Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

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Steinlen

Ungefähr dort, wo im nördlichsten Paris die Viertel Montmartre und Batignolles sich zusammenschließen, steigt die Rue Caulaincourt nordwärts. Sie überschreitet auf einer langen eisernen Brücke das tiefer liegende Gräberfeld des Montmartre-Friedhofs und steigt dann wieder bergan. Aber sie kommt nicht ganz bis auf den Hügel hinauf, sie läuft ein wenig unterhalb des Gipfels am westlichen Rande der Butte Montmartre entlang, zieht einen weiten Bogen um die westliche Hälfte des Hügels und neigt sich dann, im letzten Norden, wieder zur Ebene, wo sie beinahe die alten Fortifikationen erreicht. Diese Straße, die sich wie ein Arm um den Montmartre-Hügel legt, ist dort, wo sie sich am höchsten über dem Häusermeer der Ebene erhebt, nur wenig bebaut. An ihrem westlichen Rande stehen nur wenige alte Buden, und so verhindern nur hier und da verfaulende Bretterzäune den Ausblick auf die Vorstädte, die tief unten schon jenseits der Fortifikationen aufgebaut sind, durch freies Wiesenland voneinander geschieden. Aber am östlichen Rande der Straße, der von dem engbebauten Gipfel des Hügels überragt wird, sind 41 die Häuser zahlreicher. Weißkalkige, feucht aussehende Arbeiterhäuser, wo die Trockenwäsche aus den Fenstern hängt, und dazwischen schrumplige, verwitterte, niedrige, oft nur ans Holz gebaute Baracken, bei denen irgend ein verräterisches Detail, eine alte nasenlose Marmorbüste neben der Tür oder ein bizarres Wappenbild an der Mauer ankündigt, daß dort ein künstlerisch schaffendes Wesen haust. Über der Tür der schrumpligsten, verwittertsten dieser Baracken stehen, mit Ölfarbe aufgeschrieben, die Worte: »Cats cottage«. Und in dieser kleinen Katzenhöhle lebt mit Frau und Kind Steinlen, der eine dieser drei Zeichnerchronisten von Paris, deren Namen jedes Pariser Kind weiß: Forain, Steinlen, Willette.

Nur selten trottet ein rumpelnder Karren die einsame Straße herauf. Untergefaßt, selbst in dieser Öde noch kokett sich drehend, kommen dann und wann zwei faullenzende junge Frauenzimmer und bleiben am Westrand der Straße stehen, um auf die Vororte in der Ebene hinunterzuschauen und den Bahnzug durch das blaugrüne Land schneiden zu sehen. Oder ein Trupp Bauarbeiter poltert vorbei. Oder einer jener dickhalsigen Gesellen schlendert heran, die Ballonmütze in die Stirn gezogen, die Zigarre im Mundwinkel, das Halstuch lose geknotet, die Hände in den Taschen.

Alle, die hier vorüberkommen, wissen, daß in der alten Katzenbude Steinlen haust. Hin und wieder klopft einer von ihnen an die Tür und fragt, ob man ihn nicht gebrauchen könne. Steinlen besieht sich prüfend seinen Mann, und kann er ihn gerade gebrauchen, so läßt er ihn herein. In dem kleinen Atelier, wo auf 42 allen Stühlen und in allen Ecken Katzen schlummern und schnurren – es riecht im ganzen Hause nach Katzen – muß das gewöhnlich zwanzigmal wegen nächtlicher Heldentaten vorbestrafte Modell gehorsam eine Stellung nach der anderen einnehmen. Steinlen, ein kaum mittelgroßer Mann von sechsunddreißig Jahren, mit kurzem, braunem Vollbart, blauen Augen, ganz schlichter, etwas zurückhaltender Art, spricht, während er Skizze auf Skizze hinwirft, mit seinem Modell in diesem reichen und plastischen Argot der Pariser Zuhältergilde. Und schließlich entläßt er mit einigen Sous und einem treuherzigen Händedruck seinen Mann.

Aber er bleibt nicht immer in seiner Katzenhöhle. Er streift in den Cabarets der Montmartre-Bohème herum, oder in Moulin la Galette, dem Tanzlokal vorurteilsfreiester, unterster Lebewelt, oder auf den Jahrmärkten des äußeren Boulevards. Er wandert über die von Liebespärchen, Arbeiterfamilien und Obdachlosen besetzten grünen Festungswälle, flaniert in den Außenteilen des Bois, setzt sich zwischen die blaublusigen Arbeiter in den Schenken der Vorstädte. Überall erhascht er flüchtige Skizzen.

So entstand sein Hauptwerk, entstanden diese meisterhaften, überraschend kühnen und neuen Illustrationen zu den beiden Bänden der Chansons Aristide Bruants. Und so entstanden diese unzähligen Blätter, die zumeist der »Gil Blas« veröffentlicht hat. In den Bruant-Illustrationen fixierte Steinlen diese beiden grotesken Typen: den Zuhälter und die »grue«, die Prostituierte der letzten Kategorie, die ohne Hut mit in die Stirn gekämmten Haaren in den Faubourgs herumlatscht. In 43 den Blättern des »Gil Blas« wurde Steinlen der Chronist des modernen Paris.

Da ist das ganze Paris beieinander. Da sind die eleganten Equipagen des Bois, da ist der schwere, unförmige, von drei dicken Pferden gezogene Omnibus, dessen Kondukteur der jungen kräftigen Wäscherin, die mit dem Korb am Arm ihren Weg marschiert, galant zuschmunzelt. Da ist das tanzende Paar im Moulin Rouge – das Frauenzimmer weit zurückgelehnt in dem Arm des Tänzers, der Kerl frech sich vorbeugend, mit Blicken, die nicht mehr zweideutig sind. Da ist die junge Bourgeoise mit zartem Profil, weichem Haar und neugierigen Augen, die über das Pflaster schreitet, die Röcke mit beiden Händen emporschürzend. Da ist der alte verhungerte Landstreicher, der ausgezehrt, stieräugig, mit vorgedrückten Knien seinen Weg trottet. Da sind die ganz jungen Frauenzimmer, mager, dürftig, unreif, mit Ponylocken und Stupsnasen, die mit begehrlichen Augen die Armbänder des Juwelierschaufensters betrachten, während aus dem Schatten der Straße ein alter Sünder heranschreitet: – »le vice qui vient . . .«

Und die dicke Madame ist da, deren Kleider über das Trottoir rauschen, und deren vier Kinder hinterherzotteln, während ein alter Freund, der die Frau in der Jugend geliebt und im Arm gehalten, am Wege steht und an die Vergänglichkeit von Liebe und Schönheit denkt. Und der feiste Protz, »fils de ses oeuvres«, der im Pelz, die schwere Zigarre zwischen den Lippen, vorbeistolziert, während der spitzschädlige Bettler seine triefenden Augen demütig auf ihn richtet. Und die kleine storchbeinige Balletteuse, der irgend ein alter kahler 44 Senator verführerische Worte ins Ohr flüstert. Und das Fischweib, das hinter den Körben steht, die Arme auf die dicken Hüften gestützt, den Bauch vorgeschoben, während die Haube fast in den feisten Hals gerutscht ist. Und der Concierge, der mit dem Licht in der Hand streng wie Cerberus an der Treppe steht, auf der er eben das Gas hat auslöschen wollen, während sein Mieter ein junges Mädchen, eine kleine Modistin, hinabgeleitet, die sich verschämt den Muff vors Gesicht drückt.

Keiner hat so gut den Typ dieser kleinen Modistin – »petit trottin«, wie man in Paris sagt – getroffen wie Steinlen. Viele – der Zeichner Heidbrinck besonders – haben es versucht, aber sie haben gewöhnlich idealisiert und manchmal karikiert. Sie haben aus dem »petit trottin« eine süße Puppe gemacht. Auch Steinlen sucht sich seine Modelle gewöhnlich nicht unter den häßlichsten dieser in Paris so zahlreichen Mädchen. Aber die eigentümliche herbe Schärfe und Härte seines Stifts verbannt alle Süßlichkeit. In unzähligen Blättern hat er diese »oiseaux de Paris« gezeichnet, von irgend einem »vieux marcheur«, oder einem jungen Don Juan verfolgt, und es ist gar nicht zu beschreiben, wie meisterlich er ihre zugleich eckige und elegante Art wiedergegeben hat.

Auch Kinder hat selten jemand so gut zu zeichnen gewußt wie Steinlen. Ob sie vor der Bank im Tuilleriengarten spielen, auf der die alten Herren in der Sonne beisammensitzen und plaudern, ob sie andächtig vor den Straßensängern stehen, die mit verdrehten Augen im Hof ihre sentimentalen Romanzen singen, ob sie dem 45 wandernden Handwerksburschen nachgucken – das Charakteristische in der Handlung eines Kinderkörpers, die Schwäche der Beinchen, das alles ist wie mit einem einzigen sicheren Strich herausgeholt und hingesetzt.

Diese sicheren, energischen, charakteristischen Linien erinnern an die Blätter Forains. Doch während Forain sich immer auf diese wenigen, aber vielsagenden Linien beschränkt, geht Steinlen nicht so ganz an dem Nebensächlichen vorüber. Forain gibt gezeichnete Epigramme – die Unterschriften seiner Blätter stimmen dazu. Steinlen gibt Bilder. Man könnte auch von Steinlens Bildern sagen, sie wirken in ihrer schlagenden, überraschenden, knappen Wahrheit wie Epigramme, aber es ist noch richtiger, zu sagen, daß sie dramatisch wirken. Sie wirken dramatisch, weil sie so voller energischer Bewegung sind, daß sie wie aus der Pistole geschossen erscheinen. Sie wirken dramatisch, weil alles in ihnen vorwärts zu drängen scheint, weil alles in ihnen lebt und von einer prachtvollen, oft brutalen Bewegung durchzuckt ist.

Daß es Steinlen auch darum zu tun ist, seine Blätter nicht wie gezeichnete Epigramme, sondern wie Bilder wirken zu lassen, kann man schon daraus entnehmen, daß er nie – wie Forain das tut – Figuren ohne Milieu gibt, daß er immer das Milieu zum mindesten mit ein paar Strichen andeutet. Und er hat auch da wieder eine ganz besondere Kunst, die Pariser Straße durch diese wenigen charakteristischen Striche aufleben zu lassen. Wenn man solch ein Bild vor sich hat, auf dem man von der Stadt nichts sieht, als drei Bäume, eine Gosse und etwa die Umrisse eines in der Ferne stehenden 46 Hauses, so ist gar kein Irrtum möglich: das ist Paris. Selten ist es das Paris der großen Boulevards, die eigentlich das am wenigsten Eigenartige in dieser Stadt sind. Es ist viel öfter das Paris der Vorstädte mit den hügelansteigenden alten Gassen, das Paris an den Festungswällen mit seinen breiten, öden, nur von einer langen, dürftigen Baumlinie durchschnittenen Straßen, mit seinen weiten Fernsichten über die unbebaute Ebene.

Ich erinnere mich, mit welchem Enthusiasmus Max Liebermann einmal vor einem Zeitungskiosk auf den Boulevards stand, wo der »Gil Blas« mit dem neuesten Blatte Steinlens aushing, und wie er Steinlen für den größten aller Zeichner erklärte. Und dieser Steinlen ist durch keine Akademie gegangen, nicht einmal durch eine Zeichenschule. Er ist vor sechzehn Jahren aus seiner Vaterstadt Genf – wo er viel mehr mit Literatur, als mit Zeichnerkünsten sich abgegeben – nach Paris gekommen, hat in seine Skizzenbücher eingetragen, was er um sich herum gesehen, dieses bewegungsreiche Leben, und in der fortwährenden Berührung mit diesem Leben und in der unablässigen stillen Beobachtung dieser Bewegung ist er ein großer Zeichner und ein eigenartiger Philosoph geworden.

* * *

Es gab eine Zeit in Frankreich, wo alle Ideen, die, wie man zu sagen pflegt, in der Luft zu liegen schienen, plötzlich in einer Liedzeile Form und Ausdruck fanden und nun als Wahrheiten, die jeder lange wußte und nur keiner bisher ausgesprochen hatte, von Mund zu Mund gingen. Das waren die Refrains des Vater 47 Béranger. Da war der ganze Geist der Epoche, war das gemütliche Verhältnis des braven Bürgers zum lieben Gott ausgedrückt in dem Refrain des »dieu des bons gens«.

Aber Frankreich hat auch von jeher das Glück gehabt, die Ideen, von denen die Epoche durchsetzt war, durch seine Zeichner ausgedrückt zu sehen. Henri Monnier, der Schöpfer des »Monsieur Joseph Prudhomme«, war der Béranger unter den Zeichnern – Daumier vertrat den revolutionären Geist des Jahrhunderts, Gavarni die Enttäuschung, den müden Pessimismus. Und als nach dem Kriege eine neue Gesellschaft in Frankreich geschaffen worden, traten (wenn auch nach einer gewissen Pause) wieder die Zeichner hervor, um den Geist dieser Gesellschaft zu offenbaren, und wir sehen Forain den Zerfall dieser herrschenden Klasse geißeln, sehen Willette die Opfer dieser Gesellschaft, denen er die Züge von Pierrot und Colombine leiht, in graziösen entzückenden Bildern beklagen, sehen Steinlen die Auflehnung der brutalen, rohen, nur mühsam zurückgehaltenen Kräfte verkündigen – die Auflehnung der skrupellosen Muskelkraft gegen eine im Raffinement und Wohlleben entnervte Gesellschaft.

Ein leises, halb schlummerndes Verlangen nach Energie lebt im französischen Volke, und ein wenig davon verkündet Steinlen. Er hat in der letzten Nummer des »Gil Blas« einen Seemann gezeichnet, der auf den Schiffsballen sitzt, mit untergeschlagenen Armen, ein Bild rohester, fast gemeiner Kraft, und melancholisch über das Meer hinaussieht. Es ist in diesem und in anderen Blättern Steinlens die stille Freude an den 48 gewaltigen Muskeln, an der starken Natur. Aber es ist auch eine gewisse Melancholie in ihnen – eine Melancholie darüber, daß für diese starken Naturen, diese Wilden, kein Raum mehr in der schlechtesten der Welten ist.

Der schlichte Steinlen denkt viel nach über den üblen Lauf der Dinge auf Erden. Er ist einer von denen, die ein Ideal brauchen und es noch nicht gefunden haben. Eine Zeit lang – als er das revolutionäre Blatt »Chambard« herausgab – sah er dieses Ideal in der Revolution überhaupt, offenbar weil sie Bewegung und Betätigung der Kräfte bedeutet. Welch einen Zeichner hätte in ihm eine wirkliche Revolution!

Er löst so gern auf seinen Bildern die letzten fernen Häuser am Horizont in einen feuchten, rötlichen Abenddunst auf. Das gibt der Welt dort hinten etwas Geheimnisvolles, Schicksalbergendes. Und vor diesem großen, geheimnisvoll schweigenden Hintergrunde spielen die brutalen, grundgemeinen Geschichten des Lebens sich ab . . .

Und das ist es, was Steinlen, neben seiner zeichnerischen Kunst, so hoch erhebt: er ist, um zwei dumme, mißbrauchte und mißverstandene Worte auf ihn anzuwenden, Realist und Romantiker zugleich. Sein Zeichenstift folgt dem großen Zuge des Lebens, der durch die ungeheure Stadt hingeht . . . er zeigt die rohen Leidenschaften, den Betrug, das Laster und die Enttäuschung – und er zeigt, wie durch einen Tränenschleier, in einer leichten Abendröte am Horizont, ihre unklaren Hoffnungen und ihre mystischen Träume. 49

 


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