Theodor Wolff
Pariser Tagebuch
Theodor Wolff

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Schwalben von Paris

Die galanten Chroniqueure der Boulevardblätter nennen die Arbeiterinnen der Modeateliers, die kleinen Schneiderinnen, Näherinnen, Putzmacherinnen, die »Schwalben von Paris«. Das klingt sehr zierlich und sehr kokett, und es ist eigentlich wahr, daß in dem großen Bilde von Paris diese Arbeiterinnen ein wenig wie die Schwalben sind – die Schwalben, die zu gewissen Stunden in langen Schwärmen die Straßen durchziehen, die Schwalben, die, besonders aus der Ferne, so leichtbeschwingt und graziös erscheinen, die Schwalben, von denen man bald froh bewundernd »ach, diese niedlichen Schwalben!« sagt, und dann wieder, leise bedauernd: »ach, diese armen –!« Viele moderne Zeichner haben diese kleinen Pariserinnen auf dem Papier verewigt, jeder hat sich aus dem Schwarm seinen eigenen »Typ« herausgelesen: Heidbrink das kräftige, breitschulterige Mädchen mit der losen, ondulierten, über den Ohren locker gewölbten Frisur, Steinlen das magere, blasse, frühreife Großstadtgewächs, frisiert »à la chien«, Willette das tänzelnde, elegante Watteaupüppchen mit den jungen, kindlichen Formen. Wenn man abends nach sieben durch die Rue Tronchet und die Rue Auber den großen Boulevards zuschreitet, trifft man sie alle – all diese »Typen« und noch viele andere.

50 Es ist dann, als ob eine Armee, eine weibliche Armee, sich durch die Straßen ergösse – sie überflutet das Trottoir, steigt nach Batignolles oder Montmartre hinauf, oder erstürmt die steinernen Treppen der Gare Saint Lazare, um in die entlegeneren Faubourgs oder in die Vororte zu fahren. Es kommen die verschiedensten Alter und die verschiedensten Gattungen. Es kommen blutjunge, frische, lachende, mit flinkem Gang und noch unbesiegter Fröhlichkeit, und bleiche, kränkliche, mit schiefen Hüften und gekrümmtem Rücken. Fast alle tragen auf den Schultern einen Kragen aus schwarzem Stoff, der bis zur Taille herabhängt und bald runde, jugendliche, bald magere, spitzige Schultern ahnen läßt. Die meisten haben jene halb unbewußte, harmlose Koketterie, dieses echt Weibliche der Pariserin. Andere sind weniger harmlos. Alle unterscheiden sich durch zwei Dinge von den Arbeiterinnen anderer Städte: sie sind besser frisiert und besser gestiefelt.

Die einen haben es eilig und suchen die Voranschreitenden zu überholen, andere gehen etwas gemächlicher, wenden sich erfreut um, wenn ein Herr ihnen nachblickt – neugierig zu sehen, ob der Don Juan der Straße ihnen folgen wird. Die wenigsten denken in diesem Augenblick ernsthaft an Abenteuer – sie sind fast alle nur begierig, nach Hause zu kommen. Sogar diejenigen, deren geputzte Hüte und deren perlenbesetzte Mantillen offen davon zeugen, daß sie noch andere Einkünfte haben, als die einer kleinen Arbeiterin, haben um diese Stunde meist wenig Lust, sich lange mit Torheiten aufzuhalten – sie gehen tänzelnd ihren Weg, halten das Kleid mit beiden Händen gerafft und ihre Hände 51 verraten, daß auch sie noch nicht ganz zur »feinen Welt« gehören. Aber was nicht ist, kann werden.

An der Ecke der Boulevards, bei der Oper, schwillt der Strom noch stärker an. Sie kommen aus der Rue de la Paix, aus der Avenue de l'Opera, aus der Rue du 4. Septembre. Einzeln, zu zweien, untergefaßt und in ganzen plappernden Banden. Nach ihrem Äußeren, ihrer Haltung, ihrem Blick kann man sie in Klassen einteilen – in die Klasse derjenigen, die mühselig von ihrer Arbeit leben, auf den Ehemann hoffen, der so oft nicht kommt – in die Klasse derjenigen, die einen Schatz haben, den sie lieben, von dem sie vielleicht auch erwarten, daß er sie heiratet, und der sie oft nicht heiratet – in die Klasse der Praktischen, der Streberseelen, die sich verkaufen . . . »es kann auch ein alter Herr sein!« Es ist schwer, zu sagen, welche der drei Klassen die zahlreichste ist. Fast alle haben sie einen kleinen schwarzen Pompadour in der Hand, – aber der Inhalt, die Bestimmung des kleinen Beutels ist sehr verschieden. Die einen haben in ihm ihr Frühstück zum Atelier getragen und bringen jetzt irgend eine Arbeit darin zurück, die zu Hause beendet werden soll – die anderen tragen in ihrem Beutel ein zerknittertes Briefchen, einen Spiegel und eine Puderbüchse. Man kann aus dem Inhalt des Beutels auf die Moral der Besitzerin und aus der Moral auf den Inhalt des Beutels schließen. Die Moralfrage ist nur zu oft eine Beutelfrage.

Aber wenn man ohne poetische Befangenheit ganz nüchtern diese Schar vorübereilen sieht, wieviel arme, früh vom Leben zerzauste Schwalben zählt man darunter!

* * *

52 Der ärgste Feind der Poesie ist die Statistik. Ich habe einige Zahlen zur Hand, welche besagen, wie diese Schwalben leben, und diese Zahlen klingen gar nicht poetisch. Ich verdanke sie einer Aufstellung des Akademikers d'Haussonville und einer Schrift von Ch. Benoist »Les ouvrières de l'aiguille à Paris«.

Eine Couturière, also eine ausgebildete Schneiderin – die »Apprentie«, das Lehrmädel, verdient gar nichts – steht sich, wenn sie in einem ersten Hause, zum Beispiel in den Ateliers der Rue de la Paix, arbeitet, auf etwa 1350 Franks jährlich. Sie erhält etwa fünf Franks pro Tag, während der beiden Monate der »toten Saison« nur die Hälfte. Ist sie in einem Atelier zweiten Ranges angestellt, verdient sie etwa 1000 Franks im Jahr. Das ist nicht viel, aber es gibt Schlimmeres. Und die Modistinnen, die bei den bekannteren Putzmacherinnen arbeiten, sind noch besser gestellt. Die »Apprentie« erhält nichts, die »Appreteuse« schon 25–100 Franks monatlich, die »Garnisseuse« 200 und selbst 300 Franks. Das ist einfach das große Los. Dazu kommt noch, daß in all diesen Ateliers den jungen Damen ein Dejeuner serviert wird. Und ich spreche gar nicht von den »Premieren«, diesen Künstlerinnen der Pariser Mode, die 500 Franks und mehr verdienen, den reichen Freund, den sie gewöhnlich haben (es kann auch ein Plural sein), gar nicht so notwendig brauchen und an Eleganz mit den Elegantesten ihrer Kundinnen wetteifern.

Aber dann sind da die Hemdennäherinnen, die mit 50 Centimes für das Hemd bezahlt werden und dabei oft ohne Arbeit sind – die Mädchen, die für den Engroshandel oder die Magazine mit fertigen Anzügen 53 arbeiten und mit schwerer Mühe 1,80 Franks am Tage verdienen, die Mützenarbeiterinnen, die nach zwölf Stunden täglicher Arbeit einen Wochenlohn von 11,50 Franks nach Hause tragen, die Blumen- und Federarbeiterinnen, die zwar fünf Franks am Tage verdienen können, aber nur während der Hälfte des Jahres Arbeit finden. Am besten bezahlt werden, wie man sieht, die Arbeiterinnen für Luxusartikel – der Durchschnittslohn der Pariser Arbeiterin beträgt etwa zwei Franks. Fabrikarbeiterinnen erhalten einen Durchschnittslohn von 2,50–3 Franks. Aber die Fabrikarbeit ist auch die wenigst angenehme, und wer irgend kann, sucht eine andere Beschäftigung.

Irre ich mich nicht, so sind diese Löhne der Pariser Arbeiterinnen durchschnittlich immer noch etwas höher als die ihrer Berliner Kolleginnen. Es kommt etwas anderes hinzu, das die materielle Lage der Pariser Arbeiterin erträglicher macht: Paris ist noch immer die Stadt, welche die Welt mit allen Modeartikeln versorgt, und diese Modeartikel werden ausschließlich von weiblichen Arbeitskräften hergestellt. Die Nachfrage nach Arbeiterinnen ist also größer. Aber andererseits ist das Leben in Paris auch kostspieliger als das Leben in Berlin, und eine Arbeiterin, die nicht in ihrer Familie lebt und für zwei Franks täglich wohnt, ißt und sich sauber kleidet (denn sie ist immer sauber gekleidet), ist zweifellos ein ebenso großes Finanzgenie, wie der gewaltige Turgot, der Baron Louis, Herr v. Witte oder Herr v. Miquel.

Trotzdem scheint die Pariser Arbeiterin heiterer, zufriedener und dadurch hübscher als die Arbeiterin 54 anderer Städte. Wie kommt das? Gewiß ist es zunächst eine Folge des leichteren französischen Blutes, des glücklicheren Temperaments. Aber auch andere Gründe spielen mit.

Der Arbeiter und der kleine Mittelstand sind im allgemeinen bereits besser situiert. Man ist bereits von Hause aus etwas weicher gebettet. Die Nahrungsverhältnisse in Paris sind gesünder als anderswo. Paris hat diese zahllosen »Rôtisserien« und diese zahllosen kleinen »Marchands de Vin«, bei denen man für sechzig Centimes oder für achtzig eine gesunde und nahrhafte Kost erhält. Es wird in Paris viel besser gekocht als in anderen Städten, und es ist ganz gleich, ob die Arbeiterin in ihrem Atelier ißt, oder in ihrer Familie, oder bei ihrer Concierge – sie ißt besser als die Berliner Arbeiterin. Ein anderer Grund für ihre größere Zufriedenheit: man läßt sie nach der Frühstücksmahlzeit auf die Straße hinunter. Das klingt wie nichts, und es ist enorm viel. Wer um halb eins durch die Straßen geht, in denen sich die großen Schneider- und Modeateliers befinden, sieht sie belebt von »Schwalben«. Untergefaßt, ohne Hut, das lose gesteckte Haar dem Winde preisgegeben, promeniert, lacht, schwatzt und schäkert diese junge Gesellschaft in den Straßen. Man fühlt sich frei, man macht sich Besuche und Gegenbesuche, man empfängt seinen Schatz und geht eine halbe Stunde mit ihm spazieren. Und diese halbe Stunde ist so erfrischend, daß die zehn oder zwölf Arbeitsstunden erträglicher scheinen.

Und dann ist Paris eben Paris. Diese Stadt hat sehr merkwürdige Eigenschaften. Sie wirkt wie eine Hobelmaschine, die alle Elemente, die in sie 55 hineingeraten, glättet, poliert, verfeinert. Man schicke eine Bäuerin nach Paris – sie wird nach einem Jahr bereits den »Pariser Schliff« besitzen. Und Paris wirkt auch wie eine Elektrisiermaschine. Es liegt so viel Anregung in der Luft, daß es fast unmöglich ist, hier gänzlich dumpf und stumpf zu werden. Ohne es zu wissen, fangen diese jungen Arbeiterinnen täglich tausend verschiedene Anregungen ein. Ihre Intelligenz wird geschärft, ihr Interesse für zahllose Dinge, die nicht zu ihrer täglichen Arbeit gehören, wird geweckt. Darauf, daß diese Dinge nicht zu ihrer täglichen Arbeit gehören, gerade darauf kommt es an. Man plappert in diesen Ateliers vom neuen Theaterstück, vom »Salon«, von allem, was man in der Zeitung gelesen, und was man selbst gesehen hat. Man erwirbt sich eine kleine, winzige, dünn aufgetragene, oberflächliche Bildung – aber diese kleine, oberflächliche Bildung verhindert diese Mädchen, blinde und taube Lasttiere zu werden.

In »Cyrano de Bergerac« binden die galanten Gascogner das Schnupftuch der reizenden Roxane an eine Lanze und diese improvisierte zierliche Fahne läßt sie vergessen, daß sie hungrig und müde sind – sie werfen sich begeistert in den Kampf. Man soll dafür sorgen, daß die Leute, welche arbeiten, auch zu essen haben – aber es ist sehr schön, wenn auch das kleine Schnupftuch Roxanens über ihnen weht, die kleine Fahne, zu der man von der Arbeit aufblickt, und unter der man leichter kämpft.

* * *

56 Das Buch des Herrn Benoist lehrt, daß die Arbeiterin der Pariser Modeateliers ihre ermüdende Tätigkeit selten länger als bis zum fünfundvierzigsten Lebensjahre ausüben kann. Hat sie nicht einen Mann gefunden oder einen Freund, der rechtzeitig für sie gesorgt hat, oder hat sie nicht andere Hilfsquellen, so fällt sie ins Elend, sinkt sie im besten Falle zur »apprêteuse« herab. Das Kassenwesen ist noch sehr mangelhaft, die Armenverwaltung einfach jämmerlich. Diese Armenverwaltung, der ungeheure Mittel zur Verfügung stehen, und die mit einem wahnsinnig kostspieligen Apparat, einem parasitenhaften Beamtenheere arbeitet, ist ein Kapitel für sich. Sie hat das Mittel erfunden, Millionen in nichts aufzulösen.

Aber auch da wieder greift dasselbe Paris, das so viele Wunden schlägt, mildernd ein. Weitaus das Beste in dieser Bevölkerung von Paris sind gerade die niederen Stände. Sie sind borniert, kurzsichtig, haben tausend Fehler, aber sie sind weniger egoistisch als die höheren Klassen. Besonders die Frauen des Arbeiterstandes sind gutmütig, hilfsbereit und halten untereinander zusammen. Ein bißchen Neugierde, ein bißchen Wichtigtuerei (man ist »die Reichere«!) und sehr viel Gutmütigkeit treiben sie gewöhnlich, sich der ärmeren Nachbarin anzunehmen.

Und noch etwas erleichtert das Los der Arbeiterin: die Moralheuchelei, die anderswo beliebt ist, ist in Paris weit seltener. Die weich gebetteten Pharisäer, deren Mut im Verurteilen der anderen, der vom Schicksal weniger Begünstigten, so erstaunlich ist, dominieren hier nicht. Ich weiß von Fällen, wo eine junge Arbeiterin die Bestimmung der Urmutter Eva erfüllt 57 hatte, obgleich sie ebensowenig standesamtlich mit ihrem Adam verbunden war wie das paradiesische Weib. Die junge Arbeiterin gehörte zu einem der bescheideneren Modeateliers. Ich befürchte, hätte sie in einer anderen Stadt gelebt, sie wäre an die Luft gesetzt worden, im Namen der Moral. Hier verstand das ganze Atelier, daß die höchste Moral die Menschlichkeit sei, und das ganze Atelier, die Besitzerin voran, adoptierte das Kind als die »Tochter des Regiments«.

Das sind gewiß nur einzelne Fälle und vielleicht nur Ausnahmen. Aber nicht zu leugnen ist, daß auch im allgemeinen das Pharisäertum hier nur eine geringe Macht hat. Man begreift und man verzeiht. Man findet vielleicht eine nicht völlig einwandfreie Entschuldigung, aber doch eine leise Wahrheit in dem Wort, das eine kleine Arbeiterin sagte, als ein taktloser Witzbold sie einen gefallenen Engel genannt: »Pah, wenn ich nicht nur am Rande vom Himmel gesessen hätte, wäre ich gewiß auch nicht hinuntergefallen!« 58

 


 << zurück weiter >>