Hans Christian Andersen
Bilderbuch ohne Bilder
Hans Christian Andersen

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Es ist seltsam! wenn ich am wärmsten und tiefsten fühle, ist es, als ob mir Hände und Zunge gebunden wären; ich kann es nicht so wiedergeben, nicht so aussprechen, wie es in mir lebendig ist; und doch bin ich Maler, das sagt mir mein Auge, das haben alle anerkannt, welche meine Skizzen und Bilder sahen.

Ich bin ein armer Bursche, ich wohne drüben in einer der engsten Gassen, aber das Licht fehlt mir nicht, denn ich wohne hoch droben, mit der Aussicht über alle Dächer. Die ersten Tage, als ich in die Stadt hereingekommen, war es mir so eng und einsam; statt des Waldes und der grünen Hügel hatte ich jetzt nur die grauen Schornsteine als Horizont. Nicht einen Freund besaß ich hier, nicht ein bekanntes Gesicht grüßte mich.

Eines Abends stand ich recht betrübt an meinem Fenster, ich öffnete es und sah hinaus. Nein, wie ich da froh wurde! Ich sah ein Gesicht, das ich kannte, ein rundes, freundliches Gesicht, meinen besten Freund von fern aus der Heimat: es war der Mond, der liebe, alte Mond, unverändert derselbe, gerade wie er aussah, als er dort zwischen den Weiden am Moor zu mir hereinschaute. Ich warf ihm Kußhände zu und er schien gerade in mein Zimmer herein und versprach, daß er jeden Abend, wenn er ausgehe, ein wenig zu mir hereinsehen wolle; das hat er auch seitdem ehrlich gehalten. Schade, daß er nur so kurz bleiben kann. Jedesmal, wenn er kommt, erzählt er mir das eine und andre, was er die Nacht zuvor oder am selben Abend gesehen. »Male nun das, was ich erzähle,« sagte er bei seinem ersten Besuch, »dann wirst du ein recht hübsches Bilderbuch bekommen.« Das habe ich denn seit vielen Abenden getan. Ich könnte in meiner Art eine neue »Tausendundeine Nacht« in Bildern geben, aber das wäre doch zu viel; die, die ich gebe, sind nicht ausgewählt, sondern folgen aufeinander, wie ich sie gehört; ein großer, genialer Maler, ein Dichter oder Tonkünstler mag mehr daraus machen, wenn er will; was ich zeige, sind nur flüchtige Umrisse auf dem Papier und dazwischen meine eignen Gedanken, denn der Mond kam nicht jeden Abend, zuweilen schob sich eine Wolke, wohl auch zwei dazwischen.

 

Erster Abend.

»In der vergangenen Nacht,« das sind des Mondes eigne Worte, »glitt ich durch Indiens klare Luft und spiegelte mich im Ganges: meine Strahlen suchten durch das dichte Geflecht der alten Platanen zu dringen, das sich wie eine Schildkrötenschale wölbte. Da kam aus dem Dickicht ein Hindumädchen, leicht wie die Gazelle, schön wie Eva; es war etwas so Luftiges, und doch wieder eine so üppige Lebensfülle in dieser Tochter Indiens! Ich konnte die Gedanken durch die feine Haut sehen; die dornigen Lianen zerrissen ihre Sandalen, und doch schritt sie rasch voran; das Raubtier, das vom Flusse kam, wo es seinen Durst gelöscht, sprang scheu vorüber, denn das Mädchen hielt in der Hand eine brennende Lampe; ich konnte das frische Blut in den feinen Fingern sehen, die sie zum Schutz vor die Flamme hielt. Sie näherte sich dem Flusse, setzte die Lampe auf die Strömung und die Lampe schwamm hinab; die Flamme flackerte, als wenn sie verlöschen wollte, aber sie brannte doch, und des Mädchens schwarze, funkelnde Augen hinter den langen Seidenfransen der Wimper folgten ihr mit einem seelenvollen Blicke; sie wußte, daß, brannte die Lampe solange sie sie sehen konnte, ihr Geliebter noch lebe. Erlosch sie aber, so war er tot. Und die Lampe brannte und flackerte und ihr Herz flammte und zitterte; sie sank auf die Knie und betete; neben ihr im Grase lag die feuchtkalte Schlange; aber sie dachte nur an Brahma und ihren Bräutigam. »Er lebt!« jubelte sie und von den Bergen widerhallte es: »er lebt!«

 

Zweiter Abend.

»Es war gestern,« erzählte mir der Mond, »da schaute ich hinab in einen kleinen Hof, der von Häusern umschlossen war; da lag eine Henne mit elf Küchlein; ein hübsches kleines Mädchen sprang um sie her. Die Henne gluckte und breitete erschrocken ihre Flügel über die kleinen Jungen aus. Da kam des Mädchens Vater, er schalt, und ich glitt weiter, ohne ferner daran zu denken. Heute abend jedoch, es ist nur wenige Minuten her, sah ich wieder in denselben Hof hinab. Da war es ganz stille, aber bald kam das kleine Mädchen, schlich sich leise hin zum Hühnerhaus, schob den Riegel zurück und schlüpfte zu der Henne und den Küchlein hinein; diese schrien laut und flatterten umher, die Kleine lief ihnen nach, ich sah es deutlich, denn ich schaute durch eine Lücke in der Mauer. Ich wurde ganz zornig auf das böse Mädchen und freute mich, als der Vater kam und noch heftiger als gestern schalt, und sie am Arme faßte. Sie beugte den Kopf zurück und große Tränen standen in den blauen Augen. ›Was machst du hier?‹ fragte er. Sie weinte. ›Ich wollte hinein,‹ sagte sie, ›um die Henne zu küssen und sie wegen gestern um Verzeihung zu bitten, ich wagte nicht, es dir zu sagen!‹ Und der Vater küßte die süße Unschuld auf die Stirne; und ich küßte sie auf Augen und Mund.«

 

Dritter Abend.

»In der engen Gasse hier dicht nebenan – sie ist so schmal, daß ich nur eine Minute meine Strahlen an des Hauses Mauern niedergleiten lassen kann, aber in dieser Minute sehe ich genug, um die Welt zu kennen, die sich hier bewegt – sah ich eine Frau. Vor sechzehn Jahren war sie ein Kind; draußen auf dem Lande in dem Pfarrhofgarten spielte sie; die Rosenhecken waren alt und ganz abgeblüht; sie wucherten draußen im Gange und schossen lange Zweige hinauf bis in die Apfelbäume; nur da und dort saß noch eine Rose, zwar nicht schön, wie es die Königin der Blumen doch sein kann, aber die Farben waren da, der Duft war da. Des Pfarrers kleine Tochter schien mir eine weit schönere Rose; sie saß auf ihrem Schemel unter der wildwachsenden Hecke und küßte die Puppe mit den eingedrückten Wangen von Pappe. Zehn Jahre später sah ich sie wieder; ich sah sie in dem prächtigen Ballsaal, sie war des reichen Kaufmanns schmucke Braut; ich freute mich über ihr Glück, ich suchte sie an stillen Abenden auf. Ach, niemand denkt an meine hellen Augen, meinen sichern Blick! Meine Rose trieb auch wilde Schößlinge, wie die Rose im Pfarrhofgarten! Das Alltagsleben hat auch seine Tragödie; heute sah ich den letzten Akt. In der engen Gasse, todkrank lag sie auf dem Bett, und der böse Hauswirt, ihr einziger Schutz, riß ihr roh und kalt den Teppich weg und sagte: ›Steh auf! deine Wangen verscheuchen die Leute, putze dich! Schaffe Geld oder ich werfe dich auf die Straße, rasch, steh auf!‹ – ›Der Tod wühlt in meiner Brust!‹ sagte sie, ›o laß mich ruhen!‹ Aber er riß sie heraus, malte ihre Wangen, flocht Rosen in ihr Haar, setzte sie ans Fenster, das brennende Licht dicht daneben und ging fort. Ich stierte sie an; sie saß unbeweglich, die Hand fiel ihr in den Schoß. Das Fenster schlug zurück, daß eine Scheibe zerbrach, aber sie saß still; die Gardine flatterte wie eine Flamme um sie, sie war tot. Von dem offenen Fenster predigte die Tote Moral – meine Rose vom Pfarrhofgarten!«

 

Vierter Abend.

»Ich war heute abend in der deutschen Komödie,« sagte der Mond, »es war in einer kleinen Stadt; ein Stallgebäude war in ein Theater umgewandelt worden; das heißt, die Stände waren geblieben, nur zu Logen herausgeputzt; alles Holzwerk war mit buntem Papier bezogen; unter der niedern Wölbung hing ein kleiner Eisenkronleuchter und damit dieser, wie in großen Theatern, hinaufgezogen werden konnte, wenn die Souffleurglocke ihr Klingeling ertönen ließ, war eine umgestülpte Tonne darüber eingemauert. ›Klingeling!‹ und der kleine Eisenkronleuchter machte einen Sprung von einer halben Elle; nun wußte man, daß die Komödie begann. Ein junger Fürst mit seiner Gemahlin, die durch die Stadt reisten, wohnten der Vorstellung bei, und deshalb war das Haus gepfropft voll, nur unter dem Kronleuchter war es wie ein kleiner Krater. Hier saß nicht eine Seele, denn die Lichter tropften ›tropp! tropp!‹ Ich sah alles, denn es war so warm drinnen, daß sie alle Luken in der Wand hatten öffnen müssen und durch alle Luken sahen Burschen und Mädchen von außen hinein, obgleich die Polizei drinnen saß und mit dem Stocke drohte. Dicht am Orchester sah man das junge Fürstenpaar in zwei alten Lehnstühlen; in diesen pflegten sonst der Bürgermeister und seine Frau Platz zu nehmen. Heute abend mußten sie aber auf den Holzbänken sitzen, wie die andern Bürgersleute. ›Da kann man sehen, daß ein Habicht den andern vertreibt!‹ lautete der Frauen stille Bemerkung und alles wurde dadurch noch festlicher: der Kronleuchter hüpfte, der Pöbel bekam auf die Finger geklopft und ich – ja der Mond war mit bei der ganzen Komödie.«

 

Fünfter Abend.

»Gestern,« sagte der Mond, »sah ich auf das bewegte Paris herab, meine Augen drangen in die Gemächer des Louvre. Ein altes Großmütterchen, armselig gekleidet – sie gehörte zur Volksklasse – folgte einem aus der niedern Dienerschaft in den großen, leeren Thronsaal; diesen wollte sie sehen, müsse sie sehen. Es hatte sie manches kleine Opfer, viel Beredsamkeit gekostet, ehe sie bis hierher gelangt war. Sie faltete die magern Hände und sah sich feierlich um, als wenn sie in einer Kirche stände. ›Hier war es!‹ sagte sie, ›hier!‹ und sie näherte sich dem Throne, von welchem der reiche, goldverbrämte Samt herabhing. ›Da,‹ sagte sie, ›da!‹ und sie beugte ihre Knie und küßte den Purpurteppich – ich glaube, sie weinte. ›Es war nicht dieser Samt!‹ sagte der Diener, und es spielte ein Lächeln um seinen Mund. ›Aber hier war es doch!‹ sagte die Frau, ›so sah es hier aus!‹ – ›So,‹ antwortete er, ›und doch nicht so; die Fenster waren eingeschlagen, die Türen herabgerissen und Blut auf dem Boden. Sie kann doch sagen: Mein Enkel ist auf dem Throne Frankreichs gestorben!‹ – ›Gestorben!‹ wiederholte die alte Frau; ich glaube nicht, daß noch ein Wort gesprochen wurde; sie verließen auch bald den Saal, die Abenddämmerung brach herein und mein Licht bestrahlte doppelt hell den reichen Samt auf Frankreichs Thron. Wer glaubst du, daß die alte Frau war –? Ich will dir eine Geschichte erzählen. Es war in der Julirevolution, gegen Abend, an jenem glänzendsten Tage des Sieges, als jedes Haus eine Festung, jedes Fenster eine Schanze war; das Volk stürmte die Tuilerien. Frauen und Kinder sogar waren mitten unter den Kämpfenden; sie drangen in die Gemächer und Säle des Schlosses. Ein armer, kleiner Knabe in Lumpen kämpfte mutig zwischen den ältern Kriegern; tödlich verwundet von mehreren Bajonettstichen sank er zu Boden, es war im Thronsaale und man legte den Blutenden auf Frankreichs Thron und wickelte den Samt um seine Wunden; das Blut strömte über den königlichen Purpur. Welch ein Bild! Der prächtige Saal, die kämpfenden Gruppen! Eine zerbrochene Fahne lag auf dem Boden, die dreifarbige Flagge wehte auf den Bajonetten, und auf dem Thron der arme Knabe mit dem blassen, verklärten Gesicht, die Augen zum Himmel gerichtet, während die andern Glieder im Todeskampfe zuckten; seine nackte Brust, seine armselige Kleidung, und halb sie bedeckend die Draperie des reichen Samt mit den Silberlilien. An des Knaben Wiege war prophezeit worden: ›Er wird auf Frankreichs Thron sterben!‹ Das Mutterherz hatte von einem neuen Napoleon geträumt. Meine Strahlen haben den Immortellenkranz auf seinem Grabe geküßt, meine Strahlen haben in der Nacht die Stirn des alten Großmütterchens geküßt, als es träumte, und das Bild sah, das du hier zeichnen kannst: ›Der arme Knabe auf Frankreichs Thron!‹ «

 

Sechster Abend.

»Ich bin in Upsala gewesen!« sagte der Mond. »Ich sah hinunter auf die große Ebene mit dem dürftigen Grase und den unfruchtbaren Feldern. Ich spiegelte mich im Fyris, während das Dampfschiff die Fische zwischen das Schilf hineintrieb. Unter mir eilten die Wolken hin und warfen lange Schatten über Odins, Thors und Freyrs Gräber, wie man jene Hügel nennt. In dem dünnen Rasen über den Hügeln sind die Namen eingeschnitten. Hier ist kein Bautastein, in welchen der Reisende seinen Namen meißeln, keine Felsenwand, auf die er ihn malen lassen könnte; deshalb hat der Besuchende hier den Rasen ausschneiden lassen. Die nackte Erde scheint in großen Buchstaben und Namen hervor; sie bilden ein ganzes Netz, ausgespannt über die große Höhe; eine Unsterblichkeit, die ein neuer Rasen deckt. Dort stand ein Mann, ein Sänger, er leerte das Methorn mit dem breiten Silberring und flüsterte einen Namen. Er bat die Winde, ihn nicht zu verraten, aber ich hörte den Namen, ich kannte ihn, eine Grafenkrone funkelte darüber und deshalb nannte er ihn nicht laut; ich lächelte, eine Dichterkrone funkelte über ihm. Eleonore von Estes Adel hängt an Tassos Namen. Ich weiß auch, wo die Rose der Schönheit blüht –!«

Dies sagte der Mond, da ging eine Wolke vorüber. – Mögen keine Wolken sich zwischen den Dichter und die Rose drängen!

 

Siebenter Abend.

»Dem Strande entlang dehnt sich ein Wald aus mit Buchen und Eichen, so frisch und duftend; im Frühjahr wird er von Hunderten von Nachtigallen besucht; dicht dabei ist das Meer, das ewig wechselnde Meer, und zwischen beiden läuft der breite Sandweg hin. Ein Wagen nach dem andern rollt vorbei, ich folge ihnen nicht, mein Auge ruht am liebsten auf einem Punkt: hier ist ein Hünengrab; Brombeerranken und Schlehendorn wachsen zwischen den Steinen hervor. Hier ist Poesie in der Natur. Wie glaubst du, daß die Menschen sie auffassen? Nun, ich will dir erzählen, was ich dort nur am letzten Abend und in der Nacht hörte. Zuerst kamen zwei reiche Landleute gefahren. ›Das sind herrliche Bäume!‹ sagte der eine. ›Da gibt gewiß jeder zehn Fuder Brennholz!‹ antwortete der andre; ›der Winter wird streng; letztes Jahr bekamen wir vierzehn Taler für die Klafter!‹ und so ging es fort. ›Hier ist der Weg mal schlecht!‹ sagte ein andrer Fahrender. ›Das sind die verwünschten Bäume,‹ antwortete der Nachbar, ›es kann kein rechter Luftzug hier durch, außer von der Seeseite!‹ und so fuhren sie vorüber. Auch der Postwagen kam vorbei; alles schlief an der hübschesten Stelle; der Kutscher blies das Posthorn; aber er dachte nichts weiter als: ›Ich blase gut und hier klingt es recht hübsch; ob es ihnen wohl gefällt?‹ Und damit war der Postwagen vorüber. Da kamen zwei junge Bursche zu Pferd einhergesprengt. Hier ist Jugend und Champagner im Blut, dachte ich; sie sahen auch mit einem Lächeln auf den Lippen nach dem moosbewachsenen Hügel und das dunkle Gesträuch. ›Hier möchte ich mit Müllers Christine spazieren gehen!‹ sagte der eine und fort waren sie. Die Blumen dufteten sehr stark, jedes Lüftchen schlummerte, als wäre das Meer ein Teil des Himmels, der über das tiefe Tal gespannt war. Ein Wagen fuhr vorbei, sechs Personen saßen drin, vier schliefen, der fünfte dachte an seinen neuen Sommerrock, der ihn gut kleiden müsse, der sechste beugte sich zum Wagen heraus und fragte, ob etwas Merkwürdiges an dem Steinhaufen sei. ›Nein!‹ sagte der Kutscher, ›das ist ein Steinhaufen, aber die Bäume sind merkwürdig!‹ – ›Erzähle mir!‹ – ›Ja, sie sind sehr merkwürdig! sehen Sie, wenn im Winter der Schnee hoch liegt und alles wie eine Fläche aussieht, so sind die Bäume mir ein Merkmal, an das ich mich halten kann, daß ich nicht ins Meer hineinfahre; sehen Sie, darum sind sie merkwürdig!‹ und damit fuhr er weiter. Nun kam ein Maler, seine Augen funkelten, er sagte nicht ein Wort, er pfiff, die Nachtigallen sangen, die eine lauter als die andre. ›Halts Maul!‹ rief er und notierte sich ganz genau alle Farben und Tinten: ›Blau, Lila, Dunkelbraun! das wird ein herrliches Gemälde werden!‹ Er faßte es auf, wie der Spiegel das Bild auffaßt, und dabei pfiff er einen Marsch von Rossini. Zuletzt kam ein armes Mädchen, sie ruhte sich an dem Hünengrabe aus und setzte ihre Bürde ab; das schöne bleiche Antlitz beugte sich lauschend nach dem Walde, ihre Augen funkelten, als sie zum Himmel auf und über das Meer hin schaute. Die Hände falteten sich, ich glaube, sie betete ihr Vaterunser. Sie begriff selbst das Gefühl nicht, das sie durchströmte, aber ich weiß, noch nach Jahren wird manches Mal dieser Augenblick und die Natur ringsum weit schöner, ja treuer in ihrer Erinnerung stehen, als der Maler sie mit bestimmten Farben zu Papier brachte. Meine Strahlen folgten ihr, bis die Morgenröte ihre Stirn küßte!«

 

Achter Abend.

Es waren schwere Wolken am Himmel, der Mond kam gar nicht zum Vorschein; ich stand doppelt einsam in meiner kleinen Kammer und sah hinaus in die Luft, wo er hätte erscheinen sollen. Meine Gedanken flogen weit umher, hinauf zu meinem großen Freund, der mir jeden Abend so hübsch Geschichten erzählte und mir Bilder zeigte. Ja, was hat er nicht erlebt! Er segelte über der Sündflut Wasser und lächelte zur Arche hinab, wie jetzt zu mir und brachte Trost von einer neuen Welt, die hervorblühen würde. Als Israels Volk weinend an Babylons Wassern stand, schaute er wehmütig durch die Weiden, wo die Harfen hingen. Als Romeo auf den Balkon stieg und der Liebe Kuß wie der Gedanke eines Cherubs gen Himmel stieg, stand der Mond halb verborgen zwischen den dunkeln Zypressen in der durchsichtigen Luft. Er sah den Helden auf St. Helena, wenn er von dem einsamen Felsen über das Weltmeer hinausschaute, während große Gedanken seine Brust bewegten. Ja, was kann der Mond nicht alles erzählen! Das Leben der Welt ist ein Märchen für ihn. Heute abend sehe ich dich nicht, alter Freund! kann kein Bild zur Erinnerung an deinen Besuch zeichnen! – Und wie ich so träumend hinauf zu den Wolken sah, wurde es hell; es war ein Strahl des Mondes, aber er erlosch wieder; dunkle Wolken zogen vorüber, aber es war doch ein Gruß, ein freundlicher Abendgruß, den mir der Mond sandte.

 

Neunter Abend.

Es war wieder klare Luft; mehrere Abende waren verflossen, er stand im ersten Viertel; ich erhielt wieder die Idee zu einer Skizze – höre, was der Mond erzählte.

»Ich folgte dem Polarvogel und dem schwimmenden Walfisch nach Grönlands Ostküste; nackte Felsen mit Eis und Schnee umschließen ein Tal, wo Weiden und Heidelbeer in reicher Blüte standen; die duftende Lychnis verbreitete süßen Geruch; mein Licht war matt, meine Scheibe blaß wie der Wasserlilie Blatt, das seit Wochen, von seinem Stengel losgerissen, auf dem Wasser herumgetrieben; die Nordlichtkrone brannte, ihr Ring war breit, und die Strahlen gingen wie wirbelnde Feuersäulen über den ganzen Himmel hin und spielten in Grün und Rot. Die Nordländer sammelten sich zu Tanz und Lustbarkeit, aber sie staunten nicht, denn es war eine für sie gewohnte Pracht: ›Laßt die Seelen der Toten mit dem Haupt des Walrosses Ball spielen!‹ dachten sie nach ihrem Glauben und hatten nur Sinn und Auge für Gesang und Tanz. Mitten im Kreise stand, ohne Pelz, der Grönländer mit seiner Handtrommel und stimmte einen Gesang vom Seehundsfang an und der Chor antwortete: ›Eia, eia, a!‹ und hüpfte in seinen weißen Pelzen im Kreise herum; es sah aus wie ein Eisbärenball. Augen und Kopf machten die kühnsten Bewegungen. Nun begann Gericht und Urteilsspruch. Die, welche sich entzweit hatten, traten auf und der Beleidigte nannte aus dem Stegreif die Fehler des Gegners, keck und höhnisch, und alles unter Tanz zur Trommel; der Angeklagte antwortete ebenso schlau, während die Versammlung lachte und das Urteil zwischen ihnen fällte. Die Berge dröhnten, die Gletscher krachten, die großen stürzenden Massen lösten sich im Fall in Staub auf; es war eine grönländische schöne Sommernacht. Hundert Schritte davon, unter dem offenen Zelte aus Fellen, lag ein Kranker, noch strömte das Leben durch sein warmes Blut, aber er mußte doch sterben, denn er glaubte es selbst und alle rings umher glaubten es; deshalb nähte seine Frau bereits den Fellüberzug um ihn fest, um später den Toten nicht berühren zu müssen und sie fragte: ›Willst du auf dem Berge in den festen Schnee begraben werden? Ich werde die Stelle mit deinem Kajak und deinen Pfeilen schmücken! Der Angekok soll drüber hintanzen! Oder willst du lieber ins Meer versenkt werden?‹ – ›Ins Meer!‹ flüsterte er und nickte mit einem wehmütigen Lächeln. ›Das ist ein angenehmes Sommerzelt!‹ sagte die Frau, ›da springen Tausende von Seehunden, da schläft das Walroß zu deinen Füßen und die Jagd ist dort sicher und lustig!‹ Und die Kinder rissen heulend das ausgespannte Fell von dem Fenster, daß der Sterbende zum Meer geführt werden konnte, zum wogenden Meere, das ihm im Leben Nahrung gegeben, nun Ruhe im Tode. Sein Grabdenkmal wurden die schwimmenden Eisberge, die Tag und Nacht wechseln. Der Seehund schlummert auf der Eisscholle, der Sturmvogel fliegt drüber hin.«

 

Zehnter Abend.

»Ich kannte eine alte Jungfer,« sagte der Mond, »sie ging jeden Winter in einem gelben Atlaspelz, der immer neu war; denn er war ihre einzige Mode. Jeden Sommer trug sie denselben Strohhut und ich glaube, denselben blaugrauen Rock. Nur zu einer alten Freundin quer über der Gasse ging sie; aber im letzten Jahre tat sie es nicht mehr, denn die Freundin war tot. Verlassen arbeitete meine alte Jungfer hinter dem Fenster, wo den ganzen Sommer über hübsche Blumen standen und im Winter prächtige Kresse auf einem Hutfilze. Im letzten Monat saß sie nicht mehr am Fenster, aber sie lebte noch, das wußte ich, denn ich hatte sie die große Reise nicht machen sehen, von der sie und ihre Freundin so oft sprachen. ›Ja,‹ sagte sie dann, ›wenn ich mal sterbe, werde ich eine viel größere Reise machen, als in meinem ganzen Leben; sechs Meilen von hier ist unser Familienbegräbnis, dort werde ich hingeführt werden, dort werde ich bei den andern von meiner Verwandtschaft schlafen.‹ Gestern Nacht hielt ein Wagen vor dem Hause; sie trugen einen Sarg heraus, da wußte ich, daß sie tot war; sie legten Stroh um den Sarg und fuhren fort. Da schlief die stille, alte Jungfer, die im letzten Jahre nicht aus dem Hause gewesen; und der Wagen rollte aus der Stadt, so rasch, als ob es eine Vergnügungsfahrt wäre. Auf der Landstraße selbst ging es noch rascher; der Kutscher sah ein paarmal verstohlen zurück; ich glaube, er fürchtete sich, sie in dem alten Atlaspelz auf dem Sarge sitzen zu sehen; deshalb schlug er auch so unvernünftig auf die Pferde los, und hielt sie so stramm, daß sie im Gebiß schäumten; sie waren jung und feurig; ein Hase lief über den Weg und sie gingen durch. Die alte Jungfer, die sich jahraus jahrein zu Hause so langsam im gleichen Kreise bewegte, fuhr nun, da sie tot war, über Stock und Stein auf der offenen Landstraße. Der Sarg, der mit Strohmatten umgeben war, flog herab und lag auf der Straße, während Pferde, Kutscher und Wagen in wilder Flucht dahinjagten. Die Lerche flog singend vom Felde empor, zwitscherte ihr Morgenlied über dem Sarge, setzte sich darauf und stöberte mit dem Schnabel in den Matten, als wollte sie eine Puppe zerreißen. Dann stieg sie wieder empor, und ich zog mich hinter die roten Morgenwolken zurück.«

 

Elfter Abend.

»Es war ein Hochzeitsfest!« erzählte der Mond. »Lieder wurden gesungen, Gesundheiten ausgebracht, alles war reich und prächtig; die Gäste verabschiedeten sich, Mitternacht war vorüber; die Mütter küßten Bräutigam und Braut; ich sah diese allein, aber die Gardinen waren beinahe ganz vorgezogen; die Lampe beleuchtete das trauliche Gemach. ›Gott sei Dank, sie sind fort!‹ sagte er und küßte ihre Hände und Lippen; sie lächelte und weinte, ruhte an seiner Brust, bebend, wie die Lotosblume auf dem strömenden Wasser ruht; und sie flüsterten süße, glückselige Worte. ›Schlafe süß!‹ rief er und sie zog die Gardinen des Fensters auf die Seite. ›Wie schön doch der Mond scheint,‹ sagte sie, ›sieh, wie still und klar!‹ und sie löschte die Lampe aus, es wurde dunkel in dem behaglichen Zimmer, und doch strahlte mein Licht, wie seine Augen strahlten. – Weiblichkeit, küsse du des Dichters Harfe, wenn er von des Lebens Geheimnissen singt!«

 

Zwölfter Abend.

»Ich will dir ein Bild von Pompeji geben,« sagte der Mond. »Ich war in der Vorstadt, in der Gräberstraße, wie man sie nennt, wo die schönen Monumente stehen, wo einst die jubelnden Jünglinge, Rosen um die Stirn, mit den schönen Schwestern der Lais tanzten; nun herrschte hier Todesstille; deutsche Soldaten in neapolitanischem Dienst hielten Wache und spielten Karten und Würfel; eine Schar Fremder, von jenseits der Berge, wanderten in die Stadt, von einer Wache begleitet; in meinem vollen Lichte wollten sie die aus dem Grabe erstandene Stadt sehen und ich zeigte ihnen die Spur der Wagenräder in den mit breiten Lavaplatten gepflasterten Straßen, ich zeigte ihnen die Namen auf den Türen und die noch aushängenden Schilder; sie sahen in den kleinen Höfen das Bassin für den Springbrunnen, geschmückt mit Muscheln und Konchylien; aber es sprangen keine Wasser, kein Gesang durchtönte die reichbemalten Gemächer, wo der Hund von Metall an der Tür wachte. Es war die Stadt des Todes; nur der Vesuv donnerte noch seine ewige Hymne, deren einzelne Verse die Menschen einen neuen Ausbruch nennen. Wir gingen zum Venustempel, der aus weißblinkendem Marmor ist, mit seinem Hochaltar vor der breiten Treppe und mit frischen Trauerweiden, die zwischen den Säulen hervorwachsen; die Luft war durchsichtig und blau, und im Hintergrund stand der kohlschwarze Vesuv, von dem das Feuer wie ein Pinienstamm aufstieg; die beleuchtete Rauchwolke lag in der Stille der Nacht wie die Krone der Pinie da, aber blutig rot. Unter der Gesellschaft befand sich eine Sängerin, eine echte und große Künstlerin, ich habe ihr an den ersten Orten Europas huldigen sehen. Als sie sich dem tragischen Theater näherten, setzten sich alle auf die Steinstufen des Amphitheaters; es wurde wieder ein kleiner Platz besetzt, wie vor Jahrtausenden. Die Szene stand noch wie früher, mit den gemauerten Kulissen und den beiden Bogen im Hintergrunde, durch welche man dieselbe Dekoration sieht, wie zu jener Zeit, die Natur selbst: die Berge zwischen Sorrent und Amalfi. Die Sängerin stieg zum Scherz auf die Szene des Altertums und sang; der Ort inspirierte sie; ich mußte an Arabiens wildes Pferd denken, wenn es schnaubend die Mähne sträubt und davonjagt; es war dieselbe Leichtigkeit und Sicherheit; ich mußte an die leidende Mutter unter dem Kreuze von Golgatha denken, es war derselbe tief gefühlte Schmerz. Und ringsum erklang wieder, wie vor tausend Jahren, der Jubel und das Klatschen des Beifalls. ›Glückliche! himmlisch Begabte!‹ jubelten sie alle. Drei Minuten später war die Szene leer, alles fort, man hörte keinen Ton mehr. Die Gesellschaft war weiter gezogen, aber die Ruinen standen noch unverändert, wie sie noch jahrhundertelang stehen werden, und niemand mehr weiß von dem Beifall des Augenblicks, von der schönen Sängerin, von ihren Tönen, ihrem Lächeln, vergessen und vorbei, selbst für mich ist diese Stunde eine verschwundene Erinnerung.«

 

Dreizehnter Abend.

»Ich sah bei einem Redakteur zum Fenster hinein,« sagte der Mond, »es war irgendwo in Deutschland. Da gab es schöne Möbel, viele Bücher und ein Chaos von Zeitungen. Es waren mehrere junge Männer da; der Redakteur selbst stand am Pulte, zwei kleine Bücher, beide von jungen Schriftstellern, sollten besprochen werden. ›Das eine ist mir zugesandt,‹ sagte er, ›ich habe es noch nicht gelesen, aber es ist hübsch ausgestattet; was sagen Sie von dem Inhalte?‹ – ›O!‹ sagte einer, der selbst ein Dichter war, ›der ist sehr gut, etwas gedehnt, aber mein Gott, es ist ein junger Mann; die Verse könnten freilich etwas besser sein! Die Gedanken sind sehr gesund, es sind freilich sehr gewöhnliche Gedanken! aber was soll man sagen? Man findet nicht immer etwas Neues. Sie können ihn wohl loben! Ich glaube freilich nicht, das je etwas Großes aus ihm, als Dichter, wird. Aber er ist gelehrt, ist ein ausgezeichneter Orientalist, urteilt selbst sehr gesund. Er war's, der die hübsche Kritik über meine Phantasien über das häusliche Leben geschrieben. Man muß mild gegen einen jungen Mann sein.‹ ›Aber das ist ja ein reiner Esel!‹ sagte ein andrer Herr im Zimmer. ›Nichts ist in der Poesie schlimmer, als Mittelmäßigkeit und höher hinauf geht das nicht!‹

›Armer Junge!‹ sagte ein Dritter, ›und seine Tante ist doch so glücklich über ihn. Das ist dieselbe, Herr Redakteur, die so viele Subskribenten auf Ihre letzte Übersetzung gesammelt hat – –‹

›Die gute Frau! Ja, ich habe das Buch ganz kurz kritisiert. Unverkennbares Talent! eine willkommene Gabe! Eine Blume im Garten der Poesie! gut ausgestattet usw. Aber das andre Buch! der Verfasser will wohl haben, ich soll es kaufen! Ich höre, es wird gerühmt! Genie hat er! Glauben Sie nicht?‹

›Ja, so heißt es allgemein,‹ sagte der Dichter, ›aber es fiel etwas wild aus! Die Interpunktion ist besonders genial!‹

›Er darf wohl etwas durchgehechelt, etwas geärgert werden, sonst bildet er sich zu viel von sich selbst ein.‹

›Aber das ist unbillig!‹ rief ein Vierter, ›wir wollen nicht auf so kleine Fehler hinaufsitzen, sondern uns des Guten freuen, und dessen ist hier viel! Er sticht sie doch allesamt aus!‹

›Gott bewahre uns! wenn er wirklich ein so echtes Genie ist, kann er wohl die scharfe Lauge aushalten! Es sind ihrer genug, die ihn ins Gesicht loben, wir wollen ihn nicht ganz verrückt machen!‹

›Unverkennbares Talent!‹ schrieb der Redakteur, ›die gewöhnlichen Nachlässigkeiten; daß er auch mißglückte Verse schreiben kann, sieht man auf Seite fünfundzwanzig, wo sich zwei Hiaten finden. Das Studium der Alten ist zu empfehlen usw.‹ – Ich ging fort,« sagte der Mond »und sah durch das Fenster in der Tante Haus; da saß der gefeierte Dichter, der Zahme, dem von allen eingeladenen Gästen gehuldigt wurde, und war glücklich.

Ich suchte den andern Dichter, den Wilden; er war ebenfalls in großer Gesellschaft bei einem Beschützer, wo man von des andern Dichters Buch sprach. ›Ich werde auch das Ihre lesen!‹ sagte der Mäcen, ›aber offen gesagt, Sie wissen, ich sage Ihnen immer, was ich meine, ich hege keine großen Erwartungen davon. Sie sind mir zu wild, zu phantastisch – aber ich anerkenne, als Mensch sind Sie sehr respektabel!‹ Ein junges Mädchen saß in einer Ecke und las in einem Buche:

Alltägliches hebt man zum Himmel –
In den Staub, wer geistesfrei!
Das ist eine alte Geschichte,
Doch bleibt sie ewig neu!«

 

Vierzehnter Abend.

Der Mond erzählte: »An dem Waldwege liegen zwei Bauernhäuser; die Tür ist niedrig, die Fenster sitzen bald oben, bald unten, aber ringsum wachsen Weißdorn und Berberitzen; das Dach ist bemoost und mit gelben Blumen und Hauslaub bewachsen; es ist nur Grünkohl und Kartoffeln in dem kleinen Garten, aber an der Hecke wächst ein Fliederbaum und unter diesem saß ein kleines Mädchen; sie heftete ihre braunen Augen auf die alte Eiche, die zwischen den Häusern stand. Dieser Baum hat einen hohen, morschen Stamm, der oben abgesägt ist, und wo der Storch sein Nest gebaut hat; er stand just oben und klapperte mit dem Schnabel. Ein kleiner Knabe kam heraus; er stellte sich neben das Mädchen, es waren Bruder und Schwester. ›Wonach siehst du?‹ fragte er. – ›Ich sehe nach dem Storche,‹ sagte sie, ›die Nachbarsfrau hat mir vertraut, daß er uns heute abend ein kleines Brüderchen oder Schwesterchen bringt; nun will ich acht auf sie haben, wenn sie kommen!‹ – ›Der Storch bringt keines!‹ sagte der Knabe. ›Du kannst mir glauben; die Nachbarsfrau hat es mir auch erzählt, aber sie lachte, als sie es sagte, und da fragte ich sie, ob sie so wahr Gott lebt darauf sagen könne! Das konnte sie nicht und daher weiß ich, daß die Geschichte mit dem Storch nur etwas ist, was man uns Kindern weismacht.‹ – ›Aber woher sollte dann das kleine Kind kommen?‹ fragte das Mädchen. – ›Dies bringt unser Herrgott!‹ sagte der Knabe. ›Gott trägt es unter seinem Mantel, aber kein Mensch kann Gott sehen und deshalb können wir auch nicht sehen, wenn er es bringt!‹ Im selben Augenblick rauschte es in den Zweigen des Fliederbaums, die Kinder falteten ihre Hände und sahen einander an; es war gewiß Gott, der mit dem Kleinen kam. Und sie faßten einander bei der Hand; die Tür des Hauses ging auf; es war die Nachbarsfrau: ›Kommt jetzt herein,‹ sagte sie, ›seht, was der Storch gebracht hat, es ist ein kleines Brüderlein!‹ Und die Kinder nickten; sie wußten ja schon, daß es gekommen war.«

 

Fünfzehnter Abend.

»Ich glitt über die Lüneburger Heide hin,« sagte der Mond, »da lag eine einsame Hütte am Wege; einige entblätterte Büsche standen dicht dabei und in diesen sang eine Nachtigall, welche sich verirrt hatte. In der Nachtkälte mußte sie sterben; es war ihr Schwanengesang, den ich hörte. Die Morgenröte schimmerte; es kam eine Karawane des Weges gezogen, auswandernde Bauernfamilien, welche nach Bremen oder Hamburg wollten, um mit einem Schiffe nach Amerika zu gehen, wo ihnen das Glück, das geträumte Glück blühen sollte. Die Frauen trugen ihre kleinern Kinder auf dem Rücken, die größern hüpften an ihrer Seite; ein armseliges Pferd zog auf einem Karren einige Stücke Hausgerät. Der kalte Wind blies; das kleine Mädchen schmiegte sich fester an die Mutter, welche zu meiner runden, abnehmenden Scheibe aufblickte, und an die bittere Not dachte, die sie zu Hause gelitten und an die schweren Steuern, die sie nicht hatten bezahlen können. Daran dachte auch die ganze übrige Karawane; der rote Dämmerschein leuchtete darum wie das Evangelium von der Sonne des Glücks, die ihnen wieder aufgehen würde; sie hörten die sterbende Nachtigall singen; es war keine falsche Prophetin, sondern eine Verkünderin des Glücks. Der Wind pfiff, sie verstanden darum ihr Lied nicht: ›Segle ruhig über das Meer! die lange Überfahrt hast du ja bezahlt mit allem, was du besaßest; arm und hilflos wirst du dein Kanaan betreten. Du mußt dich selbst verkaufen, deine Frau und deine Kinder. Doch lange wirst du nicht leiden! Hinter den breiten, duftenden Blättern sitzt der Todesengel; sein Willkommsgruß haucht tödliches Fieber in dein Blut, fahre hin, fahre hin über die schwellenden Wasser!‹ Und die Karawane lauschte froh dem Gesang der Nachtigall, denn er bedeutete Glück. Der Tag leuchtete aus den leichten Wolken; das Bauernvolk ging über die Heide nach der Kirche; die schwarzgekleideten Frauen mit dem dicken, weißen Linnen um den Kopf erschienen wie aus den alten Bildern in der Kirche herabgestiegene Gestalten; ringsum war nur die große tote Umgebung, das dürre, braune Heidekraut, dunkle, versengte Rasen zwischen weißen Sandbänken. Die Frauen trugen ihre Gesangbücher und wanderten nach der Kirche. O betet, betet für die, die zum Grabe wandern, jenseit der schwellenden Wasser!«

 

Sechzehnter Abend.

»Ich kenne einen Policinello,« sagte der Mond, »das Publikum jubelt, wenn es ihn sieht; jede Bewegung bei ihm wird komisch, bringt das Haus zu hellem Lachen und doch ist nichts dabei berechnet, es ist eben seine Natur. Als er klein war und sich mit den andern Knaben tummelte, schon da war er ein Policinello; die Natur hatte ihn dazu gemacht, ihm einen Buckel auf den Rücken und einen auf die Brust gegeben; sein Inneres dagegen, das Geistige, war reich ausgestattet; niemand besaß ein tieferes Gefühl, eine größere Elastizität des Geistes als er. Das Theater war seine ideale Welt. Wäre er schlank und wohlgebaut gewesen, er wäre auf jeder Bühne der erste Tragiker geworden; das Große, das Heroische erfüllte seine Seele, und dennoch mußte er Policinello werden. Selbst sein Schmerz, seine Melancholie vermehrte die komische Trockenheit in dem scharfgeschnittenen Gesicht und weckte das Gelächter des zahlreichen Publikums, das seinen Liebling beklatschte. Die niedliche Kolumbine war ihm freundlich und gut, wollte aber doch lieber den Arlechino heiraten; es wäre doch wahrhaftig allzu komisch gewesen, wenn sich die Schönheit und die Häßlichkeit vermählt hätten. Wenn Policinello am mißmutigsten war, war sie die einzige, die ihn zum Lachen, ja zum schallenden Gelächter bringen konnte; zuerst war sie melancholisch mit ihm, dann etwas ruhiger, aber zuletzt voll Scherz. ›Ich weiß wohl, was Ihnen fehlt!‹ sagte sie, ›die Liebe!‹ – und da mußte er lachen. ›Ich und die Liebe!‹ rief er, ›das würde sich lustig ausnehmen! wie würde das Publikum applaudieren!‹ – ›Ja, die Liebe!‹ fuhr sie fort und fügte mit komischem Pathos hinzu: ›Mich lieben Sie!‹ Ja, so etwas kann man sagen, wo man weiß, daß keine Liebe ist! und der Policinello sprang vor Lachen in die Höhe; nun war die Melancholie fort. Und doch hatte sie die Wahrheit gesagt, er liebte sie, liebte sie innig, wie er das Erhabene und Große in der Kunst liebte. An ihrem Hochzeitstage war er die lustigste Figur, aber nachts weinte er; hätte das Publikum das verdrehte Gesicht gesehen, es hätte geklatscht. – In den letzten Tagen ist Kolumbine gestorben; am Begräbnistage wurde Arlechino seiner Pflicht entbunden, sich auf den Brettern zu zeigen; er war ja ein betrübter Witwer. Der Direktor mußte etwas recht Komisches geben, damit das Publikum nicht zu sehr die hübsche Kolumbine und den lustigen Arlechino vermißte; also mußte Policinello doppelt lustig sein; er tanzte und sprang mit der Verzweiflung im Herzen, und es wurde geklatscht und gejubelt: ›Bravo! bravissimo!‹ Policinello wurde herausgerufen! O er war unbezahlbar. Gestern nacht nach der Vorstellung wanderte das kleine Ungetüm aus der Stadt, hinaus nach dem einsamen Kirchhof. Der Blumenkranz auf Kolumbinens Grab war bereits verwelkt; er setzte sich nieder; es war zum Malen! Die Hand unter der Wange, die Augen zu mir emporgerichtet! Er nahm sich aus wie ein Denkmal; ein Policinello auf dem Grabe, eigentümlich und komisch. Hätte das Publikum seinen Liebling gesehen, es hätte applaudiert: Bravo, Pulcinello!Bravo, bravissimo!«

 

Siebzehnter Abend.

Höre, was der Mond erzählte: «Ich habe den Kadetten Offizier werden und sich zum erstenmal in seiner prächtigen Uniform zeigen sehen, ich habe das junge Mädchen im Ballstaat, die junge Braut des Fürsten glücklich in ihrem Festkleide gesehen; aber keine Glückseligkeit kann sich mit der vergleichen, die ich heute abend bei einem Kinde, einem kleinen vierjährigen Mädchen sah. Es hatte ein neues blaues Kleid, einen neuen rosaroten Hut bekommen; es hatte den Staat eben angelegt, und alles rief nach Licht, denn des Mondes Strahlen, die durch das Fenster drangen, waren nicht hell genug, das mußte anders beleuchtet werden. Da stand das kleine Mädchen steif wie eine Puppe, die Arme ängstlich vom Kleide abhaltend, die Finger weit auseinander gespreizt. O! wie ihre Augen, ihr ganzes Gesicht vor Seligkeit strahlte. ›Morgen darfst du auf die Straße gehen!‹ sagte die Mutter, und die Kleine sah hinauf zu ihrem Hute, sah hinab auf ihr Kleid und lächelte glücklich: ›Mutter!‹ sagte sie, ›was werden die Hunde denken, wenn sie mich in diesem Staate sehen!‹«

 

Achtzehnter Abend.

»Ich habe,« sagte der Mond, »dir von Pompeji erzählt, von jener Leiche einer Stadt, die in der Reihe der lebendigen Städte wie zur Schau ausgestellt ist; ich kenne eine andre, eine noch seltsamere, die keine Leiche, sondern ein Gespenst von einer Stadt ist. – Überall, wo ein Springbrunnen in einem Marmorbassin plätschert, ist es mir, als hörte ich das Märchen der schwimmenden Stadt. Ja, der Wasserstrahl möge davon erzählen! Die Wogen am Strande davon singen! Über der Meeresfläche schwebt oft ein Nebel, es ist der Witwenschleier; des Meeres Bräutigam ist tot, sein Schloß und seine Stadt ist nun sein Mausoleum. Kennst du diese Stadt? Nie hörte man des Wagens Rollen oder des Pferdes Hufschlag in ihren Straßen; in ihnen schwimmt der Fisch und gespenstisch fliegt die Gondel hin über das grüne Wasser. Ich will,« fuhr der Mond fort, »dir das Forum der Stadt, den größten Platz der Stadt, zeigen, und du glaubst dich in die Stadt der Märchen versetzt! Das Gras wächst zwischen den breiten Fliesen und in der Morgendämmerung flattern Tausende von zahmen Tauben um den freistehenden, hohen Turm. Von drei Seiten bist du von Bogengängen umgeben. Still sitzt der Türke mit seiner langen Pfeife da, der hübsche Griechenknabe lehnt sich an die Säule und schaut nach den aufgerichteten Trophäen, den hohen Flaggenstangen, den Erinnerungszeichen der alten Macht. Die Flaggen hängen wie Trauerflor herab; ein Mädchen ruht sich dort aus, sie hat die schweren Eimer mit Wasser niedergesetzt; das Joch, woran es sie trägt, ruht auf ihrer Schulter, sie stützt sich an den Siegesmast. Kein Feenschloß, eine Kirche ist's, die du vor dir siehst! die vergoldeten Kuppeln, die goldenen Kugeln ringsum strahlen in meinem Lichte; die prächtigen ehernen Rosse da oben haben Reisen gemacht, wie das eherne Pferd im Märchen; sie sind hierher, dann wieder fort und wieder hierher gereist. Siehst du die bunte Pracht der Mauern und der Fenster? Es ist, als ob das Genie den Launen eines Kindes bei der Ausschmückung dieses seltsamen Tempels gefolgt wäre. Siehst du auf der Säule den geflügelten Löwen? Das Gold schimmert noch, aber die Flügel sind gebunden, der Löwe ist tot, denn des Meeres König ist tot; es ist leer in den großen Hallen und wo früher die herrlichen Bilder hingen, starrt nun die nackte Mauer hervor. Der Lazzarone schläft unter dem Bogen, dessen Boden einst nur der hohe Adel betreten durfte. Aus den tiefen Brunnen – oder sind es die Bleikammern bei der Seufzerbrücke – ertönt ein Seufzer, wie damals, als das Tamburin auf den bunten Gondeln erscholl, als der Brautring von dem glänzenden Buzentaur zur Adria hinabflog, der Königin des Meeres. Adria! Hülle dich in Nebel! laß den Witwenschleier deine Brust bedecken, hänge ihn über deines Bräutigams Mausoleum: das marmorne, gespenstische Venedig!«

 

Neunzehnter Abend.

»Ich sah hinab auf ein großes Theater,« sagte der Mond, »das ganze Haus war erfüllt von Zuschauern; denn ein neuer Schauspieler debütierte; meine Strahlen glitten hin über das kleine Fenster in der Mauer, ein geschminktes Gesicht drückte die Stirn gegen die Scheibe: es war der Held des Abends. Der ritterliche Bart kräuselte sich um das Kinn, aber es standen Tränen in des Mannes Augen, denn er war ausgepfiffen worden, ausgepfiffen mit Recht. Armer Bursche! Aber Stümper dürfen nicht in dem Reiche der Kunst geduldet werden. Er fühlte tief und liebte die Kunst mit Begeisterung, aber sie liebte ihn nicht.

– – Die Glocke des Regisseurs ertönte; – keck und mutig, stand in der Rolle, tritt der Held vor – vortreten sollte er vor ein Publikum, dem er zum Gelächter war. – – Als das Stück zu Ende war, sah ich einen Mann, in den Mantel gehüllt, die Treppe hinabschleichen; er war es, der vernichtete Ritter des Abends; die Maschinisten flüsterten einander zu; ich folgte dem Sünder hinauf in sein Zimmer zu Hause. Sich hängen ist ein unschöner Tod, und Gift hat man nicht immer zur Hand. Ich weiß, er dachte an beides. Ich sah, wie er das bleiche Gesicht im Spiegel betrachtete und die Augen halb schloß, um zu sehen, ob er als Leiche hübsch aussehe. Der Mensch kann höchst unglücklich sein und doch dabei höchst affektiert. Er dachte an den Tod, an Selbstmord, ich glaube, er beweinte sich selbst, er weinte bitterlich, und wenn man sich recht ausgeweint hat, bringt man sich nicht um. Ein ganzes Jahr ist seit der Zeit verflossen. Es war Komödie, aber auf einem kleinen Theater; es war eine arme, wandernde Truppe; ich sah das bekannte Gesicht wieder, die geschminkten Wangen, den gekräuselten Bart. Er sah wieder zu mir empor, lächelte – und dennoch war er wieder ausgepfiffen worden, kaum vor einer Minute, von einem erbärmlichen Publikum! – Heut' abend fuhr ein ärmlicher Leichenwagen aus einem Tore der Stadt, nicht ein Mensch folgte ihm. Es war ein Selbstmörder, unser geschminkter, ausgepfiffener Held. Der Kutscher, welcher den Wagen führte, war der einzige Begleiter, niemand folgte, niemand außer dem Mond. In der Ecke an der Kirchhofsmauer ist der Selbstmörder begraben wurden; dort werden die Brennesseln bald emporschießen, dort wird der Totengräber Dornen und Unkraut von den andern Gräbern hinwerfen.«

 

Zwanzigster Abend.

»Von Rom komme ich,« sagte der Mond, »dort, mitten in der Stadt auf einem der sieben Hügel liegen die Ruinen der Kaiserburg; die wilde Feige wächst in den Mauerritzen und deckt die Blöße mit ihren breiten, graugrünen Blättern; zwischen Schutthaufen tritt der Esel auf grüne Lorbeersträuche und freut sich der unfruchtbaren Distel. Hier, von wo einst Roms Adler ausflogen: ›kamen, sahen und siegten,‹ führt jetzt ein Eingang durch ein kleines, armseliges, aus Lehm zwischen zwei geborstenen Marmorsäulen zusammengefügtes Haus; die Weinranke hängt wie eine Trauergirlande über das schiefe Fenster. Eine alte Frau mit ihrer Enkelin wohnen darin; sie herrschen nun in der Kaiserburg und zeigen hier dem Fremden die versunkenen Schätze. Von dem reichen Thronsaal ist nur noch die nackte Wand übrig; die dunkle Zypresse zeigt mit ihrem langen Schatten auf die Stelle, wo der Thron stand. Der Schutt liegt fußhoch über dem geborstenen Boden; das kleine Mädchen, jetzt die Tochter der Kaiserburg, sitzt oft dort auf ihrem Schemel, wenn die Abendglocken läuten. Das Schlüsselloch in der Tür dicht dabei nennt sie ihren Balkon; durch dieses kann sie das halbe Rom überschauen, bis zu der mächtigen Kuppel der St. Peterskirche. Stille, wie immer, war es dort heute abend, und das kleine Mädchen kam in meinem vollen Lichte hervor. Auf ihrem Kopfe trug sie einen antik geformten Lehmkrug mit Wasser; sie war barfüßig, das kurze Hemd und die kleinen Ärmel waren zerrissen; ich küßte die feinen, runden Schultern, die schwarzen Augen und das dunkle, glänzende Haar des Kindes; es stieg die Stufen des Hauses hinan, sie waren steil, aus Marmorbruchstücken und einem geborstenen Kapital gebildet. Die bunten Eidechsen huschten scheu an ihren Füßen vorbei, aber sie erschrak nicht, schon hob sie die Hand, an der Tür zu klingeln; eine Hasenpfote, an einem Bindfaden aufgehängt, bildete hier den Glockenzug der Kaiserburg. Sie hielt einen Augenblick inne; woran dachte sie? Vielleicht an das hübsche Jesuskind in Silber und Gold gekleidet, das drunten in der Kapelle stand, wo die Silberlampen strahlten, wo ihre kleinen Freundinnen den Gesang anstimmten, den auch sie kannte; ich weiß es nicht! Sie machte wieder eine Bewegung und strauchelte, der Lehmkrug fiel ihr vom Kopf und brach auf den kanellierten Marmorfliesen entzwei. Sie brach in Tränen aus: die schöne Tochter der Kaiserburg weinte über den armseligen, zerbrochenen Lehmkrug; mit bloßen Füßen stand sie da und weinte, durfte nicht an dem Bindfaden ziehen, dem Glockenzug der Kaiserburg!«

 

Einundzwanzigster Abend.

Mehr als vierzehn Tage hatte der Mond nicht geschienen, nun sah ich ihn wieder, rund und klar stand er über den langsam ziehenden Wolken; höre, was der Mond mir erzählte: »Von einer Stadt in Fezzan aus folgte ich der Karawane; vor der Sandwüste, auf einer der Salzebenen, die wie eine Eisfläche schimmern und nur auf einer kleinen Strecke mit dem leichten Flugsand bedeckt sind, machten sie Halt. Der Älteste – die Wasserflasche hing an seinem Gürtel, ein Sack mit ungesäuertem Brot lag an seinem Haupte – zeichnete mit seinem Stabe ein Viereck in den Sand und schrieb einige Worte aus dem Koran hinein; über die geweihte Stätte hin zog die ganze Karawane. Ein junger Kaufmann, ein Kind der Sonne, das sah ich in seinen Augen, das sah ich an seinen schonen Formen, ritt gedankenvoll auf seinem weißen, schnaubenden Roß. Dachte er vielleicht an seine junge, hübsche Frau? Es war nur zwei Tage her, seit das Kamel, geschmückt mit Fellen und kostbaren Schals, sie, die schöne Braut, um die Mauern der Stadt trug; Trommeln und Sackpfeifen klangen, die Frauen sangen und rings um das Kamel ertönten Freudenschüsse, der Bräutigam schoß die meisten, die stärksten ab und nun – nun zog er mit der Karawane durch die Wüste. Ich folgte ihnen viele Nächte, sah sie ruhen an den Brunnen, zwischen verkümmerten Palmen; sie stießen das Messer in die Brust des stürzenden Kamels und brieten das Fleisch am Feuer. Meine Strahlen kühlten den glühenden Sand, meine Strahlen zeigten ihnen die schwarzen Felsenblöcke, tote Inseln in dem ungeheuren Sandmeer. Sie begegneten keinen feindlichen Stämmen auf dem spurlosen Weg, kein Sturm erhob sich, keine Sandsäulen zogen verderbenbringend über die Karawane hin. Daheim betete die hübsche Frau für Mann und Vater. ›Sind sie tot?‹ fragte sie mein goldenes Horn. ›Sind sie tot?‹ fragte sie meine strahlende Scheibe. – Nun liegt die Wüste hinter ihnen; heute abend sitzen sie unter den hohen Palmen, wo der Kranich mit ellenlangen Flügeln sie umkreist; der Pelikan sieht von den Zweigen der Mimosen auf sie herab. Das üppige Gesträuch ist von den schweren Füßen der Elefanten niedergetreten, ein Haufen Neger kommt von einem Markte im Innern des Landes zurück; die Frauen mit Kupferknöpfen um ihr schwarzes Haar und mit indigofarbenen Gewändern treiben die schwerbeladenen Ochsen, auf denen die nackten, schwarzen Kinder schlafen. Ein Neger führt an einem Strick ein Löwenjunges, das er gekauft hat; sie nähern sich der Karawane; der junge Kaufmann sitzt unbeweglich, stumm, denkt an seine schöne Frau, träumt in dem Lande der Schwarzen von seiner weißen, duftenden Blume jenseit der Wüste; er erhebt sein Haupt –!« – Es ging eine Wolke am Monde vorüber und wieder eine Wolke. Ich hörte nichts mehr an diesem Abend.

 

Zweiundzwanzigster Abend.

»Ich sah ein kleines Mädchen weinen,« sagte der Mond, »sie weinte über die Bosheit der Welt. Die schönste Puppe hatte sie geschenkt bekommen, o! es war eine Puppe, so niedlich und sein, sie war wahrhaftig nicht zum Unglück geboren. Aber des kleinen Mädchens Brüder, die langen Bengel, hatten die Puppe genommen, sie auf einen hohen Baum im Garten gesetzt und waren fortgelaufen. Das kleine Mädchen konnte nicht bis zu der Puppe hinaufreichen und ihr nicht herunterhelfen, und deshalb weinte sie; die Puppe weinte gewiß auch, sie streckte die Arme aus zwischen den grünen Zweigen und schien ganz unglücklich. Ja, das war der Welt Mißgeschick, von dem die Mama so oft sprach. O die arme Puppe! Es begann ja bereits dunkler Abend zu werden, bald mußte es Nacht sein! Sollte sie draußen sitzen bleiben im Baume die ganze Nacht? Nein, das konnte das kleine Mädchen nicht übers Herz bringen. ›Ich will bei dir bleiben!‹ sagte es, obgleich es nichts weniger als mutig war; sie schien bereits ganz deutlich die kleinen Nixen zu sehen, mit ihren hohen, spitzen Mützen, wie sie zwischen den Büschen hervor lauschten, und dort in dem dunkeln Gang tanzten Gespenster, sie kamen näher und näher, streckten die Hände nach dem Baume aus, wo die Puppe saß, sie lachten und zeigten mit dem Finger nach ihr. Ach! wie dem kleinen Mädchen bange wurde! Aber wenn man keine Sünde begangen hat, dachte sie, so kann einem ja das Böse nichts anhaben! habe ich denn eine Sünde begangen? und sie besann sich. ›Ach ja!‹ sagte sie, ›ich habe über die arme Ente mit dem roten Lappen am Beine gelacht; sie hinkt so komisch, deshalb lachte ich; aber es ist eine Sünde über die Tiere zu lachen!‹ und sie sah zu der Puppe hinauf: ›Hast du über die Tiere gelacht?‹ fragte sie, und es sah aus, als ob sie mit dem Kopfe schüttelte.«

 

Dreiundzwanzigster Abend

»Ich sah auf Tirol herab,« sagte der Mond, »ich ließ die dunkeln Fichten tiefe Schlagschatten auf die Felsen werfen. Ich betrachtete den heiligen Christoph mit dem Jesuskind auf seinen Schultern, wie er an den Mauern der Häuser steht, kolossal, vom Boden bis zum Giebel; der heilige Florian goß Wasser auf das brennende Haus und Christus hing blutend an dem großen Kreuz am Wege. Das sind alte Bilder für das neue Geschlecht; ich aber sah sie errichten, sah, wie eines dem andern folgte. Hoch an dem Bergabhange hängt wie ein Schwalbennest ein einsames Nonnenkloster; zwei Schwestern standen droben im Turme und läuteten; sie waren beide jung und deshalb flog ihr Blick hin über die Berge, hinaus in die Welt. Ein Reisewagen fuhr unten auf der Landstraße, das Posthorn erklang und die armen Nonnen richteten mit verwandten Gedanken den Blick hinab; in der jüngsten Auge stand eine Träne. – Und das Horn klang schwächer und schwächer, die Glocke des Klosters übertäubte seine hinsterbenden Töne, –«

 

Vierundzwanzigster Abend.

Höre, was der Mond erzählte: »Es ist mehrere Jahre her, es war hier in Kopenhagen; ich sah zum Fenster einer armseligen Stube hinein. Vater und Mutter schliefen, aber der kleine Sohn schlief nicht; ich sah, wie die geblümten Bettvorhänge von Kattun sich bewegten und das Kind heraus schaute; ich glaubte zuerst, es sehe nach der Bornholmschen Stubenuhr; sie war ja so bunt bemalt mit Rot und Grün, oben drauf saß ein Kuckuck, schwere Bleigewichte hingen daran und der Perpendikel mit der glänzenden Messingplatte ging hin und her, ›ticktack!‹ aber das war's nicht, wonach es sah; nein, es war der Mutter Spinnrocken, der gerade unter der Uhr stand. Es war des Knaben liebstes Stück im ganzen Hause, aber er durfte es nicht anrühren, sonst wurde er auf die Finger geklopft. Ganze Stunden, wenn die Mutter spann, konnte er dasitzen und auf die surrende Spindel und das drehende Rad sehen und dabei hatte er seine eignen Gedanken. Ach, wenn er nur auch an dem Rocken spinnen dürfte! Vater und Mutter schliefen; er blickte zuerst auf sie, dann auf den Rocken, und kurz darauf kam ein kleiner, nackter Fuß aus dem Bett und dann noch ein nackter Fuß, dann kamen zwei kleine Beine, bums! stand er auf dem Boden. Er drehte sich noch einmal um, nach Vater und Mutter zu sehen, ob sie schliefen; ja, sie schliefen; und nun ging er leise, ganz leise, nur in seinem kleinen, kurzen Hemde hin zum Rocken und begann zu spinnen; die Schnur flog vom Rade ab, und das Rad lief nun noch viel rascher. Ich küßte sein blondes Haar und seine lichtblauen Augen; es war ein hübsches Bild. Da erwachte die Mutter, der Vorhang bewegte sich, sie sah heraus und glaubte eine Nixe oder einen andern kleinen Geist zu sehen. ›Um Jesu willen!‹ sagte sie und stieß erschrocken ihren Mann in die Seite; er schlug die Augen auf, rieb sie mit der Hand und sah nach dem kleinen, geschäftigen Jungen. ›Das ist ja Bertel!‹ sagte er.

Und mein Auge wandte sich von der ärmlichen Stube – ich sehe ja so weit umher! Ich sah im selben Augenblick in die Säle des Vatikans, wo die Marmorgötter stehen; ich beschien die Laokoongruppe; der Stein schien zu seufzen; ich drückte meinen stillen Kuß auf der Musen Brust, ich glaube, sie hob sich. Doch am längsten weilten meine Strahlen bei der Nilgruppe, bei dem kolossalen Gott. Sich an die Sphinx lehnend, lag er so gedankenvoll, träumend da, als dächte er an die dahinrollenden Jahre; die kleinen Amorinen spielten um ihn her mit den Krokodilen; im Füllhorn saß mit gekreuzten Armen und schaute auf den großen, ernsten Flußgott, ein ganz kleiner Amor, ein treues Bild des kleinen Knaben am Rocken; es waren dieselben Züge; lebendig und anmutig stand hier das kleine Marmorkind, und doch hat sich über tausendmal des Jahres Rad gedreht, seit es aus dem Marmor hervorsprang. Ebensooft, als der Knabe in der armen Stube das Spinnrad drehte, hat das größere Rad geschnurrt und schnurrt noch, ehe das Zeitalter Marmorgötter schafft, wie diese.

Sieh, das ist nun viele Jahre her! Gestern,« fuhr der Mond fort, »sah ich auf eine Bucht hinab an Seelands Ostküste; dort sind schöne Wälder, hohe Hügel, ein alter Herrenhof mit roten Mauern, Schwäne im Wallgraben, und eine kleine Landstadt mit ihrer Kirche zwischen Obstgärten. Eine Menge Boote, alle mit Fackeln, gleiten über die ruhige Wasserfläche hin; nicht zum Walfang leuchteten die Fackeln, nein, alles war festlich! Musik ertönte, ein Lied wurde gesungen und mitten in einem der Boote stand er, dem sie huldigten: ein hoher, kräftiger Mann in einem großen Mantel, er hatte blaue Augen und lange weiße Haare; ich kannte ihn und dachte an den Vatikan mit der Nilgruppe und an alle Marmorgötter; ich dachte an die kleine, ärmliche Stube, ich glaube, es war in der Grönnegasse, wo der kleine Bertel mit dem kurzen Hemde saß und spann. Das Rad der Zeit drehte sich; neue Götter sind aus dem Stein hervorgestiegen. – – – Aus dem Boote erklang ein Hurra, ein: ›Hurra für Bertel Thorwaldsen!‹«

 

Fünfundzwanzigster Abend.

»Ich will dir ein Bild aus Frankfurt geben!« sagte der Mond. »Ich betrachtete dort besonders ein Gebäude; es war nicht Goethes Geburtshaus, auch nicht das alte Rathaus, wo durch die vergitterten Fenster noch die gehörnten Schädel der Ochsen hervorragen, die bei der Kaiserkrönung gebraten und zum besten gegeben wurden; es war ein bürgerliches Haus, grün angemalt und armselig, an der Ecke der engen Judengasse, es war Rothschilds Haus. Ich sah durch die offene Tür hinein, das Treppenhaus war hell erleuchtet; da standen Diener mit brennenden Lichtern in massiven Silberleuchtern und verbeugten sich tief vor einer alten Frau, die in einem Tragstuhl die Treppe herab gebracht wurde. Der Besitzer des Hauses stand mit entblößtem Haupte da und drückte einen ehrerbietigen Kuß auf die Hand der Alten. Es war seine Mutter, sie nickte ihm und den Dienern freundlich zu und sie brachten sie in der engen, dunklen Gasse in ein kleines Haus; da wohnte sie, da hatte sie ihre Kinder geboren, von da war ihr Glück aufgeblüht; verließ sie die verachtete Gasse, das kleine Haus, so würde das Glück auch sie vielleicht verlassen; das war nun einmal ihr Glaube.« – Der Mond erzählte nicht mehr; allzu kurz besuchte er mich heute abend, aber ich dachte an die alte Frau in der engen, verachteten Gasse; nur ein Wort von ihr, und sie hatte ihr glänzendes Haus an der Themse; nur ein Wort von ihr, und ihre Villa lag an Neapels Golf. »Verließe ich das geringe Haus, wo meiner Söhne Glück entsprang, so verließe sie vielleicht das Glück!« Das ist ein Aberglaube, aber von der Art, daß, wenn man die Geschichte kennt und das Bild sieht, man nur, um es zu verstehen, die beiden Worte darunter zu setzen braucht: » Eine Mutter!«

 

Sechsundzwanzigster Abend.

»Es war gestern in der Morgendämmerung!« das sind des Mondes eigne Worte; »nicht ein Schornstein rauchte noch in der großen Stadt, und es waren gerade die Schornsteine, auf die ich herabsah. Aus einem derselben kam plötzlich ein kleiner Kopf hervor und dann der halbe Leib, die Arme ruhten auf dem Rande des Schornsteins. ›Hurra!‹ Es war ein kleiner Schornsteinfegerjunge, der zum erstenmal in seinem Leben ganz hinauf im Schornstein gekommen war und den Kopf herausgesteckt hatte. ›Hurra!‹ Ja, das war etwas andres, als in den engen Röhren und in den schmalen Kaminen herumzukriechen! Die Luft wehte so frisch und er konnte über die ganze Stadt hinsehen bis zu dem grünen Wald; die Sonne stand eben auf; rund und groß schien sie ihm in das Gesicht, das von Glückseligkeit strahlte, obgleich er ganz hübsch mit Ruß beschmiert war. ›Nun kann die ganze Stadt mich sehen!‹ sagte er, ›und der Mond kann mich sehen und die Sonne auch! Hurra!‹ und damit schwang er den Besen!«

 

Siebenundzwanzigster Abend.

»Gestern nacht sah ich auf eine Stadt in China hinab,« sagte der Mond. »Meine Strahlen beschienen die langen, nackten Mauern, welche die Straßen bilden; da und dort ist zwar ein Tor, aber es ist zugeschlossen, denn die Welt draußen, was kümmert sie den Chinesen? Dichte Jalousien bedeckten die Fenster hinter der Mauer des Hauses, nur aus dem Tempel schimmerte ein mattes Licht durch die Scheiben. Ich sah hinein, sah die bunte Pracht; vom Boden bis zur Decke waren in grellen Farben und reicher Vergoldung Bilder gemalt, welche das Wirken der Götter auf Erden darstellen; in jeder Nische ihre Bildsäulen selbst, aber beinahe verdeckt von bunten Draperien und herabhängenden Fahnen; und vor jedem Gott – sie sind alle von Zinn – stand ein kleiner Altar mit Weihwasser, Blumen und brennenden Wachslichtern; aber zu oberst im Tempel stand Fu, die höchste Gottheit, geschmückt mit einem Kleide von Seide in der heiligen gelben Farbe. Am Fuße des Altars saß eine lebendige Gestalt, ein junger Priester, er schien zu beten, aber mitten in seinem Beten in ein Grübeln zu versinken: und es war gewiß eine Sünde, denn seine Wangen glühten und sein Kopf beugte sich tiefer. Armer Soui-Houng! träumte er sich vielleicht hinter der Straße lange Mauern, in einem der kleinen Blumenbeete arbeitend, die sich vor jedem Hause befinden, und war ihm diese Beschäftigung lieber, als die Wachskerzen im Tempel zu bewachen? oder gelüstete ihn, an der reichgedeckten Tafel zu sitzen und zwischen jedem Gericht seinen Mund mit Silberpapier abzuwischen; oder war seine Sünde so groß, daß, wenn er sie auszusprechen wagte, das Himmlische Reich ihn mit dem Tode strafen mußte? Durften seine Gedanken mit den Schiffen der Barbaren nach ihrer Heimat fliehen, nach dem weit entlegenen England? Nein, seine Gedanken flogen nicht so weit und doch waren sie so sündig, als das warme Jugendblut sie nur zeugen kann, sündig hier im Tempel vor Fus und der heiligen Götter Statuen. Ich weiß, wo seine Gedanken weilten. Am äußersten Ende der Stadt, auf dem flachen, fliesenbedeckten Dach, wo die Brustlehne von Porzellan zu sein schien, wo die hübschen Vasen standen mit großen, weißen Glockenblumen, und die anmutige Pe saß mit den schmalen, schelmischen Augen, den vollen Lippen und dem allerkleinsten Fuß; ihr Schuh war eng, aber ums Herz war ihr noch weit enger; und sie hob die feingeformten Arme und der Atlas rauschte. Vor ihr stand ein Glasgefäß mit vier Goldfischen; sie rührte sachte im Wasser herum mit einem bunt bemalten und lackierten Stäbchen, ganz langsam, denn sie grübelte! Dachte sie vielleicht daran, wie reich und golden die Fische gekleidet waren, wie sicher sie in dem Glasgefäß lebten und ihre Nahrung erhielten und wie weit glücklicher sie doch in der Freiheit sein könnten. Ja, das begriff die schöne Pe; ihre Gedanken schweiften fort von daheim, ihre Gedanken eilten nach dem Tempel, aber sie kamen nicht um des Gottes willen. Die arme Pe! der arme Soui-Houng! ihre irdischen Gedanken begegneten sich, aber meine kalten Strahlen lagen wie ein Cherubsschwert zwischen ihnen!«

 

Achtundzwanzigster Abend.

»Es war Meeresstille,« sagte der Mond, »das Wasser war so durchsichtig, wie die reine Luft, die ich durchsegelte; ich konnte tief unter der Meeresfläche die seltsamen Pflanzen sehen, die, wie Riesenbäume im Walde, mit klafterlangen Stengeln zu mir aufstiegen; die Fische schwammen über ihre Wipfel hin. Hoch in der Luft zog ein Schwarm wilder Schwäne; einer von ihnen sank mit ermatteten Schwingen tiefer und tiefer, sein Auge folgte der lustigen Karawane welche sich mehr und mehr entfernte, er hielt die Schwingen weit ausgebreitet, und sank, wie die Seifenblase in der stillen Luft sinkt, er berührte die Wasserfläche, sein Haupt bog sich zurück zwischen die Flügel; still lag er wie der weiße Lotus auf dem ruhigen Binnensee. Und der Wind erhob sich und kräuselte die leichte Wasserfläche, die so strahlend schien, als wär' es der Äther, der sich in großen, breiten Wogen dahin wälzte, und der Schwan erhob sein Haupt und das blitzende Wasser sprühte wie blaues Feuer über Brust und Rücken. Der Morgenschimmer beleuchtete die roten Wolken, und der Schwan erhob sich gestärkt und flog zur aufsteigenden Sonne, zur blauenden Küste, wohin die Luftkarawane gezogen, aber er flog allein mit der Sehnsucht in seiner Brust; einsam flog er über die blauen, die schwellenden Wasser.«

 

Neunundzwanzigster Abend.

»Ich will dir noch ein Bild aus Schweden geben,« sagte der Mond. »Zwischen dunkeln Fichtenwäldern, nahe an den melancholischen Ufern des Roxen, liegt die alte Klosterkirche Wreta. Meine Strahlen glitten durch das Gitter in der Mauer in das hohe Gewölbe, wo Könige in großen Steinsärgen schlummern; in der Mauer über ihnen prangt, als das Bild der irdischen Herrlichkeit, eine Königskrone, aber sie ist nur von Holz, bemalt und vergoldet; sie wird durch einen in die Mauer getriebenen Holzpflock festgehalten; der Wurm hat das vergoldete Holz durchnagt, die Spinne hat ihr Netz von der Krone bis zum Sarge herab gesponnen, es ist eine Trauerfahne, vergänglich wie die Trauer um die Sterblichen. Wie still sie schlummern! ich erinnere mich ihrer so deutlich! Ich sehe noch das kecke Lächeln um die Lippen, die Freude oder Kummer aussprachen, so mächtig, so entscheidend. Wenn das Dampfschiff, wie eine Zauberjacht zwischen den Bergen dahinfährt, kommt bisweilen ein Fremder zur Kirche, besucht dieses Grabgewölbe, fragt nach der Könige Namen und diese klingen vergessen und tot; er blickt zu den wurmstichigen Kronen hinauf, lächelt, und ist er ein recht frommes Gemüt, so liegt Wehmut in seinem Lächeln. Schlummert, ihr Toten! Der Mond gedenkt eurer, der Mond sendet in der Nacht seine kalten Strahlen zu eurem stillen Königreich, über dem die Krone aus Föhrenholz hängt! – «

 

Dreißigster Abend.

»Dicht an der Landstraße,« sagte der Mond, »liegt ein Wirtshaus, und gegenüber von demselben ein großer Wagenschuppen; das Dach wurde eben gedeckt; ich sah durch die Sparren und durch die offenen Deckenluken in den unheimlichen Raum; der kalkuttische Hahn schlief auf dem Balken und der Sattel war in der leeren Krippe zur Ruhe, gebracht. Mitten in dem Raum stand ein Reisewagen, die Herrschaft schlief noch fest, während die Pferde getränkt wurden und der Kutscher seine Glieder reckte, obgleich er, ich weiß es am besten, gut geschlafen hatte, und das mehr, als den halben Weg. Die Tür zum Kutscherzimmer stand offen, das Bett sah aus, als ob es zu oberst und unterst gekehrt worden wäre, das Licht stand auf dem Boden und war tief im Leuchter heruntergebrannt. Der Wind blies kalt durch den Schuppen und die Zeit war näher am Morgengrauen, als an Mitternacht. Dort in dem Stand auf dem Boden schlief eine wandernde Musikantenfamilie, Mutter und Vater träumten wohl von dem brennenden Naß in der Flasche, das kleine, bleiche Mädchen träumte von dem brennenden Naß im Auge; die Harfe lag zu ihren Häupten, der Hund zu ihren Füßen. –«

 

Einunddreißigster Abend.

»Es war in einem kleinen Landstädtchen,« sagte der Mond, »ich sah es voriges Jahr, aber das tut nichts, ich sah es so deutlich; heute abend las ich in der Zeitung davon, aber das war weit nicht so deutlich. Drunten in der Wirtsstube saß der Bärenführer und aß sein Abendbrot; der Bär stand draußen an den Holzstall angebunden, der arme Bär, der niemand etwas zuleide tat, obgleich er grimmig genug aussah. Oben im Erkerstübchen spielten in meinen klaren Strahlen drei kleine Kinder, das älteste war höchstens sechs Jahre alt, das jüngste nicht mehr als zwei. ›Klatsch, klatsch!‹ kam es die Treppe herauf; wer konnte das sein? Die Tür sprang auf – es war der Bär, der große, zottige Bär! Es war ihm langweilig geworden, drunten im Hofe zu stehen, und er hatte nun den Weg die Treppe hinauf gefunden; ich hatte alles mit angesehen!« sagte der Mond. »Die Kinder waren so erschrocken über das große, zottige Tier, daß jedes in eine Ecke kroch, aber er fand sie alle drei, beschnüffelte sie mit der Schnauze, tat ihnen jedoch nichts! ›Das ist gewiß ein großer Hund!‹ sagten sie und streichelten ihn; er legte sich auf den Boden, der kleinste Knabe wälzte sich über ihn und spielte, indem er sein goldlockiges Köpfchen in seinem dicken, schwarzen Pelze verbarg. Nun holte der älteste Knabe eine Trommel, schlug darauf, daß es dröhnte, und der Bär erhob sich auf beide Hinterbeine und begann zu tanzen, daß es eine Freude war! – Jeder von den Knaben nahm sein Gewehr, der Bär bekam auch eines und er hielt es ordentlich fest; es war ein prächtiger Kamerad, den sie bekommen hatten und nun hieß es; ›eins, zwei, eins, zwei!‹ Da griff etwas an die Tür, sie ging auf, es war die Mutter der Knaben. Du solltest sie gesehen haben, gesehen ihren lautlosen Schreck, das kreideweiße Gesicht, den halboffenen Mund, die stieren Augen. Aber der kleinste von den Knaben nickte ganz vergnügt und rief laut in seiner Sprache: »Wir spielen nur Soldaten! Und da kam der Bärenführer!«

 

Zweiunddreißigster Abend.

Es wehte ein kalter und starker Wind, die Wolken jagten vorbei; nur ab und zu konnte ich den Mond sehen.

»Durch den stillen Luftraum sehe ich nieder auf die fliehenden Wolken!« sagte er, »ich sehe große Schatten über die Erde hineilen! – Eben sah ich auf ein Gefängnis hinab, ein geschlossener Wagen hielt davor, ein Gefangener sollte fortgebracht werden. Meine Strahlen drangen durch das vergitterte Fenster bis an die Mauer; er ritzte zum Abschiede einige Zeilen darauf; es waren nicht Worte, die er schrieb, sondern eine Melodie, der Erguß seines Herzens in der letzten Nacht, die er an diesem Orte zubrachte; und die Tür öffnete sich, er wurde hinausgeführt und sah zu meiner runden Scheibe empor – – die Wolken segelten zwischen uns hin, als ob ich sein Gesicht nicht sehen, als ob er meines nicht sehen sollte; er stieg in den Wagen, dieser wurde geschlossen, die Peitsche knallte, die Pferde setzten sich in rasche Bewegung nach dem Walde hin, daß der Staub aufflog und meine Strahlen ihm nicht folgen konnten; aber ich blickte in das Gefängnisgitter; meine Strahlen glitten über die eingeritzte Melodie auf der Mauer hin, sein letztes Lebewohl; wo das Wort versagt, sprechen Töne! – Aber nur einzelne Noten konnten meine Strahlen beleuchten, der größere Teil wird immer für mich im Dunkel bleiben. War es eine Todeshymne, die er schrieb? Waren es Jubeltöne der Freude? Fuhr er zum Tode oder zur Umarmung seiner Lieben? Die Strahlen des Mondes lesen nicht alles, was selbst die Sterblichen schreiben.

Durch den großen Luftraum sehe ich nieder auf die fliehenden Wolken; ich sehe große Schatten über die Erde hineilen! –«

 

Dreiunddreißigster Abend.

»Ich habe eine große Liebe zu Kindern!« sagte der Mond, »die kleinen namentlich sind so drollig; wenn sie am wenigsten an mich denken, schaue ich manchmal zwischen Gardine und Fensterrahmen in die Stube. Es ist so unterhaltend, zu sehen, wie sie sich beim Auskleiden helfen; da kommt zuerst die nackte, kleine, runde Schulter aus dem Kleidchen, dann schlüpft der Arm heraus, oder ich sehe sie die Strümpfe ausziehen und ein hübsches, kleines Bein, weiß und fest, kommt zum Vorschein, ein Fuß zum Küssen und ich küsse ihn auch!« sagte der Mond.

»Heute abend, das muß ich doch erzählen! Heute abend sah ich in eines von den Fenstern, wo die Gardinen nicht herabgelassen waren, denn sie hatten kein Gegenüber; ich sah hinein zu einem ganzen Rudel kleiner Schwesterchen und Brüderchen. Da war ein kleines Mädchen, nur vier Jahre alt, kann aber sein Vaterunser so gut wie die andern und die Mutter sitzt jeden abend an seinem Bett und hört, wie es das Vaterunser betet, dann bekommt es einen Kuß und die Mutter bleibt, bis das Mädchen schläft, und es dauert nicht lange, so schließen sich auch die kleinen Augen. Heute abend waren die beiden ältesten etwas wild; der eine hüpfte auf einem Bein in seinem langen, weißen Nachthemde, der andre stand auf einem Stuhl, mit den Kleidern aller andern um sich her, er sei ein lebendes Bild, sagte der Junge, die andern sollten raten; der dritte und vierte legten das Spielzeug ordentlich in die Schublade und das muß auch so sein; aber die Mutter saß an der Kleinsten Bett und sagte, sie sollten alle still sein, denn die Kleine bete ihr Vaterunser.

Ich sah über die Lampe hinein,« sagte der Mond, »das vierjährige Mädchen lag in seinem Bette in dem weißen, feinen Linnen, und die kleinen Hände waren gefaltet, und das kleine Gesicht ganz feierlich, während es laut sein Vaterunser betete. ›Aber was ist das,‹ sagte die Mutter, und unterbrach das Kind mitten im Beten, ›als du sagtest: gib uns heute unser täglich Brot! sagtest du noch etwas, das ich nicht recht verstehen konnte. Was ist das? Du sollst es mir sagen!‹ Und die Kleine schwieg und sah die Mutter verlegen an. – ›Was hast du noch weiter gesagt als: gib uns unser täglich Brot?‹ – ›Werde nicht böse, süße Mutter!‹ sagte die Kleine, ›ich betete: und auch viel Butter drauf!‹«

Ende.


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