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Die Unterirdischen

Der kleine Hans hatte einen wichtigen Posten, denn obwohl er nur zwölf Jahre zählte, war er doch schon Kuhhirt. Sieben schöne, bunte Kühe, die seinem Vater, dem Grundbauern, gehörten, hatte er unter seiner Obhut und mußte dafür sorgen, daß sie ihr Recht bekamen und ordnungsmäßig auf die Weide geführt wurden. Hans war sehr zufrieden damit, denn das Geschäft gefiel ihm wohl. Die Weide war von Wasser, Wald und Wiese und an der anderen Seite von dichten Hecken begrenzt, in denen Nußbüsche, Weißdornen, wilde Rosen, Berberitzen, Brombeeren und andere Feldsträucher üppig wuchsen und ihm selbst im Sommer und Herbst reiche Weide darboten. Er hatte niemals Langeweile, denn wenn ihm auch die Kühe nicht viel Arbeit machten, so fand er doch immer genug zu tun, zu bauen, zu schnitzen, zu träumen und zu denken. Er konnte alle Künste, die die Kinder auf dem Lande lernen. Im Frühjahr schnitt er sich Weidenstäbe und klopfte sie so lange, bis die Rinde losließ und man das schneeweiße Holz leichtlich herausziehen konnte. Dann machte er Flöten daraus, lauter verschiedene, manche mit feinen, manche mit groben Tönen. In einige sperrte er eine Erbse hinein, indem er die hintere Öffnung mit einem Pflock verschloß; dann trillerte sie, wenn man darauf pfiff. Er schälte auch die Weidenstöcke spiralig oder sonst mit bunten Zeichnungen, wie es ihm die Laune eingab. Er konnte Schalmeien machen von gewickelter Baumrinde, auf denen er wie auf einem Waldhorn zu blasen verstand. Wenn er sie nicht brauchte, mußten sie im Wasser liegen, damit sie nicht zusammentrockneten und ihre Form verloren. In den Hecken wuchs auch Holunder, der lange gerade Schößlinge emportrieb, aus denen sich treffliche Knallbüchsen und Wasserspritzen machen ließen, und aus den verzweigten Stämmen des Wacholders flocht er Peitschenstiele, die schwank und zäh zu gleichen Teilen waren. Er besaß auch einen Bogen aus dem elastischen Holz eines Eschenschößlings und Rohrpfeile dazu, die vorn, damit sie schwerer wurden, in heißen Teer getaucht und dann in Sand umgedreht waren. Himmelhoch konnte er damit schießen. Am Wasser, wo der kleine Quellbach hineinmündete, war eine ganze Hafenanlage für Schiffe aus Tannenborke, und den Quell selbst hatte er mit Steinen und Grassoden künstlich abgedämmt, so daß ein kleiner Wasserfall entstand, bei dessen murmelndem Rauschen sich eine Mühle, die auf Drehzapfen von Stecknadeln lief, unablässig bewegte.

Was er an Winterabenden in Büchern, die der Sohn des Pfarrers ihm lieh, gelesen hatte, das spielte er im Sommer. Er ging auf die Löwenjagd und erlegte dieses reißende Tier, das durch einen alten morschen Baumstumpf dargestellt ward, mit einem wohlgezielten Pfeilschuß. Er bestand die gefährlichsten Kämpfe mit eingebildeten Indianern und baute sich aus Grassoden und Weidengeflecht eine Räuberhöhle, vor deren Eingang er an einem lodernden Lagerfeuer Kartoffeln in der Asche briet.

Am schönsten aber war es doch immer im Frühjahr, wenn die Vögel ihre Nester machten. Da entging ihm wohl keines in dem ganzen Revier, er wußte und beschützte sie alle. Die Lerchen bauten ganz auf der flachen Erde, plötzlich hinter einer Erdscholle war eine kleine, sauber austapezierte runde Mulde in den Boden vertieft, und auf dem Grunde lagen die graugesprenkelten Eier. Das Goldammernest stand schon höher, am Grabenufer im Grase unter einem kleinen Busch, der sich darüber hinneigte, und die Eier waren wie mit einer fremden, unbekannten Schrift gestrichelt und gesprenkelt. In den Dornbüschen der Hecke bauten die Hänflinge und die Grasmücken und in dem Holzhaufen, der am Waldrand in der Nähe des Wassers stand, die gelbe Bachstelze. Später, wenn das Schilf emporgewachsen war, hängten auch die geschwätzigen Rohrsänger ihre niedlichen Flechtkörbe zwischen den Rohrhalmen auf, und einmal fand er auch im Weidendickicht an einem Zweige das kunstvolle Hängenest der Beutelmeise, das ihm wie ein halbes Wunder vorkam. Er besaß ein Blasrohr, und damit schoß er nach den Neuntötern, denen er auch die Nester zerstörte, wo er sie fand, denn er wußte wohl, daß dies arge Räuber waren, die den anderen kleinen Vögeln die nackten Jungen stahlen und sie auf Dornen spießten, um sie besser verzehren zu können. Wenn so einer auf einem vorspringenden Zweige der Hecke saß, sich im Winde wiegte und nach Raub spähte, so konnte er sich nur in acht nehmen vor Hans, der im Schutze der Hecke heranschlich, um ihm das Lebenslicht auszublasen.

Auch Peter, der Sohn des Nachbarn, mochte sich wohl vorsehen, sich in solcher Zeit an diesem Orte blicken zu lassen. Dieser war in allem das Widerspiel zu Hans und hatte die größte Freude an boshaften und schlechten Streichen. Er war ein viel ärgerer Nesträuber als der Neuntöter und vernichtete aus bloßer Freude am Zerstören alle die zierlichen und mühsamen Bauten der kleinen Vögel, die er fand, und nahm ihnen die Eier fort. Waren dagegen schon Junge in den Nestern, so fühlte er kein Mitleid mit dem kläglichen Geschrei der kleinen gefiederten Eltern, sondern hatte seine teuflische Freude daran, ihre nackten Kinderchen an Schlingen von Grashalmen rings um das Nest her aufzuhängen. Bei einer solchen schändlichen Tat hatte ihn einst Hans überrascht und war in einen für seine sanfte Gemütsart ganz ungewöhnlichen Zorn geraten. Er sprang ihm ohne weiteres an die Kehle, warf ihn zu Boden und zerbläute ihn dermaßen, daß sich Peter in der Folge niemals wieder in seine Nähe wagte und seine Gesinnung nur zuweilen kundgab durch einen heimtückisch aus der Ferne geschleuderten Stein, der Hans oft dicht am Kopfe vorbeibrummte.

Der Lieblingsplatz des kleinen Kuhhirten war ein niederer, mit Buschwerk bewachsener Hügel, auf dem einige mit Moos und Flechten bedeckte Steine lagen. Hier saß er gern, wenn sich die Sonne am Abend aus Wolken ein goldenes Schloß baute, in dem sie zur Ruhe ging. Die Leute in dem Dorfe sagten, in dem Hügel wohnten die Unterirdischen, und wußten allerlei Geschichten von ihnen Zu erzählen. Die Unterirdischen waren kleine graue Männchen und Weibchen von gutmütiger Natur; sie konnten aber sehr böse werden, wenn man ihnen ein Leid antat oder sie verspottete, und pflegten sich dann empfindlich zu rächen.

Mancherlei Geschichten wurden von ihnen im Dorf erzählt. Eine alte Frau wollte als junges Mädchen einmal in der Morgendämmerung gesehen haben, wie sie Wäsche auf dem Hügel aufgehängt hatten, lauter kleine Hemdchen und Höschen, so niedlich wie Puppenzeug, und ein alter Bauer bewahrte in einer Schachtel, sorglich in Watte gewickelt, ein goldenes Tellerchen, das sein Urahn von den Unterirdischen erhalten haben sollte. Hans aber, so oft er auch auf dem Hügel gesessen und seine Spiele betrieben hatte, war niemals etwas von ihnen gewahr geworden, so daß er zuletzt gar nicht mehr an sie dachte.

Eines Abends saß er wieder dort und schaute in die untergehende Sonne. Es war so still, daß man die fernen Stimmen der spielenden Kinder im Dorfe vernehmen konnte und das Klappern eines Wagens, der weit hinten auf der Landstraße fuhr. Als Hans nun friedevoll in das Farbengetümmel von Rot und Gold blickte, in dem die Sonne zur Ruhe ging, wisperte und knisperte es plötzlich hinter dem großen Felsblock, der ihm zum Ruhesitz diente, allein er achtete nicht darauf, weil er dachte, es seien Mäuse. Aber plötzlich fuhr er zusammen, denn ein feines silbernes Geklimper erhob sich, als wenn jemand auf einer kleinen Harfe spielte, und nach einer Weile ertönte ein herrlicher, wundersamer Gesang von zarten Stimmchen, der also lautete:

»Sinkt der Tag in Abendgluten,
Schwimmt das Tal in Nebelfluten!
Lonilora!

Heimlich aus der Himmelsferne
Blinken schon die gold'nen Sterne!
Lonilora!

Flieg zu Nest und schwimm zum Hafen!
Gute Nacht, die Welt will schlafen!
Lonilora!«

Zwischen jedem Verse war eine Pause, die durch das liebliche Geklimper der Harfe ausgefüllt wurde. Seltsam war es Hans jedoch, daß ihm an dem Schlusse jeder Strophe etwas zu fehlen schien. Schon bei der zweiten hatte er unwillkürlich in Gedanken ein klingendes Wort hinzugefügt, das ihm in den Sinn kam, und ihm deuchte, das Lied würde dadurch viel schöner und anmutiger. Als daher der Gesang nach einem kleinen Vorspiel von vorn begann:

»Sinkt der Tag in Abendgluten,
Schwimmt das Tal in Nebelfluten!
Lonilora!«

setzte er, fast ohne es zu wollen, mit sanfter Stimme hinzu: »Durandora!«

Eine Weile war es ganz still; dann erschallte ein überraschtes, freudiges Gekicher, und einzelne Stimmchen wiederholten mit vergnügtem Ausdruck: »Lonilora! Durandora!« Sie schienen davon über die Maßen befriedigt zu sein. Schnell begann das Harfenvorspiel wieder, und nun wiederholten sie das ganze Lied mit dem neuen Zusatz, und nach jeder Strophe erschallte wieder das freudige Gelächter; die Stimmchen schwatzten verwirrt durcheinander; sie fanden das Lied nun noch einmal so schön wie früher.

Nach dem Ende des Gesanges waren plötzlich eine Menge kleiner Männchen um Hans herum; er begriff gar nicht, wo die so plötzlich alle hergekommen waren. Sie riefen: »Dank, du feiner Knabe! Goldmund sollst du heißen! Goldmund sollst du bleiben!« Und damit kletterte eines von ihnen flink wie ein Eichhörnchen zu Hans empor und küßte ihn auf den Mund. Dann klatschten alle in die Händchen und riefen: »Goldmund! Goldmund!« und sangen: »Lonilora! Durandora!« Und so plötzlich, wie sie gekommen, waren sie auch wieder verschwunden. Hans hörte nur noch ein Klingen und Summen innerhalb des Hügels, und dann war alles still.

Er trieb seine Kühe nach Hause und erzählte, was sich ereignet hatte. Als er aber seine Stimme erhob, um das Lied zu singen, das er von den Unterirdischen gehört hatte, da erstaunten sein Vater und seine Mutter und alle, die zugegen waren, denn wie Gold klang es aus seinem Munde, und man erkannte die köstliche Gabe, die die kleinen Männchen ihm geschenkt hatten.

Am anderen Morgen war die Geschichte im Dorfe bekannt geworden, und jeder wollte Hans singen hören. Sie konnten gar nicht genug davon bekommen und nannten ihn von dem Tage ab Hans Goldmund. Zuletzt hörte auch der Graf davon und ließ den kleinen Sänger aufs Schloß holen. Als er ihn singen hörte, ward er so gerührt, daß ihm die Tränen die Backen hinabliefen, und er sagte: »Mein Sohn, du hast eine goldene Gabe, ich will sorgen, daß sie der Welt nicht verloren geht.«

Er veranlaßte, daß der Knabe in die Residenz kam und vor dem König singen mußte. Dieser behielt Hans an seinem Hofe und ließ ihm die allerbesten Lehrer geben, so daß er bald in der Kunst des Gesanges nicht mehr seinesgleichen hatte.

Das Nachbars Peter wurde Tag und Nacht vom Neide gepeinigt, als er von diesem außerordentlichen Glück erfuhr, und verfiel schließlich auf den Gedanken, ebenfalls sein Heil bei den Unterirdischen zu versuchen. An einem schönen Märzabend bei Sonnenuntergang ging er hinaus und setzte sich auf den Hügel. Nicht lange hatte er gewartet, da hörte er, gerade wie Hans, ein Wispern und Knispern hinter dem Felsblock, dann begann das Vorspiel, und bald folgte der Gesang:

»Sinkt der Tag in Abendgluten,
Schwimmt das Tal in Nebelfluten!
Lonilora! Durandora!«

Noch fiel ihm nichts ein, aber er würde es bald haben, dachte er. Die Unterirdischen fuhren fort:

»Heimlich aus der Himmelsferne
Blinken schon die gold'nen Sterne!
Lonilora! Durandora!«

Peter hatte es: »Knattrabums!« rief er plötzlich.

Da erschallte ein vielstimmiges Wehgeschrei hinter dem Stein, und plötzlich waren die kleinen Männchen um ihn herum und schauten mit zornigen Gesichtern zu ihm auf. Sie riefen: »Pfui, du grober Tapps! Pechmaul sollst du heißen! Pechmaul sollst du bleiben.«

Dann lief es flink wie eine Ratte an ihm in die Höhe, er fühlte einen Schlag auf seinen Mund, der ihm durch alle Glieder ging, und fort waren die Männchen wie weggeblasen.

Als er nach Hause kam und erzählen wollte, was er erlebt hatte, da konnte er kein Wort ohne Stottern hervorbringen; die Leute lachten ihn aus, und er hieß fortab Peter Pechmaul. Es ist nichts Gutes aus ihm geworden, Wie er sich früher an den unschuldigen Tieren verging, so hat er sich später an Menschen vergriffen und ist ein Räuber und Dieb geworden. Zuletzt haben sie ihn gefaßt und ihn an einen schönen hohen Galgen gehängt.

Hans aber ist ein großer Sänger und berühmter Mann geworden. Die Leute haben ihm viele hundert Taler gegeben, um ihn nur einmal singen zu hören. Wenn er ins Dorf kam, um seine Eltern zu besuchen, so fuhr er in einer vergoldeten Kutsche mit vier schneeweißen Schimmeln davor. Jedesmal ging er dann um Sonnenuntergang hinaus an den kleinen Hügel und lauschte, ob er den Gesang der Unterirdischen nicht wieder vernehmen möchte. Sie ließen sich aber niemals wieder hören. Die Leute meinten, der grobe Peter habe sie mit seinem »Knattrabums« für immer vertrieben.


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