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Das Programm einer neuen Geschichtsschreibung

Geschichte habe ich zuerst für mich allein studiert und nicht für das Publikum; meine Studien waren gar nicht auf Veröffentlichung berechnet. Eine Dame, und zwar nicht die erste beste, sondern eine, die eine Zierde ihrer Zeit war und nicht nur ihrer Zeit, wollte sich mit mir in die Geschichte vertiefen, an der sie zunächst ebensoviel oder ebensowenig gefunden hatte wie der Pater Malebranche; Malebranche – Nicolas Malebranche, französischer Philosoph, † 1715 denn sie war wie dieser hauptsächlich für Metaphysik und Mathematik veranlagt. »Was hat«, so klagte sie, »eine Französin, eine Gutsherrin, davon, wenn sie weiß, daß Egli der Nachfolger des Königs Haquin in Schweden war und Ottomar der Sohn Ortoguls. Die Geschichten der Griechen und Römer las ich noch mit Vergnügen; sie boten anziehende Bilder; aber von den großen Geschichtsbüchern, die unsere neueren Völker behandeln, hatte ich noch keines zu Ende zu lesen vermocht: ein wirrer Haufe zusammenhangloser Tatsachen, tausend Berichte von Schlachten, die nichts entschieden haben und aus denen ich nicht einmal erfuhr, mit was für Waffen man sich schlug.«

»Wie wäre es,« sagte ich zu ihr, »wenn wir aus dem Wirrwarr durch Sichtung des Stoffes ein brauchbares Gebäude aufführten, wenn wir diese ebenso langweiligen wie unzuverlässigen kriegerischen Einzelheiten, alle diese Diplomatenkniffe, die doch nur Spitzbubenstreiche waren, uns schenkten, und nur die Ereignisse beachteten, in denen sich der Geist der Zeiten spiegelt? Ein umfassendes, wohl gegliedertes Gemälde der Entwicklung des menschlichen Geistes entwerfen, das hieße doch wohl nicht seine Zeit verlieren.« Das leuchtete ihr ein, und so arbeitete ich in diesem Sinne. Und so ist denn nicht ein chronologisches und genealogisches genealogisch – familiengeschichtliches Werk entstanden – daran fehlt es ja nicht –, sondern ein Bild der Jahrhunderte, wie es eine feingebildete, geistvolle Dame mit mir betrachten mochte und wie es in ihren Kreisen wohl Aufnahme finden mag. Auf diese Weise entstand der »Versuch über die Sitten und den Geist der Völker«, um diese Dame mit der Geschichte zu versöhnen, an der ihr vor allem der langweilige Einzelkram, die empörenden Lügen und die inhaltliche Darstellung in kleinlichem, barbarischem Geiste widerwärtig gewesen war. Eine großzügige, eine kritisch gesichtete, eine in philosophischem Geist gehaltene Geschichtsschreibung war unser Programm.

Ich danke Ihnen für Ihre Anekdoten aus der Türkei. Obwohl ich darüber lachen mußte, bin ich im Grund doch immer böse, daß diese beschnittenen Barbaren die Herren im Lande von Orpheus und Homer sind. Ich mag ein Volk nicht, das nur Zerstörer, nur Feind der Künste war. Ich bedauere meinen Neffen, daß er die Geschichte dieser wüsten Nation schreibt. Die wahre Geschichte ist die der Sitten, der Gesetze, der Künste und der Fortschritte des menschlichen Geistes. Die der Türken ist nur die Geschichte von Raubzügen, und ich würde gerade so gerne die Denkwürdigkeiten der Wölfe des Juragebirges schreiben, unter denen zu wohnen ich die Ehre habe. Wir müssen doch recht neugierig sein, wir Welsche Welsche – meist für Italiener gebraucht, s. a. Rotwelsch, Welschkraut und welsche Haube des Abendlands, daß wir unaufhörlich zusammenstoppeln, was man über die Völker Asiens zu denken hat, die niemals an uns gedacht haben.

Audi alteram partem, Audi alteram partem – Man höre beide Seiten! dieses Wort muß sich jeder Geschichtsforscher und Leser zum Gesetz machen.

Hätte die Liga Liga – die katholische Partei im Frankreich des 16. Jahrhunderts gesiegt, so stünde Heinrich IV. Heinrich IV. – franz. König, der erste Bourbone, spielte in den Hugenottenkriegen als Feldherr eine bedeutende Rolle, um König zu werden, mußte er zum Katholizismus übertreten. Er baute das vom Bürgerkrieg zerrüttete Land wieder auf und sicherte durch das Edikt von Nantes allgemeine Religionsfreiheit, es wurden mehrere Attentate auf ihn verübt, dem von 1610 erlag er schließlich. heute da als ein kleiner Prinz von Béarn, ein Wüstling, den die Päpste bannen mußten. – Hätte Arius Arius – vertrat die Lehre von der Wesensähnlichkeit (nicht Wesensgleichheit!) von Jesus mit Gott, seine Lehre wurde als häretisch verurteilt, † 336 seinen Gegner Athanasius Athanasius – Bischof von Alexandria, Gegner des Arianismus, † 373 auf dem Konzil zu Nicäa Konzil zu Nicaea – 325, nach der Zulassung des Christentums das erste Konzil, es tagte unter dem Vorsitz des Kaisers, der Bischof von Rom war nicht anwesend. Hier wurden die ideologischen Weichen für die Zukunft gestellt und das Osterfest fixiert. Es gibt keine direkten Aufzeichnungen. überwunden, hätte Konstantin sich zu ihm geschlagen, Athanasius gälte heute für einen Neuerer, einen Ketzer, einen maßlosen Eiferer, der Jesus zuschrieb, was ihm nicht zukam. – Die Römer haben Treue und Glauben der Karthager in Verruf gebracht. Man müßte die Archive der Familie Hannibals einsehen können, um ein Urteil zu haben. Ich würde gerne die Memoiren von Kaiphas und Pilatus Kaiphas und Pilatus – der Jerusalemer Oberpriester bzw. der Römische Gouverneur lesen können. – Ich wünschte mir die des Pharaonischen Hofes; da würden wir sehen, was Pharao sagen würde zu seinem angeblichen Befehl an die ägyptischen Hebammen, alle hebräischen Knaben zu ertränken, und welchen Wert dieser Befehl hatte, da die Juden sich immer nur jüdische Hebammen hielten.

Es ist eine wahre Freude, die Bücher der Whigs und der Tories Whigs und Tories – die Whigs sind die protestantische Partei im englischen Parlament, liberal, vertreten eine konstitutionelle Monarchie. Im Gegensatz dazu vertreten die konservativen Tories die anglikanische Kirche und die Interessen der Großgrundbesitzer. zu lesen. Hört man die Whigs, so haben die Tories England verraten; hört man die Tories, so hat jeder Whig den Staat seinen Interessen aufgeopfert. Glaubt man beiden Parteien, so gibt es keinen anständigen Menschen in der ganzen Nation. Noch netter war es in den Zeiten der weißen und der roten Rose. weiße und rote Rose – Rosenkriege, Name des englischen Bürgerkrieges im 15. Jahrhundert um die Thronherrschaft. Kampf des Hauses York (Wappen: weiße Rose) gegen Lancaster (rote Rose). Herr von Walpole Walpole – Robert Walpole, 1. Earl of Orford, englischer Premier, † 1745. Es könnte auch sein Sohn Horace W. gemeint sein, † 1797 hat wohl recht mit seinem großen Wort: Einem König, der Erfolg hat, stellen sich alle Geschichtsschreiber als Kronzeugen zur Verfügung. Der hartherzige und habsüchtige Heinrich VII. siegte über Richard III. und sofort zeichnen alle Federn, die man in England zu schneiden beginnt, Richard als ein Ungeheuer nach Leib und Seele. Er, der nach den Bildern, die man von ihm hat, ganz hübsch war, wird ein häßlicher Buckliger mit einem abstoßenden Gesicht; er hat grausame Taten begangen; man belastet ihn mit allen Verbrechen, auch solchen, die offensichtlich seinen Interessen zuwiderliefen. – Man lese die Denkwürdigkeiten der Königin Maria von Medici: Maria von Medici – zweite Gattin Heinrich IV. Nach seinem Tode führte sie die Regentschaft für ihren Sohn Ludwig XIII. Später intrigierte sie gegen Ludwigs Minister Richelieu und wurde verbannt, † 1642 der Kardinal von Richelieu Richelieu – Kardinal Richelieu, maßgeblicher Berater und Minister Ludwig XIII. † 1642 ist der undankbarste der Menschen; ein schurkischer, niederträchtiger Tyrann. Man lese, wenn man es über sich bringt, die an diesen Minister gerichteten Zueignungsschriften: er ist der erste unter den Sterblichen, ein Held, ein Heiliger sogar, der kleine Schmeichler Sarrasin heißt ihn den »göttlichen Kardinal«. Das Gedächtnis des Papstes Gregor VII. Gregor VII. – Papst, Heiliger. Das Papsttum, noch in der Karolingerzeit eine Provinzmacht und erst durch die Ottonen groß geworden, strebte nun unter ihm und gegen dieses zur Weltmacht. Es begann mit der Leugnung des uralten Rechts des Kaisers zur Bischofseinsetzung (Investitur). Heinrich IV. antwortete: » ... Du also, durch den Urteilsspruch aller unserer Bischöfe und den unsrigen verdammt, steige herab, verlasse den angemaßten apostolischen Sitz.... Wir, Heinrich, König von Gottes Gnaden, mit allen unseren Bischöfen sagen Dir: Steige herab, steige herab, der Du in Ewigkeit verdammt sein sollst.« Gregor schleuderte den Bannfluch gegen Heinrich, die deutschen Fürsten stellten sich hinter den Papst, dieser mußte sich in der Burg Canossa, wohin sich der Papst geflüchtet hatte, 1077 unter entwürdigenden Umständen vom Bann freisprechen lassen. »Die höchste weltliche Gewalt des Abendlandes lag zu Füßen eines langobardischen Handwerkersohnes.« Doch die schreckliche Waffe des Bannes stumpfte schnell ab. Heinrich berief eine Synode nach Brixen, diese setzte Gregor ab, der 1085 im Exil starb. Seinen Anspruch als Herr der Welt hatte G. 1075 im »Dictatus Papae« niedergelegt, in diesem hieß es »... Der Papst ist der oberste Herr der Welt. Er allein trägt kaiserliche Insignien (nämlich den Kronreif der Tiara) ...« ist den Franzosen und Deutschen ein Greuel; in Rom wird er heilig gesprochen.


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