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[Vorwort]

Das Hohelied der Mutterliebe, der Treue und der innigen Verbundenheit von Mutter und Kind ist in allen Sprachen der Welt gesungen worden. Der italienische Dichter Edmondo de Amicis hat in seiner Erzählung die halbe Welt zum Schauplatz dieses schönsten menschlichen Gefühls erwählt: Von den Apenninen zu den Anden, von Oberitalien bis nach Südamerika schlingt sich das feste Band der Herzen von Mutter und Sohn, und schließlich, nach vielen Irrsalen, sind die Liebenden wieder innig vereint. In volkstümlicher Weise hat uns der Dichter, der 1846 in Oneglia in Italien geboren wurde, eine schöne Geschichte vom menschlichen Herzen, das in der Welt nie verloren ist, voller Buntheit und Spannung geschaffen.

Edmondo de Amicis ist ein Erzähler, der in seiner Romanprosa oft wirkungsvolle und eindruckstiefe Schilderungen erreicht. Einer seiner Landsleute, D'Ovidio, wußte an ihm seine »Fähigkeit zu scharfen und geistreichen Analysen« zu rühmen, die sich besonders in seinen 1869 veröffentlichten Skizzen aus dem Soldatenleben zeigt. Es ist das Soldatenleben friedlicher Art, das er es als Offizier des italienischen Heeres von 1865-1870 kennengelernt hat und schildert, in dem sich die Widersprüche menschlicher Natur, die Rührseligkeit im Mitleid mit leidenden Menschen und witzige gedankliche Vergleiche der Dinge des Lebens finden. Amicis hat später das Glück gehabt, viele Reisen unternehmen zu können; die Reisen haben seine Phantasie beflügelt und ihn die Buntheit der Welt erleben lassen, wie wir es auch in unserer Geschichte spüren. Beobachtungen und Novellen sind die Ausbeute dieses Welterlebnisses gewesen. Besonders spricht uns der Italiener Amicis aber dadurch an, daß er sich in seinem Schaffen dem Studium der sozialen Frage zugewandt hat. Er tritt ein für die Ärmsten und Bedrängtesten, für die unschuldig Schuldigen und immer Getretenen. Seine volkstümlichen Romane: »Das Herz«, »Roman eines Volksschullehrers« und »Die Freunde« tragen bei zu der Erkenntnis, daß hier Wandel vonnöten sei.

Und auch unsere Geschichte berichtet von einer armen, mutigen Italienerin, die aus Not das Heimatland verlassen mußte – tragisches Schicksal so vieler Italiener –, um draußen in der weiten Welt die letzte Möglichkeit zu suchen, ihren Söhnen den Weg ins Leben zu öffnen. Doch so grausam auch die Welt, so hartherzig Menschen mitunter sein mögen, das treue Band der Herzen kann nimmer zerrissen werden. Fern der Heimat Genua finden Mutter und der Sohn, der auszog, die verlorene Mutter zu suchen, sich im heiligen Bund kindlich-mütterlicher Liebe wieder – das ist alles so voller Trost, Genugtuung und Freude! Aber wir staunen nicht nur über die tapfere Liebe der italienischen Mutter, sondern viel mehr noch über ihren Sohn, der sich standhaft entschloß: »Nun gehe ich selbst nach Amerika, um Mutter zu suchen!« Innige Sohnesliebe gibt ihm die Kraft, von dem Faltengebirge Italiens, den Apenninen, bis zum Kettengebirge Amerikas, den Kordilleren, ungebrochen das echte Urbild der Mutter zu suchen. Die weite Überseereise, Not, Gefahr, böse Menschen und all das Neue bringen ihn nicht von seinem Ziele ab. Selbst als das Schicksal ihn bis zuletzt prüft und ihn von Rio nach Buenos Aires, von Buenos Aires nach Rosario, von Rosario nach Cordoba und von dort ins westlichste Argentinien, nach Tucuman an den Anden, hetzt, läßt er sein kleines tapferes Genueserherz nicht in die Hosen fallen, sucht und – findet.

Die Geschichte vom Siege eines reinen Herzens, gespannt in den weiten, bunten Rahmen eines Welterlebnisses von Italien bis Argentinien, will nicht nur lehren und erzählen, sie will auch rühren und bewegen, und wir lesen sie und spüren in ihr eines Dichters menschliches Herz.

Das Vor- und Nachwort schrieb
Dr. Hans-Gerd Seilenthin

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[Von den Apenninen zu den Anden]

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V Vor vielen Jahren ging ein kleiner Genuese von dreizehn Jahren, der Sohn eines Arbeiters, allein von Genua nach Amerika, um seine Mutter zu suchen. Seine Mutter war zwei Jahre vorher nach Buenos Aires, der Hauptstadt der Republik Argentinien, gegangen, um in irgendeinem reichen Hause einen Dienst zu übernehmen und so in kurzer Zeit genug zu erwerben, um der Familie, welche infolge verschiedener Unglücksfälle in Armut und Schulden geraten war, wieder aufzuhelfen.

Die Zahl der mutigen Frauen ist nicht klein, die, mit diesem Ziele im Auge, eine so lange Reise machen und die, dank der hohen Löhne, die dort den Dienstboten gezahlt werden, nach Verlauf von wenigen Jahren mit einigen tausend Lire in die Heimat zurückkehren. Die arme Mutter hatte blutige Tränen geweint, als sie sich von ihren Söhnen, von denen der eine achtzehn und der andere elf Jahre zählte, trennen mußte; aber sie war mutig und voll Hoffnung abgereist. Die Reise ging glücklich vonstatten: kaum in Buenos Aires angekommen, hatte sie sofort durch Vermittlung eines genuesischen Krämers, eines Vetters ihres Mannes, der seit vielen Jahren dort wohnte, eine gute argentinische Familie gefunden, die sie reichlich bezahlte und gut behandelte. Eine Zeitlang hatte sie mit den Ihrigen eine regelmäßige Korrespondenz unterhalten. Wie sie miteinander verabredet hatten, richtete der Mann die Briefe an den Vetter, welcher sie der Frau aushändigte, und diese übergab ihm die Antworten, die er nach Genua sandte, indem er auch einige Zeilen beifügte. Da sie jeden Monat achtzig Lire verdiente und für sich nichts ausgab, so schickte sie alle drei Monate eine schöne Summe nach Hause, womit der Mann, ein ehrenhafter Charakter, die dringendsten Schulden nach und nach abzahlte und sich so seinen guten Ruf wieder erwarb. Und unterdessen arbeitete er und war mit seinen Erfolgen zufrieden, in der Hoffnung, seine Frau werde in nicht ferner Zeit zurückkehren, denn das Haus schien leer ohne sie, und hauptsächlich der jüngere Sohn, der seine Mutter sehr liebte, wurde immer trauriger und konnte sich nicht in ihre Abwesenheit schicken.

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Aber ein Jahr nach der Abreise, nach einem kurzen Briefe, in welchem sie sagte, sie befinde sich nicht sehr wohl, blieben die Nachrichten aus. Sie schrieben zweimal an den Vetter; der Vetter antwortete nicht. Sie schrieben an die argentinische Familie, wo die Frau diente, aber sie erhielten keine Antwort; vielleicht war der Brief nicht angekommen, weil der Name auf der Adresse verstümmelt war. Da sie ein Unglück befürchteten, schrieben sie an den italienischen Konsul in Buenos Aires, damit er Nachsuchungen anstelle, und nach drei Monaten bekamen sie die Antwort vom Konsul, daß, ungeachtet des Aufrufes in den Zeitungen, sich niemand gemeldet habe, nicht einmal um Nachricht zu geben. Es war dies nicht anders zu erklären, als daß die gute Frau aus Furcht, durch ihre Dienste als Magd auf den guten Namen der Ihrigen einen Makel zu bringen, oder aus andern Gründen, der argentinischen Familie nicht den wahren Namen angegeben hatte. Wieder verstrichen Monate ohne Antwort. Vater und Söhne waren in Sorge, der kleinste war von einer Traurigkeit niedergedrückt, die er nicht länger besiegen konnte. Was tun? An wen sich wenden? Des Vaters erster Gedanke war, nach Amerika zu gehen, um seine Frau zu suchen. Aber die Arbeit? Wer würde die Söhne erhalten? Und auch der größere Sohn hätte nicht abreisen können, denn er begann gerade jetzt etwas zu verdienen und war der Familie nötig; Und in dieser Angst lebten sie; alle Tage wiederholten sich die gleichen traurigen Reden, und der eine blickte den andern stillschweigend an. Eines Abends sagte Marco, der kleinere, entschlossen: »Nun gehe ich selbst nach Amerika, meine Mutter zu suchen.«

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»Fasse Mut, Marco, du reisest für eine heilige Sache …«

Der Vater schüttelte traurig das Haupt und antwortete nicht. Es war ein liebevoller Gedanke, aber eine unmögliche Sache. Mit dreizehn Jahren allein eine Reise nach Amerika zu machen, zu der es einen ganzen Monat braucht! Aber der Knabe bestand mit Beharrlichkeit darauf. Er bat heute, morgen, alle Tage mit großer Gelassenheit und setzte seine Gründe mit dem klaren Verstande eines Mannes auseinander.

»Andere sind auch dorthin gegangen,« sagte er, »und kleinere als ich. Einmal auf dem Dampfschiff, werde ich dort ankommen so gut wie ein anderer. Bin ich aber dort, so habe ich nur den Laden des Vetters zu suchen. Dort sind so viele Italiener, irgend jemand wird mir die Straße bezeichnen. Wenn ich den Vetter gefunden habe, ist auch die Mutter gefunden, und wenn ich ihn nicht finde, so gehe ich zum Konsul und werde die argentinische Familie suchen. Geschehe was da wolle, so gibt es dort unten für alle Fälle Arbeit; auch ich werde sie finden, wenigstens um so viel zu verdienen, daß ich wieder nach Hause zurückkehren kann.«

Und so, nach und nach, gelang es ihm fast, seinen Vater zu überzeugen. Sein Vater hielt etwas auf ihn, er wußte, daß Marco Verstand und Mut besaß, daß er an Entbehrungen und Opfer gewöhnt war, und daß alle diese guten Eigenschaften in seinem Herzen doppelte Kraft gewonnen hatten für den heiligen Zweck, seine Mutter zu finden, die er anbetete. Es traf sich noch, daß der Kapitän eines Dampfers, der Freund eines seiner Bekannten, der von der Sache gehört hatte, sich anbot, ihm eine Freifahrt dritter Klasse nach Argentinien zu verschaffen. Und nun, nach einigem weitern Zögern, willigte der Vater ein; die Reise wurde beschlossen. Sie füllten Marco einen Sack mit Kleidern, gaben ihm einiges Geld in die Tasche und die Adresse des Vetters, und an einem schönen Abend des Monats April schifften sie ihn ein.

Auf der Treppe des Dampfschiffes, das im Begriffe stand, in See zu stechen, sagte der Vater, indem er seinem Sohn mit Tränen in den Augen den letzten Kuß gab: »Fasse Mut, Marco, du reisest für eine heilige Sache, und Gott wird dir helfen!«

Armer Marco! Er hatte ein starkes und auch für die härtesten Proben dieser Reise vorbereitetes Herz; aber als er am Horizonte sein schönes Genua verschwinden sah und sich auf dem hohen Meere befand, auf diesem großen, von auswandernden Landsleuten angefüllten Schiffe, allein, von keinem Menschen gekannt, mit dem kleinen Sacke, der sein ganzes Vermögen einschloß, ergriff ihn eine plötzliche Entmutigung. Zwei Tage lang legte er sich hin, wie ein Hund, auf das Vorderteil des Schiffes, fast ohne etwas zu essen und gedrückt von einem großen Bedürfnis, zu weinen. Alle Arten trauriger Gedanken gingen ihm durch den Kopf, und der traurigste, der schrecklichste kehrte stets am hartnäckigsten zurück: der Gedanke, seine Mutter sei tot. In seinem unruhigen und oft unterbrochenen Schlafe sah er immer das Gesicht eines Unbekannten, der ihn mit dem Ausdrucke des Mitleids ansah und ihm dann ins Ohr flüsterte: »Deine Mutter ist tot.« Und alsdann erwachte er, indem er einen erstickten Schrei ausstieß. Nichtsdestoweniger faßte er wieder ein wenig Mut und Hoffnung beim ersten Anblick des Atlantischen Ozeans, nachdem sie die Meerenge von Gibraltar passiert hatten. Aber es war eine kurze Erleichterung. Dieses ungeheure, immer gleiche Meer, die wachsende Hitze, die Traurigkeit all der armen Leute, die ihn umgaben, das Gefühl der eigenen Einsamkeit kehrte so stark wieder, daß es ihn niederzuwerfen drohte. Die Tage, die sich leer und gleichförmig folgten, verwirrten sich in seinem Geiste, wie es bei Kranken vorkommt. Es schien ihm, als sei er seit einem Jahre auf dem Meere. Und jeden Morgen, wenn er erwachte, fühlte er einen neuen Schreck, allein in dieser ungeheuren Wasserwüste zu sein, auf der Reise nach Amerika. Und die fliegenden Fische, welche so oft auf das Verdeck fielen, jene wunderbaren Sonnenuntergänge der Tropen, mit den ungeheuren Wolken von Feuer und Blut, jene nächtlichen Phosphoreszenzen, von denen der ganze Ozean wie ein brennendes Meer von Lava erscheint, kamen ihm nicht wie wirkliche Dinge, sondern wie im Traume gesehene Sachen vor. Es gab Tage, an denen das Wetter schlecht war, während welcher er in der Kajüte eingeschlossen blieb, wo alles rüttelte und tanzte, inmitten eines erschreckenden Chores von Wehklagen und Verwünschungen; er glaubte, seine letzte Stunde sei gekommen. Am andern Tage war das Meer ruhig und gelb, aber es herrschte eine unerträgliche Hitze und eine gräßliche Langeweile; unendliche und trübe Stunden, während welcher die schwitzenden Reisenden, unbeweglich auf den Tischen liegend, alle wie Tote erschienen. Die Reise nahm kein Ende, Wasser und Himmel, Himmel und Wasser, heute wie gestern, morgen wie heute – jetzt, immer, ewiglich. Und er lehnte stundenlang an der Brustwehr und betrachtete dieses unendliche Meer, bekümmert, unruhig, an seine Mutter denkend, bis ihm die Augen zufielen und der Kopf ihm vor Schlaf auf die Schulter sank; und dann sah er wieder das unbekannte Gesicht, das ihn teilnehmend ansah und ihm ins Ohr wiederholte: »Deine Mutter ist tot!« und bei dieser Stimme fuhr er plötzlich auf und erwachte, um mit offenen Augen weiterzuträumen und den unveränderten Horizont zu betrachten.

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… und ihm ins Ohr flüsterte: »Deine Mutter ist tot!« …

Siebenundzwanzig Tage dauerte die Reise! Aber die letzten Tage waren die besten. Das Wetter war schön und die Luft frisch. Er hatte die Bekanntschaft eines alten gutmütigen Lombarden gemacht, der nach Amerika ging, um seinen Sohn zu suchen, welcher in der Nähe der Stadt Rosario Bauer war; er hatte ihm alles von seiner Familie erzählt, und der Alte wiederholte ihm oft, indem er ihm mit der Hand auf den Nacken klopfte: »Mut, Büblein, du wirst deine Mutter gesund und wohlbehalten finden.«

Diese Gesellschaft stärkte ihn, und seine Vorgefühle waren aus traurigen ruhige geworden. Auf dem Vorderteil des Schiffes, in der Nähe des alten Bauern sitzend, der seine Pfeife rauchte, unter dem schön gestirnten Himmel, inmitten der Gruppen von Landsleuten, welche sangen, malte er sich hundertmal in Gedanken seine Ankunft in Buenos Aires aus, sah sich in der gewissen Straße, fand den Laden, stürzte sich dem Vetter entgegen: »Wie geht es meiner Mutter? Wo ist sie? Kommt! Laßt mich gleich zu ihr gehen!« Sie liefen miteinander, eilten eine Treppe hinauf, es öffnete sich eine Türe … Und hier hörte sein stummes Selbstgespräch auf, seine Einbildung verlor sich in ein Gefühl unsäglicher Zärtlichkeit, in welchem er heimlich eine kleine Medaille, die er am Halse trug, hervorzog, sie küßte und seine Gebete murmelte.

Am siebenundzwanzigsten Tage nach der Abreise kamen sie an. Es war ein schönes, helles Maimorgenrot, als der Dampfer in dem ungeheuren Rio de la Plata Anker warf, an dessen Ufer sich die große Stadt Buenos Aires, die Hauptstadt der Republik Argentinien, ausbreitet. Dieses prachtvolle Wetter schien ihm ein gutes Vorzeichen zu sein. Er war außer sich vor Freude und Ungeduld. Seine Mutter war in einer Entfernung von wenigen Meilen von ihm! In wenigen Stunden sollte er sie sehen! Und er befand sich in Amerika, in der Neuen Welt, und hatte die Kühnheit gehabt, allein hierher zu kommen! Die ganze, lange Reise löste sich für ihn in ein Nichts auf. Es schien ihm, als ob er im Traum geflogen und in diesem Augenblicke erwacht sei. Und er war so glücklich, daß er sich fast nicht verwunderte und nicht betrübt war, als er die Taschen durchstöberte und nur noch eines der beiden Röllchen vorfand, in welche er seinen kleinen Schatz geteilt hatte, um sicher zu sein, nicht alles auf einmal zu verlieren. Sie hatten es ihm gestohlen; es blieben ihm nur noch wenige Lire; aber was kümmerte ihn das, jetzt, da er in der Nähe der Mutter war? Mit seinem Sacke in der Hand stieg er mit vielen andern Italienern in ein kleines Dampfschiff, das sie in die Nähe des Ufers brachte, stieg vom Dampfschiff in eine Barke, die den Namen Andrea Doria trug, wurde am Hafendamme ausgeschifft, grüßte seinen alten lombardischen Freund, und schlug mit großen Schritten den Weg nach der Stadt ein. – Bei der ersten Straße angekommen, hielt er einen vorübergehenden Mann an und bat ihn, ihm zu sagen, welchen Weg er nehmen müsse, um in die Straße »de los Artes« zu gelangen. Er hatte zufällig einen italienischen Arbeiter angesprochen. Dieser betrachtete ihn neugierig und fragte ihn, ob er lesen könne. Der Knabe nickte ja.

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… stieg er mit anderen Italienern in ein kleines Dampfschiff …

»Nun gut,« sagte ihm der Arbeiter, auf die Straße zeigend, aus der er gekommen war; »gehe immer gerade hinauf, indem du an allen Ecken die Namen der Straßen liesest; du wirst auch die deinige finden.«

Der Knabe dankte ihm und betrat die Straße, die sich vor ihm öffnete.

Es war eine gerade, endlose, aber enge Straße; zu beiden Seiten standen niedrige weiße Häuser, die wie kleine Villen aussahen; sie war voll von Leuten, Kutschen, großen Wagen, die einen betäubenden Lärm machten; hier und dort schwebten sehr große Fahnen von verschiedenen Farben in der Luft und darauf war mit großen Buchstaben die Abreise der Dampfer nach unbekannten Städten angekündigt. So oft er ein kurzes Stück Weges gegangen war, sah er rechts und links zwei andere Straßen, die geradeaus liefen, soweit das Auge reichte, auch mit niedrigen weißen Häusern zu beiden Seiten und voll von Leuten und Wagen, und an ihrem Ende durchschnitten von der geraden Linie der unendlichen amerikanischen Ebene, ähnlich dem Horizonte des Meeres. Die Stadt schien ihm ohne Grenzen. Er glaubte tage- und wochenlang herumwandern zu können und immer andere Straßen sehen zu müssen, als ob ganz Amerika davon bedeckt sei. Er betrachtete aufmerksam die Namen der Straßen: fremde Namen, die zu lesen er Mühe hatte. Bei jeder neuen Straße fühlte er das Herz klopfen, da er dachte, es sei die seine. Er betrachtete alle Frauen mit dem Gedanken, seine Mutter anzutreffen. Er sah eine vor sich, die ihm das Herz klopfen machte: er erreichte sie, betrachtete sie: es war eine Negerin. Er kam an einem Kreuzweg an, las, und blieb wie angewurzelt auf dem Trottoir. Es war die »Straße der Künste«. Er bog in dieselbe ein, sah die Nummer 117; der Laden seines Vetters war in Nr. 175. Er beschleunigte den Schritt noch, sprang mehr, als er lief; bei Nummer 171 mußte er anhalten, um Atem zu schöpfen. Und er sagte zu sich: »O Mutter! Mutter! Ist es wirklich wahr, daß ich dich in einigen Augenblicken sehen werde?« Er lief vorwärts und kam an einen kleinen Krämerladen. Da war es. Er trat ein. Er sah eine Frau mit grauen Haaren und einer Brille.

»Was willst du, Knabe?« fragte ihn diese auf spanisch.

»Ist dies nicht«, sagte der Knabe, mit Mühe ein Wort hervorbringend, »der Laden von Francesco Merelli?«

»Francesco Merelli ist tot,« antwortete die Frau auf italienisch.

Dem Knaben war es, als ob er einen Stoß in die Brust erhielte.

»Wann ist er gestorben?«

»Eh, seit geraumer Zeit,« antwortete die Frau; »seit Monaten. Er machte schlechte Geschäfte und suchte das Weite. Man sagte, er sei nach Bahia Blanca gegangen, weit fort von hier. Und kaum dort angekommen, starb er. Der Laden gehört mir.«

Der Knabe erbleichte.

Dann sagte er sehr schnell: »Merelli kannte meine Mutter; meine Mutter diente bei Herrn Mequinez. Er allein hätte mir sagen können, wo ich sie finden würde. Ich bin nach Amerika gekommen, um meine Mutter zu suchen. Merelli schickte ihr unsere Briefe. Ich muß meine Mutter finden.«

»Armer Junge,« antwortete die Frau, »da ist guter Rat teuer. Ich will den Lehrbuben fragen, er kannte den Jungen, der für Merelli die Kommissionen besorgte. Es kann sein, daß er etwas zu sagen weiß.«

Sie ging in den hintern Teil des Ladens und rief den Knaben, der sofort kam. »Sag einmal,« fragte ihn die Krämerin, »erinnerst du dich, daß der Bursche Merellis hie und da Briefe an eine Frau brachte, die im Hause eines Sohnes des Landes im Dienste stand?«

»Zu Herrn Mequinez,« antwortete der Knabe, »ja Madame, einige Male. Am Ende der Straße der Künste.«

»Ah, liebe Frau, Dank!« rief Marco. »Nennen Sie mir die Nummer … Sie wissen sie nicht? Geben Sie mir eine Begleitung, – begleite du mich selber, Knabe, ich habe noch Soldi.«

Und er sprach dies mit solcher Wärme, daß der Knabe, ohne den Auftrag der Frau abzuwarten, sagte: »Gehen wir;« und er ging schnellen Schrittes zuerst hinaus.

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Er lief vorwärts und kam an einen kleinen Krämerladen.

Eiligen Laufes, ohne ein Wort zu sagen, gingen sie bis zum Ende der sehr langen Straße, traten in den Torweg eines kleinen weißen Hauses und hielten vor einem schönen eisernen Gitter, von welchem aus man einen Hof voll von Blumentöpfen sah. Marco zog die Glocke.

Ein Fräulein erschien.

»Hier wohnt die Familie Mequinez, nicht wahr?« fragte ängstlich der Knabe.

»Wohnte hier,« antwortete das Fräulein, das Italienische nach spanischer Art betonend. »Jetzt wohnen wir hier, Zeballos.«

»Und wohin sind die Mequinez gegangen,« fragte Marco mit Herzklopfen.

»Sie sind nach Cordova gegangen.«

»Cordova!« rief Marco aus. »Wo ist Cordova? Und die Person, die bei ihnen im Dienst stand? Die Frau, meine Mutter? Die Dienerin war meine Mutter! Haben sie meine Mutter auch mitgenommen?«

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»Wohnte hier,« antwortete das Fräulein …

Das Fräulein betrachtete ihn und sagte: »Ich weiß nicht. Mein Vater weiß es vielleicht, er hat sie gekannt, bevor sie abreisten. Wartet einen Augenblick.«

Sie eilte fort und kehrte bald darauf mit ihrem Vater zurück, einem großen Herrn mit grauem Bart. Dieser betrachtete einen Augenblick die einnehmende Figur des genuesischen Schiffers mit blonden Haaren und Adlernase und fragte ihn in schlechtem Italienisch: »Deine Mutter ist Genueserin?«

Marco antwortete: »Ja.«

»Nun, die genuesische Dienstfrau ist mit ihnen fortgezogen, ich weiß es genau.«

»Und wohin sind sie gegangen?«

»Nach Cordova, einer Stadt.«

Der Knabe seufzte; alsdann sagte er mit Ergebung: »Nun … dann werde ich nach Cordova gehen.«

»Ah pobre nino!« rief der Herr aus, indem er ihn mitleidig betrachtete.

»Armer Knabe! Cordova ist Hunderte von Meilen von hier.«

Marco wurde bleich wie ein Toter und stützte sich mit einer Hand am Gitter.

»Laßt uns sehen, laßt uns sehen!« sagte nun der Herr mitleidig und öffnete die Türe, »komm einen Augenblick herein; sehen wir, ob sich etwas tun läßt.« – Er hieß ihn sich setzen, hieß ihn seine Geschichte erzählen, hörte ihm sehr aufmerksam zu, dachte eine Zeitlang nach, dann fragte er ihn kurz: »Du hast kein Geld, nicht wahr?«

»Ich habe noch … ein wenig,« antwortete Marco. Der Herr dachte wieder fünf Minuten nach, dann setzte er sich an sein Pult, schrieb einen Brief, verschloß ihn und indem er ihn den Knaben reichte, sagte er: »Höre, mein kleiner Italiener. Gehe mit diesem Briefe nach Boca. Es ist eine kleine, halb genuesische Stadt, zwei Wegstunden von hier. Jedermann kann dir den Weg zeigen. Gehe dorthin und suche den Herrn, an den dieser Brief gerichtet ist und den jedermann kennt. Bringe ihm diesen Brief. Er wird dafür sorgen, daß du morgen nach der Stadt Rosario reisen kannst, und er wird dich an jemand dort oben empfehlen, der es dir möglich macht, die Reise bis nach Cordova fortzusetzen, wo du die Familie Mequinez und deine Mutter finden wirst. Indessen nimm das.« Und er drückte ihm etwas Geld in die Hand. »Gehe, fasse Mut! Du findest da überall Landsleute, du wirst nicht verlassen sein. Addios.«

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Nun befand er sich am folgenden Tage in der Dämmerung auf dem Hinterteil einer großen, mit Früchten beladenen Segelbarke …

Der Knabe sagte zu ihm: »Dank,« ohne andere Worte zu finden, ging mit seinem Sacke hinaus, und nachdem er sich von seinem kleinen Führer verabschiedet hatte, trat er langsam den Weg nach Boca an, voll Traurigkeit und zugleich auch voll Staunen über die große geräuschvolle Stadt, deren Straßen er durchschritt.

Was ihm von diesem Augenblick an bis zum Abend des nächsten Tages begegnete, haftete in seinem Gedächtnis undeutlich und halb verwischt, wie die Phantasien eines Fieberkranken, so sehr war er ermüdet, beängstigt, aufgeregt und mutlos. Während der Nacht hatte er in einem schlechten Zimmer eines Hauses in Boca, neben einem Hafenlastträger geschlafen und dann fast den ganzen Tag auf einem Haufen Balken gesessen, wie im Traume, angesichts der Tausende von großen Schiffen, Barken und kleinen Dampfern. Nun befand er sich am folgenden Tage in der Dämmerung auf dem Hinterteil einer großen, mit Früchten beladenen Segelbarke, die nach der Stadt Rosario ging und von drei kräftigen, von der Sonne gebräunten Genuesern geführt wurde; die Stimme dieser Landsleute und der geliebte Dialekt, den sie sprachen, gab ihm ein wenig Trost ins Herz.

Sie reisten ab, und die Reise dauerte drei Tage und vier Nächte und setzte den kleinen Reisenden in fortwährendes Erstaunen. Drei Tage und vier Nächte auf diesem wunderbaren Strome Parana, im Vergleich mit welchem der große Po nur ein Bächlein ist; würde doch die Länge seines Laufes mehrfach die Länge Italiens ausmachen. Die Barke ging langsam diese ungeheure Wasserstraße hinauf. Man fuhr an langgestreckten Inseln vorüber, die ehemals Nester von Schlangen und Tigern gewesen, und nun, von Orangenbäumen und Weiden ganz überwachsen, im Wasser schwimmenden Wäldern gleichsahen. Bald durchfuhr man enge Kanäle, aus denen man nicht mehr herauszukommen glaubte; bald lief man in große Wasserflächen hinaus, dem Anscheine nach große, ruhige Seen; dann wieder zwischen den Inseln, durch vielfach verschlungene Kanäle, mitten durch ungeheure Dickichte von Pflanzen. Es herrschte eine tiefe Stille. Je mehr sie vorrückten, desto mutloser machte den Knaben dieser ungeheure Strom. Er bildete sich ein, seine Mutter befinde sich an den Quellen, und die Fahrt müsse jahrelang dauern. Zweimal des Tages aß er mit den Schiffern ein wenig Brot und gesalzenes Fleisch. Die Schiffer, welche ihn so traurig sahen, redeten ihn nie an. Während der Nacht schlief er auf Decken und erwachte oft plötzlich, erschreckt von dem hellen Lichte des Mondes, das die unermeßlichen Wasser und die fernen Ufer beleuchtete, und dann schnürte sich sein Herz zusammen. – Cordova! – Er wiederholte diesen Namen: Cordova! wie den Namen einer der wunderbaren Städte, von denen er in den Märchen hatte erzählen hören. Aber dann dachte er: »Meine Mutter ist da vorbeigekommen, sie hat diese Inseln, diese Ufer gesehen,« und alsdann erschienen ihm diese Orte, auf denen der Blick seiner Mutter geruht hatte, nicht mehr fremd und einsam … In der Nacht sang einer der Schiffer. Diese Stimme erinnerte ihn an die Lieder, mit welchen die Mutter ihn als Kind einschläferte. Die letzte Nacht schluchzte er, als er diese Töne hörte. Der Schiffer unterbrach seinen Gesang. Dann rief er: »Mut, Mut, Knabe! Zum Teufel! Ein Genuese, der weint, weil er weit von Hause ist! Die Genuesen durchziehen die Welt glorreich und triumphierend!«

»Nun wohl, ja,« sagte er zu sich selbst, »sollte ich auch die ganze Welt durchwandern, noch Jahre und Jahre reisen und Hunderte von Meilen zu Fuß machen müssen, ich gehe vorwärts, bis ich meine Mutter finde. Sollte ich auch sterbend ankommen und tot zu ihren Füßen hinsinken! Wenn ich sie nur einmal wiedersehe! Mut!«

Und so, gehobenen Sinnes, kam er bei Anbruch eines rosigen Morgens beruhigter in der am hohen Ufer des Parana gelegenen Stadt Rosario an, wo sich in den Wassern die beflaggten Mäste von hundert Schiffen aller Länder spiegelten.

Kurz nach der Ausschiffung. stieg er mit seinem Sacke in der Hand nach der Stadt hinauf, um den argentinischen Herrn zu suchen, an welchen ihm sein Beschützer von Boca eine Visitenkarte mit einigen empfehlenden Worten übergeben hatte. Als er in Rosario eintraf, glaubte er, in eine schon bekannte Stadt zu kommen. Es waren die gleichen endlosen, geraden Straßen, mit niedrigen, weißen Häusern zu beiden Seiten, über die Dächer liefen in allen Richtungen Telegraphen- und Telephondrähte, die wie ungeheure Spinnengewebe aussahen; es war ein großer Lärm von Leuten, Pferden, Wagen. Sein Sinn verwirrte sich, und er glaubte fast, wieder in Buenos Aires zu sein und nochmals den Vetter suchen zu müssen. Er ging fast eine Stunde lang herum, wandte sich dahin und dorthin und glaubte, immer in die gleiche Straße zurückzukehren; durch viele Fragen fand er endlich das Haus seines neuen Beschützers. Er zog die Glocke. An der Türe zeigte sich ein großer, blonder, mürrischer Mann, der das Aussehen eines Verwalters hatte, und fragte ihn unhöflich, mit fremder Betonung: »Zu wem willst du?«

Der Knabe nannte den des Herrn.

»Der Herr,« antwortete der Verwalter, »ist gestern abend mit der ganzen Familie nach Buenos Aires abgereist.« – Der Knabe blieb sprachlos.

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Dann stammelte er: »Aber ich … ich habe niemand hier! Ich bin allein!«

Dann stammelte er: »Aber ich … ich habe niemand hier! Ich bin allein!« – und er überreichte die Karte.

Der Verwalter nahm sie, las und sagte mürrisch: »Ich kann nicht helfen. Ich werde sie ihm in einem Monat übergeben, wenn er zurück sein wird.«

»Aber ich, ich bin allein! Ich bin bedürftig!« rief der Knabe mit bittender Stimme.

»Das geht mich nichts an,« sagte der andere; »ist noch nicht genug Gesindel aus deinem Lande in Rosario! Mach, daß du fortkommst und bettle in Italien.« Und er schloß ihm das Gitter vor der Nase zu. Der Knabe blieb wie versteinert stehen.

Dann nahm er langsam seinen Sack und entfernte sich mit gepreßtem Herzen, und in seiner Aufregung von tausend ängstlichen Gedanken geplagt. Was tun? Wohin gehen? Von Rosario nach Cordova war es eine Tagereise mit der Eisenbahn. Er hatte nur noch einige Lire. Nach Abzug dessen, was er diesen Tag brauchte, blieb ihm fast nichts mehr. Wo das Geld finden, um die Reise zu bezahlen? Er konnte arbeiten! Aber wie, wen um Arbeit bitten? Betteln? Ach nein! Fortgewiesen, beschimpft, gedemütigt werden wie vorhin, nein, nie, nie mehr, lieber sterben! – Und bei diesem Gedanken und beim Wiederanblick der langen Straße, die sich in der grenzenlosen Ebene verlor, fühlte er, wie ihn der Mut neuerdings verließ; er warf den Sack aufs Trottoir, setzte sich darauf, mit dem Rücken an der Mauer, und verbarg das Gesicht in den Händen, ohne zu weinen, in stummer Verzweiflung.

Die vorübergehenden Leute stießen ihn mit den Füßen; der Lärm der Wagen erfüllte die Straßen; einige Knaben standen still, um ihn zu betrachten. So blieb er eine Zeitlang sitzen.

Plötzlich wurde er durch eine Stimme aufgeschreckt, durch eine Stimme, die ihn auf italienisch und lombardisch fragte: »Was hast du, Büblein?«

Bei diesen Worten hob er das Gesicht und sofort sprang er auf die Füße, indem er einen Ruf der Verwunderung ausstieß: »Ihr hier?«

Es war der alte lombardische Bauer, mit dem er auf der Reise Freundschaft geschlossen hatte.

Die Verwunderung des Bauern war nicht kleiner als die seine. Aber der Kleine ließ ihm keine Zeit, ihn zu befragen, und erzählte ihm mit großer Schnelligkeit seine Erlebnisse. »Nun bin ich ohne Geld; ich muß arbeiten; sucht mir Arbeit, damit ich einige Lire zusammenbringen kann; ich kann alles tun: Sachen tragen, die Straßen kehren, Aufträge besorgen, auch auf dem Felde arbeiten; ich bin zufrieden, wenn ich nur Schwarzbrot bekomme; wenn ich nur bald abreisen kann, wenn ich nur einmal meine Mutter finden kann; erweist mir die Gefälligkeit; Arbeit, sucht mir Arbeit; um Gottes willen, sonst bin ich verloren!«

»Zum Kuckuck, ja!« sagte der Bauer, umherschauend und sich am Kinn kratzend. »Was für Geschichten sind das! … Arbeiten … ist bald gesagt. Laß sehen! Ob's nicht möglich wäre, unter so vielen Landsleuten dreißig Lire zu finden?«

Der Knabe betrachtete ihn, gestärkt von einem Hoffnungsstrahl.

»Komm mit!« sagte der Bauer.

»Wohin?« fragte der Knabe, indem er seinen Sack ergriff.

»Komm mit!«

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… Was hast du, Büblein« …?

Der Bauer ging, Marco folgte ihm, sie durchschritten miteinander ein langes Stück Weges, ohne zu sprechen. Der Bauer hielt an der Türe einer Schenke, welche als Schild einen Stern hatte, um den geschrieben stand: »La estrella de Italia;« er steckte den Kopf hinein, und sich gegen den Knaben kehrend, sagte er heiter: »Wir kommen im rechten Augenblicke.« – Sie traten in ein großes Zimmer, wo mehrere Tische waren, um die viele Männer saßen, welche tranken und laut sprachen. Der alte Lombarde näherte sich dem ersten Tische, und aus der Weise, wie er die sechs Gäste, welche ringsherum saßen, grüßte, sah man, daß er bis kurz vorher in ihrer Gesellschaft gewesen war. Sie waren rot im Gesichte und ließen die Gläser klingen, indem sie laut sprachen und lachten.

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»Kameraden,« sagte der Lombarde

»Kameraden,« sagte ohne weiteres der Lombarde, indem er Marco vorstellte, »hier ist ein armer Knabe, unser Landsmann, der allein von Genua nach Buenos Aires gekommen ist, um seine Mutter zu suchen. In Buenos Aires sagten sie ihm: Sie ist nicht hier, sie ist in Cordova. Er kommt in einer Barke nach Rosario, drei Tage und vier Nächte, mit zwei Zeilen Empfehlung; er übergibt die Karte: man schneidet ihm eine Grimasse. Er besitzt nicht einen armen Centesimo. Er ist hier allein wie ein Verzweifelter. Und ein Knabe von Herz! Laßt einmal sehen! Sollten wir nicht soviel zusammenbringen, um die Fahrkarte nach Cordova zu bezahlen, damit er seine Mutter aufsuchen kann? Sollen wir ihn wie einen Hund hier lassen?«

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... hier ist ein armer Knabe …

»Nie und nimmer, bei Gott, nein! – Niemand wird so etwas sagen wollen!« schrien alle miteinander, indem sie mit den Fäusten auf den Tisch schlugen. »Unser Landsmann!« – »Komm hierher, Kleiner!« – »Wir sind's, die Auswanderer!« – »Sieh, welch schöner Junge! Heraus mit den Centesimi, Kameraden!« – »Bravo, allein gekommen! Du hast Herz!« – »Trink einen Schluck, Landsmann!« – »Wir werden dich deiner Mutter schicken, glaub's nur!« – Und der eine kniff ihn in die Wange, ein anderer legte ihm die Hand auf die Schulter, ein dritter nahm ihm den Sack ab; andere Auswanderer erhoben sich von den benachbarten Tischen und näherten sich; die Geschichte des Knaben machte die Runde in der ganzen Schenke; aus dem anstoßenden Zimmer kamen zwei argentinische Gäste herbei; in weniger als zehn Minuten hatte der lombardische Bauer, der den Hut hinhielt, zweiundvierzig Lire darin. »Hast du gesehen,« sagte er hierauf, indem er sich zu dem Knaben wandte, »wie schnell es geht in Amerika?« »Trink!« rief ihm ein anderer zu, indem er ihm ein Glas Wein reichte: »Auf die Gesundheit deiner Mutter!« Alle erhoben die Gläser. Und Marco wiederholte: »Auf die Gesundheit meiner …« – Aber ein Freudenschluchzen schloß ihm die Kehle und er stellte das Glas wieder auf den Tisch und warf sich an den Hals seines Freundes.

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der Zug, fast leer, flog durch eine ungeheure Ebene, die gänzlich unbewohnt war

Am folgenden Morgen bei Tagesanbruch war er schon nach Cordova abgereist, kühn und lachend, voll von glücklichen Vorahnungen. Aber es gibt keine Heiterkeit, die bei einem widrigen Aussehen der Natur anzuhalten vermag. Das Wetter war dumpf und grau; der Zug, fast leer, flog durch eine ungeheure Ebene, die gänzlich unbewohnt war. Marco befand sich allein in einem großen, sehr langen Wagen, der mit denjenigen für die Verwundeten Ähnlichkeit hatte. Er blickte nach rechts, er blickte nach links und sah nichts als eine Einöde ohne Grenzen, auf welcher kleine, unförmige Bäume mit verkrüppelten Stämmen und Zweigen vereinzelt standen, in Stellungen, wie er sie nie gesehen hatte, fast wie zornig und ängstlich; eine dunkle, spärliche und traurige Vegetation, welche der Ebene das Aussehen eines endlosen Kirchhofes gab. Er schlummerte eine halbe Stunde und sah wieder hin: es war immer das gleiche Schauspiel. Die Stationen der Eisenbahn waren öde wie Einsiedlerhütten; und wenn der Zug anhielt, hörte man keinen Laut; er kam sich allein vor in dem Eisenbahnzuge, verloren und verlassen inmitten einer Wüste. Er glaubte bei jeder Station, es sei die letzte und nach dieser komme das geheimnisvolle, fürchterliche Land der Wilden. Eine eisigkalte Luft blies ihm in das Gesicht. Als er sich in Genua Ende April einschiffte, dachten die Seinigen nicht, daß er in Amerika den Winter finden könnte und hatten ihn sommerlich gekleidet. Nach einigen Stunden begann er unter der Kälte zu leiden und mit der Kälte die Müdigkeit der vergangenen Tage, mit ihren heftigen Aufregungen, und der schlaflosen und aufreibenden Nächte zu spüren. Er schlief ein, schlief lange Zeit, erwachte, von der Kälte starr und steif geworden; er fühlte sich unwohl. Und dann ergriff ihn eine unbestimmte Angst, krank zu werden und während der Reise zu sterben, und mitten in diese öde, trostlose Ebene geworfen zu werden, wo sein Leichnam von Hunden und Raubvögeln zerfleischt würde, wie die Körper von Pferden und Kühen, die er hie und da in der Nähe der Bahn sah, und von welchen er den Blick mit Schaudern abwandte. Das Unwohlsein vermehrte seine Unruhe und durch die düstere Stille der Natur regte sich seine Einbildung auf und verlor sich ins Unendliche. War er gewiß, in Cordova seine Mutter zu finden? Und wenn sie nicht dort wäre? Wenn sich jener Herr in der »Straße der Künste« geirrt hätte? Und wenn sie tot wäre? Mit diesen Gedanken schlief er wieder ein, träumte, er sei in Cordova und man rufe ihm aus allen Türen, aus allen Fenstern zu: »Sie ist nicht da! Sie ist nicht da! Sie ist nicht da!« – Er erwachte erschreckt und sprang bestürzt in die Höhe, und sah hinten im Wagen drei bärtige Männer, in buntfarbige Schals eingewickelt, welche ihn betrachteten und untereinander mit leiser Stimme sprachen; es blitzte in ihm der Verdacht auf, es seien Mörder, die ihn töten wollten, um ihm den Sack zu stehlen. Zu der Kälte, zum Unwohlsein gesellte sich noch die Furcht; die schon erregte Phantasie überschritt die Grenzen; die drei Männer betrachteten ihn immer, einer von ihnen ging auf ihn zu; fast verlor er die Besinnung, und, ihm mit erhobenen Armen entgegenlaufend, schrie er: »Ich habe nichts. Ich bin ein armer Knabe. Ich komme aus Italien und gehe, um meine Mutter zu suchen; ich bin allein; tut mir nichts zuleide!« – Jene verstanden ihn sofort und hatten Mitleid mit ihm, liebkosten und beruhigten ihn, indem sie viele Worte zu ihm sagten, die er nicht verstand; da sie sahen, daß er vor Kälte mit den Zähnen klapperte, legten sie ihm einen ihrer Schals um und hießen ihn wieder sitzen, damit er schliefe. Er schlief wieder ein, als es dunkelte. Als sie ihn wieder weckten, war er in Cordova.

Ah! Wie er aufatmete und mit welchem Ungestüm er aus dem Wagen sprang! Er fragte einen Angestellten des Bahnhofs, wo der Ingenieur Mequinez wohne: dieser nannte ihm den Namen einer Kirche; der Knabe machte sich fort. Es war Nacht. Er gelangte in die Stadt und glaubte ein zweites Mal in Rosario einzutreten, als er diese geraden Straßen sah, zu deren beiden Seiten kleine, weiße Häuser standen und die von andern geraden, sehr langen Straßen durchschnitten waren. Aber es waren wenig Leute in den Straßen, und bei dem Schein der wenigen Laternen traf er auf fremde Gesichter von einer unbekannten Farbe zwischen schwarz und grün, und wenn er das Gesicht hie und da erhob, sah er Kirchen von bizarrer Bauart, die sich ungeheuer groß und schwarz vom Firmament abhoben. Die Stadt war düster und still; aber nachdem er diese ungeheure Wüste passiert, erschien sie ihm freundlich. Er befragte einen Priester, fand bald die Kirche und das Haus, zog mit zitternder Hand am Glockenzug und drückte die andere auf den Busen, um sein klopfendes Herz, das ihm zu zerspringen drohte, zu beschwichtigen.

Eine Alte, mit einem Licht in der Hand, kam, um zu öffnen.

Der Knabe konnte nicht sofort sprechen.

»Wen suchst du?« fragte jene auf spanisch.

»Den Ingenieur Mequinez,« sagte Marco.

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»… daß der Herr Mequinez in Tucuman wohnt!« …

Die Alte kreuzte die Arme auf der Brust und antwortete, indem sie den Kopf schüttelte: »Auch du also willst zu dem Ingenieur Mequinez! Es scheint mir, es wäre bald Zeit, daß dies aufhörte. Nun sind es drei Monate, daß sie uns hier belästigen. Es genügt nicht, daß es in den Zeitungen stand. Man wird es auf die Straßenecken drucken müssen, daß der Herr Mequinez in Tucuman wohnt!«

Der Knabe machte eine Bewegung der Verzweiflung. Dann brach er in einen zornigen Ausruf aus. »Es ist wie ein Fluch! Ich muß noch auf der Straße sterben ohne meine Mutter zu finden! Ich werde verrückt, tötet mich lieber! Mein Gott! Wie heißt jene Stadt? Wo ist sie? Wie weit ist's?«

»Nun, armer Junge,« antwortete die Alte mitleidig, »so arg weit nicht! Es werden etwa vier- oder fünfhundert Meilen sein, um wenig zu sagen.«

Der Knabe bedeckte sich das Gesicht mit beiden Händen; dann sagte er schluchzend: »Und jetzt … was soll ich tun?«

»Was soll ich dir sagen, armer Kleiner,« antwortete die Frau. »Ich weiß es nicht.«

Aber plötzlich fuhr ihr ein Gedanke durch den Kopf und sie sagte eilig: »Höre, es kommt mir etwas in den Sinn. Ich weiß etwas. Geh dort hinüber, rechts von der Straße; an der dritten Türe wirst du einen Hof finden; dort ist ein »Capataz«, ein Kaufmann, der morgen mit seinen Wagen und seinen Ochsen nach Tucuman abreist; gehe und sieh, ob er dich nimmt, wenn du ihm deine Dienste anbietest; er gibt dir vielleicht einen Platz auf einem Wagen; gehe schnell!«

Der Knabe ergriff den Sack, dankte im Forteilen und nach zwei Minuten befand er sich in einem großen, von Laternen erleuchteten Hofe, wo mehrere Männer beschäftigt waren, Fruchtsäcke auf enorme Wagen zu laden, die mit ihrem runden Dache und ihren sehr hohen Rädern den fahrenden Häusern der Seiltänzer ähnlich waren. Ein großer schnurrbärtiger Mann, in eine Art weiß und schwarz gewürfelten Mantel und große Stiefel gekleidet, leitete die Arbeit. Der Knabe näherte sich diesem und brachte furchtsam seine Frage vor, indem er sagte, er komme aus Italien und suche seine Mutter.

Der Capataz, was heißen will Meister (der Hauptanführer der Karawane), betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen und antwortete trocken: »Ich habe keinen Platz.«

»Ich habe fünfzehn Lire,« antwortete der Knabe mit bittender Stimme; »ich gebe Ihnen meine fünfzehn Lire. Während der Reise werde ich arbeiten. Ich werde Wasser schöpfen und das Vieh füttern, ich will alle Dienste verrichten. Ein wenig Brot genügt mir. Bitte, geben Sie mir doch einen Platz, mein Herr!«

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Ein großer schnurrbärtiger Mann, in eine Art weiß und schwarz gewürfelten Mantel und …

Der Capataz betrachtete ihn wieder und antwortete mit größerer Freundlichkeit: »Es ist kein Platz … und dann … wir gehen nicht nach Tucuman, wir gehen in eine andere Stadt, nach Santiago dell' Estero. Irgendwo unterwegs müßten wir dich allein lassen, und du hättest noch ein großes Stück zu Fuß zu machen.«

»Ach, ich würde das Doppelte machen!« rief Marco; »ich werde gehen, denken Sie nicht an das; ich werde auf jede Weise ankommen; geben Sie mir ein Plätzchen, Herr, um Gottes willen; um Gottes willen, lassen Sie mich nicht allein hier!«

»Bedenke, es ist eine Reise von zwanzig Tagen!«

»Es tut nichts.«

»Es ist eine harte Reise!«

»Ich werde alles ertragen.«

»Du wirst allein reisen müssen!«

»Ich fürchte mich vor nichts. Wenn ich nur meine Mutter finde. Haben Sie Mitleid!«

Der Capataz hielt ihm eine Laterne vors Gesicht und betrachtete ihn. Dann sagte er: »Nun wohl.«

Der Knabe küßte ihm die Hand.

»Diese Nacht wirst du in einem Wagen schlafen,« sagte der Capataz, indem er ihn verließ, »morgen früh um vier Uhr werde ich dich wecken. Buenas noches.«

Morgens um vier Uhr, beim Sternenlicht, setzte sich die lange Reihe der Wagen mit großem Lärm in Bewegung: jeder Wagen war von sechs Ochsen gezogen, dem Zuge folgte eine große Zahl von Tieren zum Wechseln. Der Knabe, in einem der Wagen halb erwacht, schlief auf den Säcken sofort wieder tief ein. Als er neuerdings erwachte, hielt der Zug an einem einsamen Orte, und alle die Männer – i peones – saßen im Kreise um das Viertel eines Kalbes, das in freier Luft an einem langen, in die Erde gepflanzten Spieße stak, bei einem großen Feuer, das vom Winde bewegt wurde. Sie aßen miteinander, schliefen und reisten dann weiter, und so wurde die Reise fortgesetzt, regelmäßig, wie ein militärischer Marsch. Jeden Morgen setzten sie sich um fünf Uhr in Bewegung, um neun Uhr wurde Halt gemacht, um fünf Uhr abends weitergereist und um zehn Uhr wieder Halt gemacht. Die Peones waren zu Pferde und trieben die Ochsen mit langen Stacheln. Der Knabe zündete das Feuer für den Braten an, gab dem Vieh zu fressen, reinigte die Laternen und trug das Trinkwasser herbei. Die Gegend zog an ihm vorüber, wie eine undeutliche Vision: weite Wälder mit kleinen braunen Bäumen; Dörfer mit wenigen zerstreuten Häusern, deren rote Vorderseiten mit Zinnen versehen waren; soweit das Auge reichte, große Flächen, weiß wie von Salz, vielleicht alte Becken von großen Salzseen, und auf allen Seiten unaufhörlich Ebene, Einöde, Stille. Sehr selten trafen sie zwei oder drei Reisende zu Pferde an, welchen eine Herde lediger Pferde folgte, die wie ein Wirbelwind im Galopp vorübersausten. Die Tage waren sich ganz gleich wie auf dem Meere, unausstehlich und unendlich. Aber das Wetter war schön. Hingegen wurden die Peones, als ob der Knabe ihr verpflichteter Diener gewesen wäre, von Tag zu Tag anspruchsvoller: einige behandelten ihn brutal, mit Drohungen; alle ließen sich von ihm ohne Nachsicht bedienen; er mußte sehr schwere Lasten von Futter tragen; sie schickten ihn in große Entfernungen, um Wasser zu holen, und ganz übermüdet, wie er war, konnte er nicht einmal des Nachts schlafen und wurde fortwährend gestört von dem heftigen Rütteln des Wagens und von dem betäubenden Knarren der Räder und der hölzernen Achsen. Zum Überfluß erhob sich ein Wind; ein feiner rötlicher Staub, der alle einhüllte, drang in den Wagen, kam ihm unter die Kleider, füllte ihm Augen und Mund, erschwerte ihm das Sehen und Atmen und wurde auf die Dauer unerträglich lästig. Von den Mühen und der Schlaflosigkeit überwältigt, zerrissen und schmutzig, ausgescholten und schlecht behandelt vom Morgen bis zum Abend, kam der arme Knabe jeden Tag mehr herunter und er würde den Mut vollständig verloren haben, wenn nicht der Capataz ihm von Zeit zu Zeit einige gute Worte gegeben hätte. Oft weinte er ungesehen in einem Winkel des Wagens, das Gesicht begraben in seinem Sacke, der nur noch Lumpen enthielt. Jeden Morgen erhob er sich schwächer und mutloser, und indem er die Gegend betrachtete und immer diese unendliche und unerbittliche Ebene, wie einen Ozean aus Erde, sah, sagte er zu sich: »Oh, diesen Abend erlebe ich nicht! Diesen Abend erlebe ich nicht! Heute sterbe ich auf dem Wege.« Und die Mühen wuchsen, die schlechte Behandlung verdoppelte sich.

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Und die Mühen wuchsen, die schlechte Behandlung …

Eines Morgens, da er sich beim Wassertragen verspätet hatte, schlug ihn einer der Männer in Gegenwart des Capataz. Und nun begannen sie ihn zum Spielzeug zu machen, und, wenn sie ihm einen Befehl erteilten, ihm auch eine Ohrfeige zu geben, mit den Worten: »Sack das ein, Vagabund! – Bring das deiner Mutter!« Das Herz brach ihm! Er wurde krank; er lag drei Tage im Wagen unter einer Decke, von Fieber geschüttelt, und sah niemand außer dem Capataz, der kam, um ihm einen Trank zu reichen und ihm den Puls zu fühlen. Und nun glaubte er sich verloren und rief verzweifelt nach seiner Mutter, sie hundertmal beim Namen nennend: »Oh Mutter! Mutter! Hilf mir! Komm mir entgegen, denn ich sterbe! Oh meine arme Mutter, ich werde dich nie mehr sehen! Meine arme Mutter, du wirst mich tot auf der Straße finden!« Und er faltete die Hände auf der Brust und betete. Dann wurde es besser mit ihm, dank der Sorge des Capataz, und er wurde gesund; aber mit der Genesung näherte sich auch der schrecklichste Tag seiner Reise, der Tag, an dem er allein bleiben sollte. Seit mehr als zwei Wochen befanden sie sich unterwegs. Als sie auf dem Punkt waren, wo sich die Straße von Tucuman von derjenigen trennt, die nach Santiago dell' Estero geht, kündigte ihm der Capataz an, daß sie sich trennen mußten. Er gab ihm einige Aufklärungen über den Weg, band ihm den Sack so auf die Schultern, daß ihn derselbe im Gehen nicht hinderte, und mit kurzen Worten, als ob er fürchte, gerührt zu werden, verabschiedete er sich. Der Knabe hatte kaum Zeit, ihm den Arm zu küssen. Auch die andern Männer, die ihn so grausam behandelt hatten, schienen ein wenig Mitleid zu empfinden, als sie ihn so allein weiterziehen sahen und winkten ihm ein Lebewohl zu, indem sie sich entfernten. Und er erwiderte den Gruß mit der Hand, und sah dem Zuge nach, bis er sich im roten Staube der Ebene verlor, und dann setzte er traurig seinen Weg fort.

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… sah er nun eine mächtige hohe, blaue Kette von Bergen mit …

Eins jedoch tröstete ihn schon von Anfang an. Nach so vielen Tagen der Reise mitten durch die endlose und eintönige Ebene sah er nun eine mächtige, hohe, blaue Kette von Bergen mit weißen Gipfeln vor sich, die ihn an die Alpen erinnerte, und das gab ihm fast das Gefühl, als ob er sich wieder der Heimat nähere. Es waren die Anden, der Rückgrat des amerikanischen Kontinentes, die ungeheure Kette, die sich vom Feuerland bis zum Eismeer des arktischen Poles durch einhundertundzehn Breitengrade hinstreckt. Und auch das tröstete ihn, daß die Luft immer wärmer wurde; dies rührte davon her, daß er, immer mehr gegen Norden wandernd, sich der tropischen Zone näherte. In großen Entfernungen stieß er auf kleine Häusergruppen mit einem schmutzigen Laden, wo er etwas zu essen kaufte. Er traf Männer zu Pferde an, sah sehr oft Frauen und Kinder unbeweglich und ernst, mit ganz fremden Gesichtern, erdfarbig, mit schiefen Augen und vorstehenden Backenknochen, auf der Erde sitzend; sie betrachteten ihn steif und verfolgten ihn mit dem Blicke, indem sie den Kopf langsam drehten, wie Automaten. Es waren Indianer. Den ersten Tag ging er, bis ihn die Kräfte verließen; dann schlief er unter einem Baume. Den zweiten Tag reiste er viel weniger weit und mit geringerem Mute. Die Schuhe waren zerrissen, die Füße wund, der Magen von der schlechten Nahrung entkräftet. Gegen Abend bemächtigte sich seiner die Furcht. Er hatte in Italien sagen hören, in diesem Lande gebe es Schlangen: er glaubte sie schleichen zu hören, stand still, setzte den Marsch fort, kalte Schauer liefen ihm über den Rücken. Hie und da ergriff ihn ein großes Mitleid mit sich selbst, und er weinte still, indem er sich fortschleppte. Dann dachte er wieder: »Oh wie würde meine Mutter leiden, wenn sie wüßte, wie sehr ich mich fürchte!« und dieser Gedanke gab ihm wieder Mut. Dann, um die Furcht zu verscheuchen, dachte er an sie, erinnerte sich an ihre Worte, als sie von Genua abreiste, und an die gewohnte Bewegung, mit der sie ihm die Decken unter dem Kinn zurecht legte, wenn er im Bette lag, und wie sie ihn, als er noch Kind war, oft in die Arme schloß und zu ihm sagte: »Bleibe ein wenig hier, bei mir,« – und wie er lange so blieb, seinen Kopf an den ihrigen gelehnt und nachdachte. Und jetzt sagte er bei sich selber: »Werde ich dich eines Tages wiedersehen, liebe Mutter? Komme ich am Ziel meiner Reise an, Mutter?« Und er ging weiter, immer weiter, mitten durch unbekannte Wälder, durch große Zuckerplantagen, durch Prärien, die kein Ende nahmen, immer die großen blauen Berge vor sich, die mit ihren unermeßlich hohen Spitzen in den Himmel hineinragten. Vier Tage – fünf – eine Woche ging vorüber. Seine Kräfte nahmen immer mehr ab, seine Füße bluteten. Endlich, eines Abends, als die Sonne unterging, sagten sie zu ihm: Tucuman ist fünf Meilen von hier. – Er stieß einen Freudenschrei aus und beflügelte den Schritt, als ob er in einem Augenblick die verlorene Kraft wieder gewonnen hätte. Allein es war eine kurze Täuschung. Die Kräfte verließen ihn plötzlich, und er fiel gänzlich erschöpft am Rand eines Grabens nieder. Aber das Herz klopfte ihm vor Freude. Der mit glänzend leuchtenden Sternen dicht besäte Himmel war ihm nie so schön vorgekommen. Er betrachtete sie, zum Schlafe auf das Gras hingestreckt, und dachte, daß vielleicht zu gleicher Zeit auch seine Mutter dieselben betrachte. Und er sagte: »Oh Mutter, wo bist du? Was machst du in diesem Augenblick? Denkst du an deinen Sohn? Denkst du an deinen Marco, der so nahe bei dir ist?«

Armer Marco, hättest du sehen können, in welchem Zustand sich deine Mutter in diesem Augenblick befand, du hättest eine übermenschliche Anstrengung gemacht, um weiter zu gehen, um einige Stunden früher bei ihr anzukommen. Sie lag krank Im Bette, in einem Parterrezimmer eines vornehmen Häuschens, wo die Familie Mequinez wohnte; diese hatte sie sehr lieb gewonnen und ließ ihr alle Sorgfalt angedeihen. Die arme Frau war schon kränklich, als der Ingenieur Mequinez unerwartet von Buenos Aires abreisen mußte, und hatte sich auch in der guten Luft von Cordova nicht wieder erholt. Als sie dann aber auch keine Antwort mehr auf ihre Briefe, weder von ihrem Manne noch vom Vetter erhielt, ergriff sie eine immer lebendigere Ahnung eines großen Unglücks, das die Ihrigen betroffen. Die fortwährende Bangigkeit, in der sie lebte, die Ungewißheit, ob sie abreisen oder bleiben solle, jeden Tag die quälende Furcht, eine unglückliche Nachricht zu bekommen: alles das hatte ihren Zustand über die Maßen verschlimmert. In letzter Zeit hatte sich eine sehr schwere Krankheit eingestellt: eine Darmentzündung. Seit vierzehn Tagen lag sie im Bette. Um ihr Leben zu retten, war eine Operation notwendig, in derselben Stunde, als ihr Marco sie anrief, standen der Herr und die Herrin des Hauses an ihrem Bett und suchten sie mit vieler Sanftmut zu überreden, daß sie sich operieren lasse, aber sie bestand weinend auf ihrer Weigerung. Ein tüchtiger Arzt von Tucumari war schon in der vorigen Woche gekommen, vergebens. »Nein, liebe Herren,« sagte sie, »es nützt nichts, ich habe nicht mehr die nötige Kraft; ich würde unter den Messern des Chirurgen verscheiden. Lassen Sie mich lieber so sterben. Alles ist ja zu Ende für mich. Es ist besser, ich sterbe, bevor ich erfahre, was meiner Familie widerfahren ist.« Und die Herrschaft suchte sie immer auf andere Gedanken zu bringen, sie solle Mut fassen, sie werde auf den letzten, direkt nach Genua geschickten Brief Antwort erhalten, sie solle sich operieren lassen, ihren Söhnen zuliebe. Aber der Gedanke an ihre Söhne vergrößerte nur die Angst und die tiefe Entmutigung, die sie seit langer Zeit niederdrückten. Bei jenen Worten brach, sie in Weinen aus. »Oh meine Kinder! Meine Söhne!« rief sie aus, die Hände faltend; »vielleicht sind sie nicht mehr! Es ist besser, auch ich sterbe. Ich danke Ihnen, gute Herren, Ich danke Ihnen von Herzen. Aber es ist besser, ich sterbe. Ich würde auch nach der Operation nicht mehr genesen, ich bin dessen gewiß. Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Fürsorge, liebe Herren. Es ist unnütz, daß übermorgen der Arzt wieder komme. Ich will sterben. Es ist nun einmal bestimmt, daß ich hier sterben muß und ich bin bereit dazu.« Aber jene fuhren fort, sie zu trösten und immer zu wiederholen: »Nein, sagt doch das nicht;« und nahmen sie bei der Hand und hörten nicht auf, sie zu bitten. Aber dann schloß sie erschöpft die Augen und fiel in einen todesähnlichen Schlummer. Und die Herrschaft blieb beim spärlichen Schein eines Lichtchens eine Zeitlang da und betrachtete mit großem Mitgefühl diese bewunderungswürdige Mutter, die ihre Familie zu retten hierher gekommen war, sechstausend Meilen von ihrer Heimat entfernt, um zu sterben, nachdem sie so viel ausgestanden, die arme, ehrliche, gute und unglückliche Frau.

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Es ist besser, auch ich sterbe

Am frühen Morgen des folgenden Tages trat Marco, mit seinem Sack auf den Schultern, gebeugt und hinkend, aber voll Mut in die Stadt Tucuman, eine der jüngsten und blühendsten Städte der Republik Argentinien. Er glaubte Cordova, Rosario, Buenos Aires wiederzusehen: es waren dieselben geraden und endlosen Straßen, dieselben niedrigen und weißen Häuser; aber überall eine frische und prächtige Vegetation, eine balsamisch duftende Luft, ein wunderbares Licht, ein heller und klarer Himmel, wie er ihn nie gesehen hatte, nicht einmal in Italien. Durch die Straßen schreitend, fühlte er wieder die fieberhafte Aufregung, die ihn in Buenos Aires ergriffen hatte; er betrachtete die Fenster und Türen aller Häuser; betrachtete alle Frauen die vorübergingen in der ängstlichen Hoffnung, seine Mutter anzutreffen; er hätte alle fragen mögen und wagte nicht, jemand anzuhalten. Alle, die unter den Türen standen, drehten sich, um diesen armen, zerrissenen und bestäubten Knaben, der dem Anscheine nach aus weiter Ferne kam, zu betrachten. Und er suchte unter den Leuten ein Gesicht, das ihm Vertrauen einflößte, um wieder jene schreckliche Frage zu stellen, als sein Auge auf ein Schild über einem Laden fiel, auf dem ein italienischer Name geschrieben stand. Drinnen war ein Mann mit einer Brille, und zwei Frauen. Er näherte sich langsam der Türe, und als er entschlossen Mut gefaßt hatte, fragte er: »Könnten Sie mir sagen, mein Herr, wo die Familie Mequinez wohnt?«

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»Könnten Sie mir sagen, mein Herr, wo die Familie Mequinez wohnt?«

»Der Ingenieuro Mequinez?« fragte der Krämer seinerseits.

»Der Ingenieur Mequinez,« antwortete der Knabe mit leiser Stimme.

»Die Familie Mequinez,« sagte der Krämer, »ist nicht in Tucuman.«

Ein verzweifelter Schmerzensschrei, wie von einem zu Tode getroffenen Menschen, war die Antwort auf diese Worte.

Der Krämer und die Frauen fuhren zusammen, einige Nachbarn sprangen herbei. »Was ist? Was hast du, Knabe?« sagte der Krämer, indem er ihn in den Laden zog und ihn sitzen hieß; »da ist nichts zum Verzweifeln! Die Mequinez sind nicht hier, aber nicht weit, wenige Stunden von Tucuman!«

»Wo, wo?« schrie Marco, wie ein Auferweckter emporspringend.

»Nur fünfzehn Meilen von hier,« fuhr der Mann fort – »am Ufer des Saladillo, wo sie eine große Zuckerfabrik bauen, ein Häufchen Häuser; dort ist das Haus des Herrn Mequinez, jedermann kennt es, du kannst in einigen Stunden dort sein.«

»Ich bin vor einem Monat dort gewesen,« sagte ein junger Mann, der auf den Schrei herbeigeeilt war.

Marco betrachtete ihn mit großen Augen und fragte ihn hastig und erbleichend: »Habt Ihr die Dienstfrau des Herrn Mequinez, die Italienerin, gesehen?«

»Die Genueserin? Ich habe sie gesehen.«

Marco brach in krampfhaftes Schluchzen aus, halb Lachen und halb Weinen. Dann rief er mit ungestümer und heftiger Entschlossenheit: »Wo ist der Weg, – schnell – die Straße – ich gehe sofort, zeigt mir die Straße!«

»Aber du brauchst einen ganzen Tag bis dorthin,« sagten sie alle miteinander, »du bist müde, mußt ausruhen; du kannst morgen in der Frühe abreisen.«

»Unmöglich! Unmöglich!« antwortete der Knabe. »Sagt mir, wohinaus es geht, ich warte keinen Augenblick, ich mache mich sofort auf, sollte ich auch auf der Straße sterben müssen!«

Da sie ihn unerschütterlich sahen, widersetzten sie sich nicht mehr.

»Gott begleite dich,« sagten sie zu ihm. »Gib acht auf die Straße durch den Wald. Glückliche Reise, du kleiner Italiener!«

Ein Mann begleitete ihn vor die Stadt, zeigte ihm den Weg, gab ihm einige Ratschläge und schaute ihm nach, um ihn dahin wandern zu sehen. Nach wenigen Minuten verschwand der hinkende Knabe, mit dem Sack auf den Schultern, hinter den dichten Bäumen, die zu beiden Seiten der Straße standen.

Diese Nacht war schrecklich für die arme Kranke. Sie hatte so gräßliche Schmerzen, daß ihr Schreien einem das Herz brechen wollte, und dann bekam sie heftige Fieberanfälle. Die Frauen, die ihr beistanden, verloren den Kopf. Die Herrin lief von Zeit zu Zeit ebenfalls ganz verzweifelt herbei. Alle begannen zu fürchten, daß, wenn sie sich jetzt auch zur Operation entschlösse, der auf den folgenden Morgen erwartete Arzt zu spät kommen würde. In den Augenblicken, in denen das Fieber nachließ, sah man immerhin, daß ihre schrecklichen Qualen nicht die des Körpers, sondern der Gedanke an ihre ferne Familie war. Abgezehrt, zugrunde gerichtet, mit ganz entstelltem Gesichte raufte sie sich die Haare in herzzerreißender Verzweiflung und schrie: »Mein Gott! Mein Gott! So weit weg sterben, sterben, ohne sie wiederzusehen! Meine armen Söhne, die ohne Mutter bleiben, meine lieben Kinder, mein armes Blut! Mein Marco, der noch so klein ist, nur so hoch, so gut und so liebreich. Ihr wißt nicht, was für ein Knabe es war! Ach liebe Frau, wenn Sie wüßten! Ich konnte ihn nicht vom Halse reißen, als ich abreiste, er schluchzte zum Herzbrechen, als wisse er, daß er seine Mutter nicht mehr sehen würde, armer Marco, mein armes Kind! Ich glaubte, das Herz müsse mir zerspringen, Ach, wäre ich damals gestorben, gestorben, als er mir Lebewohl sagte! Mutterlos, armes Kind, er, der mich so sehr liebte, der mich so sehr nötig hatte; ohne Mutter, im Elend, wird er betteln gehen müssen; er, Marco, mein Marco, wird hungrig die Hand ausstrecken müssen! Oh ewiger Gott! Nein! Ich will nicht sterben! Den Arzt! Ruft ihn sogleich! Er soll kommen, er soll mich zerschneiden, er bringe mich um den Verstand, wenn er mir nur das Leben rettet! Ich will genesen, ich will leben, abreisen, fliehen, morgen, sofort! Den Arzt! Hilfe! Hilfe!« – Und die Frauen hielten sie bei den Händen, liebkosten sie, baten sie und brachten sie nach und nach wieder zu sich, und sprachen ihr von Gott und Hoffnung. Und alsdann fiel sie in eine tödliche Niedergeschlagenheit, weinte, die Hände in den grauen Haaren, seufzte wie ein kleines Kind, langgezogene Klagen ausstoßend und von Zeit zu Zeit murmelnd: »Oh mein Genua! Mein Haus! Das schöne Meer … Oh mein Marco, mein armer Marco! Wo bist du jetzt, mein armes Kind?« – Es war Mitternacht; und ihr armer Marco, nachdem er mehrere Stunden halb erschöpft am Rande eines Grabens zugebracht hatte, ging mitten durch einen Urwald. Riesige Bäume, wahre Pflanzenkolosse ragten gleich Pfeilern einer Kathedrale in die Höhe und schlangen ihre gewaltigen, vom Mondlicht bestrahlten Kronen ineinander. Im Halbdunkel erblickte er Stämme von allen möglichen Formen; die einen waren gerade, andere gebogen, krumm, gekreuzt und sahen drohend und kampfbereit aus; einige lagen auf der Erde wie umgestürzte Säulen, sie waren von üppigen Schlingpflanzen überwuchert und umstrickt. Dann gab es wieder ganze Gruppen von Bäumen mit senkrecht emporstrebenden Stämmen, wie Bündel riesiger Lanzen, deren Spitzen die Wolken zu berühren schienen. Es war eine großartige Pracht, ein Labyrinth von fremdartigen Gewächsen, das schauerlichste und erhabenste Schauspiel, das ihm die Pflanzenwelt je dargeboten.

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Manchmal überfiel es ihn wie ein großer Schrecken. Aber sofort wandte sich seine Seele nach der Mutter. Und er ging erschöpft, mir blutenden Füßen allein inmitten dieses ungeheuren Waldes, wo er nur in großen Entfernungen kleine menschliche Wohnungen erblickte, die zu Füßen dieser Bäume wie Ameisenhaufen aussahen, und einige Büffelochsen, welche am Wege schliefen; er war erschöpft, aber er fühlte die Müdigkeit nicht, er war allein, aber er fürchtete sich nicht. Die Größe des Waldes machte auch seine Seele größer; die Nähe seiner Mutter gab ihm die Kraft und die Beherztheit eines Mannes; die Erinnerung an den Ozean, an die Schrecken, die erduldeten und überwundenen Schmerzen, die ausgestandenen Mühen, die eiserne, von ihm bewiesene Beharrlichkeit ließen sein Blut wärmer zum Herzen strömen und ihn mit Stolz und Kühnheit die Stirne erheben. Und etwas anderes erfolgte in ihm: während bisher, durch die zwei Jahre lange Abwesenheit seiner Mutter, ihr Bild in seinem Gedächtnis etwas dunkel geworden und verblaßt war, wurde ihm dieses Bild in jenen Momenten hell; er sah ihr Gesicht ganz und ungetrübt, wie er es seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte; er sah sie in der Nähe, verklärt, sprechend; er sah die flüchtigsten Bewegungen ihrer Augen und ihrer Lippen, ihre Haltung, alle ihre Bewegungen, alle Schatten ihrer Gedanken; und von diesen unvergeßlichen Erinnerungen getrieben, beflügelte er den Schritt; und eine Liebe, eine unsägliche Zärtlichkeit wuchs in ihm, wuchs in seinem Herzen, daß ihm süße und ruhige Tränen über das Gesicht herunter flossen; und indem er in der Finsternis vorwärts schritt, sprach er zu ihr, sagte ihr die Worte, die er ihr in kurzem ins Ohr flüsterten wollte: »Ich bin da, liebe Mutter, hier bin ich, ich werde dich nie mehr verlassen; wir kehren miteinander nach Hause zurück und ich bleibe auf dem Schiffe immer in deiner Nähe, an dich geschmiegt, und keiner wird mich mehr von dir reißen, keiner, nie, nie mehr, solange du leben wirst!« – Und darob bemerkte er nicht, daß auf den Gipfeln der riesigen Bäume das silberne Licht des Mondes im sanften Morgenrot erstarb.

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Schon um acht Uhr dieses Morgens war der Arzt von Tucuman – ein junger Argentinier – mit einem Assistenten am Bette der Kranken, um zum letztenmal zu versuchen, ob er sie dazu bringen könne, die Operation vornehmen zu lassen; mit ihm vereinigten der Ingenieur Mequinez und seine Frau ihre heißesten Bitten. Aber alles war vergeblich. Von ihren Kräften verlassen, hatte die Frau keinen Glauben mehr an die Operation; sie war gewiß, entweder sogleich zu sterben, oder nur wenige Stunden zu leben, nachdem sie umsonst schrecklichere Schmerzen gelitten hatte, als die, welche sie auf natürlichem Wege töten sollten. Der Arzt mochte ihr noch so oft wiederholen: »Aber die Operation ist ja sicher – Eure Rettung ist gewiß, wenn ihr nur ein wenig Mut habt. Und ebenso sicher ist euer Tod, wenn ihr euch weigert!« Es waren vergebliche Worte. »Nein,« antwortete sie mit leiser Stimme, »zu sterben habe ich noch den Mut, aber ich habe ihn nicht mehr, unnütz zu leiden. Dank, Herr Doktor. Es ist so bestimmt. Lassen Sie mich ruhig sterben.« Der Arzt drang nicht mehr in sie. Niemand sprach mehr. Nun wandte die Frau das Gesicht gegen die Herrin und brachte mit sterbender Stimme ihre letzten Bitten vor. »Liebe, gute Frau,« sagte sie mühsam und schluchzend, »Sie werden das wenige Geld und meine geringe Habe meiner Familie schicken … durch, den Herrn Konsul. Ich hoffe, daß alle am Leben sind. Mein Herz sagt es mir in diesen letzten Augenblicken. Sie tun mir den Gefallen, zu schreiben, … daß ich immer an sie gedacht habe, daß ich immer für sie gearbeitet habe … für meine Söhne … und daß mein einziger Schmerz der war, sie nicht mehr zu sehen … aber daß ich mutig gestorben bin … ergeben … sie segnend; und daß ich meinem Manne … und meinem größern Sohne … den kleinsten, meinen armen Marco … den ich bis zum letzten Augenblicke im Herzen getragen habe … empfehle.« – Und sich plötzlich erhebend, schrie sie, indem sie die Hände faltete: »Mein Marco! Mein Kind! Mein Leben!« … Aber als sie mit Tränen in den Augen um sich sah, bemerkte sie, daß die Herrin nicht mehr da war: man hatte sie heimlich hinausgerufen; sie suchte den Herrn, er war verschwunden. Es war niemand mehr da als der Assistent und die beiden Krankenwärterinnen. Man hörte im benachbarten Zimmer ein eiliges Geräusch von Schritten, das Murmeln von leisen, gedämpften Stimmen und unterdrückte Ausrufe. Die Kranke heftete die verschleierten Augen auf die Türe und wartete. Nach einigen Minuten sah sie den Arzt mit ungewohntem Gesichte erscheinen, dann die Herrin und der Herrn, auch sie mit veränderter Miene. Alle drei betrachteten sie mit seltsamem Ausdruck und wechselten mit leiser Stimme einige Worte. Es schien ihr, als ob der Arzt zur Herrin sage: »Besser sofort.« – Die Kranke verstand es nicht.

»Josefa,« sagte ihr die Herrin mit zitternder Stimme, »ich bringe euch eine gute Nachricht. Bereitet das Herz auf eine frohe Nachricht vor.«

Die Frau betrachtete sie aufmerksam.

»Eine Nachricht,« fuhr die Herrin immer bewegter fort, »die euch eine große Freude machen wird.«

Die Kranke riß die Augen auf.

»Bereitet euch vor,« fuhr die Herrin fort, »eine Person zu sehen … die ihr sehr liebt.«

Die Frau erhob den Kopf mit heftiger Bewegung und begann mit leuchtenden Augen bald nach der Herrin, bald nach der Türe zu sehen.

»Eine Person,« sagte die Dame erbleichend, »die soeben … unerwartet angekommen.«

»Wer ist's?« schrie die Frau mit gepreßter, unnatürlicher Stimme, wie in großem Schrecken.

Einen Augenblick nachher stieß sie einen durchdringenden Schrei aus, saß im Bette auf und blieb unbeweglich, die Augen aufgesperrt und die Hände an den Schläfen, als erblickte sie eine Erscheinung aus der andern Welt.

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Einen Augenblick nachher ...

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stieß sie einen Schrei aus …

Marco, zerrissen und staubig, stand aufrecht auf der Schwelle, an einem Arm vom Doktor gehalten.

Die Frau schrie dreimal:

»Gott, Gott! Mein Gott!«

Marco stürzte vorwärts, sie streckte die abgezehrten Arme aus, drückte ihn an sich, brach in heftiges Lachen aus, unterbrochen von Schluchzen ohne Tränen, bis sie atemlos in die Kissen zurücksank.

Aber sie erholte sich sofort und schrie außer sich vor Freude, ihn mit Küssen bedeckend: »Wie bist du hier? Warum? Bist du es? Wie du gewachsen bist! Wer hat dich hierhergebracht? Bist du allein? Bist du nicht krank? Bist du es, Marco? Ist es kein Traum? Mein Gott! Sprich!« Dann brach sie auf einmal ab: »Nein, schweige! Warte!« Und hastig gegen den Arzt gewandt: »Schnell, sogleich, Doktor. Ich will genesen. Ich bin bereit. Verlieren Sie keinen Augenblick. Führet Marco weg, daß er nichts höre. Mein Marco, es ist nichts. Du wirst mir nachher erzählen. Noch einen Kuß. Gehe! Hier bin ich, Herr Doktor!«

Marco wurde weggeführt. Die Herrschaft und die Frauen gingen eilig hinaus; der Chirurg und der Assistent, welche die Türe schlossen, blieben zurück.

Der Herr Mequinez versuchte Marco in ein entferntes Zimmer zu bringen, aber es war unmöglich, er schien auf dem Boden festgenagelt.

»Was ist's?« fragte er. »Was hat meine Mutter? Was machen sie?«

Und Herr Mequinez, immer bemüht, ihn fortzuziehen, sprach ihm leise zu: »Nun höre. Ich will es dir sagen. Deine Mutter ist krank; sie muß sich einer kleinen Operation unterziehen; ich werde dir alles erklären, komm nur mit mir.«

»Nein,« antwortete der Knabe stehen bleibend, »ich will hier bleiben. Erklären Sie es mir hier.«

Der Ingenieur häufte Worte auf Worte, indem er ihn fortzog: der Knabe begann zu erschrecken und zu zittern.

Auf einmal ertönte ein durchdringender Schrei, wie der Schrei eines zu Tode Verwundeten.

Der Knabe schrie:

»Meine Mutter stirbt!«

Der Arzt erschien unter der Türe und sprach:

»Deine Mutter ist gerettet.«

Der Knabe, betrachtete ihn einen Augenblick und dann warf er sich ihm zu Füßen:

»Dank, Herr Doktor!«

Aber der Doktor hob ihn auf und sagte: »Stehe auf! … Du hast deine Mutter gerettet.«

*

[Nachwort]

Aus Genua, der Provinzhauptstadt und Hafenstadt am Mittelmeergolf von Genua, dem wichtigen Handelsplatze Italiens mit reichem Schiffsverkehr, kam unser kleiner Held Marco. Es ist eine alte Stadt voller Geschichte und Erlebnis; ursprünglich eine Siedlung, war sie bis zum 6. Jahrhundert römisch, im 10. Jahrhundert wurde sie selbständig und – stolz, war sie doch die führende Handelsmacht des Mittelmeeres, die sogar Kolonien im griechischen Archipel, am Schwarzen Meer, dazu die Inseln Elba, Korsika und Sardinien besaß. Sie führte erbitterte Kämpfe gegen ihre Konkurrenzstadt Venedig. Im Jahre 1528 erhielt sie durch Andrea Doria eine eigene Verfassung. Sie hat wechselvolle Geschicke in ihren Mauern gesehen: die Verschwörung des Fiesco (1547), die jedoch scheiterte, und die harten, bitteren Kämpfe um die Macht zwischen den einzelnen Geschlechtern der Stadt, die den Genueser zu einem der stolzesten und selbstbewußtesten Italiener werden ließen, so stolz wie westlich der Stadt, vom Col d'Altare ab, das italienische Gebirge aufragt, das unserer Erzählung mit zu ihrem Namen verhalf: die Apenninen.

Ein weiter Weg ist es von dort bis zu den Anden, dem Kettengebirge am Westrand Amerikas, das sich von Alaska bis zum Kap Horn hinzieht, dem Gebirge der Vulkane und Krater, des Silbers, des Erdöls und der Kohle – der Weg von Italien nach der südamerikanischen Republik Argentinien. Ein Land, das zunächst spanisch war (Vizekönigreich Rio de la Plata) und seit 1816 selbständiger Freistaat ist. Die in unserer Geschichte genannten Städte Cordoba, Tucuman und Buenos Aires gehören zu den ältesten Kolonialstädten im Nordosten Argentiniens. Lange ist das Land in seinem Aufschwung durch fortwährende Revolutionen und Kriege behindert worden; erst dann erfolgte er, als die einheimischen Indianer und Gauchos zusammen mit den eingewanderten Europäern, den Spaniern, Slawen, Italienern und Deutschen, daran gingen, als Bauern, Arbeiter, Gelehrte und Kaufleute das Land geordnet in den Weltverkehr eintreten zu lassen. – Cordoba wurde Universitäts- und Bischofsstadt mit lebhaftem Handel und reger Industrie, Buenos Aires mit über zwei Millionen Einwohnern (ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Argentiniens!) die größte Stadt Südamerikas; Rosario am Parana eine wichtige Flußhandelsstadt, die sogar für Ozeandampfer erreichbar ist und Ausfuhrhafen für Getreide, Wolle, Häute, Gefrierfleisch und Holz wurde. – Ein reiches Land, mit vielen Gütern der Erde gesegnet: Schafwolle und Erdöl, Wein und Baumwolle, Rohrzucker und Früchte, Tabak und Vieh, Mais und Weizen, das in einem regen Schiffshandel die Verbindung mit der übrigen Welt sucht.

Welch eine Buntheit des Lebens nimmt uns schon im Hafen Rio gefangen, die in Buenos Aires gar an das Straßenleben und den Verkehrsbetrieb New Yorks erinnert! – Mag sein, das dem kleinen Marco am Hafendamme von Buenos Aires der Mut und die paar Lire dazu in die Hosen gerutscht wären, – wäre er nicht ein Genuese gewesen. So aber bezwang er selbst das fremde, weite, reiche Land Argentinien, rührte die mitleidigen Menschen, ließ sich von den hartherzigen Hoffnung und Glauben nicht völlig nehmen – und fand seine geliebte Mutter wieder, die ihm in der Fremde, fern der Heimat, Heimat genug war.

*

Worterklärungen

addios (spanisch): Auf Wiedersehen!

Analyse (griechisch): Zergliederung von Begriffen des Denkens und der logischen Bestandteile. Aufgliederung unserer Denkinhalte.

Argentinien: Südamerikanische Republik mit 12 762 000 Einwohnern. Indianer, Kreolen (Indianermischlinge), Spanier und Italiener bilden die Bevölkerung. Landessprache ist Spanisch. Die Hauptstadt des Landes ist Buenos Aires (»Gute Lüfte«), 1535 gegründet.

Arktischer Pol: Nordpol und Eiszone der Arktis, d. h. nördliche Polarzone der Erde.

Assistent: Gehilfe, Hier: Hilfsarzt.

balsamisch: erquickend, duftend.

Barke: kleines, schlankes Ruderschiff.

bizarr: wunderlich, verschroben.

buenas noches (spanisch): Gute Nacht!

chirurgische Operation: Eingriff des Arztes in den kranken Körper zur Beseitigung von Schäden oder Entzündungen.

Centesimo: siehe Lire.

de los Artes (spanisch): von den Künsten.

Feuerland: Inselgruppe Südamerikas, endet im Kap Horn. Von Urwäldern und Grasebenen bedeckt.

fliegende Fische: Meeresfische, die große Brustflossen besitzen, mit denen sie aus dem Wasser aufschnellen können und eine Sprungstrecke oberhalb des Wassers im Gleitflug zurücklegen.

Gaucho (spanisch): Angehöriger der einheimischen Mischbevölkerung, die sich hauptsächlich als Viehhirten betätigt.

Genua: wichtige Hafenstadt Italiens am Golf von Genua (siehe auch Nachwort).

Gibraltar: Südliche Landspitze der spanischen Halbinsel, die ins Mittelmeer ragt und sich der Nordspitze Afrikas nähert. Auf diese Weise entsteht die Straße von Gibraltar, die vom Mittelmeer in den Atlantischen Ozean führt. Gibraltar ist seit 1704 englischer Besitz.

griechischer Archipel: (Archipel = Inselgruppe). Hier: griechische Inselgruppe im Ägäischen Teile des Mittelmeeres.

Horizont (griechisch): Gesichtskreis, die Trennungslinie zwischen Himmel und Erde im Blickfeld des Menschen.

Karawane: Eine Reisetruppe in orientalischen Ländern.

Kathedrale (griechisch): Dom oder Münster; meist Sitz eines Bischofs.

Kommissionen (aus dem Lateinischen): Hier: geschäftliche Aufträge.

Konsul: Auslandsbeamter einer Nation, der beschränkte Gerichtsbarkeit besitzt und für die Handels- und Verkehrsinteressen seiner Staatsangehörigen im fremden Lande zuständig ist.

Kordilleren oder Anden: Kettengebirge am Westrand Amerikas, das sich von Alaska bis zum Kap Horn, der Südspitze Amerikas in Feuerland, hinzieht.

La estrella de Italia (spanisch): der Stern von Italien.

Labyrinth (griechisch): Ursprünglich in der griechischen Sage ein Gebäude mit verschlungenen Irrwegen, in dem ein Ungeheuer, der Minotaurus, wohnte. Heute allgemein für Irrgarten gebraucht.

Lava: der glühende Ausfluß eines feuerspeienden Berges, also eines Vulkanes, der aus dem Erdinnern hervorbricht.

Lire: eine Lira (1) hat 100 Centesimi – italienische Währungseinheit. Vor dem Kriege galt eine Lira in Deutschland etwa 22 Pfennig.

Lombarde: Bewohner der Lombardei, eines Landesteiles Oberitaliens am mittleren Po. Hauptstadt ist Mailand (Milano).

Medaillon: kleine Kapsel zum Umhängen, die sich meist öffnen läßt und das Bild eines Angehörigen oder ein katholisches Heiligenbildchen enthält.

Meilen: englische Meile = 1609 Meter, geographische Meile = 7420 Meter, Seemeile = 1852 Meter.

Orangenbäume: Apfelsinenbäume.

i peones (spanisch): die Wagenführer.

Phosphoreszenzen: Aufleuchten nichtglühender Gegenstände und Landschaftsteile im Dunkeln, eine eigenartige Folge vorangegangener starker Beleuchtung durch die tropische Sonne.

Po: größter Fluß Norditaliens, fließt vom Nordrand des Monte Viso ins Adriatische Meer.

pobre nino!: Armer Knabe!

Prärie: Weite, baumlose Grassteppe Amerikas.

Rio de la Plata: der La Plata ist der große Fluß der Republik Argentinien. Rio, die Stadt an seiner Mündung in den Atlantik, in der Nähe der Hauptstadt Buenos Aires.

Schlingpflanzen: Pflanzen, die sich um fremde Körper herumwindend emporwachsen. In den feuchtheißen Zonen häufig zu findende Kletterpflanzen, bei uns etwa der Hopfen.

Soldi: kleine italienische Münze, kaum einen Pfennig wert.

spedieren: weiterbefördern.

Tropen (griechisch): Die Erdgebiete zwischen den beiden Wendekreisen der Sonne. Heiße Zone mit feuchtwarmem Klima um den Äquator herum und Wüstenklima in der Nähe der Wendekreise.

Vagabund: Landstreicher.

Vegetation: Form des Pflanzenwuchses in einer Landschaft.

Vision: Luftbild, Traumbild.

Zuckerplantagen: Pflanzungen, die dem Anbau des Zuckerrohres, damit der Zuckergewinnung dienen.

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