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Volk und Pöbel

Dieser Aufsatz ist einem Brief an Linguet entnommen

Fürchten Sie nicht, daß das niedere Volk je Grotius Grotius – Hugo Grotius, niederl. Hugo de Groot, niederl. Rechtswissenschaftler, arbeitete auf den Gebieten des Natur- und Völkerrechts, † 1645 und Pufendorf Pufendorf – Friedrich Esaias Pufendorf, deutscher Jurist und Naturrechtsphilosoph, kreierte die Begriffe Völkerrecht und Eherecht, † 1694 liest! es langweilt sich nicht gerne. Aber unterscheiden wir in dem, was Sie Volk heißen, die Berufe, die eine ordentliche Bildung erfordern und diejenigen, die bloß die Muskeln tüchtig in Anspruch nehmen. Diese letztere Klasse ist die zahlreichste. Ihre Erholung und ihr Vergnügen ist, zum Hochamt und ins Wirtshaus zu gehen, weil man da singt, und weil sie selbst singen. Aber die gehobenen Handwerker, die schon ihres Berufs wegen nachdenken, und ihren Geist und Geschmack bilden müssen, sie beginnen in ganz Europa zu lesen. Sie kennen die Schweizer nur als Pförtner der höheren Herren in Paris oder aus Molières Possen. Was würden die Pariser für Augen machen, wenn sie sehen würden, wie in vielen Schweizerstädten und besonders in Genf die Arbeiter in den Fabriken ihre Freizeit mit Lesen verbringen! Nein, mein Herr, es ist nicht alles verloren, wenn man das Volk in den Stand setzt zu merken, daß es einen Geist hat. Aber alles ist verloren, wenn man es wie eine Herde von Stieren behandelt; früher oder später werden sie mit den Hörnern stoßen. Glauben Sie, das Volk der Rosenkriege Rosenkriege – Name des englischen Bürgerkrieges im 15. Jahrhundert um die Thronherrschaft. Kampf des Hauses York (Wappen: weiße Rose) gegen Lancaster (rote Rose). und des Revolutionskriegs in England, Revolutionskrieg in England – der englische Bürgerkrieg: er endete mit der Hinrichtung des Königs 1649 das Volk in der Zeit der Armagnacs Armagnacs – Soldaten der Grafschaft Armagnac im Hundertjährigen Krieg und der Liga Liga – die katholische Partei während der Hugenottenkriege im 16. Jahrh. In Frankreich habe gelesen und studiert? Nein, das ungebildete, wilde, rohe Volk folgte einigen fanatischen Theologiedoktoren, die schrien: Bringt alles um im Namen Gottes! Ich gehe eine Wette ein: heute könnte Cromwell Cromwell – Oliver Cromwell, Politiker und Feldherr im Bürgerkrieg, Begründer der englischen Republik (Hinrichtung des Königs Karl I. 1649), † 1658 England nicht mehr über den Haufen werfen mit seinen Galimathias; Galimathias – der oder das, sinnloses Geschwätz, Unsinn Johann von Leyden J ohann von Leyden – Jan van Leiden (eigentlich Jan Beuckelszoon oder Beukelszoon; Wiedertäufer, errichtete in Münster (Westfalen) das Königreich Zion, hingerichtet 1536 könnte sich nicht mehr zum König von Münster aufwerfen, der Kardinal von Retz keine Barrikaden mehr bauen in Paris. Nein, mein Herr, Ihnen steht es nicht an, die Leute vom Lesen abzuhalten; Sie würden zu viel dabei verlieren.

Mache immer einen Unterschied zwischen den Gebildeten, die denken können, und dem Pöbel, der dazu nicht imstande ist. Wenn die Sitte dich zwingt, dem Gesindel zuliebe eine lächerliche Zeremonie mitzumachen, und wenn dich gescheite Leute dabei betreffen, so gib ihnen mit einer Gebärde, einem Blick ein Zeichen, daß du denkst wie sie, und daß sie nicht lachen sollen. Untergrabe sachte jeden alten Aberglauben und führe keinen neuen ein. Wenn die Magd Bayles Bayle – Pierre Bayle, franz. Schriftsteller und Philosoph der Frühaufklärung, † 1706 in deinen Armen stirbt, sprich nicht mit ihr wie mit Bayle; aber auch nicht mit Bayle wie mit seiner Magd. Wenn die Dummköpfe noch Eicheln wollen, laß sie in Gottes Namen Eicheln essen; aber wehre es nicht, daß man ihnen Brot anbietet.

Wo der Pöbel lacht, stutzt der Philosoph; und wo der Pöbel seine großen, dummen Augen in Bewunderung weit aufreißt, muß der Philosoph lachen.

Wir verstehen uns nicht in Punkto »Volk«. Sie halten es für wert, aufgeklärt zu werden. Ich verstehe unter »Volk« jetzt den Pöbel, der von seiner Hände Arbeit leben muß. Ich zweifle, ob diese Schicht je Zeit und Fähigkeit haben wird, sich zu bilden. Sie würden Hungers sterben, ehe sie Philosophen würden. Es muß wohl ungebildete Bettler geben. Sie wären auch meiner Meinung, wenn Sie wie ich ein Gut zu bewirtschaften, wenn Sie Pflüge hätten. Nicht den Tagelöhner soll man bilden, wohl aber den guten Bürgersmann, den Stadtbewohner. Schon das ist eine große und schwere Sache.

Sie zitieren Herrn Chamberlan, nach dem ich geschrieben haben soll, Gott habe alle Menschen mit der gleichen Portion Intelligenz ausgestattet. Gott bewahre mich vor solchem Unsinn. Ich habe seit meinem zwölften Jahr das Gegenteil gedacht. Ich fühlte, daß ich in Mathematik nie weit kommen werde, daß ich keine Begabung für Musik habe, daß ich europäische Sprachen verhältnismäßig leicht lernte, orientalische dagegen nicht. So hat Gott jedem sein »Bis hierher und nicht weiter« gezeigt.


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