbeiten für eine kleine Ausstattung. Das junge Mädchen verbrachte ihre Tage in Gesellschaft ihrer Tante nähend und stickend im Hinterraum des kleinen Ladens.

Nur Sonntags gingen sie alle in die Kirche, um die große Messe zu hören. Die Orgel dröhnte unter den Fingern von Louis Marthe, als hätte das alte Instrument seine Jugend wiedergefunden.

Jeden Abend während der Woche kam Marthe, wie in früheren Zeiten, auf ein Plauderstündchen zu seinen Freunden. Geräuschlos stand er immer plötzlich, fast unbemerkt mitten im Zimmer, als wäre seine kleine Gestalt, die so wenig Platz einnahm, aus dem Boden aufgetaucht. Herr Fleuriot begrüßte ihn stets mit den gleichen Worten, von denen man nicht wußte, womit sie zusammenhingen und deren heitere Wirkung wohl ausschließlich in ihrer ständigen Wiederholung lag. »Nun, lieber Marthe, was gibt es Neues in der galanten Welt?« Und während die rechte Hand des biederen Krämers klatschend auf seinen Schenkel niederfuhr, begleitete er diese Frage mit dem stets gleichen, listigen Augenzwinkern.

Marthe gab seinen Bericht. Fräulein Bourrat aus Prévoux schien ernstlich krank zu sein, Frau Vertot, die alte, lag im Sterben, Herr Duret hatte eine Erbschaft gemacht – »das Wasser rinnt immer in den Fluß,« fügte Herr Fleuriot hinzu – die Weinpreise waren im Sinken, doch Herr Maigret, der stets das Richtige traf, hatte seine Ernte noch rechtzeitig verkauft – und so fort. Frau Fleuriot strickte indes eine Wolljacke und Zora nähte, den Kopf über die Arbeit gesenkt.

Überhaupt blieb das junge Mädchen meist schweigsam, als wäre sie ununterbrochen auf ihrer Hut und als wolle sie ihre Gefühle und Gedanken nicht erraten lassen. Die Tante war ein wenig enttäuscht. Sie fand ihre Neugierde in keiner Weise befriedigt. Von ihrer Mutter wußte Zora fast gar nichts. Sie mußte schon vor langer Zeit, wie Zora sagte, mit einem Spanier Algier verlassen haben. Zora erzählte dies in ihrem gewohnten Tonfall, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Marthe, der ihr zuhörte, erschauerte und pries Gott, daß er in seiner unerforschlichen Gnade in jener verderbten Stadt eine so vollkommene Unschuld habe aufwachsen lassen.

Von ihrem sonstigen Leben erzählte Zora nichts. Nur das eine hatte Frau Fleuriot herausbekommen, daß sie ihre Ferienzeit stets bei ihrem Vater verbracht habe. Doch wohnte sie da bei ihm in der verrufenen Schenke? Darüber vermochte man keine Klarheit zu gewinnen. Ihrer Tante gegenüber verhielt sich Zora nicht anders, als sie es bei den Nonnen gewohnt gewesen: sie gehorchte ohne Widerspruch. Nur ein- oder zweimal ließ sie Worte fallen, aus denen man zu erraten vermochte, daß sie einst ein besseres Leben gekannt hatte. Doch schon diese Andeutungen schien sie, kaum, daß sie ihr entschlüpft waren, zu bedauern.

Trotz aller Vorhalte ihrer Tante hatte sie die Gewohnheit, sich zu parfümieren, nicht aufgeben können. Sorgfältig bewahrte sie ihr schmales Fläschchen in der kleinen Kassette aus Olivenholz, die sie stets verschlossen hielt und deren winziger Schlüssel an einem Kettchen hing, das um ihren Hals lag. Doch, um allzu heftiges Zürnen ihrer Tante zu vermeiden oder auch, um ihre kostbare Flüssigkeit, die sie aus Algier mitgebracht hatte, zu sparen, pflegte sie kaum mehr als einen Tropfen auf ihren Hals zu tupfen. Marthe aber spürte trotzdem den feinen Duft, der sich mit jenem der Haare mischte und dieser durchdringende, ein wenig säuerliche Geruch stieg ihm zu Kopf und machte seine Augen blinzeln.

Marthe hatte noch keine zehn Abende seit der Ankunft Zoras bei seinen Freunden verbracht und war schon rettungslos verliebt. Nichts war für ihn den Reizen und den Erregungen vergleichbar, die er an jenen stillen Abenden im Wohnzimmer der Fleuriot neben den funkelnden Augen Zoras empfand. Tagsüber, während er zu seinen Stunden eilte, dachte er nur an sie. Ihr Bild fand er auf allen Seiten der Notenhefte, die seine Schüler aufschlugen. Sie strahlte aus dem sternenübersäten Winterhimmel, wenn er abends seiner Wohnung zuschritt und der Duft ihrer matten Haut verfolgte ihn in seine Nächte. Unruhig wälzte er sich in seinem Bett, vergebens suchte er den Schlaf. Der Gedanke, daß sie da neben ihm ausgestreckt liegen könnte, daß er ihren verführerischen Körper berühren dürfte, erstand verwirrend . . .

Doch wenn er ihr gegenüberstand, wagte er nicht das Wort an sie zu richten. Schon vor der Türe der Fleuriots war er so betäubt, daß er stets lange zögerte bevor er eintrat. Nur mit verstohlenen Blicken streifte er Zora; an der Unterhaltung vermochte er kaum mehr teilzunehmen, seine Gedanken waren immer abwesend, in unbeholfener Verwirrung mühte er sich Worte hervorzubringen. Wochen vergingen, ohne daß er mit dem Mädchen zwei Sätze wechselte; denn, wie er durch seine Schüchternheit stumm, durch die Heftigkeit seiner Gefühle gelähmt war, so schien sie mit ihrem gesenkten Blick und der stillen Zurückhaltung immer noch im Kloster zu weilen, in dem man sie erzogen hatte.

Lange hätten die Dinge so weitergehen können, wäre nicht gegen Mitte Dezember Mutter Fleuriot ein Gedanke gekommen oder ihr vielmehr von der Nichte mit so viel Geschick eingegeben worden, daß die gute Frau nicht anders glaubte, als daß es ihr eigener sei. Nachdem sie ihn eine ganze Woche bei sich erwogen hatte, brachte sie ihn ans Tageslicht. Sie meinte, daß Zora, seitdem sie in Valleyres weilte, ihre musikalische Bildung bedauerlicherweise vollkommen vernachlässigt habe; vielleicht würde Marthe gestatten, daß sie während seiner Abwesenheit auf seinem alten Klavier ihre Kenntnisse auffrische?

Marthe stimmte mit Freuden zu und entschuldigte sich, daß er nicht schon längst selbst daran gedacht habe, Fräulein Zora diesen Vorschlag zu machen. Schüchtern fügte er hinzu, er könne ihr sogar einmal in der Woche eine Unterrichtsstunde geben, und es bedurfte all seiner Beredsamkeit, um seinen Freunden begreiflich zu machen, daß er an ein Entgelt dafür nicht denke. Dankbar wurde sein Anerbieten angenommen.

Und schon am nächsten Tage, während der kleine Marthe für zwei aufeinanderfolgende Stunden bei den Durets war, führte Frau Fleuriot ihre Nichte in die Wohnung des Klavierlehrers. Dies tat sie übrigens nur noch zwei- oder dreimal; denn später, da die Musik eine schrecklich einschläfernde Wirkung bei ihr hervorrief, begnügte sie sich, Zora hinzubegleiten und wieder abzuholen. Marthe war ja niemals zu Hause.

Das junge Mädchen genoß diese Stunden der Freiheit überglücklich. Solange die Tante in Hörweite war, spielte sie noch Übungen und kleine Sonaten, die Marthe ihr empfohlen hatte. Doch kaum wußte sie sich unbelauscht, begann sie Militärmärsche und die Begleitung von Couplets zu hämmern, die sie aus dem väterlichen Kaffeehaus kannte und mit schriller Stimme trällerte. Bald indes ermüdete sie auch dies. Sie ließ die Hände von den Tasten sinken, betrachtete an der Wand hinter dem Klavier einen Beethoven, der versunken vor einem Piano saß, das auf Wolken schwebte, dann erhob sie sich, um die übrige Einrichtung des Zimmers zu besehen. Sie blätterte in den Büchern, die auf dem Tische lagen, legte die Muscheln, die den Kamin zierten, an ihr Ohr, um das Geräusch des Meeres zu vernehmen, richtete vor dem Spiegel ihre Haare, bewunderte auch den imitierten Smyrnateppich, der vor einem Fauteuil lag und schließlich warf sie sich der ganzen Länge nach auf den grünen Diwan, dessen fadenscheiniger Samt an manchen Stellen durch kleine Vierecke falscher Spitzen verdeckt wurde.

Wenn der kleine Marthe nach Hause kam, war sie stets schon fort. Einmal in der Woche, um sieben Uhr abends, wenn er alle seine Stunden erledigt hatte, erteilte er ihr Unterricht. Herr oder Frau Fleuriot wohnten diesen Stunden bei, nicht etwa aus Mißtrauen gegen den schüchternen Marthe, sondern nur »wegen der Nachbarn«.

Marthe, auf einem Stuhl neben Zora sitzend, atmete in schweren Zügen den Duft ihres Parfüms. Das erstemal, da er sich so nahe neben ihr fand, kämpfte er fast mit einer Ohnmacht. Zora, die sich plötzlich mit einer Frage zu ihm drehte, bemerkte seine Erregung wohl und von da ab verstand sie es, ihn mit ihrer Schulter zu streifen, ja selbst mit ihren Haaren zu kitzeln.

Wenn Frau Fleuriot mitgekommen war, schlief sie, vom eintönigen Klimpern betäubt, in einem Fauteuil. Dann taute Zora ein wenig auf.

Eines Tages unterbrach sie ihr Spiel und ließ, auf die Schlummernde deutend, mit dem Augenzwinkern eines Komplizen, ein paar Jargonworte fallen, die Marthe nicht verstand. Doch der Blick Zoras, der auf ihm ruhte, verwirrte ihn vollends.

 

Zu einer Unterrichtsstunde im Januar begleitete Herr Fleuriot seine Nichte. Seine Frau war ein wenig unwohl, er wollte sie nicht allein lassen und bat Marthe, das Mädchen dann nach Hause zu bringen. »Nachts,« meinte er, »sind alle Katzen schwarz.«

Bei dem Gedanken mit Zora allein zu bleiben, zitterten Marthes Knie. Zora indes entledigte sich unbekümmert ihres Hutes und ihrer Jacke und setzte sich ans Klavier.

»Das finde ich famos, einmal allein bei Ihnen zu sein,« meinte sie, und Marthe war von seinen Gefühlen viel zu sehr überwältigt, um den ungewöhnlichen Ausdruck des sonst so zurückhaltenden Mädchens zu beachten. Um sich Haltung zu geben, rieb er unausgesetzt seine Hände und die Stunde begann. Zora zog ihren Schemel ganz nahe an seinen heran, und er mühte sich vergeblich seine Ruhe zurückzugewinnen. Kaum waren fünf Minuten vergangen, als Zora schon ihr Spiel unterbrach.

»Ich glaube, ich fühle mich nicht wohl,« flüsterte sie mit leidender Stimme. Marthe erhob sich beunruhigt, doch sie fügte hinzu:

»Es wird nichts von Bedeutung sein, helfen Sie mir nur bis zum Diwan.«

Er bemühte sich um sie, doch mit einer solchen Ungeschicklichkeit, daß sie sich genötigt sah, ihm selbst zu zeigen, wie er sie stützen solle. Sie schlang ihren bloßen Arm um den Hals des schwächlichen Marthe, ihre Wange lag an der seinen, ihr ganzer Leib schmiegte sich an den Körper des kleinen Klavierlehrers und so schleppte sie mehr ihn, als daß er sie stützte, die wenigen Schritte bis zum Diwan, auf den sie sich sinken ließ. Blaß blieb sie ausgestreckt liegen; Marthe, der vor ihr stand, war noch bleicher als sie. Sie seufzte, schien das Bewußtsein zu verlieren, ihre Hand machte einen vergeblichen Versuch die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen, ihre Augen schlossen sich wie in einer Ohnmacht. Marthe hatte begriffen. Mit fieberhafter Eile öffnete er ihren Kragen und den obersten Knopf des Leibchens. Der schimmernde Hals des jungen Mädchens kam zum Vorschein, da hielt Marthe erschrocken ein. Daß es zweckmäßig sein könnte, das Mieder zu öffnen, daran dachte er nicht einmal. Das Blut strömte ihm glühend zu Kopf, doch gleich fühlte er ängstliche Sorge. Ihre Augen öffneten sich nicht mehr, sie kam nicht wieder zum Bewußtsein, sie würde hilflos hier in seiner Gegenwart sterben! Er mußte Frau Poiret rufen . . . Schon wandte er sich zur Tür, da hielt ihn ein Seufzer Zoras zurück.

»Geben Sie mir zu trinken, bitte.«

Marthe brachte ein Glas Wasser, das junge Mädchen nahm einige Schluck, seufzte von neuem und schien endlich zu sich zu kommen. Sie öffnete die Augen und spielte ausgezeichnet Verwunderung, Schrecken, Bestürzung über die Unordnung, die sie an ihrer Kleidung jetzt erst zu bemerken schien.

»Was haben Sie mit mir gemacht, Herr Marthe?« stammelte sie verwirrt.

Marthe, in höchster Verlegenheit und Erregung, wußte nicht, wie er sich entschuldigen solle. Ihm selbst erschien die Kühnheit, mit der er sie zu berühren gewagt hatte, jetzt unfaßbar. Wie hatte er sich nur unterfangen können, ihre Bluse zu öffnen, sich an dem Anblick ihres unschuldsvollen Halses zu erfreuen – denn er hatte ihn erfreut! Oh, Zora mußte ihn verachten. Er hätte sich vor ihren Augen umbringen mögen. Er sank vor ihr in die Knie und stammelte mit erstickter Stimme, während er die gefalteten Hände zu ihr erhob: »Verzeihen Sie, verzeihen Sie.«

Zora beachtete seine Reue nicht.

»Ich bin so schwach,« hauchte sie, »schließen Sie die Knöpfe wenigstens wieder.«

Marthe beeilte sich ihren Wunsch zu erfüllen, doch die Aufgabe war verwirrend. Der warme Duft des geliebten weiblichen Körpers, der zu ihm aufstieg, begann, ihn zu berauschen. Seine zitternden Finger streiften, ohne, daß er es beabsichtigt hätte, die weiche Haut. Die Knöpfe schienen seinen ungeschickten Händen immer wieder davonzulaufen, das Hemd des jungen Mädchens verstopfte die Knopflöcher. Bei jeder Bewegung fühlte er die schwüle Üppigkeit ihres Leibes. Zora rührte sich nicht und kam ihm nicht zu Hilfe. Mit großer Mühe gelang es ihm, die beiden Teile der Bluse zusammenzubringen, er wurde nervös, sein Kopf glühte. Zora beobachtete ihn durch die gesenkten Lider. Endlich war es Marthe doch gelungen. Aber große Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.

Das junge Mädchen erhob sich jetzt und mit überraschend sicherem Schritt trat sie vor den Spiegel, um ihre Frisur in Ordnung zu bringen.

Marthe war erschöpft auf einen Stuhl gesunken und vermochte kein Wort hervorzubringen, keinen Gedanken zu fassen. Nicht viel fehlte und jetzt wäre er umgesunken. –

Zora war fertig, sie verließen das Haus. Die frische Luft gab auch ihm seine Kräfte zurück, doch erst an der Schwelle des Fleuriotschen Hauses, wo er das junge Mädchen, das immer noch gekränkt schien, verließ, brachte er das erste Wort hervor:

»Verzeihen Sie mir.« Und er rannte in die Nacht. Er war halb verrückt vor Liebe und vor Verzweiflung.

Am nächsten Tage erhielt Zora einen Brief, dessen Abfassung den armen Marthe eine halbe Nacht voll Mühe und Angst gekostet hatte. Er bot sein ganzes Leben als Sühne für ein Verbrechen, über das er sich nicht näher aussprach. Maßlose Liebe sei seine einzige Entschuldigung. Zurückgewiesen, würde er die Stadt verlassen.

Mutter Fleuriot erklärte, diese Ehe sei im Himmel beschlossen worden. Kein größeres Glück könne ihrer Nichte widerfahren. Die glänzende Stellung und noch dazu ein Gatte, von dem man sicher sein konnte, daß es an Herz und Gesinnung nicht seinesgleichen in Valleyres gäbe! Herr Fleuriot strahlte nicht weniger. Nur Zora blieb still.

Als Louis Marthe um sieben Uhr nicht erschien, entschloß sich Fleuriot ihn zu holen. Er fand ihn in fieberhafter Erregung, mit verzweifelter Miene. Alle Versicherungen des alten Freundes vermochten den Klavierlehrer von der Wirklichkeit seines Glückes nicht zu überzeugen. Erst als das junge Mädchen, mit dem man ihn allein gelassen hatte, ihre Einwilligung seine Frau zu werden, selbst aussprach, begriff er, daß sie ihm verziehen habe.

Die Hochzeit wurde auf Dienstag nach Ostern festgesetzt.

Eine neue Wohnung mußte gesucht werden. Marthe fand sie im Hause des Herrn Anton Vertot. Sie lag gegen den Garten zu und bestand aus einem Salon, einem Speisezimmer, einem Schlafzimmer und einem düsteren Kabinett.

Im ersten Stock, auf der Straßenseite, war die große Wohnung der Vertot, doch diese zogen es seit zwei Jahren vor, ihren Besitz an der Straße nach Prévoux, nicht zu verlassen.

Marthes Salonmöbel gingen noch an; Noirot, der Tapezierer, sollte nur den grünen Samt erneuern. Für das Eßzimmer wollte man eine neue Einrichtung kaufen.

Wie im Traume vergingen die Wochen. Tagsüber lief Marthe zu seinen Stunden. Abends, bei den Fleuriot, sah er Zora. Kaum zwei- oder dreimal war sie mit ihm allein: dann wurde sie zärtlich, sie küßte ihn auf den Mund, nannte ihn: »mein Männchen, mein großer Liebling.«

Ostern und der Dienstag kamen. Hochzeitsgäste waren die Fleuriot, ihr Sohn, der zu diesem Anlaß mit seiner Frau aus Lyon gekommen war, Frau Poiret und einige alte Freunde der Fleuriot; im ganzen gegen fünfzehn Personen. Louis Marthe trug einen neuen schwarzen Rock, der von Meister Boudin verfertigt war. Ins Knopfloch hatte er sich einen kleinen Zweig von Orangenblüten gesteckt, der ganz Valleyres zu Späßen herausforderte. Zora war rosig und schön mit ihren frischen Farben unter dem weißen Schleier.

Nach der Trauung fuhr man in Wagen über Land. In Prévoux nahm man ein Gläschen Wein und um sechs Uhr begann das Festmahl in der »Goldenen Glocke« in Valleyres. Man aß und trank – wie sich's gehört – unmäßig viel. Herr Fleuriot fand die ganze Serie von Scherzen, die den Umständen angepaßt waren. Beim Champagner wagte er sogar ein Liedchen zum besten zu geben. Zora, ein wenig berauscht, lehnte sich an ihren Mann und flüsterte ihm Zärtlichkeiten ins Ohr. Dann und wann biß sie ihn auch ins Ohrläppchen.

Marthe aß kaum und trank gar nichts. Das Glück machte ihn ernst.

Gegen halb elf Uhr endlich führte er seine Gattin in die neue Wohnung. Am nächsten Tage fuhren sie in die Provinzhauptstadt, wo sie bis zum Ende der Woche blieben. Sie speisten im Restaurant, besuchten den Zirkus, machten Wagenausflüge. –

Sie kehrten nach Valleyres zurück. Marthe nahm seine Stunden wieder auf. Seine Frau sah er nur mittags und abends, endlos lang erschien ihm der übrige Tag.

Ein Jahr verging. Das junge Paar lebte recht zurückgezogen. Der kleine Marthe fühlte sich immer noch im siebenten Himmel, wenn auch sein Wunsch, ein Kind von Zora zu bekommen, nicht in Erfüllung ging. Emsiger denn je lief er von Stunde zu Stunde, obwohl ihm einige Wochen der Erholung nötig gewesen wären. Er fühlte sich müde und er, der niemals kräftig ausgesehen hatte, war jetzt oft erschreckend bleich. Bei jedem Wetterumsturz begann er zu hüsteln. Seine Frau indessen blühte jetzt, in ihrem zwanzigsten Jahre, erst richtig auf. Immer waren ihre Wangen rosig, als wären sie künstlich gefärbt und ihre rotblonden Haare erregten alle Weiber von Valleyres. Beim Ball der Stadt hatten sich einige Honoratioren vorstellen lassen, auch Herr Bataille, der reiche Weinhändler, Mitglied des Provinzwahlkomitees, dem man intime Beziehungen zu Frau Tourette, der Witwe des Tuchhändlers nachsagte und Herr Rigotard, der Drogist. Unter den Kaufleuten der Stadt gab es keine besseren Namen.

Zu Beginn des Winters mußte sich Marthe wegen einer heftigen Erkältung zu Bett legen und Doktor Maigret, den er konsultierte, verordnete ihm einige Zeit Ruhe und Erholung. Zora nahm dies teilnahmsloser hin, als Marthe erwartet hätte.

Sie selbst ging jetzt häufiger aus und begann in der Stadt Beziehungen anzuknüpfen. Meist stand sie erst spät auf, sie brauchte eine beträchtliche Zeit für ihre Toilette und ihr Gatte, wenn er mittags heimkam, fand sie noch im Schlafrock. Nur an Markttagen verließ Frau Louis Marthe schon morgens mit ihrer Magd das Haus, um, wie die anderen Bürgerfrauen von Valleyres, am Rathausplatz ihre Einkäufe zu besorgen.

Entlang des Fußsteigs stellten hier, ob Sommer, ob Winter, die aus der Umgebung gekommenen Bäuerinnen ihre Körbe mit Gemüse, Eiern, Obst und Kartoffeln aus. Im Sommer suchten sie Schutz im Schatten der Häuser; im Winter froren sie. Die einen hockten auf Kohlenpfannen, deren Glut ihre Sitzfläche verbrannte, während der übrige Körper auch weiter fror, die stehengeblieben waren, traten von einem Fuß auf den anderen. Hier unterhielt sich Frau Marthe mit den Damen von Valleyres, deren Bekanntschaft sie gemacht hatte; zwischen zwei Einkäufen erzählte man einander alle Neuigkeiten. Manchmal kam auch Marthe dicht an den Häusern gehend vorbei, und während er sich die Augen nach seiner Frau ausschaute, stieß er die Bäuerinnen, die unwillig zu brummen begannen. Auf seinem Kremser sah man den guten Herrn Ferdinand Bourrat aus Prévoux vorbeikutschieren; auch Herr Anton Vertot überquerte mit seinen langen Schritten die Straße. Melancholisch ging Herr Henri Lanterle, den alten Baron Morteuse zu dem täglichen Spaziergang abholen. Herr Nikolaus Allemand, dessen gelbe Haare unordentlich über den fettigen Kragen hingen, begab sich in die Bibliothek; der Wagen von Frau Duret hielt vor der Post und dann nochmals vor dem Zuckerbäckerladen. Herr Pilou, der Schulleiter, schlenderte nur scheinbar zerstreut dahin; denn trotz seines Wissens und seiner weißen Haare, war er als großer Schürzenjäger bekannt. Unter den Arkaden, die sich an der einen Seite des Platzes befanden, mühten sich Fleischer, Kunden für ihre im Freien ausgestellten Waren anzulocken, indem sie, märchenhaft billige Preise schreiend, Speck und Würste anpriesen. Beim Eingang zur Hauptstraße verbreiteten Berge von Käsen einen aufdringlichen Geruch. – So war Valleyres jeden Dienstag und Samstag zwei Stunden lang von lebhaftem Treiben erfüllt. Bei den Kleinbürgern gehörte es zum guten Ton, sich an diesen Tagen, von einer Magd gefolgt, die den Einkaufskorb trug, auf dem Rathausplatz zu zeigen. Frau Marthe versäumte es nicht, stolz zu beweisen, daß sie ein Dienstmädchen habe, während ihre Tante Fleuriot sich dessen nicht rühmen konnte.

Kurz nachdem Marthe von seiner Erkältung genesen war, entdeckte Zora, daß sie ein Kind erwarte. Die erste Zeit ihrer Schwangerschaft war schwierig. Sie mußte sich pflegen und blieb zu Bett.

Im Jahre darauf brachte Zora – sie war jetzt einundzwanzig, ihr Mann dreiunddreißig – ein Mädchen zur Welt. Marthe hätte sie nach ihrer Großtante gerne Louise genannt, doch Zora wählte den vornehmeren Namen Athenais. Frau Fleuriot und Herr Bataille waren die Paten und ein feierliches Abendessen vereinigte die Freunde des Hauses.

Zora vermochte den Säugling nicht selbst zu nähren und das Kind wurde zu einer Amme nach Prévoux in Pflege gegeben. Etwa zur gleichen Zeit trat in den Beziehungen Zoras zu ihrer Tante, die seit der Heirat des jungen Mädchens immer gespannter geworden waren, ein vollkommener Bruch ein. Marthe, der wohl fühlte, daß die Schuld bei seiner Frau lag, war dies seiner alten Freunde wegen äußerst schmerzlich, doch er wagte nicht einmal sich selbst das Unrecht seiner Frau offen einzugestehen, geschweige denn, seine Ansicht ihr gegenüber zu äußern. Staunend sah er die Veränderung ihres Wesens. Was war aus dem arbeitsamen, stillen, jungen Mädchen von einst geworden? Ihr Benehmen, in dem sie sich jetzt keine Zurückhaltung mehr auferlegte, erwies sich als recht gewöhnlich. Sie pflegte derbe Jargonausdrücke zu gebrauchen, die sie nicht im Kloster gelernt haben konnte, und doch – alles in allem war sie gutmütig geblieben, manchmal sogar zärtlich, obwohl sie für gewöhnlich ihren Mann von oben herab ansah. Diese Überlegenheit hatte sie ihm schon vom ersten Tage ab gezeigt, als wüßte sie vom Leben gar mancherlei, wovon der arme Mann an ihrer Seite noch immer keine blasse Ahnung habe. Marthe aber war nicht weniger verliebt als am ersten Tage. Wenn er auch einige Fehler an ihr fand, er vermochte sich nicht mehr von ihr zu lösen. Mit Leib und Seele war er ihr verfallen und ein Leben ohne sie wäre ihm undenkbar gewesen. Ein- oder zweimal, wenn einer ihrer Wünsche nicht erfüllt wurde, hatte sie ihm abends in ihrem Bett übellaunig den Rücken gekehrt und Marthe dadurch bis zu reuevollen Tränen gebracht. Er liebte es sich an sie zu schmiegen, seine fröstelnden Glieder an ihren warmen Körper zu lehnen und – seine Wünsche reichten meist nicht weiter – wie ein Kind, von ihren mütterlichen Armen umfangen, einzuschlummern.

 

Achtzehn Monate später holten sie ihr Töchterchen nach Valleyres zurück. Marthe hätte es gern in ihr gemeinsames Zimmer genommen, doch Zora wollte nichts davon hören. Sie erklärte, da die Wohnung zu klein sei, müsse man in die größere Straßenwohnung übersiedeln, die im Hause über den Zimmern der Vertots zufällig frei stand. »Daran kann doch nicht gedacht werden,« meinte Marthe, »die Wohnung wäre ja viel zu teuer.« Doch Zora war davon überzeugt, daß sie mit dem Hausherrn bloß reden müsse, um einen mäßigen Zins von ihm zu erreichen.

Herr Anton Vertot, der Hausherr, war ein Fünfziger, sechs Fuß groß, dürr wie eine Latte, halb Bauer, halb Edelmann, von scheinheiliger Frömmigkeit, mit allem befreundet und verschwägert, was in Valleyres einen Namen hatte. Mit seiner Frau und seinen drei Töchtern lebte er fast das ganze Jahr auf dem Lande.

Er galt als Schürzenjäger. Schmunzelnd erzählte man sich allerlei Abenteuer von ihm; man bezeichnete den Sohn des Tischlers Terminet, der ihm auch wirklich auffallend ähnelte, als sein Kind. –

Als Zora Herrn Vertot aufsuchen wollte, war er nicht daheim. Am Tage des nächsten Wochenmarktes stellte er sich bei ihr ein. Er fand sie in einem rosa Négligé, das sie sehr vorteilhaft kleidete. Sie machte nicht viel Umschweife und erklärte ihm gleich einleitend, daß sie gezwungen sei, die Wohnung in seinem Hause zu verlassen. Herr Vertot erwiderte sehr galant, daß er sich von einer solchen Mieterin unmöglich trennen könne und daß er, um sie zu behalten, zu jedem Opfer bereit sei. Eine Unterhaltung, die mit solchen Liebenswürdigkeiten einsetzte, konnte – so schien es Zora – nur zu einem guten Ende führen. Sie machte eine Anspielung auf die große, freistehende Wohnung an der Straßenseite und frug nach dem Zins. Herr Vertot nannte eine Zahl. Zora verzog in reizender Weise ihr Mündchen und erklärte, dieser Betrag übersteige weit ihre Verhältnisse und sie müßte nun doch das Haus verlassen. Herr Vertot bat um die Erlaubnis, die Sache zu überlegen und an einem Tage, der der entzückenden Frau Marthe passen würde, nochmals vorzusprechen. Man einigte sich auf den zweitnächsten Nachmittag. An diesem Tage hatte Marthe in Vermand zwei Stunden abzuhalten. Herr Vertot stellte sich pünktlich ein und verließ nicht sobald wieder die Wohnung Marthes. Als er endlich Abschied nahm, war die Angelegenheit ganz nach Zoras Wünschen geregelt.

Höchst befriedigt und sehr überrascht zeigte sich Marthe, als er abends den Erfolg seiner Frau erfuhr.

In Valleyres erregte es nicht wenig Befremden, als man den Klavierlehrer in eine Wohnung übersiedeln sah, die bis dahin nur von Leuten der vornehmen Welt bewohnt worden war. Noch größeres Aufsehen aber machte es, daß die Jalousien im ersten Stock, im Zimmer des Herrn Vertot, jetzt mit einem Male öfters geöffnet waren und daß, wie man erfuhr, Herr Vertot plötzlich jede Woche in der Stadt zu sehen war. Die bösen Zungen konnten eine solche Gelegenheit, sich zu betätigen, nicht vorbeigehen lassen. Zora hatte den würdigen Frauen der Stadt ja immer schon Mißtrauen eingeflößt. Konnte man denn mit einer solchen Haarfarbe anständig sein?

Marthe indes erfuhr von all den Gerüchten nichts.

Eifersucht wurde in ihm nicht wach. Es war ja nur zu begreiflich, daß die Männer sich um sie, die so anziehend war, bemühten. Bei den Festen löste ein Tänzer den anderen ab. Doch nach Hause zurückgekommen, machte sie sich mit ihrem Mann über alle lustig, die sich um sie gedrängt hatten und gewöhnlich endete sie die Unterhaltungen mit dem Satze: »Du kannst wahrlich zufrieden sein, daß du eine anständige Frau geheiratet hast . . .« Und der kleine Klavierlehrer, für den jede Frau, die ihren Mann betrog, ein verabscheuenswertes Monstrum bedeutete, das den Gluten der Hölle nicht entgehen würde, war auch wirklich zufrieden und fühlte sich durch diese freimütige Bemerkung Zoras aller Zweifel enthoben. Trotz seines Alters wußte der emsige Klavierlehrer ja kaum etwas vom Leben, durch das er zwar mit offenen Augen, aber ohne zu sehen, ging . . .

An einem Winterabend, um fünf Uhr im Hause Duret, irrte er sich in den Türen und trat in das Boudoir der schönen Hausfrau ein. Im Halbdunkel bemerkte er Frau Duret und den Advokat Lorety, auf einem Diwan, sehr nahe nebeneinandersitzend. Lorety entfaltete hastig eine Zeitung auf seinen Knien. Und doch war es finster im Zimmer, und man vermochte nicht zu lesen. Marthe aber verfiel nicht einmal auf diese einfache Betrachtung; er entschuldigte sich, so gut er vermochte, stürzte fort und dachte gar nicht mehr daran.

Nein, Schlechtigkeiten gab es für seine Augen keine. Seine Frau mochte faul sein und in ihrer Sprache die üble Gesellschaft erkennen lassen, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte, doch sie war sein durch göttliches Gesetz, nach dem die Frau dem Manne angehört. Ehebruch war ja, trotz aller Romane, die das Volk vergifteten, unendlich selten und hatte in diesem und in jenem Leben so furchtbare Folgen, daß, bloß daran zu denken, einen schon erzittern ließ . . .

Zora hatte wenig Freundinnen. Sie besuchte Frau Lebel, die Gattin des Steuereinnehmers, die in großen Städten gelebt hatte und mancherlei wußte. Auch zu Frau Labitte, der Buchhändlerin, ging sie, die einen Lesesaal unterhielt.

Die kleinen Geschichtchen dieser Häuser bildeten an den Abenden, die sie allein mit ihrem Manne verbrachte, ihren Gesprächsstoff. Marthe aber hörte nur zerstreut zu. Diese Leute waren neu in seinem Leben, niemals würden sie darin die Lücke ausfüllen, die für immer der kurz nacheinander erfolgte Tod von Herrn und Frau Fleuriot hinterlassen hatte. Nur der große Fauteuil seines alten Freundes, den Jules Fleuriot ihm gegeben hatte, war Marthe von ihnen geblieben.

Marthes Gesundheit wurde indessen nicht besser. Im Herbst befiel ihn eine neuerliche Erkältung, die den ganzen Winter nicht weichen wollte. Er hüstelte und spuckte. Abends war er so müde, daß er augenblicklich einschlief. Daß Zora ihn sorglich pflegte, machte ihn glücklich. Sie schaute darauf, daß er starke Stiefel trug, wenn er zu seinen Stunden ausging und bereitete ihm zu Weihnachten das überraschende Geschenk eines weiten, flauschigen Mantels, den sie von ihren Ersparnissen gekauft hatte. Abends, wenn er heimkam, fand er ein gutes Feuer im Kamin. Sie waren jetzt zehn Jahre verheiratet. –

Bataille, der Weinhändler, durch den Tod Frau Tourettes vereinsamt, wurde häufiger Gast bei den Marthe. Tagsüber wagte er sich nicht in die Wohnung des Klavierlehrers, denn die Augen der ganzen Stadt waren stets auf alles gerichtet, was mit Frau Marthe zusammenhing. Jedesmal, wenn die Fensterladen im Zimmer des Herrn Vertot, der, trotzdem er schon in die Sechzig ging, doch noch ein-, zweimal in der Woche nach der Stadt kam, offen standen, sprach ganz Valleyres davon. Bataille kam nur abends, wenn Marthe zu Hause war. Louis Marthe wäre lieber mit seiner Frau allein geblieben, doch wagte er dies nicht zu äußern. Herr Bataille war ja wirklich überaus liebenswürdig und schien nur allzu glücklich, wenn sein Freund Marthe ihm Günstiges über sein Fortkommen zu berichten vermochte. Ja, einmal beteiligte er ihn sogar an einem vorteilhaften Weineinkauf und verschaffte ihm dadurch einen Gewinn von dreihundert Francs, der dem Haushalte des Klavierlehrers sehr zustatten kam. Die Ausgaben wurden ja immer größer. An dem kleinen Töchterchen, das Marthe abgöttisch liebte, und das zum vollkommenen Ebenbild seiner Mutter heranzuwachsen schien, durfte doch nichts gespart werden! Und Zora selbst war keine gute Wirtin und auch nicht bedürfnislos. Athenais sollte in die Provinzhauptstadt in ein Pensionat gegeben werden, auch diese monatliche Ausgabe von fünfzig Francs war eine schwere Last. Oft ging Marthe sorgenvoll umher. Und dabei begann die Zahl seiner Stunden abzunehmen. Ein, zwei Familien, die zum Bekanntenkreise der Vertots gehörten, ließen ihre Kinder nicht mehr bei ihm unterrichten. Er wußte nicht warum.

Zora warf plötzlich die Frage auf, warum ihr Mann eigentlich nicht an der städtischen Schule Musikunterricht erteile? Das würde doch immerhin ihre Einkünfte nicht unbeträchtlich erhöhen. Sie sprach davon zu Herrn Bataille, der doch in allen Kreisen Einfluß hatte, machte selbst bei den maßgebendsten Herren Besuche und setzte es richtig durch, daß Marthe zum Musikprofessor bestellt wurde.

Bataille wollte auf den Lohn für seine Bemühungen nicht verzichten. Die Schwierigkeiten, die stets zwischen ihm und Zora standen, hatten sein Verlangen zu wilder Glut gesteigert. Oft ließ er alle Vorsicht außer acht und beging Streiche, wie ein dummer Junge. Marthe mußte nur für einen Augenblick das Zimmer verlassen und schon stürzte er zu Zora, um sie in seine Arme zu pressen und wie ein Irrsinniger zu küssen. Unzählige Male hatte es nur ein glücklicher Zufall verhindert, daß sie von Marthe nicht in peinlichster Weise überrascht wurden. Schließlich hatte sich Zora, die von seiner Zügellosigkeit alles befürchten konnte, entschlossen, seinen Wünschen nachzugeben. Als seine Frau einmal verreist war, schlich sie in der Dämmerung in seine Wohnung. Doch ein solcher Schritt in der kleinen, argwöhnischen Stadt schien beiden doch ein zu großes Wagnis. Zora fand einen anderen Ausweg. Sie machte es sich zur Gewohnheit, einmal in der Woche ihre Tochter in Maigny zu besuchen und hier traf sie mit Bataille zusammen, den seine Geschäfte ja häufig in die Provinzhauptstadt führten, ohne daß dies irgendwie auffallend gewesen wäre. Marthe, der diese kostspieligen Reisen nicht gerne sah, brachte es doch nicht übers Herz, sie seiner Frau zu untersagen. Mußte er ihr nicht im Gegenteil dafür dankbar sein, daß sie jede Woche die Unbequemlichkeiten einer Eisenbahnfahrt auf sich nahm, nur, um ihr geliebtes Kind umarmen zu können?

Marthe übrigens fuhr fort, seine Frau anzubeten. Seit sie die Dreißig überschritten hatte, war sie stärker geworden, ihr Gesicht aufgedunsen. Marthe dagegen schien mit dem Alter einzutrocknen; er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Vor Athenais hatte er sich angewöhnt, seine Frau Mama zu nennen, er behielt dies auch für sich selbst bei. Abends schmiegte er sich wie ein Kind an ihre breite Brust. Gleichmütig ließ ihn Zora gewähren. Ihr Urteil über Marthe stand seit langem fest; sie schätzte seinen sanften Charakter, doch er war schwach, immer müde, erschöpft. Als Mann war er angenehmer als so viele andere, die ihre Frauen mit Stockschlägen traktierten, fremden Schürzen nachspürten, tranken und das Geld, das im Hause nötig war, außerhalb vergeudeten. Sie betrog ihn, ja, es war so, aber geschah ihm dadurch irgendwie Abbruch? Sie gebrauchte alle Vorsicht, um ihr Leben geheim zu halten, nicht vielleicht, weil er, der Unschuldige, selbst etwas hätte entdecken können: sogar, wenn er sie im Bett von Herrn Vertot gefunden hätte, würde er sie nicht für schuldig gehalten haben. Doch vor den Leuten in Valleyres mußte man auf der Hut sein. Darum beging Zora auch keine Unvorsichtigkeit. Flüstern konnte man, aber Beweise hatte man keine gegen sie! So verlief ihr Leben in der gewohnten Bahn. Marthe erfreute sich seiner ungestörten Ruhe.

Bis sie plötzlich in der alltäglichsten und furchtbarsten Weise zerstört wurde.

Die Ahnungslosigkeit Marthes, die Sicherheit, die Zora und Bataille in Maigny genossen, verführten sie zu leichtfertiger Außerachtlassung der mindesten Vorsicht. Es war im vierten Jahr der wöchentlichen Besuche Zoras bei ihrer Tochter, als Frau Poiret, die Gemüsehändlerin, die bei der Bank einiges zu erledigen gehabt hatte, um halb sechs Uhr nachmittags Zora Marthe, gefolgt von dem Weinhändler, aus dem Hotel »Goldener Löwe« in Maigny treten sah. Sie behielt diese wundervolle Entdeckung keineswegs für sich und schon eine Woche später erhielt Marthe einen anonymen Brief, der ihn benachrichtigte, daß er allerlei Interessantes erfahren könne, wenn er das nächste Mal, da seine Frau nach Maigny reisen würde, Herrn Bataille daselbst im Hotel »Goldener Löwe« aufsuchen wolle.

Ein unglücklicher Zufall hatte es noch gefügt, daß der Postbote, der diesen Brief zustellte, gerade an jenem Tage verspätet kam. Wäre er zur gewohnten Stunde gekommen, dann hätte Zora, die vorsichtshalber alle Briefe in Empfang nahm, dieses verhängnisvolle Schreiben vernichtet. Doch Marthe begegnete dem Boten vor dem Hause und übernahm selbst den Brief. Er öffnete und las ihn im Weiterschreiten, verstand nicht recht, was er mit diesen geheimnisvollen Andeutungen anfangen solle und steckte ihn in die Tasche. Ihm schien es ein abgeschmackter Scherz irgendjemandes, den Zora sich zum Feinde gemacht haben mochte. Bevor er bei Frau Allemand, wo er seine nächste Stunde zu geben hatte, eintrat, überlas er den Brief indes noch einmal. Sein Inhalt erschien ihm jetzt doch recht deutlich. Er zuckte mißmutig die Schulter. Zora würde wohl nicht mit fünfunddreißig Jahren aufhören eine ehrsame Gattin zu sein! Er beschloß, ihr mittags den Brief zu zeigen, sie würden beide darüber lachen.

Seiner Schülerin Nicolette fiel es diesmal auf, daß der Herr Professor recht zerstreut war.

Als er nach beendeter Stunde das Haus der Allemands verließ, stand es plötzlich wie eine Vision vor ihm: er sah Zora in den Armen Batailles, er sah ihre fiebernden, halbgeschlossenen Augen und er, der andere lag über sie gelehnt. – Das Bild war so deutlich, daß er hätte aufschreien mögen. Ein heftiger Blutandrang in sein Gehirn verdunkelte seinen Blick, in diesem Augenblicke wäre er zu einem Mord fähig gewesen . . . Doch das Bild verschwamm, er ernüchterte und tadelte sich wegen seines Mangels an Kaltblütigkeit. Und alles nur wegen einer anonymen Gemeinheit!

Mittags, als er nach Hause kam, zeigte er den Brief indes doch nicht seiner Frau. Unzählige Male an diesem Tage und an den folgenden Tagen versuchte er sich aufzuraffen und Zora das Schreiben vorzulegen. Doch je länger er zögerte, desto unmöglicher schien es ihm, dies zu tun. Wie hätte er ihr erklären können, warum er so lange geschwiegen hatte? Mußte dies nicht seine Zweifel deutlich erraten lassen? – Besser war es, dieses erbärmliche Papier zu vernichten.

Der Tag kam, an dem Zora, wie gewöhnlich, ihre Reise nach Maigny für den kommenden Morgen beschloß. Marthe begleitete sie zwischen zwei Stunden, die er zu geben hatte, zur Bahn und war vollkommen ruhig. Doch während er zu Hause allein sein Mittagsmahl verzehrte, traten neue Bilder erschreckend deutlich vor seine Augen. Er fühlte, daß es ihm unmöglich wäre, an diesem Tage in Valleyres zu bleiben. Hastig sandte er an die Schüler, die er erwartete, ein Wort der Entschuldigung und um vier Uhr nachmittags saß er im Zug, der ihn nach Maigny führte. Vierzig Minuten später war er am Ziel. Er frug nach dem Hotel »Goldener Löwe« und mit angstbeklemmtem Herzen schritt er in der angegebenen Richtung.

Es war ein trüber Herbsttag, feucht und warm, der einen Regen erwarten ließ. Mit einiger Mühe fand Marthe das Haus, das er suchte. Es war ein kleines Hotel, vier Fenster Front, in einer engen Straße, die auf einen Platz mündete. Er blieb davor stehen. Warum war er hierher gekommen? Jetzt erst wurde es ihm klar, daß er niemals den Mut aufbringen würde, die Glastüre dort drüben zu öffnen, um vom Portier eine Auskunft zu verlangen, die man ihm ja zweifellos verweigern würde. Was also sollte er tun? – Warten. Und er wartete.

Abenddämmern sank vom wolkenbedeckten Himmel nieder. Die Türe des Hotels öffnete sich und ein Junge entzündete die Gaslampe über den drei Stufen, die zum Eingang emporführten. Der Wind, der sich erhoben hatte, ließ die Flamme wild aufzucken und heulte kläglich über Dächer und Schornsteine. Langsam schritt Marthe den engen Fußsteig auf und ab. Regentropfen begannen auf ihn niederzufallen. Er suchte im Winkel eines vorspringenden Hauses, fast gegenüber dem Hotel, Schutz. Windstöße peitschten durch die Straße, immer heftigere Regenmassen durchnäßten seine Kleider. Kalte Feuchtigkeit drang bis an seinen Körper. Fröstelnde Schauer überliefen ihn. Doch er beachtete das Wetter kaum, mit zusammengepreßten Zähnen starrte er auf die leblos vor ihm stehende Fassade des Hotels. Kein einziges Fenster war beleuchtet – doch, jetzt brach plötzlich im dritten Stock ein Lichtschimmer aus zugezogenen Vorhängen. Marthes Züge spannten sich hart. Er zweifelte nicht mehr, daß sie dort oben sei, er fühlte sie dort hinter jenem Fenster in der reifen Üppigkeit ihres Körpers, als sähe er sie mit Augen. Wie hatte er sich nur einbilden können, daß ihre Schönheit ihm allein gehöre? Ihm, dem armseligen Schwächling, der kaum etwas zu geben hatte, den es nur nach ihrer Zärtlichkeit und Liebe verlangte! Sie stellte andere Anforderungen, sie war dazu berechtigt . . . Nicht lange aber hielten solche Gedanken bei ihm an. Allzu heftiger Schmerz beengte sein Herz. An die Reinheit der Frauen hatte er geglaubt, niemals hätte er an Zora gezweifelt! War denn wirklich er es, der gleiche Marthe, der so vertrauensselig gewesen, der sich jetzt hier in einen dunklen Winkel drückte, um nach einem Hotelfenster zu starren, hinter dem seine Frau sich den Zärtlichkeiten eines fremden Mannes überließ? Welcher Wahnsinn hatte ihn hierhergeführt? Was erwartete er?

Einen Augenblick dachte er daran, nach Hause zurückzukehren. Vielleicht saß seine verleumdete Frau ruhig im Kloster und unterhielt sich mit Athenais. – Und doch, die genauen Angaben des Briefes . . . So quälte er sich mit Zweifeln und Hoffnungen und schließlich kam er zu der Überzeugung, daß alles besser sei, als solche Ungewißheit. Er wollte bleiben, um die Wahrheit zu erfahren.

Die Uhr eines nahen Kirchturmes verkündete in gemächlichem Schlage halb sechs. Wenn Zora da war, dann mußte sie jetzt das Haus verlassen, um ihren Zug zu erreichen. »Wenn sie in einer Minute nicht erscheint,« sprach Marthe zu sich, »dann waren meine Zweifel grundlos, dann ist sie niemals hier gewesen.« Die Minute verfloß. Und Marthe gab eine zweite zu. Bei jeder weiteren Minute, die er noch wartete, wuchs die Hoffnung in seinem Herzen. Jetzt schlug es dreiviertel sechs. Eben wollte Marthe erleichtert und frohgemut seinen Posten verlassen, um den Weg nach der Bahn einzuschlagen, als das Licht im dritten Stock erlosch. Marthe bemerkte es, und das Blut, das angstvoll durch seine Pulse jagte, brachte ihn einer Ohnmacht nahe. Doch er nahm sich zusammen und drückte sich noch tiefer in seine Ecke. Eine Minute verging, von der jede Sekunde wie ein glühender Pfeil sein Herz durchbohrte, dann öffnete sich das Tor des Hotels und hellbeleuchtet von der Gaslaterne erschien Zora. Hinter ihr kam eilig Bataille. Arm in Arm gingen sie die Straße hinunter, auf der ihr roter Hut im Abenddunkel entschwand.

Unbeweglich blickte Marthe ihnen nach, bis er sich plötzlich dessen bewußt wurde, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. Gedankenlos, ziellos begann er durch die Straßen zu irren. Schließlich fand er sich auf einem hellerleuchteten Platz und in der Spiegelscheibe eines Kaffeehauses erblickte er die fahle Blässe seines Gesichtes. Seine Augen glühten im Fieber, ein unaufhörliches Zittern ging durch seinen Körper. Er trat ein und ließ sich einen Glühwein geben. Der ungewohnte Alkohol stieg ihm sofort zu Kopfe. Bilder und Gedanken, die er nicht festzuhalten vermochte, jagten in tollem Wirbel durch seinen Geist.

Ein feuchter, fauliger Geruch stieg aus seinen durchnäßten Kleidern auf. Marthe fühlte einen Schüttelfrost, er trank einen zweiten Glühwein, sein Kopf fiel vornüber auf die Tischplatte und er schlief ein. »Er ist vollständig betrunken,« meinte der Kellner, der ihn beobachtete, zur Kassiererin. Um acht Uhr ging er zu dem sonderbaren Gast, um ihn aufzurütteln. Marthe erhob mühsam und verwirrt den Kopf, wie ein Pfeifen drang ihm der Atem aus der Brust, rote Flecke standen auf seinen Wangen, mit verstörten Blicken betrachtete er den Kellner, er zahlte verwirrt den Betrag, den dieser nannte, und ging davon.

Es regnete immer noch. Marthe beachtete dies nicht. Er war keines Gedankens fähig. Nach zwanzig Minuten kam er endlich todmüde zum Bahnhof und schlief sofort ein, nachdem er den Zug bestiegen hatte. Ein Fleischer aus Valleyres, der im gleichen Abteil saß, weckte ihn, als es Zeit zum Aussteigen war. Wie im Traume schleppte Marthe sich seiner Wohnung zu. Der eisige Wind zwang ihn öfters, stehenzubleiben. Einmal mußte er sich sogar an einen Laternenpfahl stützen. Der einzige Gedanke, der ihn vorwärtstrieb, war der Wunsch, sich so rasch als möglich in seinem Bette ausstrecken zu können, um dieses schmerzende, stechende Pochen des Blutes in seiner Brust zum Schweigen zu bringen. Endlich war er vor seinem Hause, angeklammert an das Geländer schleppte er sich keuchend von Stufe zu Stufe hinauf, seine zitternde Hand öffnete die Wohnungstüre, er durchquerte das Vorzimmer und betrat den Salon.

Zora, die auf dem Diwan eingeschlummert war, fuhr auf. Ihr Mann stand in der Tür, sein verstörter Blick starrte nach ihr, dampfende Nässe troff aus seinen Kleidern, bis zu den Knien war er mit Kot bespritzt . . . Erschreckende Blässe lag auf seinen Zügen, nur grelle, rote Flecke glühten auf seinen hervorstehenden Backenknochen. Von wo konnte er in solchem Zustande, zu so später Stunde heimkommen? Was wußte er? – Um sich besser verteidigen zu können, begann sie, ihm Vorwürfe zu machen. Doch schon die ersten Worte erstarben auf ihren Lippen. Marthes Augen verließen sie nicht, aber ihr Blick, im Fieber glühend, war der eines Irren.

»Was ist mit dir, Louis?«

Marthe, der sich an der Lehne eines Fauteuils gehalten hatte, wollte auf seine Frau zugehen. Er ließ die Stütze los, doch er hatte seine Kräfte überschätzt. Er verlor das Gleichgewicht, er schwankte, stürzte ohnmächtig zu Boden.

 

Lange Wochen war der kleine Marthe schwer krank.

Von der ersten Zeit blieben ihm nur dunkle, zusammenhanglose Bilder. Ein großes Bett in einem ruhigen, hellen Zimmer, alles ringsum still . . . Unaufhörliche, schmerzende Hustenanfälle . . . Ein fader Geschmack auf der Zunge wie von Blut . . . Und quälende Fieberphantasien, die wie ein schwerer Druck auf ihm lasteten. Dann kamen lichte Augenblicke. Er erkannte Zora, die neben seinem Bett saß, der junge Doktor Barbeau neigte sich über ihn, horchte ihn ab . . .

Nach drei Wochen endlich schien die Krise vorüber. Zora pflegte ihn hingebungsvoll. Aus den Sätzen, die er in seinem Fieber hervorgestoßen hatte, wußte sie nun, daß Marthe ihr nach Maigny gefolgt war und daß er sie am Arme Batailles aus dem Hotel hatte kommen sehen. Und verwundert frug sie sich, wieso er eine Sache, die ihr selbst doch so unwesentlich schien, so tragisch hatte nehmen können. War doch ihr armer Mann schon seit nahezu zehn Jahren kaum mehr als ein Bruder . . . Geschah ihm ein Unrecht, wenn sie außer Hause Befriedigung ihrer berechtigten Ansprüche suchte, die er selbst ihr nicht mehr zu geben vermochte? Schließlich war es ganz gut so, jetzt wenigstens blieb das Verhältnis von ihr zu ihm endgültig klargestellt. Die Erkrankung ersparte weitere Auseinandersetzungen . . .

Mit den Kräften, die Marthe langsam wiederkehrten, kam auch die Erinnerung. Waren die furchtbaren Stunden vor dem Hotel in Maigny doch kein Traum gewesen? Er mußte wohl mit seiner Frau sprechen! Doch er fühlte sich so entsetzlich müde, von Tag zu Tag schob er es auf. Auch bedrückte ihn die Gegenwart mit nicht minder schweren Sorgen. Woher sollte er Ersatz für die großen Kosten seiner langen Krankheit schaffen? Seit Jahren schon hatte er keine Ersparnisse zurücklegen können, blieb denn überhaupt noch etwas von seinem früheren Besitz? Zora beruhigte ihn. Gab es denn nicht gute Freunde? Bald würde er seine Stunden wieder aufnehmen und alles in den gewohnten Gang kommen. Und sie mühte sich ihm begreiflich zu machen, wie töricht es sei, alles so schwer zu nehmen, die nebensächlichsten Dinge in Tragödien zu verwandeln . . .

Marthe hörte ihr schweigend zu. Er war von der Aufopferung, mit der sie ihn pflegte, gerührt. Sie verließ sein Krankenbett nicht, sie setzte ihm seine Lieblingsspeisen vor, sie gab ihm alten Bordeaux zu trinken, der nach Veilchen duftete . . . Er suchte sich einzureden, daß seine Frau, ohne daß eine Aussprache nötig war, begriffen habe, was er ihr hatte sagen wollen und daß die Mühe, die sie sich gab, ihrer Reue entsprang. Er suchte sich zu überzeugen, daß sie ihre Beziehungen zu Bataille abgebrochen habe und daß sie wieder die treue Gattin geworden sei, die sie ihm früher immer gewesen war.

An einem Dezembertage wurde Marthe durch das Geräusch von Stimmen aus dem Nebenzimmer aus seinem leisen Mittagsschlummer geweckt. Er glaubte den kräftigen Baß Vertots, des Hausbesitzers, zu erkennen. Was mochte der bloß wollen? Marthe erinnerte sich nicht, ihn jemals in seiner Wohnung gesehen zu haben. Er lauschte angestrengt und hörte deutlich Zoras Stimme: »Nein, nein, heute geht es nicht.« Die Männerstimme übertönte die ihre, ersticktes Kichern folgte, dann ein »Pst!«, das Zufallen einer angelehnt gewesenen Türe und lange Stille. Endlich hörte Marthe, wie die Wohnungstüre geöffnet und wieder geschlossen wurde und einen Augenblick später trat Zora in sein Zimmer, offensichtlich peinlich berührt, ihn wach zu finden und seinen fragenden Blicken zu begegnen.

»War das Herr Vertot?«

»Ja, er kam, um sich nach deinem Befinden zu erkundigen.«

»Ist er auch früher schon hier gewesen?« Marthe atmete nur mühsam.

»Aber natürlich. Er hat sehr viel Teilnahme für deine Krankheit gezeigt.«

»Du sagtest mir nie etwas davon.«

»Ach, das ist doch so belanglos.«

Marthe schwieg. Eingesunken in seine Polster überlegte er. Man sah von seinem Kopf nur die gewölbte Stirn, die schütteren Haare seines Scheitels und die grübelnden, traurigen Augen.

 

Marthe vermochte seine Stunden wieder aufzunehmen. Keine seiner Schülerinnen hatte ihn verlassen, doch während des ganzen Monates Januar konnte er nur bei sich zu Hause Unterricht erteilen; denn er war zu schwach, um länger als eine Stunde – am Arme seiner Frau – auszugehen.

 

Bei seinem ersten Spaziergang an einem sonnigen Tage, da er langsamen Schrittes, auf seine Frau gestützt, durch die Hauptstraße ging, war seine einzige Sorge, im Blicke jedes Vorbeikommenden zu lesen, was er wohl von dem Verrat seiner Frau wüßte . . . Plötzlich trat Bataille aus einer Seitengasse. Zora fühlte das Zittern, das ihren Mann überlief. Herr Bataille aber zeigte keinerlei Befangenheit. Er beeilte sich, Marthes Hand zu schütteln und seiner Freude Ausdruck zu geben, daß er wieder so weit hergestellt sei. Marthe dankte müde.

»Das ist ein guter Freund,« sprach Zora, als Bataille weitergegangen war, »ihm verdanken wir auch den alten Bordeaux, der dir so wohlgetan hat.« Marthe gab keine Antwort und blieb bis zum Abend grübelnd in sich gekehrt.

Zora, die bis dahin auf dem Diwan geschlafen hatte, überraschte ihren Mann an diesem Tage damit, daß sie wieder das gemeinsame Ehebett bezog. Doch als sie sich an seiner Seite ausstreckte, wich Marthe erschrocken zurück. Er mußte an den anderen denken, der diesen gleichen entkleideten Körper neben sich gefühlt hatte und ein namenloser Ekel überfiel ihn. Er machte sich ganz klein und drückte seine Nase gegen die Wand, als ob er schon schliefe. Zora stieß ihn ein wenig mit dem Ellbogen, um ihn zu wecken. Er rührte sich nicht. Erstaunt beugte sie sich über ihn und sah, daß seine Augen weit offenstanden.

»Ja, was denn,« verwunderte sie sich, während sie ihn streichelte. Marthe rührte sich nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt, quälende Bilder von seiner Frau und Bataille standen vor seinen Augen.

Sie streichelte ihn immerwährend, mütterlich, mit leichtem, freundlichem Klopfen auf seine Schulter. Ihr Duft, jener altgewohnte Duft, der ihm die Erinnerung an die Zeit vor seiner Ehe zurückrief, erreichte ihn. Ja, es war die Zora von damals, wieviel hatte er um sie leiden müssen!

Er bemühte sich seine Fassung zu bewahren, doch seine schmerzlichen Gefühle übermannten ihn und als sie wiederholte: »Ja, was gibt es denn . . .?« kehrte er sich zu ihr, verbarg seinen Kopf an ihrer Brust, schmiegte sich an sie und verzweifeltes Schluchzen schüttelte seinen Körper.

Zora bemühte sich, ihn zu beruhigen, den Grund seiner Erregung zu erfahren, doch Marthe vermochte nicht zu sprechen. Endlich schlief sie ein und er weinte noch lange still vor sich hin. – Hatte sie nun begriffen? frug er sich.

 

Marthe war wieder genesen. Er hüstelte wohl immer noch, doch dies war man ja schon seit Jahren an ihm gewöhnt. Er gab seine Stunden wieder außer Hause und auch seine Frau begann ihr gewohntes Leben wieder aufzunehmen.

Einmal, gegen Ende Januar, reiste sie nach Maigny, um ihre Tochter Athenais, die einen Monat Ferien gehabt hatte, dahin zurückzubegleiten. Diese Fahrt schien so selbstverständlich, daß Marthe es nicht wagte, sich dagegen aufzulehnen. Doch der Tag, an dem er Zora in der Stadt wußte, verlief ihm in qualvoll peinigenden Stunden.

Seitdem er krank gewesen, verursachte ihm der Einbruch der Nacht stets beklemmende Unruhe. Wenn man auf den Straßen die Laternen anzuzünden begann, durchlief ihn ein Schauer. Dann stand er immer, die Stirn an die Scheiben gepreßt, und starrte unbeweglich auf die zuckenden Gasflammen. Zora pflegte ihn, ohne die Erinnerungen zu ahnen, denen er nachhing, sanft vom Fenster wegzuziehen und in seinen Lehnstuhl nahe dem Kamin zu drücken. Und er ließ es demütig, willenlos geschehen.

An jenem Tage, da Zora in Maigny war, hielt er sich vom Fenster fern. Er hatte Furcht vor seinen eigenen Gedanken und wollte die Gasflammen auf der Straße nicht sehen. Er setzte sich ins Schlafzimmer, das auf den Hof ging und nahm ein Buch. Doch schon nach wenigen Minuten legte er es, außerstande ihm Aufmerksamkeit zu schenken, beiseite. Unaufhörlich sah er eine düstere Straße vor sich, durch die der Wind pfiff und drei Stufen im hellen Licht einer darüberhängenden Gaslaterne . . . Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Herz hämmerte unruhig. Vor sich, in der Spiegelscheibe des Schrankes seiner Frau, begegnete er dem kummervollen, ruhelosen Blick seiner eigenen Augen. Das bleiche, zuckende Gesicht, das ihm der Spiegel zurückwarf, wurde ihm bald unerträglich. Er erhob sich und öffnete die Türe des Schrankes. Ein leichter Duft stieg daraus auf und erfüllte das Zimmer. Marthe senkte seinen Kopf, um diesen so vertrauten Duft in tiefen Zügen einzuatmen. Als er sich wieder aufrichten wollte, bemerkte er rückwärts in einem der Fächer, halbverborgen unter der Wäsche, die kleine Kassette aus Olivenholz, die seine Frau mit ihren wenigen Habseligkeiten aus Algier mitgebracht hatte. Ihr Anblick beschwor alte Erinnerungen herauf . . . an jene ferne Zeit, da Zora als junges, unschuldsvolles Mädchen bei seinen alten Freunden eingezogen war, an die schönen, längst entschwundenen Tage seiner ersten Bekanntschaft mit ihr, an die friedlichen Abende im traulichen Gespräche mit den beiden Fleuriots. Er nahm die Kassette zärtlich in die Hand, um sie näher zu besehen, da fiel der kleine goldene Schlüssel, den Zora stets an einer Kette um den Hals getragen hatte, zu Boden.

Gedankenlos hob er ihn auf, gedankenlos öffnete er die Kassette. Obenauf lag ein kleines verwelktes Sträußchen weißer Blumen von einer Art, wie man sie nur in fernen Ländern kennt. Darunter fanden sich, mit einem rosa Band zusammengehalten, ein paar Briefe. Marthe begann zu lesen. Es waren Liebesbriefe, von plumper Hand unorthographisch geschrieben. Alle begannen sie mit der Anrede: »Mein kleines Weib!« Sie erzählten von den unvergeßlichen Freuden durchküßter Nächte, sie erinnerten an die getauschten Liebesschwüre, sie trösteten über eine unvermeidliche Trennung, die nur wenige Monate dauern sollte und sie versprachen eine baldige Rückkehr zur vereinbarten gemeinsamen Flucht nach Oran . . . Jeder dieser Briefe war kurz, eintönig, ohne großen Wortreichtum und mehr herrisch, als verliebt. Marthe las sie mit wachsendem Staunen. An wen mochten sie gerichtet gewesen sein? Wie waren sie in Zoras Besitz gelangt? Warum wohl hatte Zora sie aufbewahrt? Als Unterschrift fand sich auf allen Briefen: »Dein Paolo.« Marthe suchte nach einem Datum. Es stand auf einem der letzten Briefe: er war im Frühjahr jenes Jahres geschrieben, in dessen Herbst das junge Mädchen nach Valleyres gekommen war. Erregt forschte Marthe weiter. Und plötzlich stieß er einen tiefen Seufzer aus. Am Ende des vierten Briefes stand als letzter Satz: »Meiner kleinen, in Ewigkeit angebeteten Zora die innigsten Küsse von ihrem Paolo.« –

Als Zora abends nach Hause kam, erzählte sie ihm angeregt von ihrer Reise, von Athenais, die fröhlich ihre Freundinnen begrüßt, von der Buchhändlerin, die sie in der Stadt getroffen hatte und mit der sie die ganze Zeit beisammen gewesen war . . . Marthe hörte kaum hin . . . Wozu auch? Wußte er denn nicht, daß sie log? Daß sie immer schon gelogen hatte?

 

Seit seiner Genesung war Marthe immer stiller und schweigsamer geworden. Als schien er von Gedanken bedrückt, die allzuschwer waren, um sich in Worte fassen zu lassen. Scheu wich er allen Menschen aus, seine Augen waren stets zu Boden gerichtet, er wählte nur enge Seitengassen, in denen wenig Passanten zu treffen waren, und wenn er außerhalb der Stadt Stunden zu geben hatte, vermied er die Landstraße und suchte Pfade quer durch das Land, auf denen er der einzige Wanderer blieb.

Eines Tages, als er von den Barbeaus kommend durch die Weingärten der Stadt zuschritt, kam er an das Ufer der Ourche. Er blieb einen Augenblick stehen. Der Fluß zog zwischen den kahlen Ufern der Winterlandschaft lautlos dahin. Wie leblos ragten die dürren Zweige der Bäume in den grauen Himmel, die schmucklosen Äste spiegelten sich in den Fluten. Tiefe, wohltuende Ruhe lag über der glanzlosen, trüben Landschaft. Marthe ging bis hart an das Ufer des Flusses und sah auf das Wasser, das in gleichmäßigem, fast unsichtbarem Lauf vorbeizog. Wie feierlich und erhebend war seine Stille!

Plötzlich schreckte Marthe zusammen, er wich zwei Schritte zurück und bedeckte seine Augen mit der Hand, als wollte er sie verhindern, noch länger dort hinabzusehen, als wollte er eine allzu deutliche Vision, die vor ihm erstanden war, verscheuchen, eine Vision Sorgen enthebender Ruhe, deren unwiderstehliche Kraft er auf sich eindringen fühlte. So rasch es ihm sein mühsamer Atem erlaubte, eilte er der Stadt zu, und erst als er die Häuser von Valleyres erreicht hatte, atmete er befreit auf.

An jenem Abend fand er lange keinen Schlaf.

Am nächsten Morgen ging er zum Herrn Pfarrer, der ihn immer mit seiner Freundschaft beehrt hatte, um zu beichten. Als er die Kirche verließ, fühlte er sich ein wenig ruhiger.

Doch in Zoras Gegenwart erwachten immer wieder die Gedanken in ihm, denen zu entfliehen er sich mühte. Sie war milde, ja zärtlich, doch jede Berührung erweckte in ihm eine unüberwindliche Auflehnung. In der Nähe ihres Körpers, an dem andere Männer ihre Lust gestillt hatten, fühlte er einen Ekel, den er nicht zu bekämpfen vermochte.

Am nächsten Dienstag kündete Zora ihren gewohnten Besuch bei ihrer Tochter an; Marthe erwiderte nichts.

Erst abends, als sie schon zur Ruhe gegangen waren, verfiel Marthe in einen so heftigen nervösen Weinkrampf und flehte seine Frau so angstvoll an, ihre Reise aufzugeben, daß sie, um ihn zu beruhigen, seinem Wunsche entsprach. Indessen überlegte sie, daß dieser Zustand doch auf die Dauer unmöglich sei und sann über Mittel, die es ihr ermöglichen sollten, nach Maigny zu gelangen. – Einige Tage später langte ein Brief von Athenais an, in dem sie mitteilte, daß sie sich gar nicht wohl fühle und den ausgebliebenen Besuch ihrer Mutter forderte. Marthe las den Brief mit verstörter Miene und machte keinerlei Bemerkung dazu.

Lange betete er an diesem Tage in der Kirche, am nächsten Morgen reiste Zora in die Stadt.

Mechanisch erledigte Marthe seine Stunden. Als er um dreiviertel fünf das Haus seiner letzten Schülerin verließ, begann es zu dunkeln. Marthe schlug den Kragen seines Mantels in die Höhe und schritt, auf seinen Schirm gestützt, in tiefe Gedanken versunken, dahin. Als er sich atemschöpfend im Park umwandte, sah er in der Ferne Lichter im abendlichen Dunkel aufblitzen. »Jetzt zündet man die Gaslaternen in Maigny an,« murmelte er vor sich hin und während er seinen Weg fortsetzte, wiederholte er immer wieder gedankenlos die gleichen Worte.

Mit gesenktem Kopf schritt er immer weiter. Da wuchs zwischen der Straße und ihm plötzlich ein düsteres Bild. Er sah ein dürftiges Hotelzimmer, ein breites Bett, in dem ein Mann lag, von dem man im Halbdunkel nur die funkelnden Augen und den starken Schnurrbart unterschied. Vor dem Kamin, in dem ein helles Feuer brannte, entkleidete sich ein Weib. Ihr Gesicht hielt sie abgewandt, Marthe konnte es nicht erkennen. Langsam fiel eine Hülle nach der anderen von ihrem üppigen Körper, nur das Hemd hatte sie noch an. Im Hintergrund leuchteten die Augen des Mannes, wie die Lichter eines gierigen Raubtieres. Als das Weib sich umwandte, um dem Bett zuzuschreiten, zeigte sie ihr Antlitz. Marthe erkannte Zora. Auch ihre Augen glühten jetzt in teuflischem Feuer.

Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, er blieb stehen und ließ mit müder Geste seine Hand über die Augen streichen. – Die Vision entschwand, und zu sich gekommen fand er sich, umherblickend, an den Ufern der Ourche.

Es war fast Nacht. Das Wasser strömte schimmernd, lautlos unter den gespenstisch in die Luft ragenden Ästen dahin. Wieder fühlte Marthe, wie vor zwei Wochen, die feierliche Ruhe, mit der ihn der Fluß anzog. Hier, zwischen den düsteren, verlassenen Ufern gab es einen Frieden, der ihn den Fieberträumen seines Lebens entriß . . .

Liebevoll empfing der stille Fluß den kleinen Marthe. Er umspülte seine Beine, seinen Körper, er stieg bis an seinen Hals und beim nächsten Schritt küßte sein Wasser Marthes bleiche Lippen. Marthe ging immer weiter. Plötzlich schwand der Boden unter seinen Füßen, er reckte die Arme gegen den Himmel, er versank, tauchte noch für einen Augenblick an die Oberfläche, stieß einen gellenden Schrei aus und verschwand.

 

Gott aber wollte nicht, daß der kleine Marthe mit einer Todsünde beladen vor ihm erscheine.

Justin Frappard, der Fährmann, befand sich eben auf dem Wege in die Stadt, als Marthes Schrei die nächtliche Stille zerriß, Er sah in der Nähe des Ufers einen dunklen Fleck unter der Wasseroberfläche, fluchte, und sprang ohne zu überlegen in den Fluß. Er brachte den schmächtigen Körper des Klavierlehrers ans Land und begann ihn, trotzdem Marthe ganz einer Leiche glich, abzureiben. Auf einem zufällig vorüberfahrenden Bauernwagen brachten sie den Geretteten eiligst in die Stadt.

Doktor Barbeau, der junge Arzt, erkannte die wundervolle Möglichkeit, sich durch Wiederbelebung dieses Toten einen Namen zu machen. Lange blieb seine Mühe vergeblich, kein Pulsschlag war in Marthe zu erwecken, als widersetzte sich der Arme seiner Rückkehr zu neuer Qual. Doch der Arzt gab seine Hoffnung nicht auf. Und endlich, nach zwei Stunden aufreibendster Arbeit, konnte er mit Genugtuung das Leben in den Unglücklichen zurückkehren sehen, der es von sich werfen wollte. Doktor Barbeau war am Ende seiner Kräfte, doch er hatte gesiegt. Valleyres enttäuschte ihn nicht in seinen Erwartungen, man pries seinen Erfolg wie ein Wunder und von diesem Tage ab begann der Stern des alten Doktor Maigret zu verblassen.

Marthe lebte, wenn man sein Dasein, fiebergepeinigt, von Kummer und Reue unterwühlt, Leben nennen konnte. Erst im April durfte er sein Bett verlassen. Doch man konnte ihn nicht bestimmen auszugehen.

Seine Frau hatte wieder ihr gewohntes Leben begonnen, Marthe war gegen alles gleichgültig und teilnahmslos. Eines Abends, als sie ausgegangen war, stand er noch nach Sonnenuntergang am offenen Fenster. Die feuchte Abendkühle durchdrang ihn, er verfiel einem neuen Leiden. Nur eine halbe Lunge blieb ihm nach dieser Krise, die die letzte war. Selbst Doktor Barbeau war nicht mehr imstande, in diesem armseligen, verfallenen Leib das Leben zurückzuhalten.

Man rief den Herrn Pfarrer, der in Begleitung eines Chorknaben erschien, um die heiligen Sterbesakramente zu spenden. Marthe entschlief auf immer. –

 

Ein Jahr später wurde Frau Marthe, dank des Einflusses von Herrn Bataille, eine Trafik in Maigny verliehen. Da sie nicht mehr zu den Jüngsten zählte, stand ihre Tochter Athenais ihr zur Seite, die es, von der Mutter beraten, verstand, zahlreiche ausgewählte Kunden heranzuziehen.



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