Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Buch.

Der Kampf.

1.

Vitriolos Hauptquartier.

Manuel Venegas hatte die Stadt noch immer nicht betreten und niemand wußte, wo er sich aufhielt.

Don Trinidad hatte sich, müde von seinem vergeblichen Suchen, und weil er wegen der großen Festlichkeiten des nächsten Tages früh aufstehen mußte, vor wenigen Augenblicken zurückgezogen, um zu schlafen. Antonios (in einem andern Stadtviertel als der ehemalige Palast der Venegas gelegenes) Haus war verschlossen wie ein Grab; dagegen sah man in dem für Manuel eingerichteten Hause durch die geöffneten Balkonthüren viele Lichter, als ob eine Leiche darin aufgebahrt wäre. Selbst die Nachtwächter, die schon auf den Straßen herumschritten, fürchteten, es möchte am folgenden Tage während der Prozession das Christuskind mit der Weltkugel zu einem Unglücke kommen, da ja an den Festlichkeiten die drei Hauptpersonen des Dramas teilnehmen würden: Soledad, damit man nicht sagen könnte, die Rückkehr ihres ehemaligen Geliebten habe Eindruck auf sie gemacht; Manuel Venegas, um seine Schwüre und Drohungen auszuführen; und Antonio Arregui, um zu vermeiden, daß man glauben sollte, er sei geflohen und ein erbärmlicher Feigling.

Endlich brach der denkwürdige Sonntag an, an welchem der schreckliche sechsunddreißigstündige Kampf beginnen sollte, welchen sich das gute und das böse Prinzip um Manuel Venegas in seinem gequälten Herzen liefern sollte – ein Kampf, an welchem mehr oder weniger thätigen Anteil alle Bewohner der Stadt nahmen, alle Mitglieder des großen Geschwornengerichts, welches wir das Publikum nennen.

Vitriolo hatte den Seinigen am vorhergehenden Abend für den Anbruch des nächsten Tages vor der Thüre der Apotheke Rendezvous gegeben. Dort hatte sich denn auch wirklich bei Tagesanbruch die ganze Gesellschaft eingefunden, deren Apostel und Haupt der Apotheker war.

An derselben Stelle, welche der gewöhnliche Mittelpunkt für das Sammeln von Neuigkeiten und ein vorzüglicher Beobachtungspunkt für das war, was Manuel, dessen Haus nur wenige Schritte entfernt war, vornehmen würde, fanden sich auch andre Personen verschiednen Alters und Standes ein, denen allen viel daran lag, die letzten Nachrichten zu erfahren oder mitzuteilen, welche man rücksichtlich der furchtbaren Ereignisse hatte, »die man kommen sah«, »die unvermeidlich waren«, ja, die man sogar »mit Ungeduld erwartete« und gegen welche die ganze Welt es sich sicher nicht nehmen lassen würde zu donnern, sowie die Justiz, vorzugehen, sobald sie eingetreten waren. Selbst die Mägde, welche ihre Einkäufe besorgten, kamen an jene große Klatschgesellschaft unter freiem Himmel heran und trugen ihren Teil zur Unterhaltung bei, indem sie angaben, was ein jeder der Handelnden thun müsse, »wenn er Ehrgefühl habe«. Die Unehrlichsten und Leichtsinnigsten von ihnen waren gerade am unversöhnlichsten und schlimmsten und wiederholten Wort für Wort die Drohungen und Schwüre Manuels vor acht Jahren, indem sie jedesmal ihre Rede mit der feierlichen Phrase schlossen: »Nun werden wir ja sehen, ob es Männer gibt!« Der Alkalde selbst, ein sehr würdiger Mann, sprach mit dem größten Ernst darüber, ob Manuel an diesem Nachmittag Antonio ermorden oder bis zum Tage der Lotterie warten werde. Ein Hausfreund des Bischofs, der, obgleich schon ziemlich alt, doch noch Diakon war, jedoch anfing, in dem Rufe eines großen Theologen zu stehen, näherte sich, wie durch Zufall, der plaudernden Menge und verlor kein Wort von dem was gesagt wurde, ohne selbst bis dahin die Lippen zu öffnen. Endlich unser alter Freund, der pensionierte Hauptmann, welcher Manuel am Tage der Lotterie seinen monatlichen Sold angeboten hatte, befand sich gleichfalls unter den Neugierigen.

Der einzige, der fehlte, um die Versammlung vollzählig zu machen, war ihr geborner Präsident, der Herr des Hauses, der vielgenannte Vitriolo. Seit einer halben Stunde hatte er sich in dem Hinterzimmer der Apotheke mit einer Art Hexe eingeschlossen. Sie hatte früher von Elias Geld geborgt und war von ihm ruiniert worden, jetzt empfing sie Lohn und Kost in Soledads Hause. Die Anhänger des Apothekers vermuteten, daß sich in jener geheimen Unterredung wichtige Dinge vorbereiteten, und hüteten sich wohl, sie zu unterbrechen. Im Gegenteil erklärten sie den Anwesenden die Abwesenheit ihres Meisters damit, daß sie erzählten, er braue eine äußerst wichtige und schwer zu bereitende Arznei für ein in der Nähe gelegnes Dörfchen. Übrigens hatten sie Vitriolo in den Laden gehen und Geld aus der Kasse nehmen sehen, wobei alle zu bemerken glaubten, daß er noch häßlicher, aufgeregter und bleicher aussah, als gewöhnlich.

Inzwischen waren vor der Thüre der Apotheke viele wichtige Nachrichten mitgeteilt, entgegengenommen und bis zum Ueberdrusse besprochen worden. Man hatte zum Beispiel erfahren, daß Manuel in der vergangnen Nacht gegen Sonnenaufgang endlich in sein Haus gekommen war, auf schweißbedecktem Pferde, mit zerrissnem Anzug und ohne Hut, als käme er von einem schrecklichen Kampfe. Doch war der, den er bekämpft hatte, er selbst gewesen, denn mehrere Leute hatten ihn durch die Saatfelder, Oel- und Weingärten der Ebene ohne bestimmte Richtung galoppieren sehen, als verfolgten ihn unsichtbare Gewalten. Mit einigen Feldhütern hatte er gesprochen und ihnen viel Geld gegeben, als sie sich über die Verwüstungen beklagten, die er anrichtete, während er von ihnen die Geschichte alles dessen hörte, was sich während seiner Abwesenheit in der Stadt zugetragen hatte. Sobald er vom Pferde gestiegen war, kam er zu Fuß und in seinen Mantel gehüllt wieder auf die Straße heraus und ging in die Vorstadt San Gil, wo ihn die Nachtwächter vor dem verschlossnen Hause Antonio Arreguis auf- und abgehen, ja an die Thüre klopfen sahen, ohne daß auf sein wiederholtes Klopfen geöffnet wurde. Endlich, nach Tagesanbruch, kehrte er in sein Haus zurück, worauf Thüren und Balkone sofort geschlossen wurden und bis auf diesen Augenblick blieben.

»Wie entsetzlich« und »wie schändlich« waren unwillkürliche Ausrufe, der erste des Theologen gegen Manuel, der zweite des Hauptmanns gegen Antonio.

Zur Unterstützung des letztern fügte ein Familienvater hinzu:

»Worüber wundern Sie sich, meine Herren? Antonio Arregui ist ein Feigling, der sich nicht getraut hat, die Nacht in seinem Hause, ja nicht einmal in der Stadt zuzubringen. Gestern abend entfloh er in schimpflicher Weise, sobald er hörte, daß Manuel angekommen sei. Ich habe ihn etwa um vier und ein halb Uhr eiligst den Fluß hinaufreiten sehen.«

»Ja noch mehr,« fügte eine Magd hinzu, »er ist auch jetzt noch nicht zurückgekehrt! Ich komme vom Markt und er war nicht da, während er doch sonst jeden Morgen dort die Einkäufe für seine Arbeiter in der Sierra besorgt!«

»Meine Herren, seien wir gerecht!« sagte ein aus Burgos stammender Kaufmann; »Antonio Arregui ist unfähig zu fliehen. Wenn er gestern nachmittag die Stadt verließ, so geschah es, weil er die Nachricht empfing, daß ein boshafter Schuft den Kanal, der den Walkmühlen seiner Fabrik das Wasser zuführt, an mehreren Stellen zerstört hatte. Zu dieser Stunde aber wußte noch kein Mensch in der Stadt, daß Manuel so nahe, ja daß er überhaupt am Leben sei.«

»Don Trinidad Muley wußte es. Maria Josepha wußte es,« erwiderten mehrere in der Nähe stehende.

»Er wußte es jedenfalls nicht,« antwortete der Kaufmann. »Ich sah ihn fortreiten, und er hatte keinen andern Gedanken, als den an seine zerstörten Kanäle. Mit einem Worte, ich wette zwei gegen eins, daß er, sobald er hört, was vorgeht, in die Stadt zurückkehrt und sich von niemand Trotz bieten läßt. Ich kenne die Riojaner!«

Die Unterhaltung war im Begriffe, in einen Streit auszuarten, als ein alter Mann, der auf demselben Platze seine Bude hatte, in der er in Oel gebackene Kuchen verkaufte, zur rechten Zeit das Wort nahm und erzählte, daß früh an diesem Morgen Don Trinidad Muley länger als eine halbe Stunde an das Haus seines ehemaligen Zöglings gepocht habe, ohne zu erreichen, daß ihm geöffnet oder geantwortet wurde, da Manuel, als er wenige Augenblicke vorher nach Hause gekommen war, Basilia, der Schwester Polonias, befohlen hatte, niemand weder zu öffnen noch zu antworten, auch wenn die Thüre eingeschlagen würde.

Don Trinidad, des vergeblichen Klopfens müde, hatte sich sodann sehr traurig nach Hause begeben, nicht ohne allen Vorbeigehenden vorzuklagen, daß die großen Festlichkeiten des anbrechenden Tages ihn an die Kirche fesselten und so verhinderten, irgend einem unbedachten Schritt seines geliebten Manuel zuvorzukommen; doch hoffe er zu Gott und der heiligen Jungfrau, daß gute Seelen ihn während einiger Stunden ersetzen würden.

Sobald die Nachbarschaft gefrühstückt hatte, füllte sich der Plan wieder mit Plaudernden und Spaziergängern, als ob das große Fest des Tages hier und nicht in dem Kirchspiel von Santa Maria de la Capeza gefeiert würde. Gegen die althergebrachte Sitte wohnten viele angesehene Männer, besonders aber alle die, die das Waffenhandwerk, sowie Lärm und Streit liebten, der in diesem Augenblicke von Don Trinidad Muley gelesenen feierlichen Messe nicht bei: »Was sollen wir da,« schien die Haltung der Menge zusagen, »während wir doch wissen, daß Manuel Venegas sich in diesem Hause eingeschlossen hat?« Niemand verwandte also ein Auge von den stummen Balkonen oder der unerbittlichen Thüre, ja selbst die Spaziergänger drehten sich jeden Augenblick um, um zu sehen, ob im Hause des unglücklichen Ankömmlings kein Lebenszeichen zu erblicken sei. Es herrschte auf dem Platze etwas wie die Erwartung der Zuschauer bei einem Stiergefecht, wo die Dilettanten noch in der Arena sind und warten, bis man anzeigt, daß die Bestie losgelassen werden soll, um dann denjenigen den Platz zu räumen, die dem Stiere die Stirne zu bieten bestimmt sind. Oder vielmehr es war wie bei einem Turnier in der alten Zeit. Manuel und Antonio waren gewissermaßen gezwungen, zwischen Kampf und Schande zu wählen! »Blut oder Spott!« schien das Motto des Chores zu sein.

Die Eßstunde (zwei Uhr nachmittags) kam heran, ohne daß sich in Manuels Hause auch nur eine Mücke gerührt hätte, obgleich die Haushälterin des Pfarrers zweimal und einer seiner Chorknaben einmal an die Thüre gepocht hatten, und das Publikum verließ den Platz.

Aber kaum waren zwanzig Minuten verflossen, so kehrten schon einige zurück (sie mußten nicht viel gegessen, oder ihre Mahlzeit den Appetit nicht mehr gereizt haben). Andere kamen später, viele fanden sich auch ein, die am Morgen nicht dagewesen waren, und so nahm der Platz ein sehr lebhaftes Aussehen an. Ja einige Burschen und selbst ein Paar gesetzte Männer sprachen schon von ihrer festen Absicht, nicht zur Prozession zu gehen, wenn Manuel nicht daran teilnehme, und den Rest des Nachmittags auf dem Platze zuzubringen!

Mit einemmale durcheilte den ganzen Platz eine Nachricht, welche die Gruppen durcheinander mischte und die Bildung neuer und noch zahlreicherer verursachte, in welche sich jetzt auch die Spaziergänger mischten.

Manuels Thür hatte sich geöffnet und Basilia, seine Beschließerin, stand unter dem Portal und teilte dem Publikum mit, Manuel Venegas habe beschlossen, sich zu der Prozession des Christuskindes mit der Weltkugel zu begeben.

Freude, Furcht und Begeisterung der Menge kannten keine Grenzen mehr. Das gemeine Volk klatschte in die Hände und die Straßenjugend pfiff und sprang vor Vergnügen umher. Als der Alkalde den Lärm hörte, fürchtete er Unruhen und riet allen, zu Ehren dieser alten Stadt, einer phönizischen und römischen Kolonie und einst Residenz Gott weiß welches Maurenkönigs, sich in die Straße zu begeben, wo die Prozession stattfinden sollte, und wo an diesem Tage alle anständigen Leute sich einzufinden hätten: dort möchten sie mit gebührender Ruhe die Ankunft seines geliebten Mitbürgers Manuel Venegas erwarten, dem es ja sehr viel angenehmer sein würde, aus seinem Hause mit der Ruhe eines ernsten und gesetzten Mannes zu treten, als unter diesem Wirrwarr.

Die besagten Gruppen ließen sich durch diese Gründe bewegen und lösten sich fast sämtlich auf, oder begaben sich vielmehr in Masse nach der Gegend der Kirche von Santa Maria de la Capeza, deren lebhafte Glockentöne durch ihr erstes Läuten anzeigten, daß bis zum Beginn der Prozession kaum eine Stunde fehlte.

2.

Die Prozession.

Es war ein schöner friedlicher Tag, an welchem der Frühling in andalusischer Schönheit den Himmel mit lächelndem Glanze, die ruhige Luft mit heißen Küssen und die Garten und Ballone der Stadt, wie das glänzende Haar der Mädchen und die Hände ihrer glücklichen oder unglücklichen Liebhaber mit Rosen beglückte.

Noch fehlte eine halbe Stunde an dem Termin für den Beginn der Prozession, und die Straße von Santa Maria de la Capeza (an deren unterem Ende die Kirche dieses Namens liegt) hatte sich schon in einen wahren Vorhof des Himmels, einen Vorsaal der Verklärung, einen wirklichen Feuerhimmel verwandelt, gerade so, wie wir Adamskinder von unsrer irdischen Behausung aus uns dergleichen Erhabenheiten vorzustellen und auszumalen pflegen.

Hiermit will ich sagen, daß aus allen Fenstern lange Teppiche von Zitz, Berkan und selbst Damast hingen, in denen man leicht die Ausstattungsbettdecken vieler Generationen erkennen konnte, während der Erdboden der langen Prozessionsstraße mit grünem Cypergras, Pfriemkraut, wohlriechender Minze und anderen ländlichen Pflanzen wie mit einem Teppich bedeckt war. Die Glocken von Santa Maria läuteten fröhlich zum zweitenmale, die Nähe des feierlichen Augenblickes verkündend. Raketen platzten zu Dutzenden in der Luft, als wollten sie den andern Planeten anzeigen, was auf unsrem vorging, und der Tambour der Nationalgarde schlug wiederholt an, um die allgemeine Erwartung auf das höchste zu steigern.

Alle Fenster und Söller, ja selbst schräge Dächer waren mit Menschen angefüllt, besonders mit schön geputzten und frisch gewaschenen Mädchen, die Ballone waren für die Frauen und Fräulein der innern Stadt reserviert worden, die auf ihnen schon ihre Mantillen und Hauben, das auf französische Art gekämmte Haar und die sonstigen Zeichen ihres vornehmen Standes zur Schau stellten.

Auf der Straße konnte keine Nadel mehr zu Boden fallen, so sehr war sie mit Handwerkern und Arbeitern im Sonntagsstaat und jungen Herren angefüllt, die nach der neuesten Mode gekleidet waren. Selbst die Bewässerer hatten die Felder verlassen und standen da, auf ihre Hacken gestützt, als wollten sie sogleich wieder zu ihrer Arbeit zurückkehren, sobald sie die Prozession mitangesehen hätten. Einige pensionierte Soldaten, darunter alle andern überragend unser Hauptmann, strahlten in ihren seit dem Freiheitskriege nicht erneuerten Uniformen, und es war hübsch sie anzusehen, wie sie in Röcken mit enorm hohem Kragen steckten, mit der breiten Quaste oder den großen Epaulettes auf den Schultern, unbeweglicher Krawatte mit Fischbein darin, die ihnen jede Kommunikation mit der äußern Welt unmöglich machte, und ihrem Helm mit Backenriemen und ungeheurem Kopfumfang, den Mars selber nicht imstande gewesen wäre zu tragen. Endlich die unruhigen Knaben und die vorsichtigen Nationalgardisten versammelten sich in der Vorhalle und auf den Stufen der Kirche, die ersteren um als Vorhut, die letzteren um als Bewachung des Heiligenbildes zu dienen. Die Sonne, welche, dem Untergange sich zuneigend, die ganze Straße der Länge nach beschien, gab all diesen göttlichen, menschlichen und kindlichen Dingen einen triumphierenden, ruhevollen, heiligen Anstrich, der, mochte er auch noch so weit von der ewigen Seligkeit entfernt sein, denn doch auch gründlich von den täglichen Kämpfen dieses Erdenlebens verschieden war.

Niemand hatte Augen und Sinn für etwas andres als für eine bezaubernd schöne Frau, die, in weißer Mantille, in diesem Augenblick ihren Platz auf einem kleinen Balkon im Entresol eines gegenüberliegenden Hauses eingenommen hatte.

Soledad war da, wo man sie am wenigsten erwartete: in einem ärmlichen Hause, auf einem gefährlichen Balkon, ganz nahe an der Straße, fast unter der Zuschauermenge selbst, während sie doch die Auswahl unter allen Häusern und allen Balkonen des Stadtviertels gehabt hatte!

»Wie leichtsinnig, wie unvorsichtig!« sagten einige, »sich gerade diese Stelle auszusuchen, während doch Manuel in der Stadt ist und sie weiß, wie leidenschaftlich er ist!«

»Wie rücksichtslos, wie schamlos!« fügten andre hinzu, »in Abwesenheit ihres Mannes zu einer Festlichkeit zu gehen, besonders während ›der andre‹ kommen will!«

»Man muß gestehen, daß sie sehr mutig ist!« sagten die Nachsichtigsten, »sie selber wirft sich den Hörnern des Stiers entgegen! Seht nur, wie gefaßt und schön sie aussieht! Was für ein stolzes Lächeln! Was für Augen! Man sieht keine Besorgnis in ihnen! Und wie muß ihr trotzdem das Herz pochen!

Soledads Schönheit war nicht die einer griechischen Statue. Sie war mehr gotisch als heidnisch, mehr romantisch als klassisch, mehr Frau als Göttin. Die weichen Linien ihrer Gestalt schwankten zwischen dem Runden und Eckigen und gaben so den Formen des Körpers größere Kraft. Sie war eine von den Frauen feinster, nervöser Organisation, die man mit Recht ideale oder vergeistigte Gestalten zu nennen pflegt und deren Reize sich nicht auf die Zeichnung, auf die äußere Modellierung, um uns dieses Ausdruckes zu bedienen, auf die plastische Schönheit beschränken, wie bei den olympischen Schönheiten, sondern die man in der Einheit und Gesamtheit ihres Wesens, in ihrer ganzen Eigentümlichkeit, in all dem bewundert, was der Bildhauer an ihnen sieht und der Physiologe errät. Solche Frauen sind viel wirklicher, viel irdischer, viel menschlicher, als jene massiven Karyatiden ohne Nerven, in denen alles Materie ist. Frauen wie Soledad sind elastisch wie Schlangen, das Blut strömt ihnen rasch und leichtflüssig durch die Adern, sie leben und atmen im Feuer, wie man vom Salamander erzählt. Die Gesichtszüge der Dolorosa erhöhten das tiefe Interesse und die lebhafte Neugierde, welche der allgemeine Anblick ihrer schmachtenden Reize zu erwecken pflegte. Ihre unveränderliche aber lebensvolle Bleichheit, ihre zugleich Liebe verheißenden und stolzen Augen, der sentimentale Ausdruck ihres ganzen Wesens, der so wenig zu dem friedlichen Leben stimmte, welches sie als die sozusagen zufällige Gattin eines gewöhnlichen oder wenigstens prosaischen Mannes führte – alle diese Gegensätze zwischen ihrer Natur und ihrem Leben waren, wenn auch unbestimmt, in ihren Zügen zu lesen und bewirkten, daß Soledad wie alles Geheimnisvolle und Unerklärliche, wie eine tragische und seltsame Geheimnisse bewachende Sphinx, Einbildungskraft und Verlangen gefangennahm.

Natürlich fiel dem halbafrikanischen Publikum, welches Soledad mit den Augen verschlang, nichts von diesen erhabenen Gedanken ein, aber nichtsdestoweniger hatten sie doch eine Ahnung von der Seltsamkeit dessen, was sie sahen, so daß alle den Glücklichen, Sterblichen beneideten, dem es gelingen sollte, die unglückliche Heldin eines so merkwürdigen Liebesromans ihrer gezwungenen, nun schon so lange dauernden Gefühllosigkeit zu entreißen. Mit andern Worten sie beneideten unsern Manuel Venegas, den man für den Besitzer dieses eingekerkerten Herzens hielt.

Mit einemmale bemerkte man unter den Gruppen eine außerordentlich lebhafte Bewegung, die sich bald dem Publikum auf den Balkonen und an den Fenstern mitteilte, als ob sich irgend etwas ganz Besonderes ereignete. Was war der Grund davon? War die Prozession im Begriff sich in Bewegung zu setzen? Hatte man sie aufgeschoben? War irgend ein Unglück vorgekommen?

Manuel Venegas war auf der Höhe der sehr langen Straße von Santa Maria erschienen! Er näherte sich dem belebtesten Teile der Straße, indem eine Schar unruhiger Straßenjungen vor ihm herlief und in achtungsvoller Entfernung hinter ihm ein halbes Dutzend Tapferer zweiten Grades folgte. Der Held des Tages hatte sich gezeigt.

Fast alle, die sich in der Nähe der Kirche befanden, gingen nun die Straße hinauf, um des unglücklichen jungen Mannes so bald als möglich ansichtig zu werden. Er ging ruhig seines Weges, ohne jemand anzusehen, das Haupt ein wenig geneigt, und zerstreute sich damit, mit dem Stocke die wohlriechenden Kräuter, welche den Boden bedeckten, hin und her zu bewegen.

Trotzdem konnte man nicht behaupten, das Publikum sei ihm gleichgültig, da er sich trotz seines Unglücks so sorgfältig angezogen hatte, um sich ihm in würdiger Weise vorzustellen. Die Mauren sind immer von künstlerischer Eitelkeit beseelt gewesen und stets mit allem möglichen Prunk und ihrem besten Schmuck in die Schlacht gegangen, vielleicht auch, weil ihnen die Gefahr als ein Fest erschien. An jenem Tage hatte sich Manuel wie ein Bräutigam angezogen und nicht wie ein Mann, den das Unglück dem Leben entrissen hat und dem nur die einzige Hoffnung geblieben ist, bald hinzuwelken und zu sterben. Seine ganze Kleidung war aus schwerer, schwarzer Seide mit Achselschleifen von derselben Farbe und vielen Knöpfen von mattgeschliffenem Silber. Er hatte einen kostbaren Hut von der runden Form auf, welche man in Amerika zu tragen pflegt. Prachtvolle Brillanten glänzten an seinen Fingern und dem gestickten Brusteinsatz seines Hemdes, um den Hals hatte er eine lange und starke goldne Kette gewunden, welche sich unter seiner Schärpe von chinesischer Seide verlor und ohne Zweifel zu einer kostbaren Uhr gehörte, wie sie einem so eleganten »Amerikaner« zukam.

Uebrigens trug unser Held heute gegen seine Gewohnheit eine Waffe und zwar einen Dolch. Man sah, auch wenn man Manuel nur oberflächlich betrachtete, die Form desselben unter dem Futter der Jacke. Hatten die Reisenden, welche ihn auf der Höhe der nahen Sierra grüßten, ihn in diesem Augenblicke gesehen, so würden sie sich über die schreckliche Veränderung in seinen edeln Zügen entsetzt haben. Ein fürchterliches Zucken hatte alle seine Muskeln bis aufs äußerste gespannt, aus seinen Augen strahlte ein finsteres rötliches Licht, wie aus denen des Löwen, und die tiefste Traurigkeit hatte ihren Schleier über sein männlich schönes Antlitz gebreitet: eine verzweifelte und schreckliche, keine klagende und trostbedürftige, nein eine unbewegliche, stumme, versteinerte, unheilbare Traurigkeit, die in ihrer Gefaßtheit viel drohender war als alle Ausbrüche des Jähzornes.

Das Publikum auf der Straße wagte ihn zuerst nur aus der Entfernung zu grüßen und rief ihm sein »guten Tag, Manuel!« so einfach und natürlich zu, als seien nicht acht Jahre vergangen, seit sie ihn zum letztenmale gesehen hatten. Der junge Mann erwiderte die Grüße, indem er die Hand an den Hut legte, ohne darauf zu achten, wer ihn gegrüßt hatte.

Etwas weiterhin wagten schon einige ihn anzuhalten und ihm die Hand entgegenzustrecken, indem sie nach seinem Befinden fragten.

Manuel antwortete auf alle diese Grüße mit so wenig Worten als möglich und setzte seinen unterbrochenen Weg fort. Doch verließ er selten eine Gruppe, um sich einer andern zu nähern, ohne vorher leise denjenigen, der ihm das meiste Zutrauen einflößte, gefragt zu haben:

»Sagen Sie mir: wo ist Antonio Arregui?«

»Er ist nicht hier – er ist noch nicht gekommen – man sagt, er habe gestern die Stadt verlassen – man erwartet ihn jeden Augenblick« – hatten ihm schon vier so Gefragte geantwortet, alle mit einer Eile und einer Furcht, die besagten, daß sie sich einer gewissen Mitschuld mit dem furchtbaren Zwecke dieser Frage bewußt waren.

Während dessen war unser Held in den belebtesten Teil der Straße, das heißt denjenigen Teil gelangt, auf welchem die Prozession einherziehen mußte (nachher nämlich durchzog sie eine Querstraße, um die Feier in einer ehemaligen Moschee zu beendigen, die jetzt zur Hilfskirche der Parochie dient).

Von den Frauen streckten die ungeniertesten sich weit über den Balkon herüber, um ihn zu sehen. Doch richtete er den Kopf nicht ein einziges Mal in die Höhe. Ohne Frage hatte er nicht erfahren und konnte unmöglich vermuten, daß die Dolorosa zu der Prozession gegangen sei, daß sie nur wenige Schritte von ihm entfernt war, und daß er sie nach achtjähriger Abwesenheit jeden Augenblick zu Gesicht bekommen konnte, jetzt wo ihre Herzen nicht mehr durch das Weltmeer, sondern durch einen andern, noch tiefern Abgrund getrennt waren.

Der zornige Venegas sah einzig auf die Straße und die Menschen, indem er jenen Antonio Arregui suchte, den er nicht kannte, dem sich gegenüberzustellen er aber für seine Pflicht hielt. Auf demselben Kampfplatz wollte er zu feierlichem und öffentlichem Kampfe mit diesem Manne zusammentreffen, wo er vor acht Jahren seine Drohung ausgesprochen, zu deren Zeugen er die ganze Bevölkerung der Stadt aufgerufen hatte. Manuel war gekommen, um seine Drohung auszuführen! Nun war es aber, meinte er, für den bedrohten Ehemann ein Ehrenpunkt, sich nicht zu verstecken, sondern hierher zu eilen, und seinen Feind nicht zu zwingen, ihn in seinem Versteck aufzusuchen.

Wohlgemerkt, dies alles sagen nicht wir: das Publikum und Manuel selber sprachen oder dachten an jenem Nachmittage so. Uebrigens standen alle still und grüßten ihn, ohne es zu wagen, die Wunden seines Herzens zu berühren, jedoch nicht ohne manchmal unbescheidene Fragen an ihn zu richten.

»Bist du wirklich so reich?« hatte ihn zum Beispiel jemand gefragt.

Manuel lächelte verächtlich und antwortete nicht. Darauf redete ihn derselbe mit Sie an und fragte:

»Bleiben Sie lange hier?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete der Unglückliche und kehrte ihm den Rücken.

Einige angesehne und höher gestellte Männer hatten ebenfalls die Schwäche, sich ihm zu nähern, um mit seinem Schmerze, seiner Verzweiflung, ja seiner Börse sich zu befassen.

»Du mußt uns helfen die Stadt zu regieren,« sagte ein Stadtrat, »und damit du wählbar bist, hier Besitz erwerben. Die Stadtverwaltung braucht Leute wie du. Würdest du Lust haben, Moriskos Gut zu kaufen? Man verlangt hunderttausend Thaler dafür.«

»Vielen Dank! Wir wollen sehen!« antwortete Manuel.

»Ich mache mich anheischig, deine Wahl zum Alkalden durchzusetzen!« rief ein andrer Ratsherr aus.

Manuel grüßte höflich.

»Aber vorher,« sagte ein dritter, auf Manuels Herz deutend, »mußt du eine Frau aussuchen, dich verheiraten! Wir setzen voraus, daß du dich drüben noch nicht verheiratet hast!«

Manuel betrachtete ihn vom Scheitel bis zur Sohle und sagte in traurigem Tone:

»Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber ich bedaure Sie.«

Dann ging er weiter die Straße hinab.

Nachdem er einige Schritte gethan hatte, erblickte er unsern Hauptmann: sogleich ging er auf ihn zu (was er noch bei niemand gethan hatte) und reichte ihm ehrerbietig die Hand, während er mit der andern den Hut abnahm.

Der alte Mann freute sich sehr über diese bezeichnende Ausnahme, und fand nur Kraft, um mit Thränen in den Augen zu sagen:

»Du hast ein gutes Gedächtnis!«

»Und guten Willen,« antwortete Manuel in freundlichem Tone, ihm noch einmal die Hand drückend.

Hierauf setzte er, sehr erfreut über diese Begegnung, seinen Weg fort.

Endlich befand er sich gerade dem Balkon gegenüber, auf welchem Soledad saß, und blieb, als bestimme ihn irgend ein geheimnisvoller Instinkt oder eine höhere Gewalt, mechanisch gerade dort stehen, um die Prozession vorbeiziehen zu sehen.

Viele Blicke richteten sich auf die Mündungen der in die Hauptstraße einlaufenden Gassen, indem sie nach Antonio Arregui, als der einzigen Person ausschauten, die noch zur Vollendung des Dramas fehlte.

Inzwischen hatte die öffentliche Aufmerksamkeit Manuel verlassen, um sich Soledad zuzuwenden.

Sie rührte und bewegte sich nicht. Es schien, als betrachte sie den Himmel oder die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Aber ach, nur zu wohl wußte sie, daß Manuel dort war, ihr gegenüber und nur wenige Schritte entfernt. Die Bewegungen der Menge, die Unterhaltungen, welche bis auf dem Balkon hörbar waren, die Trauer der armen, an ihrer Seite wie auf der Folter sitzenden Mutter, ihre eignen Augen, die, wie wir schon wissen, die Gabe hatten auch das zu erblicken, was sie nicht sahen – alles hatte es ihr schon im ersten Augenblick gesagt. Trotzdem zeigte sie sich vollständig ruhig, ja man sah sie anmutig als Antwort auf irgend eine bittende Aeußerung ihrer gequälten Mutter lächeln. Sie war die würdige Tochter jenes Mannes, der einst bei dem Brunnen auf dem Lande von dem wütenden Manuel überrascht, keine Miene verzog, keine Bewegung machte, um dem fast sichern Tode zu entgehn.

In diesem Augenblicke, und während schon einige es schlau so einzurichten versuchten, daß Manuel die Augen in die Höhe richtete und Soledad erblickte, fingen die Glocken von Santa Maria zum drittenmale an zu läuten. Neue Raketen stiegen in die Luft, der Tambour begann den Marsch zu schlagen – und man sah Kirchenfahnen, angezündete Kerzen, die Mitglieder der Brüderschaft und die Chorknaben aus der Kirche herauskommen, sich aufstellen und in geregeltem Schritte vorwärts gehen. Die Prozession war auf der Straße.

Der jubelnde Lärm, das lebhafte und feierliche Schauspiel, die feierlich erschallenden Kirchengesänge, mit einem Worte, die ganze Wiederholung von Szenen, die er in bessern Tagen so oft mitangesehen hatte, machten einen tiefen Eindruck auf Manuel. Er hob das Haupt in die Höhe und schaute sich nach allen Seiten um, wie um die Luft des Lebens und zur Rettung für sein erstickendes Herz zu atmen, wie es der tiefe Seufzer zeigte, der ihm endlich die gepreßte Brust erleichterte.

In diesem Augenblick sah der Unglückliche auf dem Balkon gegenüber die unbewegliche Gestalt Soledads.

Ja sie war es; er konnte nicht zweifeln, es war ihr Engelsantlitz; es waren ihre Augen, die ihn nicht ansahen, aber fortfuhren, die Welt wie früher zu erhellen und zu verschönern. Wahnsinnig vor Seligkeit, war er schon im Begriff, auszurufen: »Soledad!« indem ihn der erste Sturm der Leidenschaft überraschte ...

Aber ach! Nein, es war nicht Soledad! Es war das Weib eines andern, eines Unbekannten, des Antonio Arregui! Es war das unreine Weib, das ihre Liebe verleugnet hatte. Es war die Schändliche, die das Herz des edelsten und standhaftesten Liebenden gebrochen hatte! Es war die Verräterin, die ihm den Dolch in den Rücken gestoßen, die seine Abwesenheit benutzt hatte, die Abwesenheit des Mannes, der, ihrer Treue sicher, in fernen Ländern ruhig und sorglos gekämpft hatte, um sie zu erhalten, sie sein Weib nennen zu dürfen, das Glück zu erlangen, ihr Sklave zu werden. Es war der schreckliche Dämon seines Lebens, das Weib, das ihm die Seele vergiftet hatte.

Alles dies sagte der Ausdruck seiner Züge. Dies sagte sein Herz, während es aus seinen entsetzten Augen schaute, um zu sehen, ob Soledad wirklich wagte, in eitelm Putz auf diesem Balkon zu sitzen, an einer Festlichkeit teilzunehmen, sich dem Lichte des Tages zu zeigen, nach dem, was sie gethan hatte!

Er sah sie; er konnte sich ihre Gegenwart nicht erklären; der wachsende Zorn seines nie gebändigten Stolzes steigerte sich bis zur Tollheit.

Warum zitterte die Schändliche nicht? War ihr unbekannt, daß ihr Richter gekommen war? Hatte es ihr die Mutter nicht gesagt? Wußte sie nicht, daß er hier war, ihr gegenüber, und den Narren erwartete, der sich ihren Gatten nannte, um ihn in Gegenwart der ganzen Stadt zu erdolchen? Wußte sie selbst, die einst seine Herrin und Königin gewesen war, die ihn jetzt nicht einmal zu erblicken, ja mit ihrer Ruhe und Gleichgültigkeit herauszufordern schien, sie, die ihn mit ihrer eiteln weißen Mantille und jener feilen, einem andern übergebnen Schönheit zu beleidigen fortfuhr – wußte sie nicht, daß sie auch für ihr Leben zittern mußte?

Warum noch zögern? Ein Sprung genügte, um auf den Balkon zu gelangen! Der Dolch zitterte bei jedem Klopfen seines Herzens und dürstete nach Blut! Schon mehrmals hatte er ihn wie einen treuen Freund an sein Herz gedrückt. Außerdem war Antonio (so mochte ihn die Treulose ja nennen) abwesend, er war geflohen. Alle hatten es ihm gesagt. Deswegen durfte er vorläufig nicht daran denken, ihn zu ermorden. Jetzt mußte er nur an sie denken, die Schlange, die sein Herz zu foltern fortfuhr, an jene schamlose und verstockte Sünderin, die sich so von Herzen an der kommenden Prozession ergötzte, und sich nicht an die Bitten ihrer Mutter kehrte, nicht an die Zeichen, mit welchen selbst das Publikum anfing ihr zu sagen, daß sie in Gefahr sei, daß sie sich vom Fenster zurückziehen möchte, daß Manuel sich in jedem Augenblick auf sie werfen könne. Ja, er mußte sogar auch an das Publikum denken, welches auf jede seiner Handlungen achtete, nicht abließ, ihn mit Schrecken zu betrachten, an jene dreitausend Personen, die irgend etwas Außerordentliches erwarteten, was des Sohnes Rodrigos würdig sei, seinen frühern Drohungen entspreche, und mit der allgemeinen Unruhe im Einklang stehe, welche seit vierundzwanzig Stunden in der Stadt herrschte! Kein Schwanken mehr! Das Schicksal wollte es! Er mußte die Dolorosa ermorden!

Inzwischen war die Prozession vorwärts gerückt und befand sich jetzt zwischen Manuel und Soledad, sie von einander trennend.

Der junge Mann mußte an sich halten, ohne daß sich deshalb sein Zorn vermindert hätte.

Auf diese Weise sah er, wie phantastische Erscheinungen, die seines Liebesgrames spotteten, die historischen Standarten aus der Zeit der Eroberung – bei sich vorbeiziehen, ferner die großen Leuchter der Pfarrkirche, die Diener der Brüderschaft mit ihren Stäben, die frommen Weiber, welche barfuß gehend ein Gelübde erfüllten, die Bauern mit ihren Mänteln aus grobem Tuch – die Mitglieder der Brüderschaft mit dem Skapulier und dem Abzeichen ihres Ordens, die Nationalgarde, die Pickelhauben über die Schulter gehängt, die Musikanten mit ihren Baßpfeifen oder Fagotts, die Domsänger mit ihren Notenblättern, die Chorknaben mit ihren Räucherfässern... Der Christusknabe mit der Weltkugel mußte schon ganz nahe sein. Schon hörte man die silbernen Glöckchen der Bahre, auf der das Bild getragen wurde, schon glänzten seine hundert Kerzen, schon atmete man den Geruch der Räucherpfannen.

Manuel hatte das schöne Bild, das er als Knabe und Jüngling so sehr geliebt hatte, noch nicht gesehen. Soledad dagegen verwandte kein Auge davon. Dachte sie daran, daß während vieler Jahre jener Thron von Blumen, Früchten und lebendigen weißen Tauben, auf welchem das Christuskind stand, von der Verehrung des Mannes herrührte, der sie so sehr geliebt hatte, so leidenschaftlich noch jetzt liebte und ihretwegen jetzt so unglücklich war? Ja! Denn zum großen Erstaunen der Menge fing die Dolorosa an, verwirrt, erregt, bestürzt zu werden: ein leichtes Zittern bewegte ihre Augen und ihre halbgeöffneten Lippen, als sei sie nahe daran, zu weinen. Ach, wie schön fanden alle sie jetzt! Jetzt war sie eine wahre Jungfrau der Schmerzen!

Außerordentlich war auch die allgemeine Erregtheit der Zuschauer. Das Publikum war an einem seiner großen, wenn auch flüchtigen Augenblicke von Erregung angelangt. War es ein Zufall oder hatte die Vorsehung es so gefügt, es traf hier eine solche Menge pathetischer Umstände zusammen, daß das Volk, dieser große Dichter und Künstler, seine Majestät wieder erlangt hatte, sich seines Namens würdig zeigte und anfing, edel und menschlich zu empfinden.

Endlich kamen die Tragbahren an. Wahrend sie dieselben mit den Blicken verfolgte und er das Auge nicht von der Betrachtung ihrer Schönheit verwandte, traf es sich, daß ihre Blicke sich kreuzten. Der eine blieb wie gefesselt und gekettet an den andern, zwischen beiden stellte sich eine unzerreißbare Verbindung her, der Mörder (wenigstens in Gedanken) und sein Opfer konnten nicht mehr ablassen, sich fassungslos zu betrachten.

Da vermischten sich und verschwammen ineinander vor Manuels Blick das Bild des Knaben Jesus, so lange Gegenstand seiner inbrünstigen Verehrung, und das Bild der andern, jetzt von ihrem Throne gestürzten Gottheit, der gequälten Dolorosa, die in diesem Augenblick in das bitterste Weinen ausbrach und ihn durch ein Meer von Thronen anschaute.

Sie weinte! Das war etwas, was man nie gesehen und für möglich gehalten hätte! »Sie weint!« sagten sich die erstaunten Zuschauer. »Sie weint!« rief das Herz des Geliebten, des edeln und gefühlvollen Venegas. Das erlauchte Blut hoher Ahnen, welches in seinen Adern stoß, ließ ihn nur stark sein gegen Hindernisse und hart gegen Widerstand, aber weich und großmütig gegen die Schwäche. Die Angebetete weinte um seinetwillen! In Gegenwart so vieler Zuschauer! Weinte, auch wenn es nur vor Furcht war! Vielleicht weinte sie aber vor Liebe und Schmerz, weinte, weil sie an einen andern gefesselt war, und von dem gehaßt werden mußte, der für immer der Herr ihres Herzens war! Die Geliebte weinte, und er war unter den Lebenden!

Ein Schrei unendlicher Liebe und tiefen Mitleids kam aus dem tiefsten Herzen Manuels. Er stürzte, ohne zu wissen was er that, auf den Balkon zu, wie um sie zu trösten, ihr zu verzeihen, sie gegen sein eignes Ich zu verteidigen, wie um sie dem zu entreißen, der sie widerrechtlich besaß und ihr diese Thränen verursachte.

Der Wechsel in seiner Stimmung war so plötzlich gewesen, daß die Prozession sich noch zwischen den beiden Liebenden befand. Die Tragbahre war schon vorbeigetragen worden, aber in diesem Augenblick war der Baldachin zwischen ihnen.

Manuel drang unter denselben ein, als ihn sein unwiderstehlicher Drang zu dem Gegenstande seiner Leidenschaft hinriß.

»Er will sie ermorden!« riefen die Zuschauer aus, in dem Glauben, Manuel habe sich von seiner Wut fortreißen lassen.

Manuel hörte diesen schrecklichen, nun zur Verleumdung gewordnen Ruf, er wollte die Zuschauer nicht einen Augenblick in diesem gräßlichen Irrtum lassen, und da er noch immer viele vor dem Heiligenbilde knieen sah, so kniete auch er hin, indem er mit der Schnelligkeit und Schlauheit eines Irrsinnigen vorgab, er hätte, als er so stürmisch vordrang, das Christuskind anbeten wollen.

So blieb also der arme Wahnsinnige unter dem heiligen Tuche in aller Augen ein bekehrter Sünder. Daß man ihn dafür hielt, sagte die fromme Erregtheit der ganzen Zuschauermenge. Da nun die Prozession, festgehalten und erregt durch so dramatisch bewegte Vorkommnisse, zu einem Stillstand gekommen war, so war Gelegenheit vorhanden, daß die Menge in stets sich erneuernden Wellen herbeiströmte, um das wunderbare Schauspiel zu betrachten, wie dieser wilde und grausame Mann, der kurz zuvor für einen Mörder galt, jener Wütende, der seit dem vorhergehenden Abend die ganze Stadt in Schrecken gesetzt hatte, jetzt vor der Bahre des Christuskindes auf den Knieen lag, und die Stirn beugte, und das Gesicht in den Händen verbarg in der Haltung der tiefsten Zerknirschung.

Doch bald sollte sich diese Täuschung des Publikums verlieren und klar werden, daß Manuel in jenem Augenblick kein zerknirschter Sünder war. Soledads Mutter nämlich und die Frau des Mannes, dem der Balkon gehörte, versuchten, die junge Frau, die nahe daran war, die Besinnung zu verlieren, zu bewegen, den Balkon zu verlassen. Als Manuel dies gewahr wurde (denn von seiner knieenden Stellung aus lauerte er auf die Gelegenheit, sich dem Balkon, wie er zuerst gewollt, zu nähern), überkam ihn ein neuer Schwindel von Wut und Raserei: »Haltet ihn, haltet ihn!« riefen die Nahestehenden, indem sie selbst zurückwichen.

Manuel warf denen, welche den Ruf ausstießen, einen Blick und ein Lächeln zu, das sie erschaudern ließ, erhob sich langsam und ging, das Antlitz bald nach dieser, bald nach jener Seite wendend, wie um zu verhindern, daß man ihn aufhalte, entschlossen auf den Balkon zu.

In diesem Augenblick hörte er über seinem Haupte eine Stimme donnern, die in zornigem Tone zu ihm sagte:

»Wohin gehst du, Undankbarer? Warum willst du mich nicht sehen? Habe ich dir damit geschadet, daß ich dich liebte?«

Und gleichzeitig versperrte ihm eine Art Berg von Gold den Weg und stellte sich zwischen ihn und das Haus, dem er zueilte.

Es war der dicke Don Trinidad Muley, der Pfarrer von Santa Maria, der die Prozession leitete, in vollem Ornat – der seiner großen und majestätischen Person paßte, als wäre er für sie gemacht.

Mitten in seiner furchtbaren Erregung stieß Manuel einen Seufzer der Liebe und Trauer aus, als er sich so dem würdigen Priester, seinem Beschützer, seinem zweiten Vater, gegenüber sah, dem Manne, welchem er am meisten auf Erden verdankte. Er küßte ihm die Hände und das Gesicht unter den begeisterten Zurufen und den Wehmutsthränen der Menge.

»Laß mich jetzt! Geh aus dem Wege!« sagte indessen der kluge Don Trinidad. »Die Prozession kann nicht stehen bleiben. Ich wiederhole es: Du bist ein undankbarer Mensch! Mir die Thür deines Hauses zu verschließen! Mich vor aller Welt so bloßzustellen!«

Während dessen war Soledad verschwunden.

»Verzeihen Sie, Herr Pfarrer,« stammelte Manuel, beschämt darüber, daß er seinen Wohlthäter beleidigt hatte.

»Laß mich, ich mag dich nicht sehen!« antwortete Don Trinidad, der that, als werde er immer noch ärgerlicher.

»Stoßen Sie mich nicht zurück, Herr Pfarrer,« fuhr der junge Mann fort; »bedenken Sie, daß ich sehr unglücklich bin. Vergrößern Sie meine Verzweiflung nicht noch durch Ihre Härte!«

»Nun wohl, fass' an und folge mir,« erwiderte sein ehemaliger Beschützer, »jetzt aber schweige! Hier darf man nicht sprechen!«

Mit diesen Worten reichte er Manuel einen Zipfel seines Meßgewandes, den Manuel mechanisch erfaßte. Wie sehr bedurfte der Unglückliche einer wahren Liebe!

Die Prozession setzte sich wieder in Bewegung. Don Trinidad Muley sang mit Stentorstimme, sah aber dabei immer verstohlen auf Manuel, damit er sich nicht entfernte. Hinter ihm ging der junge Mann, gewissermaßen von dem heiligen Gewande festgehalten.

»Was geht denn da vor?« fragten unterdessen viele auf den entfernteren Balkonen.

»Was soll vorgehen?« antworteten Stimmen von der Straße. – »Manuel Venegas war im Begriffe, die Dolorosa zu ermorden, aber plötzlich fiel er vor der Bahre des Heiligenbildes auf die Kniee, und jetzt geht er mit der Prozession einher! Sehen Sie nur, da ist er! Er hält sich an Don Trinidad Muleys goldgesticktem Mantel fest!«

»Es ist nicht wahr! So ist es nicht gewesen!« riefen Vitriolos Jünger und die Anhänger aus, die sie in diesem Quartiere hatten, »die Dolorosa fing an zu weinen, als sie ihres ehemaligen Geliebten ansichtig wurde. Der Pfarrer sagte ihm gehörig die Wahrheit, weil er ihn heute nicht hatte annehmen wollen, und die Folge davon war, daß unser Eisenfresser jetzt wie ein Lamm, wie ein Waisenknabe, wie der dümmste Chorknabe des Kirchspiels hinter seinem ehemaligen Erzieher herschleicht. Das nenne ich mir einen Tapfern! Ert viel Lärm und dann – nichts, gar nichts!«

»Also die Dolorosa hat geweint!« sagte der neutrale Teil des »Chores«: »schlimmes Zeichen für Antonio Arregui! Die erste Liebe ist doch die stärkste! Ihr werdet sehen, alles wird so aufhören, wie es hätte anfangen sollen: die beiden Liebenden werden einig und Antonio geht zurück nach la Rioja. Schade um die Fabrik! Sein Tuch war so gut und so billig!«

In diesem Augenblick, das heißt, als die Prozession schon in der Straße Santa Luparia angekommen war, Soledad sich mit ihrer Mutter auf Seitengassen entfernt hatte und alles für diesen Tag zu Ende schien – bemerkte man in der Tiefe der Hauptstraße große Aufregung.

»Antonio Arregui ist in die Stadt zurückgekehrt! Antonio kommt! Antonio ist hier! Der da ist's! Seht nur, wie er aussieht!« sagten viele mit mehr oder weniger leiser Stimme, indem sie auf einen gut aussehenden Mann zeigten, der eilig die Straße entlang ging. Seine Züge waren durch den Unwillen verzerrt, einige Straßenjungen liefen hinter ihm her. Er ging auf das Haus los, in welchem Soledad und ihre Mutter den Nachmittag zugebracht hatten.

Jetzt konnte man die Meisterschaft bewundern, mit welcher das Publikum in solchen Zeiten ohne vorherige Verabredung die Rollen verteilt und nachher spielt. Während die einen den erzürnten Riojaner aufhielten und ihm auf das genaueste erzählten, was vorgegangen war, sowie daß seine Frau und seine Schwiegermutter unverletzt nach Hause gegangen waren, ihn auch mit einem gewissen Hohne aufforderten, vorsichtig zu sein und sich in seinem Hause einzuschließen, – eilten andre die Straße herauf, um an Manuel Venegas zu kommen und ihm die große Neuigkeit mitzuteilen, ohne Zweifel auch in der löblichen Absicht, ihn aufzufordern, nun doch die Zänkereien sein zu lassen und ein unangenehmes Zusammentreffen mit dem erzürnten Gemahl seiner Angebeteten zu vermeiden.

Glücklicherweise war aber auch ein klügeres christliches Gemüt da, dessen Eigentümer schneller lief, als jene andern, und gerade noch zur rechten Zeit dem Pfarrer ein paar Worte ins Ohr flüsterte.

»Vorwärts, Jungen!« rief sogleich der Pfarrer den Trägern der Bahre zu, »Vorwärts! Es wird schon dunkel! Geht doch schneller, ihr Faulpelze! Die Prozession hat lange genug gedauert! Und du, Manuel, geh nicht fort von mir! Laß mich nicht los! Dieser Satan von Mantel wiegt tausend Pfund, und du machst mir das Gewicht leichter, wenn du ihn tragen hilfst!«

Die Prozession setzte sich in Geschwindschritt. Die Träger der Bahre, fortwährend von Don Trinidad zur Schnelligkeit ermuntert, rannten alles über den Haufen und kehrten sich nicht an die Ordnung der einzelnen Teile der Prozession. Die Baldachinträger eilten mit ihren Stäben hinter der Bahre her, indem sie weite Schritte machten. Priester, Chorknaben, Musikanten, Mitglieder der Brüderschaft, Zuschauer und Eskorte bildeten einen unbeschreiblich verwirrten Menschenknäuel.

»Aber was gibt's denn?« riefen die Diener der Brüderschaft, ihre Stäbe schwingend.

»Nichts! Nichts! Vorwärts!« antwortete der Pfarrer keuchend.

Da er aber noch nicht ganz darüber beruhigt war, daß diese ruhmreiche Flucht für die Ausführung seines Vorsatzes genügte, so rief er den siebzigjährigen Hauptmann, der als Repräsentant der Armee hinter ihm einherging, zu sich heran und teilte ihm leise mit, was sich ereignet hatte. Schließlich sagte er ihm halblaut:

»Im äußersten Falle ziehen Sie vom Leder! Aber hauen Sie nur mit der flachen Klinge zu!«

Glücklicherweise war Manuel so niedergedrückt und so in sich versunken, daß er auf nichts achtete und sich von dem Pfarrer leiten ließ, wie ein Blinder von seinem Führer.

»Wissen die Herren schon, was geschehen ist?« rief ein Jünger Vitriolos aus, der eiligst in diesem Augenblick herankam und dem es geglückt war, sich Manuel zu nähern.

»Schweige, oder ich erdrossle dich!« grunzte ihn der Hauptmann möglichst leise an, faßte ihn am Kragen und stieß ihn fort.

Darauf ergriff er, unter dem Vorwande nicht so schnell gehen zu können, Manuel beim linken Arme.

So war unser Held außer Verbindung mit dem Publikum gesetzt worden. Von dem guten Pfarrer ins Schlepptau genommen und den Hauptmann selber am Schlepptau führend, betrat er endlich die Kapelle der heiligen Luparia, wo ihn Don Trinidad mit schnell entschlossener Vorsicht in einem zur Sakristei gehörenden kleinen Gemache einschloß.

Es war schon Zeit. Eine Minute nachher kam Antonio Arregui von vielen Leuten gefolgt vor dem Portale der Kapelle an, um Manuel Venegas zu suchen.

Doch er fand sich dem Priester in Pontifikalkleidung gegenüber, der ihn ruhig ansah und in majestätischem Tone zu ihm sagte:

»Halt, Sennor Don Antonio! Mein Sohn ist an geweihter Stätte. Sie haben, indem Sie hierher kamen, alles gethan, was ein Mann von Ehrgefühl thun mußte. Jetzt gehen Sie ruhig nach Hause, ich werde Sie morgen, so Gott will, besuchen.«

Darauf wandte er sich zu der Menge und sagte in barschem Tone:

»Ihr aber an eure Geschäfte! Erzieht eure Kinder, die eurer Sorge gar sehr bedürfen! Und laßt die Unglücklichen in Frieden!«

Antonio Arregui küßte dem Pfarrer die Hand und ging ruhig, ohne ein Wort zu sagen, fort.

Auch die verschiednen Menschengruppen zerstreuten sich allmählich. Laut pries man Don Trinidad Muley, gleichzeitig aber dachte man an den Ball und die Lotterie des nächsten Tages, wie der unglückliche Spieler an die Revanche denkt, die er nehmen will.

7.

Haß und Liebe.

Nicht geringe Mühe kostete es dem Pfarrer, sich der vielen Leute zu entledigen, welche mit der Prozession in die Kapelle und die Sakristei gekommen waren und sie zwei Stunden nach Beendigung der Feierlichkeit noch nicht verlassen hatten.

Einerseits nämlich hatte die Brüderschaft an jenem Abend in der Sakristei die immer etwas stürmische Versammlung, in welcher alljährlich (unter Genuß von Biskuits und einiger Gläser Rosolio) ein neuer Majordomus oder Hermano Mayor gewählt wird. Anderseits trieben sich Hunderte von Tapfern, die auf eigne Rechnung getrunken hatten, in der Kirche umher mit der Absicht, Manuel anzureden und zu sehen, wie die Nachricht auf ihn wirken würde, daß Antonio Arregui zurückgekehrt sei und sich sogar bis in die Kirche gewagt habe, um Satisfaktion für seine beleidigte Ehre zu erlangen.

Doch der gute Pfarrer gab sich solche Mühe, kam und ging so oft von der Kirche in die Sakristei und von der Sakristei in die Kirche, fand so glückliche Gelegenheiten bei der Versammlung und sprach in so gefühlvollen Worten zu den andern, sie möchten doch wenigstens für diesen Abend Mitleid haben und die bittre Betrübnis Manuels nicht noch vermehren, daß er sich wirklich zuletzt, etwa um acht Uhr, von den Mitgliedern der Brüderschaft, sowie von dem letzten Trunkenbold und Eindringling befreit sah. Dann zog er seine gewöhnliche Kleidung an, gab dem Küster mit leiser Stimme einige, dem Anscheine nach sehr wichtige Aufträge, legte das Gesicht so gut er konnte in die richtigen Falten, um recht zornig auszusehen, und ging daran, seinen Gefangenen in Freiheit zu setzen.

Aber wie war Don Trinidad erstaunt, als er Manuel ruhig – vielleicht zu ruhig – an einem Schreibtische, der zur Ausstellung von Tauf-, Trau- und Totenscheinen diente, sitzen und schreiben sah. Gerade, als der Pfarrer eintrat, unterzeichnete er ein weitläufiges Schriftstück. Er faltete es in aller Ruhe zusammen, ohne sich an den Eintritt des Priesters zu kehren, wie jemand, der eine Handlung thut, die so gut ist, daß sie ihn von allen Förmlichkeiten entbindet, steckte es in die Tasche zu andern, die er schon darin hatte, und richtete erst dann den Blick auf den schweigenden und erstaunten Priester.

Don Trinidad legte das Gesicht in immer finsterere Falten, als er sah, daß Manuels Züge keine Reue oder Milde, sondern nur melancholische Liebe und die Ruhe eines unerschütterlichen Entschlusses ausdrückten. Da er aber auch so Manuel nicht in Schrecken zu setzen vermochte, so drehte er ihm plötzlich den Rücken und sah die Decke des Zimmers an, die wahrhaftig nichts Interessantes darbot.

Der junge Mann lächelte und näherte sich seinem Beschützer mit offnen Armen.

»Laß mich zufrieden!« sagte der dicke Pfarrer und entfernte sich von ihm.

Don Manuel ging ihm nach, umarmte ihn mit kindlicher Zutraulichkeit und sagte, als setze er die bei ihrer ersten Begegnung angefangne Unterhaltung fort, im Tone freundlicher Antwort:

»Auch ich wollte mit Ihnen sprechen, und deswegen dachte ich heute abend zu Ihnen zu kommen.«

»Recht früh!« brummte der Pfarrer.

»Unter anderm wollte ich,« fuhr der junge Mann mit jener sanften, kindlichen Offenheit fort, welche die Ausbrüche seiner wilden Leidenschaftlichkeit vergessen ließ, »Ihnen eine Urkunde überreichen, welche ich heute mittag abgefaßt und jetzt überarbeitet habe. Ich hatte sie nachmittags in der Tasche, und dort würden die Gerichtspersonen sie gefunden haben, wenn es mir beschieden gewesen wäre, in der Straße von Santa Maria de la Cabeza den Tod zu finden.«

»Den Tod zu finden!« antwortete Don Trinidad barsch, ohne den Blick von der Decke zu verwenden, »Du fängst schon wieder mit deinen Redensarten an, um mich in Verwirrung zu setzen. Es wäre besser, wenn du mir erklären wolltest, warum du mich heute früh nicht angenommen hast! Welche Schande! Mich vor der ganzen Stadt bloßzustellen! Und dann: was hat dir die arme Polonia gethan? Zweimal ist sie in Thränen über deine Härte nach Hause gekommen!«

»Verzeihen Sie, Herr Pfarrer,« antwortete Manuel traurig, »ich war heute sehr elend. Seit gestern abend bin ich nicht Herr meiner selbst gewesen.«

»Und jetzt, bist du es jetzt?« fragte Don Trinidad.

Manuel senkte das Haupt, ohne zu antworten.

»Nun, wir verstehen schon!« antwortete der Priester bitter, »Vorwärts, komm nach Hause, vorausgesetzt, daß du sehen, ob dein ehemaliges Zimmer noch existiert, und Polonia um Entschuldigung bitten willst.«

»Wohlan, so lassen Sie uns gehen!« antwortete Manuel freundlich.

»Wir wollen über den Kirchhof gehen, damit uns niemand sieht,« sagte Don Trinidad, indem er voranging.

Sein ehemaliger Zögling folgte ihm wie ein Automat.

Sie betraten eine Art Hof, in dessen hohem Grase viele weiße Knochen im Mondlichte glänzten.

Manuel blieb in der Mitte des Platzes stehen und verfiel in tiefes Nachdenken.

»Kommst du nicht?« fragte der Pfarrer an der äußern Thüre.

Der junge Mann ließ seinen Blick über den Raum schweifen, wie um sich von dem Orte des Friedens zu verabschieden oder eine Stelle für sich auszusuchen, und folgte dem Priester.

Sie hatten, da sie um die Stadtmauer bis zu der dem Hause des Pfarrers am nächsten gelegnen Pforte gingen, einen weiten Weg zu machen. Keiner von beiden sprach ein Wort. Erst als sie die Stadt durch eine Straße betraten, die dort von den verfallenden Mauern zweier Gärten gebildet wird, ging Trinidad langsamer, um neben Manuel zu kommen, und murmelte ärgerlicher als je:

»Wieder ein solcher Skandal heute nachmittag! Man hat mir alles erzählt! Eine arme Frau hast du ermorden wollen!«

»Wer das sagt, der lügt!« rief Manuel aus, indem er zornig stillstand.

Darauf sagte er, ebenfalls zornig, aber in andrer Weise:

»Hätte ich nur gewagt, es zu thun!«

»Was sagst du?«

»Ich sage, daß ich heute nicht versucht habe, Soledad zu töten. Ich habe es nur gewollt. Aber der Mut fehlte mir, die Liebe trug den Sieg davon! Das ist mein Kummer! Das erschreckt mich. Ihre Thränen sind wie Blei auf mein Herz gefallen! Ich sehe ein, daß ich nichts gegen sie vermag! Sie ist mir überlegen! Ich muß ihr das Leben schenken!«

Der Pfarrer atmete auf, trotzdem fragte er weiter:

»Warum wolltest du also auf ihren Balkon steigen?«

»Warum?« antwortete der junge Mann mit erschreckender Natürlichkeit, »warum? Um mit ihr fortzugehen, um sie zu mir zu nehmen, um sie aus ihrer Gefangenschaft zu erretten! Wissen Sie nicht, daß sie mich liebt? Wissen Sie nicht, daß sie weinte, als sie mich erblickte?«

Don Trinidad machte sich selber gewissermaßen ein Zeichen, wie um zu sagen: »Nach der Seite hin sind wir sicher, Soledads Leben läuft keine Gefahr.«

Dann wickelte er sich mit der Miene einer gewissen Genugthuung in seinen Rock und sagte laut:

»Polonia hat wirklich recht. In deinem Kopfe ist eine Schraube los!«

Mit diesen Worten betrat er die Stadt.

Manuel schwankte einen Augenblick, ob er dem Pfarrer folgen oder sich flüchten sollte, da er neue und schlimmere Fragen fürchtete; endlich entschloß er sich zu dem ersteren und ging drei oder vier Schritte hinter ihm her.

So kamen sie an das Haus des Pfarrers, an dessen Schwelle Polonia voll von Neugier wartete.

»Gott sei Dank!« rief die alte Amme aus, als sie den Priester sah, ohne Manuel gewahr zu werden, »Wie steht es? Ist's wahr, was man erzählt?«

»Still, er kommt hinter mir!« sagte der Pfarrer.

»Wer?«

»Sieh hin!«

Polonia war nicht bei der Prozession gewesen und erkannte Manuel nicht gleich. Sowie sie aber sah, daß er es war, fiel sie ihm unter Thränen um den Hals und küßte ihn.

Manuel erwiderte ihre Liebkosungen zärtlich, antwortete aber fast nichts auf die unzähligen Fragen der guten Frau.

»Laß ihn, Polonia,« sagte Don Trinidad, »unser Pflegesohn ist nicht wohl. Bringe Licht in mein Zimmer und sorge dafür, daß uns niemand unterbricht.«

»Ich verstehe, ich verstehe,« sagte die Haushälterin im Hinausgehen. »Sie wollen allein sein! – Mein Gott, er ist toller als je! Wie schade! Ein so schöner Mensch!«

Als beide in das Zimmer getreten waren, fing Don Trinidad an, schweigend umherzugehen, wahrend Manuel mit unendlicher Traurigkeit den armen, ihm so bekannten Hausrat des guten Pfarrers betrachtete.

Nichts fehlte und nichts Neues befand sich in diesem Zimmer. Die letzten acht Jahre waren, ohne es zu berühren, an ihm vorübergegangen! Alles war genau ebenso beschaffen und befand sich an derselben Stelle wie früher, und erinnerte ihn an jenen traurigen, jetzt schon so entfernten Tag, an welchem er an der Hand des mitleidigen Priesters zum erstenmale in dies Gemach getreten war.

Gesegnet die Gleichheit der Seelenstimmung und gesegnet die Ruhe dieses Lebens, das keinen andern Besitz kannte, als die Tugend, und keine andre Freuden, als die seiner Nebenmenschen! Glücklich das Loos dieses Mannes!

Don Trinidad, der bei allen seinen sonstigen guten Eigenschaften doch sehr schlau war, wußte alles, was durch Manuels Seele ging, und ließ ihn sich recht tief in diese Gedanken versenken, die ja nur heilsam für ihn sein konnten. Dann sagte er, unter Annahme einer gleichgültigen Miene, nach einigen Minuten:

»Du hast also doch dies niedrige Haus betreten wollen?«

»Ja wohl,« sagte der junge Mann, wie aus einem Traum erwachend.

»Und darf man wissen, zu welchem Zwecke?«

»Ich sagte es Ihnen schon kurz vorher, um Ihnen einige Papiere einzuhändigen. Außerdem war eine Schuld der Liebe und Dankbarkeit zu bezahlen, um mich von Ihnen und von Polonia zu verabschieden.«

»Dich verabschieden? Du willst also die Stadt verlassen? Das wäre sehr vernünftig!«

»Man kann sagen, daß ich schon abgereist bin,« antwortete Manuel in traurigem Tone. »Seit gestern abend gehöre ich der Welt nicht mehr an. Der Sturm des Unglücks hat seine Fittiche um mich geschlagen, und wenn ich dieses Haus verlasse, so ist alles zwischen mir und Ihnen zu Ende.«

»Ich verstehe, ich verstehe!« murmelte der Pfarrer unwillig.

Darauf nahm er – eins der Hauptmittel seiner Beredsamkeit – einen andern Ton an und fügte vertraulich hinzu:

»Was übrigens das Bezahlen von Rechnungen anbetrifft, so habe ich auch noch eine kleine Rechnung mit dir zu begleichen, aber nicht eine Rechnung von Liebe und Dankbarkeit, sondern von Geld. Es handelt sich um eine kleine Summe (etwa zwanzigtausend Realen, die du mir allmählich eingehändigt hast, als du in der Sierra zu arbeiten pflegtest. Hier sind sie in dieser Sparbüchse. Auf dem Zettel daran habe ich geschrieben: »Geld meines Pflegesohnes Manuel Venegas, welches er mir zum Aufbewahren gegeben hat.«

Wahrend er dies sagte, nahm er aus dem Tischkasten eine große rothe, irdene Sparbüchse.

Manuel fühlte mitten in seiner Betäubung die ganze Kraft dieses Schlages und rief in tiefer Bewegung aus:

»Dieses Geld gehört Ihnen, ich habe es Ihnen nicht gegeben, damit Sie es für mich aufheben sollten!«

»Ich weiß, daß du es mir gegeben hast, um die Verehrung des Christuskindes mit mehr Glanz zu umgeben und für deinen Unterhalt zu sorgen. Da ich aber das erste auf meine Kosten, wenn auch für dein Seelenheil gethan habe, und das zweite überhaupt nicht thunlich war (denn es hätte mich des Vergnügens beraubt, dich so zu unterhalten, wie ein Vater seinen Sohn unterhält, das heißt umsonst), so folgt daraus, daß dies Geld dir gehört, und zwar so sehr, daß du es mit nach Amerika genommen haben würdest, wenn du aufmerksam genug gewesen wärest, dich von mir zu verabschieden.«

Manuel erwiderte in edlem Tone:

»Heute nehme ich es an, lieber Vater, damit sie niemals sagen sollen, ich hätte Ihnen meinen Dank entziehen wollen. Dafür – haben wir doch einmal angefangen von Geld zu sprechen – will ich Ihnen jetzt das mündlich sagen, was ich Ihnen durch dieses, heute früh entworfne und heute abend umgearbeitete Schriftstück hatte mitteilen wollen. Nehmen Sie es hin! Es ist mein Testament. Ich setze Sie in demselben zu meinem Erben ein, damit Sie frei über mein Vermögen zu Ihrem Nutzen wie zu dem der Armen verfügen, nachdem Sie jedoch erst ein Legat von einer Million Realen an die Erben von Don Elias Perez, sowie ein andres von tausend Goldunzen an den pensionierten Hauptmann, den Waffengefährten meines Vaters, ausgezahlt haben. In diesem Portefeuille werden Sie drei auf Ihre Ordre ausgestellte Wechsel auf Bankhäuser in Malaga finden, in welchen ich mein Vermögen plaziert habe. Außerdem habe ich in dem Testament bestimmt, daß alles, was bei meinem Tode an Geld, Kostbarkeiten und sonstigem Besitz mein Eigentum ist, Ihnen ausgeliefert wird. Man soll nicht sagen, daß ich nicht vorsichtig gewesen bin. Nehmen Sie alles hin und behalten Sie es!«

Don Trinidad weinte schweigend während dieser Worte, Als Manuel aber geendet hatte, rief er mit eben soviel Zorn als Schmerz aus:

»Sehr gut, sehr gut! Gib her! Ich freue mich, daß du so vernünftig bist! Ueber diese Sache wollen wir später bei besserer Gelegenheit sprechen!«

Mit diesen Worten steckte er das Dokument, sowie das Portefeuille in die Tasche.

Darauf fing er wieder an, auf- und abzugehen, indem er sich die Augen mit der Hand wischte und seine Fassung wieder zu erlangen suchte.

Plötzlich stand er mitten in der Stube still und sagte:

»Ich setze voraus, daß du nicht zu denen gehörst, die die Sünde des Selbstmordes begehen...«

»Sie haben recht,« antwortete Manuel, »niemals habe ich auch nur daran gedacht!«

»Ich glaube dir! Du bist zu sehr ein Mann, um etwas zu thun, was so gegen die Natur und gegen Gott ist! Kein geschaffnes Wesen gibt sich selbst den Tod, mit wenigen traurigen Ausnahmen unter den Menschen, die nicht Kraft genug zum Leiden und nicht Glauben genug zum Hoffen haben! Wenn der Mensch nicht das beste Geschöpf ist, so ist er das schlechteste! Ein Mittelding gibt es nicht!«

Nach diesen Worten fuhr der Pfarrer fort, auf- und abzugehen, nicht ohne ein zweites Zeichen für sich selbst zu machen, wie um sich zu sagen: »Wir gewinnen Boden, auch von dieser Seite ist nichts zu fürchten.«

Eine Minute lang herrschte ein schwer zu behauptendes Stillschweigen.

»Du willst dich also verabschieden?« sagte der Pfarrer, »und trotzdem gehst du nicht fort und tötest dich nicht? Das ist eine Sache, die noch klargestellt werden muß!«

Er stellte sich vor Manuel auf, sah ihn unverwandt an und sagte, ihn liebevoll umarmend, im edelsten Tone:

»Laß uns offen sprechen, Manuel! Was willst du thun? Wir sind hier zwei Männer von Ehre, sage mir die Wahrheit wie immer!«

»Lassen Sie mich, Herr Pfarrer!« rief Manuel, nun wirklich erschrocken und sehr in Reue darüber, hierhergekommen zu sein. »Ich kann Ihnen nicht antworten. Erlauben Sie, daß ich fortgehe. Ich habe Fieber und brauche Ruhe.«

»Oho!« antwortete Don Trinidad aufgebracht, »du liebst mich nicht! Du stößt mich zurück! Du hast die Nacht vergessen, in der ich dich aus dem Zimmer holte, in welchem dein Vater gestorben war! Du erinnerst dich auch deines Vaters nicht, jenes Ehrenmannes, jenes Spiegels edler Gesinnung, der unfähig war, etwas zu denken, was er nicht aussprechen konnte...«

»Wie? Ich liebe Sie nicht?« sagte der junge Mann, ebenfalls in seiner Ehre gekränkt, »weswegen bin ich denn hier, während die Hölle mich ruft? Ich erinnere mich meines Vaters nicht? Ach wäre es doch so! Doch ich bin, was ich bin! Lassen Sie mich meinem Unglück folgen!«

»Das wollen wir erst sehen! Was bist du denn? Wir müssen die Dinge beim Namen nennen! Bist du ein Verbrecher? Bist du ein Mörder? Du, der Sohn Rodrigos? Du, der Pflegesohn Don Trinidads? Antworte mir! Wage es, es auszusprechen!«

Manuel sah Don Trinidad erschrocken an.

»Du antwortest mir nicht,« fuhr der Priester fort, »also bist du mit deinen Plänen selber nicht zufrieden. Also verurteilst du dich selbst! Also schlägst du wissentlich den Weg des Verbrechens ein!«

»Und was heißt Verbrechen? Was ist schlecht? Was heißt gut?« rief Manuel trotzig aus. »Das sind Fragen, die ich mir schon lange vorlege.«

»Oho!« rief Don Trinidad scheinbar sehr sanft aus, »auch du begibst dich in diesen Abgrund. Nun ich will dir antworten!«

Und als ob er, um dies zu thun, in das innerste Heiligtum des guten Herzens, welches bei ihm die Bibel vertrat, herabsteigen müsse, senkte er die Stirn, faltete die Hände ehrfurchtsvoll und sagte:

» Schlecht ist alles, was man ohne wahre Seelenfreude thut, schlecht ist, auf Kosten fremden Glückes sich freuen und glücklich sein zu wollen, schlecht ist, den Schmerz so zu fürchten, daß man ihn lieber seinen Mitmenschen verursachen als selber leiden will, schlecht ist, sich selber mehr zu lieben als die, welche weinend uns um Mitleid bitten, schlecht ist, sich lieber zu rächen, als das Gebot eines Priesters erfüllen zu wollen, schlecht ist, das zu thun, was du mir in diesem Augenblick anthust. Gut ist ... das Gute, das Wort selber sagt es schon. Gut ist zum Beispiel, mit Freuden selber leiden, damit unsre Nebenmenschen nicht leiden, vor Freuden weinen, wenn man sich das Brot am Munde abgespart hat, um es einem andern zu geben, großmütig sich selbst zu opfern, verzeihen, sich selber bezwingen, fliehen, ja sterben, damit andre leben ... mit einem Worte, ich weiß, was ich sagen will, und du verstehst mich. Vor allem aber, Manuel, was sehr schlecht, ja verabscheuungswürdig ist, ist die Augen niederschlagen, wie du sie niederschlägst, und von Scham erfüllt vor dem eignen Gewissen fliehen, welches mir recht gibt. Habe ich aber nicht recht, so sieh mir doch mit deinem alten Mute als unschuldiger und edler Löwe ins Gesicht, nicht aber mit der finstern Wut eines hinterlistigen Tigers! Vielleicht hast du das Herz, mir zu sagen, daß es irgend etwas auf Erden gibt, was du mir abschlagen kannst, das Leben einbegriffen! Mir abschlagen, der ich dich wie ein Vater liebe, der ich all mein Blut, wenn du es brauchtest, für dich hingeben würde, mir, der ich dich mit diesen Thränen um Verzeihung bitte für andre meiner Kinder, deine Nebenmenschen, und zwar um Vergebung im Namen des Gekreuzigten!«

»Herr Pfarrer,« antwortete Manuel mit männlicher Erregung, »mein Leben gehört Ihnen, ich gebe es Ihnen mit Freuden.«

»Ich verlange nicht das Leben von dir. Ich verlange weniger oder mehr von dir; das Opfer deiner Eigenliebe, deines Starrsinns und deines Stolzes! Mit einem Worte, ich begehre dein Blut nicht, ich will, daß du in dir die Liebe zu Soledad und den Zorn gegen Antonio Arregui tötest.«

»Und daß ich nachher lebe? Unmöglich. Denken Sie darüber nach, Herr Pfarrer, Sie werden sehen, daß es unmöglich ist.«

»Unmöglich, sich zu opfern und zu leben? Was weißt du davon?« erwiderte Don Trinidad. »Erst dann beginnt das Leben! Wo wäre sonst das Opfer, wenn man zu leben aufhörte? Glaube mir, mein Sohn, der führt ein erhabnes Leben, der gelitten hat und noch leidet zu andrer Vorteil! Gott verhundertfacht diesen Vorteil und gießt ihn wie himmlischen Tau über das Herz des Geopferten aus. Du lächelst traurig; glaubst du, ich rede dir etwas auswendig Gelerntes vor? Glaubst du nicht, daß auch ich ein Mensch bin? Glaubst du nicht, daß auch ich Fleisch und Blut habe? Glaubst du nicht, daß auch ich mit meinen Leidenschaften gekämpft habe? – So höre denn.«

»Ich war zweiundzwanzig Jahre alt. Ich liebte ein Mädchen so sehr, wie du Soledad. Sie erwiderte meine Liebe. Wir wollten uns verheiraten. Die Eltern willigten gerne ein. Aber mein Vater starb plötzlich. Der Ernährer war tot, und meine Mutter wurde von der allzuschweren Arbeit krank, uns alle zu erhalten. Von acht Brüdern, die aufeinander folgten, war ich der älteste. Dann kamen vier Schwestern, dann noch drei kleine Brüder. Obgleich ich Tag und Nacht bei einem Töpfer arbeitete, so fing doch in unserm Hause das Brot an knapp zu werden, denn meine Kräfte reichten nicht für alle aus, merke Wohl auf: nicht für alle! Für mich, und um mich verheiraten zu können, verdiente ich schon längst genug! Der damalige Bischof erbarmte sich unsers Elends und bot mir, da er meine Verehrung für die heilige Jungfrau kannte, für den Fall, daß ich mich zum Priester weihen ließ, eine gute Pfarre und bis dahin ein gutes Stipendium an. Meine Mutter sah ihre Kinder Hungers sterben, aber sie kannte den Zustand meines Herzens und weinte, als ich ihr den Vorschlag des Bischofs mitteilte. Und was, meinst du, antwortete ich? Ich sagte Ja, indem ich sie umarmte und sie tröstete, während ich es doch war, der Trost bedurfte. Ich entsagte meiner Soledad, die eben so schön war wie die deine. Ich sagte ihr für immer Lebewohl. Wir weinten beide, aber beide waren wir doch sehr glücklich, denn wir brauchten uns über nichts zu schämen und konnten über vieles stolz sein! Ich las die Messe, und Gott half mir! Glaubst du, ich habe nachher nicht gelitten? Glaubst du, es kostete mich keine Schmerzen, wenn ich meiner ehemaligen Braut begegnete und das Gesicht wegwenden mußte? Glaubst du, ich habe nicht blutige Thränen geweint? Aber ach! Wie glücklich war ich trotzdem in meinem Schmerze! Meine Mutter starb, indem sie mich segnete, da sie durch meinen Schutz und meine Hilfe alle ihre Kinder wohlversorgt sah. Meine Schwestern verheirateten sich gut. Mein Bruder Andreas ist Küster von San Gil. Meinen Bruder Franz kaufte ich vom Militär los, und heute ist er Schulmeister. Mein Bruder Thomas hat schon einen Last- und ein paar andre Wagen und wird durch seinen Handel reich. Meine Braut hat sich verheiratet und hat Kinder. Und ich, Manuel, der ich davon träumte, selber Kinder zu haben, ich, ihr ehemaliger Bräutigam, der ich geboren war, ein Regiment zu kommandieren und alles zu thun, was Männer thun – habe mich kleiden müssen wie ein Weib, habe meine Wünsche und Begierden herunterschlucken müssen, habe meinen Körper kasteit wie ein schlechtes und rebellisches Tier, und trotzdem stehe ich hier vor dir voll von Stolz und Freudigkeit, glücklicher als alle meine Geschwister, glücklicher als wenn ich mich mit jenem Mädchen verheiratet hätte, glücklicher als alle Könige und Kaiser der Erde, da ich dir in Gegenwart Gottes sagen kann, daß ich über mich selber triumphiert habe, daß keine weltliche Erinnerung, kein Gedanke an das Erdenleben mich beschämen kann, daß ich alle meine Gelübde erfüllt habe, daß sie mich mit einer Palme begraben können wie die Nonnen! Willst du mir jetzt nocheinmal sagen, daß man sich nicht opfern und weiter leben kann?«

Manuel bewunderte diese Art von afrikanischem Koloß, der ihm solche Dinge im Alter von achtundvierzig Jahren sagte, von Herzen.

»Ich bin nicht so groß wie Sie,« antwortete er dann, »oder meine Liebe zu Soledad ist größer, als die Ihrige war... Ich kann sie nicht bezwingen, ich weiß, daß ich es nie können werde.«

»Weil du nicht willst!«

»Nein, ich will! Das heißt, ich möchte wollen! Aber ich kann nicht!«

»Ja, du kannst! Wenn auch seltsame Umstände aus dir eine Art wildes Tier gemacht haben, so hast du doch ein menschliches Herz, und das Menschenherz ist, wenn es dem Beispiele Christi folgt, stärker als alle Löwen und Elephanten der Erde. Die Kraft, sich zu demütigen, sich zu besiegen, sich selber zu entsagen, ist die wahre Stärke. Und diese Stärke darf dir nicht fehlen. Trotz allem bist du gut. Du warst es als Knabe, du bist deinem Vater ähnlich, und dein Vater starb freiwillig für seine Ehre!«

»Auch ich will für meine Ehre sterben!« antwortete Manuel schnell, »vor acht Jahren gab ich mein Ehrenwort vor der ganzen Stadt: vor acht Jahren schwor ich, den zu ermorden, der sich mit meiner Geliebten verheiraten würde. Einer hat meinen Handschuh aufgenommen: die ganze Stadt sieht auf mich. Was kann ich thun? Was soll ich thun, um nicht lächerlich zu sein, um mich nicht von denen verhöhnen zu lassen, die immer in meiner Gegenwart gezittert haben?«

»Das ist sehr einfach: Reue sollst du über deine böse Absicht empfinden! Widerrufen sollst du deinen Schwur! Ich entbinde dich von ihm!«

»Das genügt mir nicht.«

»Ich bin Priester...«

»Das genügt mir nicht, und ich müßte lügen, wenn ich das Gegenteil sagen wollte. Ich muß morgen zu der Lotterie gehen, um mein Wort wahr zu machen. Wenn Soledad und ihr Mann nicht da sind, wenn sie der öffentlichen Aufforderung, die ich ihnen zukommen lassen werde, nicht entsprechen, so werde ich Gold, viel Gold, alles Gold, das ich mit mir gebracht habe, anbieten, um mit der Sennora de Arregui zu tanzen. Die Brüderschaft kann dann nicht umhin, sie zu holen. Bringt sie sie allein, so gebe ich sie ihrem Manne nicht zurück; kommt ihr Mann mit ihr, so töte ich ihn; kommen sie beide nicht, so hole ich sie beide aus ihrem Hause!«

»Jesus! Wie entsetzlich!« rief Don Trinidad aus. »Und Gott und die Gesetze? Und die Justiz? Glaubst du, es gibt keine Obrigkeit in der Stadt? Glaubst du, noch unter Wilden zu leben?«

»Die Justiz kommt immer erst nachher. Das ist meine Sorge! Ich werde dafür sorgen, daß, wenn sie ankommt, Antonio Arregui tot ist. Was die Gesetze anlangt, so braucht sich Soledad ebensowenig um sie zu kümmern, als andre Liebende, und kann mit mir ans Ende der Welt gehen. Was Gott anlangt, so hat er es in der Hand, mich in diesem Augenblick zu töten, ebenso wie es in seiner Hand stand, mich nicht so unglücklich zu machen, wie ich bin!«

»Alles, was du denkst, alles, was du sagst, ist schändlich,« sagte Don Trinidad in imponierendem Tone. – »Ich schaudre bei dem Gedanken, daß ich dich erzogen habe! Ich gelte also nichts bei dir! Du gibst nichts auf meine Thränen! Willst du, daß ich dich knieend anflehe?«

»Nein, Herr Pfarrer. Was ich will, ist, daß Sie mich für das nehmen, was ich bin, keine Wunder von Heiligkeit von mir verlangen und mir sagen, was ich in dem Zustande, in welchem ich mich befinde, und nachdem ich mein Wort verpfändet habe, sonst thun kann. Wollen Sie, daß ich mich selber töte? Wollen Sie, daß ich wahnsinnig werde?«

»Wahnsinnig bist du schon!« antwortete der Pfarrer. »Wenn du es nicht wärest, so würdest du begreifen, daß du die Stadt verlassen mußt!«

»Wohin und zu welchem Zwecke?« fragte Manuel in unendlicher Seelenqual.

»Wohin? Dahin, wo du acht Jahre gewesen bist! Warum? Um Gott zu dienen und nicht dem Teufel! Um ein Ehrenmann zu sein, deinen Nebenmenschen zu helfen und alle Dornen, die dein Herz zerreißen, in Blumen zu verwandeln.«

»Jetzt träumen Sie, Don Trinidad! Sie behaupten geliebt zu haben und machen mir diesen Vorschlag! Niemals haben Sie geliebt und wissen nicht, was Liebe ist. Wohin würde ich mit dem Schatten meines Ich gehen können, wenn ich das Herz meines Herzens hier ließe? Wozu sollte ich leben? Acht Jahre hat mich die Hoffnung aufrecht erhalten, in diese Stadt zurückzukehren und Soledad zu sehen! Was sollte mich jetzt aufrecht erhalten? Sie haben mir von Gott gesprochen. So hören sie denn den Spruch Gottes, als er mich erschuf:›Für Manuel Venegas soll es nie ein andres Weib, ein andres Glück, einen andern Himmel geben, als Soledad!‹ Zweimal habe ich die Reise um die Welt gemacht: viele Weiber habe ich in Cirkassien, in Griechenland, in Cuba, in Peru gesehen, von denen einige für Gottheiten galten. Für mich waren sie nicht einmal Weiber, sie waren gar nichts. Höchstens waren sie für mich die Abwesenheit von Soledad, etwas Schreckliches! So wandte ich die Augen von ihnen weg und setzte meine Wanderung fort. Weder ehe ich ihr meine Seele weihte – und ich that es, als ich dreizehn Jahre alt war – noch nach jenem Tage, weder hier in der Stadt noch im Auslande, bin ich ihr je auch nur mit einem Gedanken untreu geworden. Auch ich bin meinem Glauben treu geblieben, auch ich habe meine Gelübde zu erfüllen gewußt.«

»Nun sie hat es dir gut bezahlt!« sagte der Geistliche, indem er einen andern Ton anschlug, um zu versuchen, ob er ihn von seiner abgöttischen Verehrung abbringen könnte.

Manuel legte die Hand an sein Herz, als habe er einen Dolchstich erhalten; aber sogleich faßte er sich und rief tapfer aus, indem er seinen zweiten Vater mit der Unerschrockenheit des Fanatismus ansah:

»Sie hat es mir schlecht vergolten, und doch liebe ich sie mehr als je!«

Der Priester trat erstaunt einen Schritt zurück. Der letzte Schlag, mit dem er seinen Gegner vernichten wollte, hatte ihn wie eine Kugel beim Zurückprallen selbst getroffen und ihm manche seiner Illusionen vernichtet. Manuel war durch keines seiner Argumente wankend gemacht worden. Die ganze lange Unterhaltung war vergeblich gewesen.

Doch der mutige Pfarrer ließ sich nicht niederschlagen. Ja, er schien sich von neuem zu sammeln, um seinen Feldzugsplan zu ändern. Auf seiner ersten Operationslinie geschlagen, zog er sich auf die zweite zurück und befestigte sich darin, indem er die Reservetruppen herbeirief, die er glücklicherweise in Bereitschaft gesetzt hatte, ehe er sich in die Kapelle des heiligen Luparia begab. Wenigstens konnte man dies alles aus seinen Worten und Entschlüssen von dem Augenblick an abnehmen, in welchem Manuel ihm die niederschmetternde Antwort gegeben hatte, daß nichts seine Gesinnungen geändert habe.

»Nun, mein Gott, in dieser Nacht wird nicht geschlafen!« sagte er, »Polonia, Polonia, bringe mir meinen großen Mantel! Da sehe mir einer die Menschen an! Und der hier war eine Belohnung, die ich nur für mein Alter aufsparte! Mir in nichts nachzugeben! Mich erst reden und reden zu lassen und dann alles abzuschlagen! Mir zu sagen, daß Mord und Ehebruch unvermeidlich sind! Und dazu habe ich ihn auferzogen, dazu habe ich ihn so geliebt!«

So sprach Don Trinidad, ohne seinen ehemaligen Zögling anzusehen, der diese Worte mit lebhafterer Erregung anhörte, als alles Vorhergegangne. Trotzdem war deutlich wahrzunehmen, daß auch jene frühern Worte des Pfarrers, so lebhaft er ihnen auch widersprochen hatte, dennoch einen Widerhall in seinem Herzen gefunden hatten. Er trat auf den Priester zu und sagte in ebenso liebevollem als ehrerbietigem Tone:

»Was wollen Sie thun? Wozu lassen Sie sich Ihren Mantel bringen? Wollen Sie ausgehen?«

»Ja, Sennor!« antwortete Don Trinidad barsch.

»Aber wohin wollen Sie gehen?«

»Wohin ich gehen will? Dahin, wohin mich meine Pflicht als Christ ruft! Ich will die Verbrechen verhindern, die du, wie du mir sagst, begehen willst! Ich will dich keinen Augenblick allein lassen! Ich will dir überallhin folgen! Ich will den Rest meines Lebens an deiner Seite zubringen, auch wenn du mich mit Fußtritten von dir stoßest, auch wenn du mich zwingst, die Nächte vor der Thüre deines Hauses zu sitzen! Dann wirst du über meine Leiche hinwegschreiten müssen, um die Heldenthaten zu vollbringen, von denen du sprachst! Und dann erst wird ja dein Werk vollendet sein!«

Manuel wich erschrocken zurück.

Gleichzeitig trat Polonia in das Zimmer mit Don Trinidads Mantel und sagte voll Angst:

»Jetzt wollen Sie gehen?«

»Ja, meine Liebe! Auf die Straße muß ich gehen und in die Hölle, wenn es nötig ist. Erwarte mich heute nicht mehr!«

»Aber Herr Pfarrer!« rief die ehemalige Amme aus, »das heißt ja sich mutwillig töten! Gestern sind Sie erst, Gott weiß wann, und halb tot vor Müdigkeit, ins Bett gekommen, nachdem Sie viele Stunden lang draußen herumgelaufen waren...«

»Ich suchte dich,« warf Don Trinidad dazwischen, indem er Manuel, ohne sich nach ihm umzusehen, anstieß.

»Und diesen Morgen sind Sie noch vor Sonnenaufgang aufgestanden, und seitdem haben Sie mit all den Geschäften der Prozession und der Wirtschaft auf der Straße (ich weiß Wohl, durch wessen Schuld!) auch nicht einen Augenblick Ruhe gehabt! ...«

»Was willst du!« sagte der Pfarrer, indem er sich einfältig stellte, »man muß die Schulter so lange ans Rad stemmen, bis man nicht mehr kann und hinstürzt. Lege du dich nur hin und ruhe aus! Du hast dich auch genug angestrengt! Arme Alte, es thut mir leid, dir all diesen Aerger machen zu müssen! Also, vorwärts, Sennor Don Manuel! Sie müssen mir sagen, wohin wir zuerst gehen sollen! Sollen wir zuerst einen Ehrenmann töten, oder eine Frau und Mutter zu verführen suchen?«

Manuel stand noch immer in einer Ecke des Zimmers, die Augen auf den Boden geheftet, und fühlte bei jeder Beschuldigung, die in diesem Gespräch für ihn lag, einen Stich im Herzen. Die letzten Worte des Priesters aber entrissen ihm doch mit ihrem blutigen Sarkasmus einen Seufzer, als hätten sie ihn in tiefster Seele verwundet.

Inzwischen antwortete Polonia:

»Sie werden aber doch nicht gehen, ohne zu Abend gespeist zu haben? Es ist schon zehn Uhr, und seit Sie um ein Uhr die Suppe gegessen, was sage ich, kaum gekostet haben! haben Sie nichts genossen...«

»Du hast ganz recht! Aber was willst du? Die Welt ist nun einmal so...«

»Das ist zu viel!« rief Manuel aus, indem er in Verzweiflung die Arme ausstreckte und auf Don Trinidad zuschritt. »Sie wollen mich töten, Herr Pfarrer, Sie haben kein Erbarmen mit mir!«

»Dann weiß ich wirklich nicht, wer mit dir Erbarmen hat!« erwiderte der Priester kalt. – »Etwa das Publikum, welches sich auf deine Kosten amüsieren will, als wenn es im Theater ein Trauerspiel sähe?«

»Ich sage nur,« fuhr der junge Mann zärtlich fort, »Sie sollen zu Abend speisen und ins Bette gehen!«

»Was ich thun soll, steht in deiner Hand! Bleibe, iß mit mir, und schlafe in meinem Hause!«

»Ihr Zimmer ist in demselben Zustande, in welchem Sie es verlassen haben!« fügte Polonia mit der größten Freude hinzu.

»Herr Pfarrer, ich muß nach Hause gehen!« sagte Manuel stotternd, aber bestimmt.

»Und ich muß dich begleiten,« antwortete Don Trinidad in fingierter guter Laune, »Du selber willst es ja so. Also vorwärts! Adieu, Polonia! Auf Wiedersehen, Gott allein weiß wann.«

»Mein Gott, mein Gott! Was soll aus mir werden?« seufzte Venegas, der sich nun wirklich entschließen mußte, fortzugehen. »Auf diesen Mann hatte ich nicht gerechnet!«

»Warte einen Augenblick!« rief ihm Don Trinidad zu, indem er ihm die Thüre des Zimmers versperrte. »Ich muß Polonia einige Aufträge geben.«

Manuel warf sich auf einen Stuhl.

Don Trinidad trat mit der Haushälterin auf den Korridor und sagte ihr schnell:

»Du mußt gleich Maria Josepha aus ihrem Hause oder dem ihrer Tochter holen!«

»Sie wartet schon eine halbe Stunde auf Sie!« antwortete Polonia.

»Der Himmel schickt sie zu mir! Ich muß mit ihr sprechen! Bewache du ihn hier, und wenn er dir entwischen will, so komm und sage es mir! Sprich zu ihm aber kein Wort davon...«

Wenige Minuten nachher hatte der Pfarrer seine Besprechung mit Soledads Mutter beendet, kehrte in sein Zimmer zurück und sagte zu dem niedergeschlagenen jungen Manne:

»Wenn du willst, können wir gehen. Ich stehe dir zur Verfügung!«

»Bleiben Sie hier, Don Trinidad!« sagte Manuel, indem er die Hände bittend emporhob.

»Das hilft dir alles nichts! Wohin du gehst, dahin gehe ich! Gehst du in dein Haus, so gehe ich auch in dein Haus (was übrigens das Beste ist, was wir thun können!): wenn du herumläufst, so laufe ich auch herum! Ach, ich habe die Sparbüchse vergessen!«

Mit diesen Worten nahm der unerschrockene Pfarrer Manuels Ersparnisse, trat auf den Korridor und ging die Treppe herab, indem er laut ausrief:

»Vorwärts! Komm! Gib mir den Arm! Ich bin halb tot vor Müdigkeit!«

Manuel senkte die Stirn und schritt ihm nach. Don Trinidad klammerte sich an seinen rechten Arm mit solcher Kraft, daß es schwer gewesen wäre zu entscheiden, wer von beiden der Schwache und wer der Starke, wer der Gehaltene und wer der Haltende war.

4.

Die Alten und die Jungen.

Don Trinidad und Manuel begegneten auf ihrem Wege von dem einen zu dem andern Hause nur sehr wenigen Personen, und diese wenigen blieben mit nicht weniger Schreck als Achtung an den Mauern der Häuser stehen, bis die beiden wunderbaren Männer vorbei waren, von denen die ganze Stadt sprach.

Unter demselben Schweigen betraten sie endlich das ehemalige Haus des Domsängers.

Basilia, die sehr auf Etikette hielt, hatte das Haus hell erleuchten, die Thorflügel weit öffnen und die ganze Dienerschaft sich bereithalten lassen, um den Herrn mit seinem großen Reichtum sowie dem königlichen Blute, das in seinen Adern floß, in schuldigen Ehren zu empfangen.

Selbst der Maultiertreiber befand sich in dem Hofe, wo er den Portier spielte, und begrüßte den Mann mit einer tiefen Verneigung, mit welchem er drei lange Tagesreisen zusammen gemacht hatte, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß er den Schrecken und die Furcht einer ganzen Stadt begleitete. Er hatte sich mit seinen drei Maultieren einquartiert und war entschlossen, die Stadt nicht vor der Lotterie zu verlassen, die ihm ja Manuel selbst beschrieben hatte.

Endlich auf dem obersten Treppenabsatz stand die zeremoniöse Beschließerin, machte dem Hausherrn die drei unerläßlichen Verbeugungen, wie sie unter der Regierung Karls III. üblich waren (in dieser Zeit hatte sie nämlich ihre Laufbahn als Haushälterin begonnen), und sagte ehrerbietig:

»Gestatten Sie mir, Sie zu begrüßen! Im Saale erwartet Sie hoher Besuch!«

»Was will sie?« fragte der junge Mann den Pfarrer unwillig. »Ich will keine Besuche außer Don Antonio Arregui oder seine Sekundanten!«

»Gehe nur herauf! gehe nur herauf!« antwortete Don Trinidad lächelnd. »Ich leugne nicht, daß der, der oben ist als Sekundant gekommen ist, aber nicht als dein Sekundant! Du wirst schon sehen!«

Manuel konnte bei diesen geheimnisvollen Andeutungen nicht umhin, den Schritt zu beschleunigen. So gelangte er bald in den Saal, während Don Trinidad Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten.

Ein Schrei des Schreckens, Schmerzes und Zornes entrang sich der Brust des Unglücklichen, als er sah, wer der angekündigte Besuch war, und einen tiefen Seufzer der Furcht und Verzweiflung stieß der würdige Priester aus, als er die zornige und unehrerbietige Haltung seines ehemaligen Zöglings in einer so feierlichen und ungewöhnlichen Lage erblickte.

Denn der Besucher war das Christuskind mit der Weltkugel aus der Kirche der heiligen Maria, das Bild, zu welchem der junge Mann einst so viele Jahre gebetet hatte und welches an demselben Nachmittage in Prozession einhergetragen worden war.

Dort stand es auf seiner Bahre von Gold und Silber auf einem improvisierten Altar mitten in dem Saale, bekleidet mit reichem Brokatgewande, beleuchtet von vielen Kerzen und geschmückt mit schönen Zweigen frischer Blumen. Als Thronhimmel diente ihm die Standarte der Brüderschaft, welche man an der Decke befestigt hatte. Endlich lag auf einem kleinen Tische ein nach Art eines Diplomes zusammengerolltes und mit farbigen Schleifen zusammengebundenes Papier auf einem Teller.

»Was ist das? Wer hat diese lächerliche Szene veranlaßt?« fragte Manuel, dem Pfarrer gegenübertretend. »Glaubt man, daß ich immer noch ein Kind bin? Glaubt man, daß ich immer noch nicht bei Verstande bin?«

Der Pfarrer war außer sich. Trotzdem fand er die Kraft, seine Bewegung zu bemeistern, schloß die Thüre und sagte zu dem Gotteslästerer mit der strengen Kälte eines Richters:

»Dies ist nichts Neues oder Außergewöhnliches. Die Brüderschaft des Christusknaben, deren Mitglied du bist, hat dich für das kommende Jahr zu ihrem Majordomus ernannt, und schickt dir nach der alten Sitte, die niemand besser kennt als du, das Heiligenbild, damit es einen Tag in deinem Hause weile und du ihm in dieser Eigenschaft als Hermano Mayor ein Geschenk machst, welches morgen nachmittag bei dem Lotterie-Balle ausgestellt wird.

»Aber, wenn auch nichts von all diesem der Fall wäre, macht es dich nicht stolz, in deinem Hause den Knaben Jesus zu sehen, den Sohn des lebendigen Gottes? Fällst du nicht auf die Kniee, um ihm für die hohe Ehre zu danken, welche er dir erweist? Bist du denn nicht sein glühendster Verehrer, sein demütigster Knecht, sein begeistertster Anbeter?«

»Nein, Herr Pfarrer!« antwortete Manuel finster.

»Ah, Schändlicher! Und das sagst du mir!« brach Don Trinidad los mit einem Zorne, der ebensogroß war wie sein Schmerz. »Und du sagst es in seiner Gegenwart!«

Manuel faltete die Arme übereinander und antwortete nicht.

»Also das hast du auf deinen Reisen gelernt!« fuhr der Priester fort, indem er die Hände auf Manuels Schulter legte. »Also das hat dir der Erwerb so großen Reichtumes eingebracht! Und du wolltest ihn mir hinterlassen! Und du wolltest, daß ich ihn unter die Armen verteilte! Weder die Armen noch ich wollen etwas von einem Juden haben!«

»Herr Pfarrer,« stammelte Manuel, »sprechen Sie leise! ich bin weder Jude, noch Maure, noch Christ.«

»Was bist du also, schändlicher Mensch?«

»Ich bin nichts,« antwortete Manuel, die Augen schließend und die Achseln zuckend, wie jemand, der ein Verbrechen gesteht, für welches er sich nicht für verantwortlich hält.

»Jesus, Jesus, Jesus!« rief der Pfarrer mit unbeschreiblichem Entsetzen aus.

Darauf entfernte er sich von Manuel, der ihn so tief beleidigt hatte, setzte sich auf einen Stuhl, indem er ihm den Rücken zukehrte und fing an bitterlich zu weinen.

Manuel fuhr in ernstem Tone fort:

»Ich habe Ihnen die Wahrheit nicht verbergen wollen. Deshalb habe ich Ihnen gesagt, was ich bis jetzt noch keinem Menschen mitgeteilt habe. Meines Unglückes, welches ich den grausamen Lehren der Welt, den Bekennern der verschiedenen Religionen, unter denen ich gelebt habe, und Büchern, die niemals hätten sollen geschrieben werden, verdanke, rühme ich mich nicht. Den Glauben der Menge achte ich hoch und Sie werden begreifen, daß ich ihn auf das grausamste verspottet hatte, wenn ich heuchlerisch das Amt eines Majordomus dieses Bildes hätte annehmen wollen, während mein Herz ihm keine andre Verehrung erweisen kann als die, welche man geliebten Toten zollt.«

»Und ich habe diesen Menschen erzogen!« seufzte Don Trinidad in der größten Verzweiflung. »Ich habe ihn meinen Sohn genannt! Ich habe ihn mit allen Kräften meiner Seele geliebt! Jetzt begreife ich, warum er heute alle meine Ratschläge zurückgewiesen hat. Jetzt sehe ich ein, daß es für ihn kein Heilmittel gibt. Wer will ein Schiff lenken, dem das Steuerruder fehlt? Wer ein Pferd, das keinen Zaum hat? Ich bin besiegt! Sein Verderben ist beschlossen! Allein der Sturm seiner Leidenschaften wird ihn beherrschen! Satan hat triumphiert! – Knabe Jesus, höre das Gebet deines demütigen Knechtes! Ich will sterben! Ich will nicht länger in einer so schändlichen Welt leben! Sei mir gnädig und töte mich! Nimm mich zu dir! Deine allerheiligste Mutter wird für Polonia sorgen, wie Polonia so lange Jahre für mich gesorgt hat! Wie sind die Menschen doch so verschieden! Polonia zog mich aus Mitleid auf, als sie sah, daß meine arme Mutter krank war und mir keine Amme annehmen konnte. Dann gab sie mir Brot, als es in meinem Hause nicht Brot genug für alle gab. Sie brachte mich als Lehrling bei dem Töpfer unter, und unterstützte mich weiter, als meine arme Mutter nichts für mich thun konnte. Ja, mit einem Worte, sie war für mich, was ich für diesen Gewissenlosen gewesen bin! – Knabe Jesus! Reinste Jungfrau! Macht was ihr wollt mit zwei armen Alten, die euch beide nie verleugnet haben! Wenn wir aber irgend etwas Gutes auf Erden gethan haben, so möge es dazu dienen, euch zu bewegen, das Herz des unglücklichen Manuel Venegas zu rühren!«

Als wahrheitsliebender Geschichtsschreiber müssen wir es aussprechen, daß diese zugleich demütige und pathetische Anrede den zum Ungläubigen gewordenen jungen Mann aufs tiefste erregte, nicht weil sie ihm irgend etwas Neues gesagt hätte, sondern weil die Thränen der Guten mehr Kraft haben als alle philosophischen Schlußfolgerungen, besonders wenn sie sich an ein edles und gefühlvolles Herz richten. Wenn Don Trinidad theologische Beweisgründe angewendet hätte, so hätte ihm Manuel mit den Gegengründen der Aufklärung antworten können, wie es täglich in der Welt geschieht; aber zum Beispiel gegen die Lobsprüche auf seine Amme gab es keine Einwendungen.

So näherte sich Manuel seinem Pflegevater und sagte, indem er ihm die Hände vom Gesicht wegzog und seine Augen mit seinem Tuche trocknete:

»Herr Pfarrer! Weinen Sie nicht! Ihre Thränen töten mich! Bedenken Sie, daß ich mich nun schon viele Stunden lang gegen Ihre Liebe, Ihre unwiderstehliche Güte und die einschmeichelnde Kraft Ihres Wortes verteidigen muß. Sie würden die Liebe und die Achtung, die ich vor Ihnen habe, allzusehr mißbrauchen, wenn Sie mich noch weiter in dieser Weise angreifen wollten!«

Don Trinidad ergriff die Hand, mit welcher ihm Manuel die Thränen abtrocknete, und rief, indem er ihn, halb weinend und halb heiterer Miene, wie einen verzogenen Knaben ansah, schmeichlerisch zugleich und listig aus:

»Aber Mensch! So sieh ihn doch wenigstens an! Du wirst ihm doch nicht so sehr gram sein, daß du ihm den Rücken zukehrst! Denke daran, daß es mein Gott, der Gott deiner Väter, der Gott deiner Vaterstadt ist, der gekommen ist, um dir einen Besuch zu machen! Denke, wie betrübt er über deine Verachtung sein wird!«

Manuel, bei welchem der Aberglaube dem Anscheine nach den Glauben überlebt hatte, versuchte den Kopf nach dem Heiligenbilde zu wenden, aber er wagte es nicht. Er zitterte vor Furcht und schlug die Augen zu Boden.

Aber es stand geschrieben, daß an diesem Tage die merkwürdigsten Umstände zusammentreffen sollten: Manuel und der Pfarrer hörten in diesem Augenblick in demselben Zimmer das Schluchzen eines Kindes ...

Manuel sah den Pfarrer erschrocken an, da er glaubte, das Heiligenbild weine.

Don Trinidad lächelte traurig und zeigte mit dem Finger nach der Thür des Saales, die soeben geöffnet worden war, und in welcher Maria Josepha mit einem schönen Knaben auf dem Arme stand, ohne es zu wagen, einzutreten.

»Träume nicht von wirklichen oder vermeintlichen Wundern,« sagte dann der Pfarrer zu Manuel; »hier gibt es kein andres Wunder, als das, welches dein gutes Herz thun wird. Dies ist Soledads Sohn, der gekommen ist, um für seine Eltern um Verzeihung zu bitten!«

»Sein Sohn!« schrie Manuel, indem er in den Hintergrund des großen Saales stürzte. »Auch das noch! Ah, ihr Henker! Ihr wollt mich töten! Ihr wollt mich toll machen!«

Bei diesen Worten schlug er mit der geballten Faust auf die Wand, als wollte er sie durchbrechen, um dem schrecklichen Hinterhalt zu entgehen, in den sein Herz gefallen war.

»Manuel, mäßige dich!« sagte Don Trinidad sanft, auf ihn zutretend. »Ich bin nicht dein Henker, du bist mein Henker und der dieser armen Familie, die dich um Mitleid anfleht.«

»Nehmt den ekelhaften Sohn des Verrates und der Lüge fort!« rief der Unsinnige, ohne sich umzukehren oder von der Wand zu entfernen.

Das Kind fing von neuem an zu weinen.

»Das ist ja eine wahre Heldenthat!« rief Don Trinidad aus. »Ein armes Kind zu beschimpfen! Es zu erschrecken! Es wegzuschicken!

»Ich will ihn nicht sehen!« schrie Manuel, »wenn ich ihn sähe, würde ich ihn töten!«

»Es fehlt nicht viel daran, daß du ihn schon getötet hast! Krank hast du ihn schon gemacht!« sagte die Großmutter des Kindes traurig. Die Brust seiner Mutter hat ihm Gift zu trinken gegeben, seitdem sie wußte, daß du zurückgekommen bist, und heute nacht nehme ich ihn zu mir mit nach Hause, krank und hungrig wie er ist, als ob er schuld daran wäre, daß du nicht glücklich bist!«

»Aber warum kommt nicht sein Vater statt seiner?« fragte Manuel in Verzweiflung, »warum kommt der Feigling nicht, der mir mein Glück gestohlen hat? Warum flieht er? Warum versteckt er sich?«

Don Trinidad machte der Maria Josepha ein Zeichen zu schweigen und antwortete selber folgendes:

»Gesetzt den Fall, daß dieser Ehrenmann Furcht vor dir hat – hat er nicht Grund genug dazu? Muß die ganze Welt so blutgierig sein wie du? Kann man nicht etwas Vernünftigeres thun, als sich auf Tod und Leben mit dem ersten besten Verzweifelten zu schlagen, der uns herausfordert? Denn, Manuel, um deutlich zu reden: welches Recht hast du an Soledad? Hat sie dir je ihr Wort gegeben? was kannst du heute von ihr hoffen? Hältst du sie für so nichtswürdig, daß sie deinetwegen sich und ihren Gatten entbehren wird?«

»Soledad gehört mir! Soledad liebt mich!« rief Venegas in seinem Fanatismus, indem er sich mit herausfordernder Miene dem Pfarrer und der alten Frau zuwandte.

»Antworten Sie, Sennora!« sagte Don Trinidad.

»Manuel,« sagte die Mutter, indem sie den Enkel versteckte, während sie sprach, »meine Tochter hat dich geliebt, aber sie ist eine Frau von Grundsätzen: nachdem sie sich mit einem andern verheiratet hat, kannst und darfst du nichts von ihr erwarten...«

»Es ist nicht wahr! Soledad ist nicht verheiratet!« rief Manuel in Verzweiflung, »ihre Ehe ist null und nichtig! Soledad hat niemals aufgehört, mich zu lieben! Ich kenne sie, seit sie ein Kind war! Ich weiß, was ihre holden Thränen heute nachmittag mir gesagt haben!«

»Du irrst dich,« erwiderte die Mutter. »Soledad ist nicht imstande, ihre Pflichten als Gattin zu verletzen! Deine Gegenwart in dieser Stadt kann nur Unglück für alle, und Glück für niemand, weder für dich noch für sie zur Folge haben! Das einzige, was du für meine Tochter thun kannst, und was du thun wirst, wenn du sie wirklich so liebst, ist, dich zu entfernen, sie in Frieden zu lassen, nicht das Verderben ihres Hauses werden zu wollen! Und um dich darum zu bitten, kommen wir zu dir, dieser Engel und ich! Darum flehen wir dich fußfällig an!«

»Laß sie selber kommen und mir das sagen!« antwortete Manuel mit unbeschreiblicher Bitterkeit, »Dann werden Sie sehen, daß sie es nicht wagt, mich zu bitten, daß ich fortgehen soll! Ich kenne sie, ihr Herz gehört mir! Niemand als mir! Mir, seit sie acht Jahr alt war!«

»Das sind Thorheiten, Manuel,« antwortete Maria Josepha, »wie soll eine verheiratete Frau kommen und dich besuchen? Aber deutlich genug haben dir heute nachmittag ihre Thränen gesagt, du solltest fortgehen, ihr verzeihen und uns allen verzeihen! Soledad weinte nicht aus dem Grunde, den du dir denkst! Sie weinte vor Furcht, wie dies arme Kind!«

»Aus Furcht,« antwortete der junge Mann in spöttischem Tone, »das ist eine andre Lüge! Soledad fürchtet sich nicht vor mir, und sie hat recht! Sie kennt mich! Ihr feiger Tyrann fürchtet sich! Sie fürchten sich, die Sie ihre Ehe nicht verhindert haben! Dies Kind hier fürchtet sich, das man nicht Soledads Kind nennen darf, da es nicht mein Kind ist! Und diese drei haben recht, sich zu fürchten! Mein erster Gedanke ist der richtigste! Der Tod Antonio Arreguis räumt die ganze Schwierigkeit weg. Sie behalten dieses Findelkind, den Sohn des Verbrechens, und ich verlasse mit der Geliebten die Stadt. Also werde ich Antonio töten. Ich werde ihn ermorden, auch wenn ich ihn mitten in der Kirche finde! Ich werde ihn ermorden, auch wenn die ganze Welt sich mir widersetzt!«

»Natürlich!« brach endlich der Pfarrer voll von Zorn und Entrüstung los, »Das heißt denn doch mich ins Gesicht zu beleidigen! Ich verlasse dich, ich verachte dich, ich gebe dich auf! Du hast mich gut in deinem Hause aufgenommen, und noch dazu das erste Mal, daß ich zu dir gekommen bin!«

»Manuel, ich bitte dich fußfällig!« rief gleichzeitig die alte Frau aus, indem sie sich ihm zu Füßen warf. Eine Mutter fleht dich an bei deren Andenken, die dich unter dem Herzen getragen hat! Verlasse die Stadt! Habe Erbarmen mit diesem unschuldigen Knaben! Wenn du ihn aber zum Waisen machen willst, so töte ihn sogleich. Ich übergebe ihn dir. Da hast du ihn!«

Mit diesen Worten legte sie ihm den Knaben vor die Füße mit jener wie durch höhere Eingebung hervorgerufnen Verwegenheit, deren nur ein Mutterherz fähig ist.

»Kommen Sie, Sennora! Gehen Sie fort von diesem Ungeheuer!« sagte nun seinerseits Don Trinidad. »Wir wollen uns an die Gerichte wenden. Ich selber will ihn ins Gefängniß setzen lassen. Lebe wohl, unwürdiger Sohn Don Rodrigos! Ich gehe, denn dein unehrerbietiges Benehmen treibt mich aus deinem Hause! Ich gehe, denn ich glaube, du wärest imstande, Hand an mich zu legen, wenn ich dich behandelte, wie du es verdienst. Lebe wohl! Unsre Freundschaft ist zu Ende. Ich bereue es, dich jemals gekannt zu haben!«

»Manuel, höre nicht auf ihn! Höre mich an!« fuhr Soledads Mutter fort, die Kniee des jungen Mannes umfassend, der wie versteinert dastand, die geballten Fäuste an die Stirne drückend. »Glaube ihm nicht, Manuel! Don Trinidad liebt dich mehr als sein Leben! Er ist dein zweiter Vater! Auch ich liebe dich! Auch dieses Kind liebt dich! Sieh, wie es dich anlächelt!«

»Genug!« rief Manuel mit herzzerreißendem Tone, indem er die Arme ausstreckte und den Kopf zurückwarf. »Genug, ihr grausamen Henker mit euern Folterqualen! Laßt mich allein. Geht hinaus! Ich befehle es euch! Ich rate es euch! Ich bitte euch darum! Laßt mich allein, wenn ihr nicht wollt, daß mein und euer Blut zusammen dieses Zimmer befleckt. Nehmt den Sohn des feigen Diebes mit, der mir mein Glück gestohlen hat. Gehen Sie, Sennora! Gehen Sie, Herr Pfarrer! Ich merke, daß ich nicht mehr Herr meiner selber bin! Ich fühle, daß ich imstande bin, etwas zu thun, wovor die Welt zurückschaudern würde!«

Manuels Stimme, als er diese Worte aussprach, war derartig, daß Maria Josepha sogleich aufstand und mit ihrem Enkel in den Armen schweigend der Thüre zuglitt, indem sie rückwärts ging und die Augen nicht von dem Antlitz abwandte, welches mehr dem eines Tigers, als dem eines Menschen glich.

Selbst Don Trinidad fing an Furcht zu empfinden, nicht seinetwegen, sondern wegen des Kindes, wegen der alten Frau, ja wegen Manuels selbst, der, wenn man nach der heftigen Bewegung seiner Brust urteilen wollte, auf dem Punkte stand, irrsinnig zu werden oder zu sterben: seine Stirn war heftig angeschwollen, sein Blick verwirrt, kurz, sein ganzes Wesen aus den Fugen gegangen. Der Pfarrer sah ein, daß weder er ihm noch etwas sagen, noch der Unglückliche irgend welche Worte ertragen konnte, und ging langsam aus dem Zimmer, indem er ihn mit tiefem Erbarmen betrachtete und seinen frühern Zorn wahrscheinlich schon vergessen hatte.

Die Thür des Saales lehnte er hinter sich an.

Manuel blieb mit dem Heiligenbilde allein.

5.

Seelentau.

Der Nachtwächter hatte eben die zwölfte Stunde abgerufen, als Don Trinidad und Maria Josepha aus dem Saale gingen und in der Hand des Christuskindes mit der Weltkugel die Lösung der letzten Krisis ließen, welche Manuels Inneres durchzumachen hatte.

In dem ganzen Hause herrschte das tiefste Schweigen, nur unterbrochen durch die vorsichtigen Schritte des wachsamen Pfarrers, der von Zeit zu Zeit an die Thürritze trat, um Manuel zu beobachten – und durch das Geflüster der in der Küche versammelten Frauen.

Unter ihnen befand sich Polonia, die ihre Unruhe und Bestürzung es nicht hatte in dem Hause des Pfarrers aushalten lassen. Soledads Sohn schlief in den Armen seiner Großmutter.

Das erste, was Manuel that, als er allein war, war, alle Lichter auszulöschen, die das Heiligenbild erleuchteten, so daß der Saal völlig dunkel blieb.

Dies bekümmerte Don Trinidad sehr. Er hatte immer noch einige Hoffnung auf die alte Verehrung seines Zöglings für das Bild gesetzt, mit welchem er ihn allein gelassen hatte. Aber sogleich fiel ihm ein, daß gerade das Auslöschen der Lichter seitens des jungen Mannes eine Art Furcht bedeuten konnte, die er noch vor jener körperlichen Darstellung seines erloschnen Glaubens hatte. Dieser Gedanke konnte nicht umhin, ihn etwas zu trösten.

Manuel fing an, in dem finstern Zimmer auf- und abzugehen.

Von Zeit zu Zeit blieb er stehen. Seine Lippen stießen unverständliche Laute, dumpfes Stöhnen oder unterdrückte Seufzer aus, als ob in seinem Innern zwei verschiedene Wesen, eines wilder als das andre, einen harten Kampf mit einander zu bestehen hätten.

Ohne Zweifel durchlebte er noch einmal die Aufregungen des ganzen Tages. An seinem innern Gesichte mußte alles noch einmal vorübergehen: der herausfordernde Lärm der Zuschauermenge, die Straße von Santa Maria de la Cabeza, die unerwartete Erscheinung Soledads, ihr Mut, ihre Schönheit, ihr liebevoller Blick, der Strom ihrer bittern Thränen, die Begegnung mit Don Trinidad Muley, die frommen Ausrufe, in welche die Menge ausbrach, die ermahnenden Reden des guten Priesters, seine Thränen, seine Liebkosungen, der Besuch des Heiligenbildes, das Bekenntnis seines Mangels an Glauben, womit er dasselbe empfangen hatte, der Schmerz, den er dem Pfarrer dadurch verursacht hatte, die Erscheinung von Soledads Mutter mit dem Kinde, die ernsten Worte der alten Frau, das Weinen und das Lächeln des unschuldigen Kindes, und die Beleidigungen und Drohungen des erzürnten Pfarrers, des Mannes, den er am meisten auf Erden liebte.

Alle jene Worte der Liebe, alle jene frommen Ratschläge, alle jene feierlichen Erscheinungen, alle jene zärtlichen Bitten, alle jene heiligen Thränen, jener ganze väterliche Zorn mußten notwendigerweise sein wildes Herz erweichen. Deswegen seufzte er mitten in seiner Wut wie ein verwundeter Löwe, deswegen kämpfte er so heftig mit sich selbst, und deswegen ließ ihn Don Trinidad allein, da er deutlich erkannte, daß keine seiner Anstrengungen, ihn zu überwältigen, vergeblich gewesen war, daß alle ihre Wirkung auf den rebellischen Sinn des jungen Mannes ausübten, und daß dieser Sinn schon anfing zu wanken, Furcht zu empfinden und die Flucht zu ergreifen: aber dann kehrte er wieder zum Kampfe zurück, wich jedoch von neuem, und konnte von einem Augenblick zum andern dazu gebracht werden, sich zu übergeben. Aber wehe der Sache der Religion, wehe dem Frieden, wehe dem frommen Unternehmen des Pfarrers, wenn der Jüngling in dem entscheidenden, letzten Augenblick sich nicht besiegen ließ! Dann gab es keine Hoffnung auf Erden mehr!

Lange Zeit – ach die Stunden der Qual dauern so lange! – währte dieser Kampf zwischen dem Stolz und der Demut, zwischen dem Zorn und der Geduld, zwischen der Leidenschaft und der Tugend, zwischen dem Egoismus und der Entsagung, zwischen der Selbstliebe und dem Mitleid, zwischen dem wilden Tiere und dem Menschen.

Etwa um zwei Uhr ging Manuel nicht mehr auf und ab. Man hörte ihn weder stöhnen noch sprechen. Nur von Zeit zu Zeit stieß er tiefe Seufzer aus, bis auch diese aufhörten.

Don Trinidad konnte nicht mehr unterscheiden, in welchem Teile des Saales Manuel sich befand, ob er sich hingesetzt hatte oder vielleicht eingeschlafen war. Das Schweigen in dieser Finsternis war vollkommen wie das des Grabes. Es schien, als sei der Kranke gestorben.

War es aber nicht vielleicht möglich, daß nur seine Krankheit gestorben war? War nicht vielleicht Manuel Venegas wieder zu der Vernunft, der Gerechtigkeit, der menschlichen Würde, dem Leben des Gewissens erwacht?

Dieser Zweifel ließ den Priester auf seinen ersten Gedanken, ein Licht zu nehmen und in den Saal zu gehen, verzichten.

Sehr bald hatte er Grund sich darüber zu freuen, daß er gewartet hatte. Denn er sah etwas, was ihm von glücklicher symbolischer Bedeutung und nicht ohne Wichtigkeit zu sein schien. An sich freilich war es etwas ganz Gewöhnliches und Einfaches, aber es erinnerte ihn an die Zeremonie, mit welcher am Morgen des Ostersonnabends in den Kirchen »neues Licht« angezündet wird.

Manuel gab nämlich plötzlich ein Zeichen davon, daß er lebendig und wach sei: er zündete, wie man in jener Zeit zu thun pflegte, mit Stahl, Feuerstein, Zunder und Schwefelfaden Licht an.

»Das Licht des Herrn!« murmelte Don Trinidad und bekreuzigte sich.

Manuel zündete nun alle Lichter an, die er vorher ausgelöscht hatte, so daß das Heiligenbild in dem großen Saale tageshell erleuchtet war.

Darauf setzte er sich dem Bilde gegenüber hin und betrachtete es mit tiefer aber gefaßter Traurigkeit. Der Sturm war vorüber, aber er hatte in den jetzt ruhigen Zügen dieses eisernen Mannes tiefe und unauslöschliche Spuren zurückgelassen. Man hätte glauben können, er habe während dieser zwei Stunden zehn Jahre durchlebt. Ohne alt geworden zu sein, war er nicht mehr jung. Seine Züge hatten den bleibenden Ausdruck starrer Melancholie angenommen, den die Menschen haben, denen das Leben keine Täuschungen mehr zu bieten vermag.

Der traurige Blick, mit welchem er das Heiligenbild betrachtete, hatte nicht einmal die Sanftmut des Trostes mehr. Es war ein Blick ruhigen und unheilbaren Schmerzes, wie der, mit welchem wir viele Jahre nach dem grausamen Verluste und dem bittern Schmerze das Bild eines gestorbnen Kindes betrachten, oder das der Eltern, die wir in der Kindheit verloren haben, oder das einer früheren Geliebten, die die schönsten Blüten unsres Herzens mit ins Grab genommen hat.

»Er betet nicht und er weint nicht,« sagte sich Don Trinidad mit bittrem Schmerze: er dachte dasselbe, was wir eben ausgesprochen haben.

Darauf entfernte er sich von seinem Beobachtungsposten mit einer Unruhe, die viel größer war als die Freude, die er zuerst empfand, als er sah, daß Manuel seinen früheren Beschützer betrachtete.

»Sie versöhnen sich nicht!« dachte er. »Wirklich zeigte Manuel große Neigung, sich gern mit ihm versöhnen zu wollen! Geheimnisse Gottes! Was würde es diesem Kindchen jetzt für Mühe kosten, meinem Pflegesohne die Arme zu öffnen, wie er sie einst dem heiligen Antonius von Padua geöffnet hat? Das wäre das einzige Mittel, um uns aus allen Verlegenheiten zu helfen!«

Darauf trat er wieder an die Thürspalte und fing an inbrünstig zu dem Heiligenbilde zu beten, wie um es aufzufordern, ein sichtbares Wunder zu thun.

»Es hört nicht auf mich!« sagte er endlich bei sich selbst, da er sah, daß das Bild sich nicht rührte. »Es paßt ihm nicht, ein Wunder zu thun. Nun, wir müssen uns vor Gottes Willen beugen! Und wer bin ich elender Sünder, um den Heiligenbildern meiner Parochie Ratschläge zu erteilen? Wenn sie mir folgten, so wäre ich ja der Heilige und nicht sie! Du hast ganz recht, lieber Knabe! Du hast ganz recht darin, mir nicht zu gehorchen!«

Inzwischen war Manuel aufgestanden.

Die Traurigkeit seines Antlitzes war größer als je. Ein tiefer Seufzer kam aus seiner Brust. Er strich sich mit beiden Händen über die Stirn, wie um von seiner Einbildungskraft den erneuerten Schmerz zu verscheuchen.

Er machte den Eindruck, als sei er ein zum Tode Verurteilter, der die letzte Nacht seines Lebens in der Kapelle zubringt. Die Verzweiflung hüllte ihn in ihren schwarzen Schleier.

Im Hintergrunde des Saales standen einige von den großen Koffern, die er mit aus Amerika gebracht hatte. Manuel öffnete den größten derselben und nahm einen Kasten aus kostbarem Holze daraus hervor, den er auf den Tisch setzte, auf welchem das Licht stand.

Don Trinidad fürchtete, er würde sich das Leben nehmen wollen, und war schon im Begriff in den Saal zu treten.

Aber bald beruhigte er sich, als er sah, daß das, was Manuel aus dem Kasten nahm, keine Pistolen waren, sondern herrliche Kleinodien: Halsketten, Ohrgehänge, Armbänder, Ringe, Nadeln, mit einem Worte ein wahrer Schatz von Perlen, Brillanten, Smaragden und andern kostbaren Steinen.

»Es sind die Geschenke, die er Soledad am Hochzeitstage überreichen wollte! Das alles hatte der Unglückliche für seine Braut bestimmt!« dachte der Priester mitleidig.

Manuel betrachtete diese Juwelen, die nun keinen Zweck mehr hatten, diese Symbole seines Unglückes eines nach dem andern. Darauf führte er den Gedanken aus, der ihn offenbar dazu bewogen hatte, den Kasten zu öffnen, und fing an mit ihnen das Heiligenbild zu schmücken, dessen Majordomus er war und das zu beschenken seine Pflicht war.

Der Pfarrer konnte seine freudige Begeisterung nicht mehr bezähmen, er lief fort um die Frauen zu holen, damit sie diese rührende Szene betrachteten.

Leicht kann der Leser sich die Bewegung, die leisen Bemerkungen und das frohe Weinen der Zuschauer an der Thüre vorstellen, während Manuel die Trümmer aus dem Schiffbruche seiner Hoffnungen an den Kleidern des Christuskindes befestigte, oder an seinem Hals und seinen Armen aufhing. Das sind Dinge, die man nur empfinden kann: niemand kann sie erklären.

Genug, alle sagten – als Resultat ihrer Eindrücke, Gedanken und Worte – mit leiser Stimme in frommen Entzücken und indem sie sich umarmten:

»Er ist gerettet! Er hat sich entschlossen, zu verzeihen! In wenigen Stunden wird er uns für immer verlassen! Gott gebe ihm mehr Glück als bisher!«

Während Trinidad und die Frauen so sprachen, schlich sich die verräterische Volanta, die alles gesehen und gehört hatte, auf einer Hintertreppe wie eine Schlange davon, ohne daß es jemand bemerkt hätte. Sie nahm sich wohl in acht, den Thürhüter zu wecken.

Wie hätten auch diejenigen eine solche Kleinigkeit bemerken sollen, die mit der gespanntesten Aufmerksamkeit alles verfolgten, was Manuel that, besonders als sie etwas andres bemerkten, was keinen Zweifel mehr an seinen edeln und friedlichen Gesinnungen aufkommen ließ.

In einer erhabnen Regung edler Demut nahm er den prachtvollen Dolch aus der Tasche, welchen er am Nachmittage vorher bei der Prozession bei sich gehabt hatte, zog ihn aus der Scheide, hob ihn in die Höhe, betrachtete seine blitzende Klinge und seinen reichen Griff, küßte ihn, und legte ihn endlich zu den Füßen des Heiligenbildes nieder.

Ohne den blinden Glauben des Pfarrers an die Erlösung des jungen Mannes hätte er, wie die Frauen wirklich thaten, für sein Leben gezittert, als er den Dolch erhob, und hätte die Frauen nicht daran verhindert, wie er jetzt that, in den Saal zu stürzen. Sein ganzes Ansehen war nötig, um sie davon abzuhalten, jetzt in Rufe des frommen Entzückens auszubrechen, als sie die feierliche Entsagung eines früher unbezwinglichen Stolzes betrachteten.

»Schweigt, schweigt!« sagte leise der Mann zu ihnen, der dieses Wunder bewirkt hatte, »schweigt! Laßt ihn allein, Gott ist bei ihm! Wir wollen nicht den Dämon des Stolzes erwecken, der jetzt in dem Herzen meines lieben Sohnes schläft und bald gestorben sein wird.«

Manuel betrachtete das, was er gethan hatte, und sein ernstes Gesicht drückte eine traurige Zufriedenheit aus, nicht jene thätige, direkte, persönliche Verehrung, welche die guten Frauen bei ihm voraussetzten, und deren triumphierenden und hoffnungsreichen Glanz der Pfarrer so gern in den Augen des besiegten Löwen hätte erglänzen sehen.

»Das ist kein Glaube! Das ist nur Liebe!« sagte der ungelehrte Seelenhirt, seinem ehrlichen Herzen jetzt wie immer Glauben schenkend. »Mein Werk bleibt unvollendet! Verflucht diejenigen, die die Quelle der Freude in einem so guten Herzen ausgetrocknet haben! So lange Manuel nicht gläubig ist, kann er kein eignes Glück genießen und nur im Glücke andrer glücklich sein!«

Manuel zog die Uhr aus der Tasche, aber sie mochte wohl stehen geblieben sein, denn er öffnete eine nach Osten gehende Balkonthüre und sah nach den Sternen.

Darauf ging er nach der Thür des Saales und klatschte ohne sie zu öffnen zweimal in die Hände.

»Ueberlaßt ihn mir,« murmelte Don Trinidad, und machte den Frauen ein Zeichen, sich zu entfernen.

Darauf betrat er den Saal.

»Willst du irgend etwas?« fragte er Manuel sanft.

War es Bescheidenheit, war es Müdigkeit, war es jene kindische Empfindlichkeit, die der Amputierte einige Stunden lang gegen den Operateur empfindet, der ihm in Wahrheit das Leben gerettet hat, – kurz Manuel vermied den Blick des Priesters, senkte die Augen und sagte kurz:

»Basilia soll kommen.«

Don Trinidad ging, ohne irgend welchen Aerger zu empfinden, hinaus.

Wenige Augenblicke nachher trat Basilia ein.

»Ist der Maultiertreiber aus Malaga hier?« fragte Manuel mit jenem trocknen Tone, welcher eine kurze und schnelle Antwort erheischt.

»Er ist unten,« antwortete die Beschließerin zitternd.

»So sagen Sie ihm, er soll mein ganzes Gepäck aufladen und mein Pferd satteln. Jetzt ist es drei und ein halb Uhr. Um fünf reise ich ab. Die Koffer sollen herausgeholt werden, aber ich will nicht, daß mich jemand anredet. Bitten Sie Don Trinidad, daß er etwas ißt und sich schlafen legt. Ich muß allein sein.«

Nach diesen Worten trat er auf den eben geöffneten Balkon hinaus und blieb dort, den Rücken nach dem Zimmer gewandt, stehen, während Basilia und Polonia unter stillem Weinen die Koffer herausbrachten. Auch Don Trinidad und Maria Josepha weinten auf dem Korridor, dankten Gott und warfen dem Heiligenbilde Küsse zu.

Nach einer Stunde brach der Tag an.

Manuel verließ den Balkon, nahm einen Stuhl und setzte sich mitten in das jetzt leer gewordne Gemach. Er blickte in die Höhe mit der ergebnen Erwartung eines zum Tode verurteilten Helden, der seinen letzten Tag anbrechen sieht.

So blieb er lange sitzen, in einer Art von Verzückung milden Schmerzes, der sein edles Antlitz immer schöner erscheinen ließ. Das wilde Tier hatte menschliches Antlitz angenommen. Der Mensch fing an wie ein Engel auszusehen. Seine Seele hatte ein langes Zwiegespräch mit der Unendlichkeit.

Schon war der Tag angebrochen. Schon hatte es fünf, dann fünf und ein halb geschlagen. Das Gepäck war aufgeladen, das Pferd gesattelt. Aber niemand wagte es, ihn daran zu erinnern, niemand die Verzückung zu unterbrechen, in welcher er im voraus die Belohnung seines Opfers, den Dank für seine Entsagung genoß.

Endlich ging die Sonne auf und ihr erster Blick fiel in den Saal, mit strahlendem Lichte die ruhigen Züge Manuels übergießend.

»Soledad!« rief der Papagei auf dem Balkone, wo man ihn vergessen hatte.

Manuel zitterte krampfhaft, als er den Namen hörte, mit dem der Vogel seit vielen Jahren jeden Morgen die aufgehende Sonne begrüßte. Eine Welt getäuschter Hoffnungen und süßer Erinnerungen erschien vor seinen Augen und ließ ihn den Blick vom Himmel zur Erde, von der Ewigkeit auf die Zeit, von dem Vergessen auf die Wirklichkeit lenken. Aber der Stolz, der ihn mit dem feindlichen Geschick hatte kämpfen lassen, war verschwunden, tötlicher Gram belastete seine Brust, eine nie gefühlte Schwäche vernichtete sein ganzes Sein. Er streckte die Arme aus wie ein Ertrinkender, der um Hilfe fleht, und brach endlich in bitteres Schluchzen und einen Strom von Thränen aus.

Jetzt, wo zum erstenmale in seinem Leben der Damm gebrochen war, der seine Thränen zurückgehalten hatte, brachen sie mit solcher Kraft hervor, daß sie schnell sein Antlitz, seine Hände und seine wogende Brust überströmten. Zuerst waren sie wie glühende Lava, dann wie ein wohlthätiger und sein Herz erleichternder und rettender Blutverlust, endlich wie ein milder Tau, der vom Himmel fiel, um den Durst dieses unseligen Herzens zu löschen.

Don Trinidad eilte zu ihm und umarmte ihn, indem er sagte:

»Weine, weine, mein Sohn! Weine, so viel du willst! Weine in den Armen deines Vaters!«

Manuel hing sich an den Hals des Priesters, küßte ihn und sagte schluchzend:

»Verzeihung! Verzeihung!«

»Verzeihe du mir!« schluchzte der Pfarrer.

Auch die Frauen, die in den Saal eingedrungen waren, weinten. Der Maultiertreiber, der eingetreten war, um den vergessnen Papagei zu holen, schlug sich mit den Fäusten auf den Kopf und sagte tief bewegt:

»Wie schade um den Mann! Verflucht sei das erste Weib!«

»Mein Vater! Ich bete sie immer noch an!« rief inzwischen Manuel, an der Brust des Priesters liegend, aus, ohne zu wissen, daß er nicht mit ihm allein war.

»Und ich dich!« antwortete der Pfarrer, ihn wiederholt küssend. »Willst du, daß ich mit dir gehe?«

»Nein, ich will allein gehen.«

»Nun wohl! Sei fromm! Gib viele Almosen und du wirst sehen, daß du glücklich sein kannst! Nimm,« fügte er leise hinzu, »nimm dein Vermögen mit dir. Es gibt überall Arme.«

»Nein, nein,« antwortete Manuel, ihm ins Ohr sprechend. »Behalten Sie es. Thun Sie das, was wir besprochen haben. In diesen Papieren habe ich alles erklärt.«

»Er beichtet,« sagten die Frauen und gingen auf den Korridor zurück.

»Aber du willst doch nicht sterben? Diesmal wirst du mir doch schreiben!« murmelte Don Trinidad, »nicht wahr?«

»Ja! Ich will leben, so lange ich kann!« erwiderte Manuel, seine Thränen trocknend.

Er umarmte den Pfarrer zum letztenmale und sagte:

»Wir müssen gehen!«

Dann trat Polonia an ihn heran, die Schürze vor die Augen haltend.

»Verzeihung, Polonia!« rief der junge Mann aus und umarmte sie.

»Gehe mit Gott, mein Sohn!« antwortete die alte Frau, »du bist gerettet! Ach, möchtest du glücklich werden können! Deine Krankheit war, daß du nie geweint hattest!«

»Sennor, glückliche Reise!« sagte Basilia und küßte ihm die Hand.

»Kommen Sie auch her, Maria Josepha!« rief gleichzeitig Don Trinidad. »Aber bringen Sie das Kind mit! Heute wird allen verziehen!«

»Oh, nein!« rief Manuel aus und trat zurück.

»Manuel, bezwinge dich selbst,« sagte der Priester, »je tiefer du dich heute demütigst, desto glücklicher wird dich morgen die Erinnerung an diesen Tag machen! Reiße aus deinem Herzen die Wurzeln des Stolzes, jetzt wo sie locker geworden sind, damit sie niemals wieder hervorsprossen! Nimm in deinem Gewissen kein Gift mit, heute, wo du es mit Thränen reingewaschen hast!«

»Manuel,« sagte Maria Josepha, »ich wäre glücklich, wenn ich mich hätte deine Mutter nennen können! Der Herr Pfarrer weiß es!«

Manuel zog seine Uhr hervor und hing sie dem Knaben um, indem er die lange goldne Kette, an welcher sie befestigt war, um seinen Hals schlang. Dann sagte er:

»Ich verzeihe deiner Mutter. Möge Gott sie glücklicher machen als Manuel Venegas.«

Darauf drehte er sich um und trat einige Schritte zurück, wie um sich von Soledad, ihrer Mutter und ihrem Kinde zu verabschieden.

Die arme Großmutter entfernte sich unter hervorbrechenden Thränen, während der Kleine die Uhr küßte und wie ein Engel lächelte.

Don Trinidad folgte Manuel bis in die Mitte des Saales, zeigte auf das Heiligenbild, welches in der Sonne wie eine feurige Kohle glänzte, herrlich geschmückt, wie seine anmutige Gestalt war, und fragte ihn mit sanfter Bitte:

»Und diesem da? Was sagst du ihm zum Abschiede?«

»Wenn ein Wunder möglich wäre, so würde ich ihn bitten, in meinem Herzen wieder aufzuerstehen!« antwortete Manuel traurig.

»Das wird Gottes Wille sein!« sagte der Priester und erhob die Augen zum Himmel. »Die Wurzeln deines alten Glaubens sind noch lebendig und der Saft der Wiedererweckung fängt schon an, sie zu durchströmen. Die Grundsätze, die dein Vater und ich in deinem kindlichen Herzen gesät haben, haben in dieser Nacht unter dem Einflüsse dieses Bildes des Erlösers der Welt angefangen zu keimen. Also bist du dem Freunde deiner Jugend Dank schuldig, und wenn du auch heute in diesem lieblichen Bilde nichts siehst als einen Schatten, ein Bild, eine Erinnerung an deine Liebe zu ihm (eine Liebe, die er nie aufgehört hat zu erwidern), wenn auch das neue Licht, das deinen Geist zu erleuchten angefangen hat, deinen umnachteten Verstand noch nicht ganz durchdrungen hat, – so küsse ihn dennoch, Manuel! Es kann dir nichts schaden, ihn zu küssen! Küsse ihn und du wirst sehen, daß der Rest von Stolz, der dir noch geblieben ist, sich in Thränen auflöst, ebenso wie sich das in Thränen aufgelöst hat, was dir das Herz abdrückte! Wenn du mit deinen Lippen die Füße des Kindes berührst, an dessen Göttlichkeit dein Vater und deine Mutter geglaubt haben, so wirst du fühlen, daß du eine heilige Handlung thust, und vor Glück weinen! Was kostet dich der Versuch? Warum willst du ihn nicht wagen? Sagt dir deine Furcht und deine Achtung vor dem Heiligenbilde nicht, daß der Akt der Unterwerfung, um den ich dich bitte, wunderbare Folgen haben wird? Komm! Sice her! Ich gehe dir mit meinem Beispiele voran, wie ich es that, als du ein Kind warst! Ich will ihn vor dir küssen! So mußt du es machen! So! Und dann sagt man weinend, wie ich jetzt weine: »Gesegnet seist du, gekreuzigter Christus! Gesegnet sei deine heiligste Mutter! Gesegnet sei dein himmlischer Vater, der dich auf Erden sandte, um uns zu erlösen!«

Manuel schloß die Augen und fiel auf die Kniee.

Auch die Frauen und der Malageser lagen auf den Knieen und dankten unter Gebeten Gott, als sie sahen, daß Manuel die Füße des Christuskindes umarmte und mit Küssen und Thränen bedeckte.

Auf den Knieen lag auch Don Trinidad Muley, der in diesem Augenblick gewiß auch die verhärtetsten Ungläubigen umarmt haben würde. Denn die Wahrheit ist, daß in all diesen Vorgängen es für niemand und für nichts etwas Schlimmes und sehr viel Gutes für alle und für alles gab, wir Sterblichen aber wissen nicht, was gut und schlecht ist in diesem elenden Leben!

 

Wir sind nicht imstande, die letzten Augenblicke zu beschreiben, die Manuel in seinem Hause zubrachte, noch das erneuerte schmerzliche Lebewohl, welches diese Menschen von einfachem und zärtlichem Herzen sich sagten. Wir würden fürchten, unsre Leser zu sehr zu betrüben, welche, da sie dieses den »geistlich Armen« gewidmete Buch noch nicht fortgelegt haben, sicherlich das Glück haben, zu denken und zu empfinden wie jene. Wir ziehen es also vor, uns auf den Markt zu begeben und unter das Publikum zu mischen, um von dort Manuels Abreise und was sich daran knüpfte, unbefangner mit ansehen zu können.

6.

Triumphzug.

Es war ein herrlicher Morgen, besonders für diejenigen glücklichen Sterblichen, deren Auge nicht auf das schwarze, unruhige Meer der Leidenschaften geheftet waren, sondern die es vorzogen, hinaus ins Freie zu gehen, Augen und Sinn sich in dem erhabenen Tempel der Natur werden zu lassen an der farbigen Schönheit der Erde, dem strahlenden Himmelsgewölbe, und dem Himmel ihres eignen Gewissens, wenn es rein genug war, um die geheimnisvollen Erscheinungen der Ewigkeit widerzuspiegeln.

Dies war jedoch nicht die Stimmung der großen Menge, die an jenem verhängnisvollen Montag, den 6. April 1840, auf den Marktplatz eilte, um sich darüber zu unterrichten, was Zorn und Schmerz in der vergangenen Nacht im Herzen Manuels und Antonios gewirkt hatten. Wir brauchen nicht erst zu sagen, daß die Gruppe, in welcher die Geister – für fremde Rechnung – am erregtesten waren, diejenige war, welche sich wie gewöhnlich an der Thür der Apotheke gebildet hatte: ein schreckliches Zollhaus, um so zu sagen, bei welchem der unglückliche Manuel bei seiner Abreise vorbeireiten mußte.

Vitriolo war bitterer und wütender als je. Es war ihm trotz der Ermahnungen seiner Jünger unmöglich zu schweigen, und wenn er seine Reden unterbrach, so geschah es nur, um zu denen, die Arzneien kauften, zu sagen:

»Das gibt es nicht!« oder »kommen Sie später wieder!« oder »sagen Sie dem Kranken, er soll nur sterben! Denn das, was ihm verschrieben ist, hilft ihm doch nichts!«

Er wollte sich nämlich nicht von der erwähnten Gruppe entfernen, in welcher er schon weitläufig gegen die Albernheit Manuels deklamiert hatte, »dessen Haus«, wie er sagte, »der Pfarrer von Santa Maria mit Heiligenbildern und alten Weibern angefüllt habe, um ihn von dem Wege der Ehre und Männlichkeit zu entfernen und ihn seinen Schwüren untreu werden zu lassen.«

Darauf fügte er hinzu:

»Nach meinen Nachrichten hatten sie ihn schon heute früh um drei Uhr besiegt, und der Patient betete sein Glaubensbekenntnis zu den Füßen des Heiligenbildes her, nachdem er ihm einen Teil seiner Kostbarkeiten auf Don Trinidads Bitten, der eine wahre Ameise für seine Kirche ist, geschenkt hatte. Armer Manuel! Wenn sein mutiger Vater wieder aufstehen könnte!«

Die Zuhörer sahen sich an, als bezweifelten sie das Passende dieses Anrufes, und Vitriolo, der es bemerkte, gab diesen Punkt auf und ging zu etwas Anderem über.

»Was Soledads Mann anlangt,« rief er in emphatischem Tone aus, »so muß man gestehen, er hat das Herz auf der richtigen Stelle! Sie haben ja gesehen, was er gestern that! Ohne sich auch nur die Sporen abzuschnallen, ging er nach der Kapelle der heiligen Luparia, um den großen Eisenfresser zu suchen, den der Pfarrer mittlerweile in eine Art Reliquienkasten versteckt hatte. Ich zweifle nicht, daß, wenn er erfährt – was er jetzt schon erfahren haben wird – daß seine Schwiegermutter und sein Sohn die Nacht in dem Hause des Liebhabers seiner Frau zugebracht haben, er von Manuel Genugthuung fordern und alle Betrügereien des Fanatismus und der Feigheit über den Haufen werfen wird.

»Natürlich wird Antonio Arregui jedenfalls heute nachmittag auf den Ball gehen, um den Handschuh seines Nebenbuhlers aufzunehmen! Das hat er gestern geschworen, als er vernahm, daß Manuel unverschämt genug gewesen war, an die Thür seines Hauses zu klopfen, während er in der Sierra war. Das weiß ich aus sehr guter Quelle! Wenn also Manuel trotz seiner Drohungen vor acht Jahren die Stadt verläßt, ohne auf dein Kampfplatze erschienen zu sein, dann ist es um seine Ehre und seinen guten Ruf geschehen! Freilich, vielleicht weiß unser armer Mitbürger gar nicht (und dann thäte man ein gutes Werk, ihn davon zu benachrichtigen), daß ihn Antonio Arregui gestern nachmittag bis zur Kapelle des heiligen Luparia gesucht hat, um ihn herauszufordern. Die Ehre der ganzen Stadt ist dabei beteiligt, daß diese ganze Sache nicht in der unwürdigen Weise, wie Don Trinidad will, unentschieden bleibt. Was würden die Riojaner sagen, wenn der Held der Stadt vor einem von ihnen geflohen wäre? Sie würden behaupten, die Andalusier hätten kein Blut in den Adern! Und das alles weswegen? Weil die Geistlichen einer Art von Wildem, der Millionen besitzt, den Verstand ruiniert haben, um sein Geld zu bekommen! Ich sage Ihnen, ich schäme mich über einen so groben Betrug!«

»Und ich schäme mich der menschlichen Gestalt, in der Ihre Seele umherläuft,« rief der Hauptmann aus, der kurz vorher herzugetreten war, »Sie sind eine Schlange.«

Vitriolo fing an zu lachen.

»Lachen Sie nicht,« fuhr der Hauptmann, vor Zorn zitternd, fort. »Merken Sie sich, daß ich heute gekommen bin, um Sie niederzuschlagen, wenn Sie nicht aufhören, die Luft mit ihren schändlichen Verleumdungen zu verpesten!«

»Drohungen und nichts als Drohungen!« antwortete der Apotheker verächtlich, »haben Sie sich auch erkaufen lassen? Ist Ihnen eine von den Juwelen zugefallen, die für den hölzernen Heiligen bestimmt waren? Nun ich will mich freuen, wenn Sie etwas davon haben!«

Darauf drehte er ihm den Rücken, selber erschrocken über das, was er gesagt hatte.

»Was mir zugefallen ist, sollen Sie gleich sehen,« brüllte der Hauptmann, »im Namen der Armee nehmen Sie das hin!«

Darauf versetzte er dem unverschämten Anhänger des Materialismus einen furchtbaren Fußtritt.

Der Apotheker rieb sich den getroffenen Körperteil und lief mit den Worten weg:

»Dieselbe Geschichte wie immer! Der Militarismus! Der Cäsarismus! Die rohe Gewalt! Der rechte Arm der Tyrannei!«

»Diesmal war's nicht der Arm,« sagte einer, an den er sich um Hilfe gewandt hatte, »es war ja eine Liebkosung mit dem Fuße, und zwar eine recht hübsche!«

Darauf wandte er ihm verächtlich den Rücken.

Dieser Vorgang brachte alle Anwesenden zum Lachen, und war der Anfang der großen Niederlage, welche Vitriolo an diesem Morgen vor den Augen seiner sämtlichen Jünger erleben sollte.

Denn in diesem Augenblick öffnete sich das Thor von Manuels Hause. Der Maultiertreiber aus Malaga schritt (sehr vergnügt, da er schon auf dem Wege nach Amerika zu sein glaubte) heraus, und hinter ihm die beladenen Maultiere.

Die Aufregung der Zuschauer, als sie diesen handgreiflichen Beweis von Manuels Abreise, dem Triumphe des Pfarrers und der Verzeihung des Gefürchteten erblickten, war mit sehr wenigen Ausnahmen ebenso groß als edel und freudig.

»Manuel reist ab!« sagten die einen, »Don Trinidad ist unvergleichlich! Das heißt ein guter Christ!«

»Manuel reist ab!« riefen andre aus. »Diese Entwicklung ist wirklich wunderbar!«

»Die Venegas waren immer so!« sagte der alte Kuchenbäcker des Marktes, »sie haben nun einmal die Gabe, die ganze Stadt in Aufregung zu versetzen! Dieser Morgen erinnert mich an den andern, an welchem Don Rodrigo die Papiere des Wucherers aus den Flammen rettete. Wir alle klatschten Beifall, ohne zu wissen, warum! Und jetzt ereignet sich dasselbe! Sehen Sie nur! Die Leute weinen vor Freude! Die Weiber treten auf die Balkone heraus. Ich will es doch gleich meiner Frau sagen...«

»Schade um das Geld, das aus der Stadt geht!« sagte man in einer andern Gruppe, auf die Menge Gepäck blickend. »Da gibt's Unzen genug!«

Inzwischen hatte Vitriolo sein Unglück vergessen, wie ein Feldherr an seine Wunde erst dann denkt, wenn die Schlacht entschieden ist. Er näherte sich, fast verzweifelt und krampfhaft aufgeregt, dem Maultiertreiber und fragte ihn in der größten Aufregung:

»Wann reist Ihr Herr ab? Wartet er noch etwas? Wird man noch Zeit haben, um mit ihm zu sprechen?«

»Ach was Zeit haben!« erwiderte der Treiber mit aufgeregter Stimme. »Diese Stadt hat einen Pfarrer, der mehr kann als Gott selber!«

Darauf nahm er seinen Hut ab, hob ihn hoch empor, schwenkte ihn und rief mitten auf dem Marktplatz mit unbeschreiblichem Feuer und Grazie aus:

»Kaballeros! Es lebe Don Trinidad Muley!«

»Er lebe hoch!« antwortete alles.

Von diesem Augenblick an war die Schlacht für Vitriolo endgültig verloren. Das ganze Publikum stand auf seiten des Pfarrers, lobte sein Werk, atmete in der Atmosphäre der Tugend, und billigte die friedliche Abreise Manuels.

Gerade jetzt erschien unser Held zu Pferde unter dem Thorwege des Hauses, welches ihm nur so wenige Stunden gehört hatte.

Die dicht gedrängte Menge gab ein Murmeln tiefen Mitleides von sich.

Manuel saß starr, totenbleich, schweigend auf dem Pferde. Er sah zum Himmel hinauf, um die Welt nicht ansehen zu müssen. Don Trinidad begleitete ihn zu Fuß, indem er zu seiner Rechten ging, und richtete von Zeit zu Zeit ein tröstendes Wort an ihn.

Es war das traurige Bild eines Verurteilten, der zum Richtplatz geht.

Die Menge grüßte ihn gruppenweise, als er langsam über den Platz ritt. Aber zuletzt entblößten alle auf einmal das Haupt, als befanden sie sich in Gegenwart eines Königs.

Da begab sich etwas, worauf nur wenige achteten. Volanta versuchte sich Manuel auf der dem Priester entgegengesetzten Seite zu nähern. In ihrer Hand sah man ein Papier, welches man für einen Bettelbrief halten konnte. Aber der Priester hatte sie gesehen, ging schnell auf Manuels andere Seite und fuhr die schändliche Alte in so heftigem Zorne an, daß sie fortlief und sich unter der Menge versteckte.

Manuel hatte nichts bemerkt. Stumm, unbeweglich, gleichgültig auf seinem Pferde hängend wie der Leichnam des Cid, setzte er seinen Triumphzug fort und gewann wie dieser seinen letzten Sieg, ohne daß seine Seele etwas davon wußte.

So ritt er schon vor der Apotheke vorbei, zum großen Aerger Vitriolos, der sich mit dem Kummer über seine Niederlage in dem Hinterzimmer einschließen wollte, als plötzlich auf dem gegenüberliegenden Teile des Platzes eine große Verwirrung entstand. Man sah Antonio Arregui bleich vor Wut erst nach dem Hause Manuels, dann diesem nacheilen, nachdem ihm jemand gesagt hatte, daß der Reiter der Mann sei, den er suche.

Aber Don Trinidad beobachtete alles. Er verließ Manuel und eilte dem wütenden Antonio entgegen, den diesmal – um die Wahrheit zu sagen – einige wohlgesinnte Männer aufzuhalten suchten, welchen er sich nur schwer entwinden konnte.

Der Pfarrer erklärte ihm in wenigen Worten, warum seine Schwiegermutter und sein Sohn die Nacht im Hause des Amerikaners zugebracht hatten. Ebensowenig Worte genügten, um ihn davon zu überzeugen, daß es ein falscher, ja verwerflicher Schritt von ihm sein würde, einen reuigen und mutigen Mann jetzt herauszufordern, wo er vor dem Kampfe floh, weil er ihn für Unrecht hielt, und seine Vaterstadt für immer verließ.

Arregui war wie betäubt, als er alle diese unerwarteten Dinge erfuhr. Da er ein gutes Herz hatte, Don Trinidad der ausgezeichnete Mann war, als den wir ihn kennen gelernt haben, und das wandelbare Publikum an diesem Tage sein ganzes Gewicht in die Wagschale der Tugend warf, so begab sich etwas, was sonst unmöglich gewesen wäre.

Doch vorher müssen wir erzählen, was mit Manuel vorgegangen war.

Sobald Don Trinidad ihn verlassen hatte, eilte Vitriolo auf ihn zu. Er war frech genug, mit der einen Hand den Zügel des Pferdes zu ergreifen und es zum Stehen zu bringen, während er die andre Hand dem Reiter entgegenstreckte, und halb laut zu ihm sagte.

»Glückliche Reise, Nachbar! Wollen Sie nicht Don Antonio Arregui kennen lernen? Da ist er hinter Ihnen! Er kämpft mit dem Herrn Pfarrer und kann ihn gar nicht los werden!«

Der verhaßte Name von Soledads Mann erweckte Manuel aus seiner Betäubung und ließ ihn die andern Worte Vitriolos hören. Schnell warf er das Pferd herum und fragte, indem seine Augen Funken sprühten:

»Wer? Wo ist er?«

Er sah sich Don Trinidad gegenüber, der schon zu ihm zurückgekehrt war und zu ihm sagte:

»Mein Sohn, vollende dein Werk! Erinnere dich an das, was wir zusammen besprochen haben. Hier ist Don Antonio Ariegui. Ich bitte dich: verzeihe ihm!«

Arregui stand zwei oder drei Schritte hinter ihm, in stolzer und würdiger Haltung, zu allem bereit. Er konnte nicht umhin, das edle, schöne und schmerzerfüllte Antlitz zu bewundern, das er zum erstenmale erblickte. Vielleicht empfand er Mitleid mit einem so unverdienten Unglück.

Manuel betrachtete den Gatten Soledads mit bitteren Gefühlen und schwankte einige Augenblicke zwischen den beiden Abgründen, zwischen welche sein trauriges Verhängnis ihn wiederum gestellt hatte.

Auf dem ganzen Platze herrschte tiefes, unheimliches Schweigen. Die Sekunden schienen Jahrhunderte.

»Denke an mich! Denke daran, wer du bist! Denke an Don Rodrigo Venegas! Denke an den Knaben Jesus!« murmelte Don Trinidad, die Hände zu ihm wie betend erhoben.

Manuel zitterte vom Kopf bis zu den Füßen, als entsagte er zugleich dem Leben in dem Augenblick, wo er dem letzten Reste starren Stolzes, der in ihm geblieben war, zu entsagen hatte, nahm ehrerbietig den Hut ab und grüßte den Mann, den er geschworen hatte, zu ermorden.

Arregui entblößte das Haupt in demselben Augenblick und erwiderte den Gruß mit ritterlichem Anstande und freundlicher Miene.

Lauter Beifallssturm erschallte von der Menge und Tausende von Stimmen riefen laut aus:

»Es lebe Manuel Venegas! Es lebe Antonio Arregui! Es lebe Don Trinidad Muley! Es lebe der Knabe Jesus!«

Inzwischen hatte Manuel seinem Pferde die Sporen gegeben, und war wie ein Hauch verschwunden, ohne daß es Volanta, die ihm nachlief, gelungen wäre, ihn einzuholen, oder durch ihr lautes Schreien aufzuhalten.


 << zurück weiter >>