Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Die hunderttausend Frank des Doktor Doyen

Seit nunmehr anderthalb Wochen sind die französischen Ärzte und die Gelehrten der medizinischen Wissenschaften in gewaltiger Aufregung. Man sieht Chirurgen, die nur noch bemüht sind, sich gegenseitig zu zerfleischen, und täglich findet man in den Morgenblättern offene Briefe und offene Erklärungen, die von berühmten Medizinmännern stammen und eigentlich wie manche Arzneiflaschen die Aufschrift tragen müßten: »Vorsicht! Gift!« Diese Erregung und dieser Hader sind verursacht durch einen Ausländer, durch den amerikanischen Millionär Crocker, der, wie schon kurz berichtet worden, von dem Doktor Doyen 100 000 Frank oder doch einen Teil dieser Summe zurückverlangt und den Beistand der französischen Gerichte anruft. Man steht hier vor einem nicht alltäglichen und höchst interessanten Schauspiel: ein praktischer Arzt hat das Malheur gehabt, an einen Amerikaner zu geraten, der mindestens ebenso praktisch zu sein scheint.

Der sogenannte »Tatbestand«, der bisher keineswegs ganz klar war, wird von dem amerikanischen Arzte Gros 93 jetzt recht anschaulich und auch ziemlich überzeugend geschildert. Frau Crocker, die Gattin eines ungeheuer reichen Mannes aus San Franzisko, litt an Krebs und war in Cannes von Sir Arthur Frip, einem der Leibärzte des Königs Eduard, erfolglos operiert worden. Eines Tages vernahm Herr Crocker, daß der Doktor Doyen in Paris ein Krebsserum entdeckt haben wollte, er reiste mit seiner kranken Gattin nach Paris, suchte Doyen auf, und Doyen erklärte ihm: »Mein Serum heilt den Krebs.« Doyen machte der Amerikanerin persönlich drei Einspritzungen und ließ ihr durch seine Assistenzärzte noch sieben andere machen, verlangte aber gleich in den ersten Tagen ein Honorar von 100 000 Frank und drohte, die Behandlung einzustellen, wenn diese Summe nicht sofort bezahlt würde. Herr Crocker zahlte, nachdem sich Doyen schriftlich verpflichtet, keine anderen Summen zu fordern; aber als dann das Befinden seiner Gattin nicht besser, sondern täglich schlechter wurde, verzichtete er auf Doyens weitere Bemühungen. Die Kranke wurde noch sechs Wochen lang in dem Villenorte Bellevue bei Paris von ihrem Landsmann, dem Doktor Gros, gepflegt und starb bald darauf in ihrer amerikanischen Heimat, in die man sie auf ihren Wunsch zurückgeführt hatte. Der Witwer ist ein Amerikaner und fordert sein Geld zurück; er ist auch ein Gentleman und will es dem Institut Pasteur überweisen.

Die Figur des Doktor Doyen wäre ungemein geeignet, als Pariser Romanfigur zu dienen, und weilten Octave Feuillet und Alphonse Daudet noch unter den Lebenden, so wäre der berühmte Chirurg vielleicht schon in einem Salonroman porträtiert. Der Doktor Doyen 94 ist heute ein Lebemann in den besten Jahren, er ist elegant, sehr weltkundig und hat über mancherlei Dinge ganz ultramoderne Ansichten. Man erinnert sich, wie er mit kühnem Schnitt die zusammengewachsenen Zwillinge Rodica und Doodica trennte, die leider die Operation nicht lange überlebten, und wie halb Paris und ein Kinematograph dieser Trennungsszene beiwohnten. Daß der Doktor Doyen ein geradezu genialer Chirurg ist, bestreiten übrigens nicht einmal seine zahllosen Neider und Widersacher: er öffnet einen Körper so leicht, wie ein anderer ein Ei öffnet, er zerlegt einen lebendigen Menschen mit wenigen Schnitten in seine Teile und soll auf dem Operationstisch mit fabelhafter Gewandtheit das Unterste nach oben kehren. Er ist kaltblütig wie Napoleon und sieht, solange er wenigstens nicht der Hauptbeteiligte ist, dem Tode mit großer Furchtlosigkeit ins Auge.

Vielleicht würde der Doktor Doyen trotz all seiner Geschicklichkeit nur als ein bedeutender Arzt und nicht als ein Genie gelten, wenn er still und hausbacken wie ein gelehrter Stubenhocker leben würde, und wenn man nicht allerlei anderes von ihm wüßte. Wer sich in seinen Berufskreis einschließt, wer ganz in seinem Berufe aufgeht, ist gewöhnlich nur ein Talent, und genial wird zumeist nur der genannt, der auch außerhalb seines Berufes von sich reden macht. Der Doktor Doyen macht von sich reden; gewiß nicht absichtlich, aber unwillkürlich und aus hundert verschiedenen Gründen. Im Mittelalter behaupteten abergläubische Personen, man müsse seine Hände in Blut tauchen, um eine besondere Lebenskraft zu gewinnen, und wirklich scheint die 95 Berührung mit dem Blute dem Doktor Doyen ganz ausgezeichnet zu bekommen. Dieser merkwürdige Mann ist auch Besitzer einer vielbegehrten Champagnermarke, der »Marke Doyen«, er hat auch in politischen Wahlen kandidiert und liebt es, nach vollbrachter Tagesarbeit in heiterem Spiel die Göttin des Zufalls herauszufordern. Und diese Göttin ist nicht die einzige, die ihn interessiert: ganz wie der menschliche Körper hat der Strudel des Pariser Lebens für ihn keine Geheimnisse, und er gehört keineswegs zu jenen Personen, die von den Speisen nicht essen mögen, weil sie allzu genau wissen, wie es in der Küche aussieht. Aber vor allem liebt der Doktor Doyen, der alle Züge eines ritterlichen Heißsporns hat, die Fechtkunst, und man weiß, daß er nicht nur den sensationellen Zweikämpfen beiwohnt, sondern auch selbst ein Meister im Degenfechten ist. Immer, wenn ich höre, daß er sich so eifrig im Gebrauch dieser Mordwaffen übt, fällt mir die Geschichte von dem Landarzt ein, der seine Patienten mit einem Jagdgewehr unter dem Arm zu besuchen pflegte, und den eines Tages ein alter Bauer fragte: »Fürchten Sie, ihn sonst nicht tot zu kriegen?«

Nun hat der Doktor Doyen, wie er glaubt und behauptet, auch jenes Krebsserum entdeckt, nach dem die größten Gelehrten der Welt bisher vergeblich geforscht. Man kann nicht daran zweifeln, daß der Doktor Doyen die Fähigkeit besäße, eine für die ganze Menschheit segenbringende Entdeckung zu machen, und man begreift nur nicht recht, wie er noch Zeit für solche Arbeiten gefunden hat. Leider hat er sich über die Zusammensetzung seines Serums bisher nicht klar geäußert, und 96 schon im Jahre 1903 ist es deswegen auf dem Chirurgenkongresse zwischen ihm und dem Professor Pozzi zu einem ziemlich unfreundlichen Wortwechsel gekommen. Der Professor Pozzi fragte: »Warum hat Herr Doktor Doyen nicht die Zusammensetzung und die Herstellungsart seines Serums veröffentlicht? Er würde es dann den Gelehrten der ganzen Welt ermöglichen, seine Entdeckung zu prüfen, und dieser gewaltige Fortschritt würde nicht nur den Kranken in seiner Klinik und seinen eigenen Patienten, sondern der ganzen Menschheit nützen können.« Der Doktor Doyen antwortete, daß er sein Serum allen Ärzten zur Verfügung stellte, die Herstellungsmethode aber nicht preisgeben wollte, und er behauptete, daß das Institut Pasteur ganz ähnlich handelte, was Pozzi dann energisch bestritt. Man trennte sich damals in ziemlich zorniger Stimmung, man bezeugte sich gegenseitig ein möglichst geringes Maß von Hochachtung, und der Professor Pozzi soll im Kreise der Kollegen das Serum als die »neue Marke Doyen« bezeichnet haben.

Dieser alte Streit ist nun also, dank dem Amerikaner Crocker, wieder entbrannt, und die Frage, ob der Doktor Doyen sein Serum monopolisieren darf, und ob dieses Serum etwas taugt, wird ebenso erregt erörtert wie die Angelegenheit der 100 000 Frank. Alle Würdenträger der Medizin, alle Professoren der medizinischen Fakultät, alle Mitglieder der Akademie, der Professor Deboye, der Professor Poirier, der Professor Pozzi, der Doktor Rochard und der Professor Segond treten gegen den Doktor Doyen auf, und einige gehen so weit, zu behaupten, daß der Doktor Doyen gegen das 97 französische Geheimmittelgesetz verstoßen habe. Nicht ohne eine gewisse Berechtigung schreibt im »Matin« ein Arzt, der seinen Namen nicht nennen will: »Entweder, das Serum des Doktor Doyen ist wirksam, und was soll man dann von einem Arzte denken, der ein Mittel zur Unterdrückung der fürchterlichsten Krankheit besitzt und sich weigert, es seinen Mitmenschen zu verraten? Oder aber, das Serum ist unwirksam, und was soll man dann von einem Arzte halten, der vom Verkauf eines wertlosen Medikamentes lebt?« Drei oder vier Freunde und Bewunderer des Doktor Doyen dagegen sehen in all diesen Angriffen nur eine Kabale eifersüchtiger Kollegen, und der höchst temperamentvolle Doktor Dumont erklärt: »Die Bonzen der Chirurgie fallen über Doyen her, weil sie ihn beneiden.«

Der Doktor Doyen, der es nicht liebt, daß seine Klienten ihm etwas schuldig bleiben, ist auch seinen Gegnern nichts schuldig geblieben. Der große Chirurg hat bereits zahlreiche Interviewer empfangen und nebenbei noch die Zeit gefunden, zwei lange Artikel zu schreiben, die das »Journal« veröffentlicht hat. Er sagt, daß keiner seiner Widersacher sich die Mühe gemacht hat, in seine Klinik zu kommen und die Wirkung des Serums zu prüfen, und er behauptet, daß auch die Professoren Richet, Chantemesse, de Vlaeff, Koch und einige andere nie ihre Rezepte preisgegeben. Aber der Doktor Doyen bewegt sich nicht nur in solchen wissenschaftlichen Erörterungen, er ist ein Fechter, ein Draufgänger, und er sagt in seinem zweiten Artikel zu Pozzi: »Sie möchten auch gern Serum fabrizieren? Aber lieber Kollege, dazu bedürften Sie eines ganz neuen Studiums« . . . 98 und etwas weiterhin: »Wenn Herr Pozzi glaubt, man müßte seine bakteriologischen Entdeckungen abwarten, um die Serotherapie des Krebses zu begründen, so könnte man noch lange schlafen.« Der große Chirurg sagt noch allerlei Ähnliches.

Vielleicht haben auch diese beiden so scharf zugespitzten Artikel die Angriffe, die gegen den Doktor Doyen gerichtet werden, nicht völlig entkräftet. Aber wenn nicht in medizinischer Hinsicht, so waren sie doch in mythologischer Beziehung interessant, denn zum ersten Male begriff man beim Lesen dieser beiden Artikel so recht, warum Äskulap, der Gott der Arzneikunst, stets in Begleitung einer Schlange dargestellt wird.

* * *

Die Frage, ob die Entdeckung des Doktor Doyen irgend eine Bedeutung besitzt, kann natürlich nur von den medizinischen Gelehrten entschieden werden. Zu der Frage, ob der Doktor Doyen von dem Amerikaner Crocker bei Beginn der Behandlung 100 000 Frank fordern durfte, können sich auch die Laien äußern, und sogar Personen, von denen nie ein Arzt 100 000 Frank verlangen oder erhalten wird, dürfen über diese Angelegenheit mitreden. So hohe Honorare sind bekanntlich nicht gerade üblich, und sie sind auch sehr selten in Paris, wo das Honorar für schwere Operationen gewöhnlich 5000, bisweilen 10 000 und nur in Ausnahmefällen auch 20 000 Frank beträgt. Aber es ist doch schon vorgekommen, daß einem Arzte auch 100 000 Frank und noch mehr gezahlt wurden: Professor Kußmaul, der für vierundzwanzig Stunden nach Paris kam, um 99 den Sohn des Barons Hirsch sterben zu sehen, erhielt 100 000 Frank, ein Amerikaner Mac Berney soll für eine Blinddarmoperation 350 000 Frank erhalten haben, der Doktor Galezowski erhielt 100 000 Frank und die Reisekosten, als er in Teheran eine persische Prinzessin operierte, und der Zar hat dem Arzte, der den Thronfolger in Empfang nahm, angeblich 250 000 Frank verehrt. Allerdings hatten, wie man sieht, all diese reichbelohnten Ärzte entweder lange Reisen zurückgelegt oder sich ihren Patienten doch sehr gründlich gewidmet.

Herr Crocker in San Franzisko besitzt, wie von Eingeweihten und besonders von Uneingeweihten behauptet wird, ein Vermögen von 400 Millionen. Ich weiß nicht, auf welche Weise und durch welche Spekulationen er diesen etwas übertriebenen Reichtum erworben hat, aber es ist nicht wahrscheinlich, daß er ihn einzig dem Rezepte seines berühmten Landsmannes Franklin verdankt: »Gib immer einen Pfennig weniger aus, als du verdienst!« Man darf auch annehmen, daß Herr Crocker leichter auf 100 000 Frank verzichten kann als ein armer Bureaubeamter auf zehn Frank, und man kann sich mit gleichem Rechte sagen, daß Herr Crocker gewiß schon häufig in San Franzisko, an der Riviera oder in Paris 100 000 Frank zur Befriedigung irgend einer Laune geopfert haben dürfte. Ich für mein Teil gestehe also, daß ich nicht einsehe, warum Herr Crocker nicht auch 100 000 Frank zahlen soll, wenn es sich um das Wohl und Wehe seiner Gattin handelt, und ich sehe ebensowenig ein, warum man solche Einnahmen nur den amerikanischen Spekulanten und nicht einem hervorragend tüchtigen Arzte gönnen will. Die meisten Pariser Ärzte, 100 und sogar die »Bonzen«, haben denn auch erklärt, daß man 100 000 Frank annehmen und von amerikanischen Millionären selbst fordern dürfe, und das war sehr verständig und besonders sehr vorsichtig.

Aber der Fall, um den es sich heute handelt, der Fall des Doktor Doyen, liegt doch nicht ganz so einfach. Herr Doyen hat der Amerikanerin drei Serumeinspritzungen gemacht und hat ihr sieben andere machen lassen, und diese Einspritzungen mit dem mysteriösen Serum haben nicht den geringsten Erfolg gehabt. Hat er Herrn Crocker vorher wirklich gesagt: »Mein Serum heilt den Krebs«, wie Herr Crocker und der Doktor Gros das erzählen? Herr Doyen wird sich schwerlich mit so plumper Klarheit ausgedrückt haben, er hat vermutlich nichts versprochen und hat sich jener Feinheiten der französischen Sprache bedient, aus denen wie einst aus den delphischen Weissagungen der Gläubige heraushört, was er zu hören wünscht. Der große Chirurg hat auch die Vorausbezahlung der Summe gefordert und mit Einstellung der Behandlung gedroht, was in Paris, wie der Doktor Segond erklärt, durchaus nicht üblich ist. Seine gefeierte chirurgische Kunst hat der Doktor Doyen für die Rettung der Kranken nicht aufgeboten, und sein Messer hat er nur gebraucht, um es dem Amerikaner auf die Kehle zu setzen.

Ein Freund des großen Chirurgen erklärt: »Herr Crocker hat 100 000 Frank auf eine Karte gesetzt, das Glück ist ihm nicht hold gewesen, und nur ein unanständiger Spieler verweigert die Bezahlung.« Dieser aus dem Spielsaal entlehnte Vergleich ist sicher ganz im Sinne des großen Chirurgen, der in solchen Dingen so 101 gut Bescheid weiß, aber er ist weder sehr taktvoll noch besonders geschickt. Wenn man einen Augenblick in dieser Spielhausatmosphäre verweilen will, die sich hier so sonderbar mit der Atmosphäre der chirurgischen Klinik vermischt, so muß man sagen, daß die Partie zwischen Herrn Crocker aus San Franzisko und dem Doktor Doyen aus Paris doch ein wenig ungleich war, denn Herr Crocker kannte nicht die Karten, und der Doktor Doyen kannte sie genau. Der große Chirurg wußte, daß Frau Crocker unrettbar verloren war, er wußte, daß sein Serum ihr nicht das mindeste helfen würde, und weil er das wußte, verlangte er so schnell sein Geld. Er hatte völlig klar gesehen, nur nicht in einem Punkte: er hatte nicht erwartet, daß das Spiel noch ein Nachspiel haben könnte.

Der Ruf, den der Doktor Doyen sich als Operateur erworben hat, wird durch diese Affäre nicht angetastet. Der Doktor Doyen bleibt nach wie vor ein sehr bedeutender Arzt, und es kann sein, daß er wirklich ein Genie ist. Aber wenn er mit Recht die Dieffenbach, Langenbeck, Heurteloup, Lister und Billroth seine Lehrer nennen darf, so würde er doch sehr pietätlos und ungerecht handeln, wollte er nicht eines anderen Mannes gedenken, eines Mannes, der ihm gleichfalls Lehrer und Vorbild gewesen. Dieser Mann, dieser Vorgänger des Doktor Doyen, ist Shylock, der gelegentlich auch geneigt war, ein Pfund Fleisch herauszuschneiden, und der auch ein großer Chirurg war. 102

 


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