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Fünftes Kapitel

Am nächsten Tage weckte sie Michalek sehr früh. Der Salon war kein Salon mehr, sondern nur eine Wirtsstube, in der sich zufällig ein elektrisches Klavier und ein paar Samtfauteuils befanden. Die Köchin, die sich an jedem Abend schon um neun Uhr zur Ruhe legte, aber immer wieder des schwarzen Kaffees wegen geweckt wurde, kniete mit verdrießlichem Gesicht am Fußboden und fegte die Zigarettenreste zusammen. Nie hatte Olga zu so früher Stunde den Salon betreten. Michalek setzte sich mit ihr an einen Tisch, forderte ihr das Buch ab, in dem die Rechnungen verzeichnet waren. Beide begannen mit leiser Stimme zu rechnen. Es war Sonntag, die Glocken läuteten. Olga sah zum Fenster hinaus, der Schnee fiel. Ein Gendarm ging vorüber und salutierte ihr. Sie lachte, aber Michaleks Gesicht drohte. Er nannte ihr genaue Zahlen, die sie in das Buch unter verschiedenen Rubriken eintragen sollte. Trotzdem er gestern abend fast unaufhörlich erzählt und getrunken hatte, wußte er von jedem Gast und jeder Flasche Bier, von jedem kleinen oder großen Schnaps. Olga hielt den Bleistift ungeschickt in der Hand, sie erinnerte sich der Zeiten, in denen sie mit dem Offizier Michalek bei Tisch gesessen und ihm gesagt hatte: »Franz, ich liebe dich; ich liebe dich, daß es mich auseinanderreißt. Sei froh, daß du niemanden so lieben mußt.«

Während sie nachdachte, feuchtete sie nach Dienstmädchenart den Bleistift mit den Lippen an. Er aber zog ihre Hand fort, der Bleistift kitzelte ihre vollen, zusammengepreßten, leicht gerunzelten Lippen. Sie lachte. Michalek sah sie erstaunt an, und plötzlich lachte auch er.

Später sagte ihr Michalek, sie möge ihren roten Seidenrock Kathinka abtreten. Er nannte das »die Uniform austauschen«. Ihre Kleider, die sie vor fünf Jahren mitgebracht hatte, lagen in einem braunen Karton auf dem Dachboden. Sie probierte sofort die alten Kostüme an. Sie waren ihr zu klein geworden, spannten unter den Achseln und auch am Gürtel. In den Ärmeln befanden sich alte Zeitungen, in der Tasche eines Kleides sogar Bonbons und eine Eisenbahnfahrkarte, auf der das eingeprägte Datum noch erkennbar war. Endlich hatte sie ein Kleid gefunden, das ihr einigermaßen paßte und das auch Michalek gefiel. Es war grau, aus warmem, molligem Stoff. Sie gefiel sich darin, der Druck an den Achseln und am Gürtelschluß erschien ihr wie eine Liebkosung. Um der Köchin eine Arbeit zu ersparen und um sich bei ihr in Gunst zu setzen, holte sie aus der Küche eine große Kanne mit Kaffee, fünf Tassen, einen Teller mit Semmeln, eine Büchse mit Gänseschmalz. Fünfzehn Stück Zucker wurden von der Köchin abgezählt und in den Kaffee geworfen. Von dem Gebrauch einer Zuckerbüchse war Michalek abgekommen, weil manche Mädchen die Gewohnheit hatten, Zuckerstücke zu sammeln und selbst zu stehlen, obwohl ihnen der Zucker die Zähne verdarb.

Kathinka und die Wienerin stritten miteinander. Die Wienerin hatte am Morgen nicht mehr einschlafen können, nun war sie grünlichblaß, und die Ringe um ihre Augen waren tief ausgehöhlt wie in Erde gegrabene Graben. Sie fürchtete, am Abend noch häßlicher auszusehen als sonst, ihre Habgier machte sie zittern. Kathinka hatte große, lustige Augen, in ihrem Gesicht waren die Narben ausgeglichen, es schien, als wäre jemand mit einem Plätteisen über ein Stück feucht zerknitterten Stoffes gefahren. Die Mädchen setzten sich um einen großen, viereckigen Tisch. Olgas Platz war zwischen Mizzi, der Wienerin, und Kathinka. Dann war noch Milena da, die Rothaarige, Gutmütige, und die schwarzhaarige Erna, die Butter zu stehlen pflegte, um sich damit heimlich die Haare einzufetten. Aber sie stahl auch andere Dinge. Einmal hatte man unter ihrem Kopfkissen Dutzende von Zigarettenspitzen gefunden, die sie nach und nach, im Laufe einer langen Zeit ihren Gästen entwendet hatte. Olga goß nun den Kaffee in die Tassen. Auf der braunen Flüssigkeit schwamm ein Stück eingekochter Sahne, ein weißes, fettiges Ding, das man die Haut nannte. Diese Haut blieb in der Kanne zurück und kam in Olgas Tasse. Michalek rief Olga an. Er kam fast nie in das Gelaß der Mädchen herein. Etwas in den Rechnungen stimmte nicht. Ihm fehlten drei Kronen, obwohl, wie sich Olga stillschweigend erinnerte, die Krone, die sie selbst am Tisch zurückgelassen hatte, mit verrechnet war. Es handelte sich um einen Rechenfehler. Michalek rechnete schlecht, sobald die Zahlen größer waren als fünfzig.

Als Olga wieder an den Tisch zurückkam, war ihre Tasse vertauscht. Die Haut schwamm in der Tasse der Wienerin. Olga nahm ruhig ihre Tasse wieder zurück, aber Mizzis Mund zuckte vor Wut.

»Was ist das für eine Art? Hier ist das Haus von Michalek! Hier bin ich zu Haus! Glaubst, du bist noch wer? Seit wann ist der ganze Schmetten dein?«

Olga begann zu zittern; ganz schwach wurden ihre Knie; sie fühlte den Boden nicht mehr unter sich.

»Gehört's mir?« fragte Mizzi und riß an der Tasse, die Olga festhielt. »Mir gehört's, meinen Schmetten muß ich haben! Nein? Und immer noch nicht? Jetzt warte, jetzt reiß ich dich mitten auseinander!... Wer bist denn du? Ich darf arbeiten, die ganze Nacht umeinandrackern, währenddem geht die gnädige Prinzessin am Gang spazieren, denkt nach, wem sie falsche Rechnungen ins Büchel schreibt? Du Dame! Du glaubst, du bist keine Dame? Weil du seit gestern in Pension gegangen bist? O du, ich kenne dich gut! Ich habe dich noch gekannt, wie du in Wien auf der Favoritenlinie mit Herren gegangen bist ... Für einen Kreuzer bist mit einem Slowaken gegangen, für ein paar ausgetretene Schuhe. Jetzt knirschst du mit den Zähnen? Da!... da sollst du sehen, ob ich Angst hab' vor dir?« und damit stieß sie die Tasse aus Olgas Händen. Der Kaffee noch ganz heiß, strömte Olga auf den Schoß. Sie stand auf, wollte hinaus. Ihre Hände zogen sich vor Wut zusammen, aber sie schlug sie nicht der Feindin ins Gesicht. Sie genoß ihre Wut und freute sich schon jetzt darauf, daß sie mit Michalek zurückkommen würde, versteckt hinter seiner Schulter. Michalek würde mit einem Schlag diesen blonden, zerzausten Menschenklumpen in die Ecke schleudern, und sie würde ganz ruhig dabeistehen, nicht allzunahe, nicht allzuweit – und etwas in ihr lächelte... Vielleicht war es nicht nur ihr Mund. Etwas war von unbekannten Wonnen ergriffen, zusammengerissen, wollüstig gepreßt um das Stück Mensch vor ihr.

»Ja,« sagte Mizzi bittend, »nicht bös sein, Olga. Das war nur ein Witz. Ich bin ungeschickt, ein blöder Tolpatsch. Nein, du bleibst hier, sagst dem Herrn nichts? Ich putz' dir die Flecken aus dem Kleid, ja? Ist nur ein alter Fetzen, ja?... Nein?... Du willst fort? Du willst mich verraten? Beim Herrn? Grad bei ihm? Ich will dir's zahlen, dein Kleid, und doch?... Du Spion, du Spitzel, du Vigelant! Alsdann geh! Fort! Schlüpf heraus, du Schlieferl! Marsch und fort! Aber gib acht auf deine Augen, wenn du wiederkommst!«

Schon war Olga an der Tür und lachte. Da warf sich Mizzi ihr nach.

»Aha jetzt,« rief sie, »hallo jetzt! Jetzt sollt ihr etwas erleben! Erst kommst du, du tückischer Polizeihund ... Jetzt werden dir deine schwarzen Zotteln ausgerissen, warte, die wachsen dir nicht mehr nach! – Du läufst weg, zu ihm, zu deinem Michalek? Schon lang nicht, du alte Haubitzen, das ist jetzt mein Michalek! Du gemeiner Fetzen, der hilft dir nimmermehr... und lachen?... lachen? Nicht winseln, nicht weinen? Und lachst du jetzt? und jetzt? Hast jetzt deine Haut? Willst noch eine Haut?... Und lachen?... und noch... und noch... und immer noch!«

Sie zuckte mit boshaft gekrümmten Fingern wie mit einer eisernen Harke Olga in die Haare. Olga wich zurück. Olgas Lachen aber lachte weiter, gegen ihren Willen. Sie dachte an Michalek. Plötzlich aber dachte sie nicht mehr. Ein wahnsinniger Schmerz krallte an ihr herab. Irgend etwas riß ihr von allen Seiten her die Hirnschalen auf. Sie atmete tief; wie ein Kind seufzte sie leise durch den noch im Lachen erstarrten Mund.

Sie sah rings um sich die Erde, von der der Staub aufstieg. Sie senkte den Kopf, fortgeschwemmt von Schmerz. Plötzlich aber züngelte Mizzi noch einmal an ihr, riß sie empor. Sie sah auf, mit großen, aufgerissenen Augen, und sah in Mizzis Hand mitten zwischen ihren vielen, gekrümmten, blinkenden Ringen ein kleines, schmales Büschel ihrer dunklen Haare. Nun wich die Betäubung. Sie schnellte empor, ganz schmal, ganz starr, wie ein Eisendraht schnellte sie sich, dunkel und scharf, gegen Mizzi, und ihre kleinen Kinderhände, nun plötzlich voll Kraft und Beweglichkeit, rissen die Feindin im Spiel an sich heran. Fremd hämmerte ihr das Herz in der Brust. Sie atmete schnell und tief, und im Grunde ihrer Brust erwachte wonnevoll ein tiefes Sehnen. Sie schlug Mizzi von der Seite, von rechts, von links, wie ein Kind einen Spielball schlägt, und wartete mit festgeschlossenen Lippen darauf, daß die andere jammere. Einmal hatte sie etwas ähnliches empfunden, vor Jahren, in dem klopfenden Schmerz einer unvergeßlichen Stunde, Schmerz nehmen und Schmerz geben war emporgeglüht aus einer andern Olga.

Wieder war ihr, als entfalte sich in ihr ein zweiter Mensch.

Sie griff mit bezwingenden Armen Mizzi an sich und dachte, es sei Michalek, ein anderer Michalek, der heute nicht mehr war. Sie sah ihn wieder vor sich, seine weichen, schon damals etwas gedunsenen Züge, auseinandergerissen, zusammengekrampft von einem schmerzungeheuren Gefühl, unbewußt seiner selbst.

Und als sie sich jetzt – steigernd schwoll und erstickend ihr Herz – über Mizzi herwarf, löste sich etwas in ihr und machte sie beseligt weinen.


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