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Gegen den Fanatismus

Der Fanatismus ist die Wirkung eines irrenden Gewissens, welches die Religion unter die Launen der Phantasie und unter die Leidenschaftlichkeit knechtet. Er kommt im allgemeinen von den Fehlern, die die Gesetzgeber machen, ihrer Beschränktheit oder ihrer Maßlosigkeit. Ihre Gesetze waren nur auf eine bestimmte Gesellschaft eingestellt. Wurden sie vom Religionseifer auf ein ganzes Volk übertragen oder durch den Ehrgeiz von Zone zu Zone verbreitet, so sollten sie sich abwandeln und sich den Umständen und den Menschen anpassen. Aber was geschah? Beschränkte Köpfe, die ganz gut passen für die kleine Herde, nehmen diese Gesetze mit Begeisterung auf, werden Apostel für sie, Märtyrer sogar, lieber als daß sie ein Jota davon abließen. Andere dagegen, weniger leidenschaftlich und mehr anhänglich an ihre anerzogenen Vorurteile, kämpfen gegen das neue Joch und wollen es sich nicht in seiner vollen Schwere gefallen lassen. Daher dann die Spaltung zwischen den Engherzigen und den Gemäßigten und der wütende Kampf der einen für die Knechtung, der andern um die Freiheit.

Denken wir uns einen ungeheuren Rundplatz, ein Pantheon Pantheon – ein auf einer idealen Kugel von 43 m Durchmesser basierender römischer Tempel des 3. Jahrzehnts. Der Schlußstein (Opaion) hat eine runde Öffnung von 9 m Ø mit tausend Altären, und unter der Kuppel Anhänger aller Sekten, verschwundener und noch bestehender, zu den Füßen der Gottheit, die sie verehren, jeder nach seiner Fasson, unter allen den seltsamen Formen, wie die Phantasie sie aushecken mochte. Rechts haben wir einen Beschaulichen, der auf seiner Matte, den Nabel nach oben gerichtet, wartet, bis das himmlische Licht von seiner Seele Besitz ergreift. Links ist ein Besessener, der am Boden ausgestreckt mit der Stirn auf die Erde stößt, um ihr ihre Fülle zu entlocken. Dort haben wir einen Hanswurst, der auf dem Grabe seines angebeteten Heiligen tanzt; hier einen Büßer, starr und stumm wie das Standbild, vor dem er sich in den Staub wirft. Der eine stellt das den Blicken aus, was das Schamgefühl verbirgt, weil Gott sich seines Ebenbildes nicht schäme; der andere verhüllt auch noch sein Gesicht, als ob der Werkmeister sein Werk verabscheue. Ein anderer kehrt dem Süden den Rücken, weil da der Teufelswind herweht; wieder einer breitet die Arme gen Osten, weil Gott da sein Strahlenantlitz zeigt. Junge Mädchen züchtigen unter Tränen ihr noch unschuldiges Fleisch, um den Dämon der sinnlichen Begierde niederzuhalten durch Mittel, die ihn eher aufregen; andere flehen in ganz anderen Posen, flehen um die Herabkunft der Gottheit. Ein junger Mann will das Werkzeug seiner Mannheit abtöten und hängt Eisenringe daran, so schwer er sie noch ertragen kann; ein anderer will die Versuchung in der Quelle selbst ersticken, nimmt eine barbarische Amputation vor und hängt die Siegesbeute seiner Opferung am Altar auf.

Und nun seht, wie sie alle zum Tempel hinausgehen, des Gottes voll, der sie umtreibt, und wie sie Entsetzen und Wahn über die Erde hin ausbreiten. Sie teilen sich in die Welt, und bald flammt das Feuer auf an allen vier Ecken; die Völker horchen auf, und die Könige zittern. Die Herrschaft eines einzigen Begeisterten über die Menge, die ihn sieht und hört, die Glut, die die Gemüter einer Gemeinschaft sich gegenseitig mitteilen, die stürmischen Erregungen, die jeder durch seinen eigenen Beitrag noch steigert, machen bald den Schwindelgeist allgemein. Ein verzücktes Volk, das hinter ein paar Schwindlern herläuft, genügt; mit der Ansteckung mehren sich die Wunder, und nun ist die ganze Welt verrückt. Hat der menschliche Geist einmal die helle Straße der Natur verlassen, so findet er sich nicht mehr zurecht; er schweift von der Wahrheit ab, läßt sich in die Irre führen von dem schimmernden Schein des Aberglaubens und taumelt nur tiefer in die Finsternis.

Es ist entsetzlich, wie die Einbildung, man könne den Himmel mit Schlächtereien versöhnen, sich, wenn sie einmal Wurzel gefaßt hat, allgemein und in fast allen Religionen verbreitet und wie man immer weiter Gründe herholt für solche Menschenopfer, damit nur ja niemand vor dem Messer sicher sei. Bald sind es Feinde, die man Mars, dem Würger, hinschlachten muß; die Scythen Skythen – südrussisches Nomadenvolk erdrosselten auf ihren Altären jeden hundertsten von ihren Gefangenen; an diesem Gebrauch des Sieges ersehe man, wie gerecht der Krieg ist; darum führte man ihn auch bei andern Völkern, nur um Opfermaterial zu bekommen; und so dienten die Kriege, die zuerst wohl Greuel sühnen sollten, zur Rechtfertigung von Greueln. Bald wieder sind es gerechte Menschen, die ein Barbarengott als Opfer fordert. Die Geten Geten – ein Reitervolk des Altertums streiten sich um die Ehre, Zamolxis Zamolxis – keltische Sagengestalt die Gelübde des Vaterlands darbringen zu dürfen. Wer vom freundlichen Geschick zum Opfer ausersehen ist, wird von den Armen der Genossen in aufgerichtete Spieße hineingeschleudert; ist der Stich der Speerspitzen tödlich, so ist das ein gutes Vorzeichen für die Gemeinde und den Mittler; überlebt er die Verwundung, so war es ein Bösewicht, mit dem die Gottheit nichts zu schaffen haben will.

Dann wieder sind es Kinder, von denen die Götter das Leben zurückverlangen, das sie ihnen eben verliehen haben; eine Gerechtigkeit, die nach unschuldigem Blut dürstet, sagt Montaigne. Montaigne – Michel Eyquem de Montaigne, franz. Philosoph, begründete die literarische Gattung des Essays, † 1533 Oft ist es das teuerste Blut; die Karthager opferten Saturn ihre Söhne, gleich als ob sie ihnen nicht rasch genug vom Tod weggerafft würden. Oft ist es das edelste Blut: Amestris, Amestris – Tochter Dareios II. die zwölf Menschen lebendig in die Erde eingraben ließ, um durch diese Opfergabe von Pluto ein längeres Leben zu erwirken, eben diese Amestris opfert eben dieser unersättlichen Gottheit noch einmal vierzehn Kinder aus den ersten persischen Häusern, weil die Opferpriester den Menschen stets zu verstehen geben, sie müssen dem Altar ihr Teuerstes opfern. Nach diesem Grundsatz schlachtete man bei einigen Völkern die Erstgeborenen, die man bei andern Völkern durch Opferspenden loskaufen konnte, die den Dienern am Altar wertvoller waren. Darauf beruht wohl in Europa der jahrhundertealte Brauch, Kinder schon fünfjährig der Ehelosigkeit zu weihen und die Brüder des Erbprinzen im Kloster einzukerkern, statt sie zu erwürgen wie in Asien.

Dann wieder ist es das reinste Blut: Da sind die Inder, die Gastfreundschaft gegen alle Menschen üben und die sich ein Verdienst daraus machen, jeden tugendhaften und gelehrten Fremdling umzubringen, der bei ihnen durchkommt, damit seine Tugenden und Talente ihnen verbleiben. Bald ist es wieder das heiligste Blut: bei den meisten Götzendienern spielen die Priester am Altar die Rolle der Henker; bei den Sibiriern bringt man die Priester um, damit sie im Jenseits als Fürbitter für das Volk wirken.

Nun aber andere Schauspiele, andere Rasereien. Ganz Europa zieht nach Asien auf Wegen, triefend vom Blut der Juden, die sich eigenhändig den Tod geben, um nicht unter dem Schwert ihrer Feinde zu fallen. Diese Massenseuche entvölkert die bewohnte Welt um die Hälfte; Könige, Priester, Frauen, Kinder, Greise, alles fällt dem heiligen Schwindelgeist zum Opfer, der zwei Jahrhunderte lang zahllose Völkerscharen auf dem Grab eines Gottes des Friedens hinmordet. Da tauchen Lügenorakel auf; kriegerische Einsiedler, Herrscher auf Kanzeln und Prälaten in Feldlagern, alle Stände verschwimmen in einem einzigen betörten Pöbelhaufen. Berge und Meere sind keine Hindernisse; man verläßt sein ehrliches Erbteil und jagt Eroberungen nach im nicht mehr gelobten Lande; die Sitten entarten unter fremdem Himmel; Herrscher plündern erst ihre Reiche, um ein Land zu erkaufen, das ihnen nie gehört hatte, und richten sie vollends zugrunde, um sich selbst aus der Gefangenschaft loszukaufen; Tausende von Kriegern irren unter vielen Führern umher, von denen sie keinen gelten lassen, und durch Abfall besiegeln sie ihre Niederlage. ...

Derselbe Geist des Fanatismus nährte die Sucht nach Eroberung ferner Länder. Kaum hatte Europa seine Verluste verschmerzt, als die Entdeckung einer neuen Welt den Ruin der unsrigen beschleunigte. Unter der schrecklichen Losung: »Geht aus und nötigt sie!« wurde Amerika verwüstet und seine Bewohner ausgerottet; vergebens erschöpfte sich Afrika und Europa, um es wieder zu bevölkern. Da das Gift des Goldes und der Sinnenlust seine entnervende Wirkung geübt hatte, so verödete die Welt und drohte noch weiter zu veröden infolge der endlosen Kriege, die die Sucht, sich auf fernen Inseln festzusetzen, auf unserem Kontinent entzündete.

Zählen wir jetzt die Tausende von Sklaven, die der Fanatismus auf dem Gewissen hat, sei es in Asien, wo das Nichtbeschnittensein Ehr- und Rechtlosigkeit bedeutete, sei es in Afrika, wo der christliche Name ein Verbrechen war, sei es in Amerika, wo das Taufsakrament der Unmenschlichkeit zum Vorwand dienen mußte; zählen wir die Tausende, die man fallen sah auf den Schafotten in den Jahrhunderten der Verfolgung, in den Bürgerkriegen durch die Hand ihrer Mitbürger, oder von eigener Hand in sinnloser Selbstpeinigung. Schauen wir über die Erde hin auf das Gewimmel von Fahnen, die im Namen der Religion entfaltet wurden, in Spanien gegen die Mauren, Mauren – islamischer Berberstamm in Nordafrika und Spanien in Frankreich gegen die Türken, in Ungarn gegen die Tataren, auf die Kriegerorden, die Ungläubige unter Schwertstreichen bekehren sollten und sich gegenseitig vor den Altären, die sie verteidigen sollten, erwürgten; und wenden wir nun unsere Blicke von diesem scheußlichen Richterstuhl, der sich über den Leibern der Unschuldigen und Unglücklichen erhebt, um die Lebenden zu richten wie Gott die Toten richten wird, aber mit ganz anderer Waage.

Mit einem Wort: alle Greuel von fünfzehn Jahrhunderten mehrfach in einem einzigen erneuert, wehrlose Völker hingewürgt am Fuß der Altäre, Könige erdolcht oder vergiftet, ein gewaltiger Staat um die Hälfte verringert durch seine eigenen Bürger, die kriegslustigste und die friedlichste Nation in sich selbst zerteilt, das Schwert gezückt zwischen Sohn und Vater, Thronräuber, Tyrannen, Henker, Vatermörder und Heiligtumsschänder, die alle göttlichen und menschlichen Verträge brechen der Religion zuliebe – das ist die Geschichte des Fanatismus.


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