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Die schwimmende Insel

Zu einer Zeit, da es in Deutschland noch weit größere Wälder gab als heutzutage, lebte als Verwalter in einem alten, verfallenen Jagdschlosse am Ufer eines mächtigen Sees ein Mann mit seiner Frau und seinem Sohne Fridolin. Der Vater des Grafen, dem dieses Schloß und der ungeheure Wald, der es umgab, gehörte, war früher alljährlich im Herbst auf einige Wochen zur Jagd dort gewesen und hatte mit seinen Freunden und Genossen ein wildes Leben in die sonst so einsamen Räume gebracht; allein seit er gestorben war, kam niemand mehr dorthin, denn sein Sohn, der jetzige Graf, liebte die Jagd nicht und verzehrte die Einkünfte seiner großen Güter in der Hauptstadt und auf Reisen in fremde Länder. Wäre nicht von Zeit zu Zeit ein benachbarter Jäger, der die Aufsicht über diesen Teil des Forstes hatte, gekommen, so hätten die Insassen dieses alten Schlosses wohl wenig oder gar nichts von der übrigen Welt erfahren.

Dieser alte Jäger war der Pate des kleinen Fridolin und liebte den Knaben sehr. Er nahm ihn mit in den Wald und lehrte ihn die Gewohnheiten der Tiere kennen und die Eigenschaften der Pflanzen und Bäume. Zudem steckte er voller Geschichten von Jagden und Abenteuern und wußte alle Sagen und Märchen aus der ganzen Umgegend zu erzählen, und tat dies so oft, daß Fridolin bald ebenso gut darin bewandert war wie er selbst. Wunderliche Geschichten waren darunter. In der Nähe des alten Jagdschlosses stand eine uralte Eiche, in deren Wipfel ein schwarzer Storch sein Nest hatte. »Das ist schon von alten Zeiten her dort«, sagte der Jäger. »Früher, als das Schloß noch häufig von den Grafen besucht wurde, war ein alter Diener hier, der auf dem Schlosse geboren und erzogen worden war. In seinen jungen Jahren nahm ihn der Großvater unseres jetzigen Grafen mit auf eine Reise ins Morgenland, und da sind sie auch nach Afrika gekommen, wo es Leute gibt, die auf dem ganzen Leibe schwarz sind. Als er nun eines Tages am Hafen herumspaziert und sich die ausländischen Schiffe und das wunderliche Volk ansieht, das sich da herumtreibt, da ruft eine fremde Stimme auf einmal seinen Namen: ›Guten Tag, Johann! Wie kommst du hierher?‹

Als er sich verwundert umsieht, da steht auf einem Schiffe so ein langbeiniger Schwarzer und nickt ihm zu und ruft: ›Na, du kennst mich wohl nicht? Ich bin der schwarze Storch bei dir zu Hause. Im Winter flieg' ich nach Afrika und lebe hier als Mensch!‹

Dem Johann ist das graulich gewesen, es ist ihm kalt den Rücken herabgelaufen, und er ist schnell fortgegangen. Der schwarze Kerl aber hat gelacht und mit den weißen Zähnen geklappert, gerade wie ein Storch, und ihm noch nachgerufen: ›Adieu, Johann! Auf Wiedersehen in der Heimat!‹« Es war natürlich, daß Fridolin den schwarzen Storch wegen dieser Geschichte für ein sehr merkwürdiges und geheimnisvolles Tier hielt, und lange konnte er auf der Turmgalerie des alten Schlosses sitzen und nach der mächtigen Eiche hinüberschauen und zusehen, wie die alten Störche ihren Jungen aus dem benachbarten Moorsumpf Futter brachten. Viel mehr aber noch als diese Geschichte gefiel ihm die Sage von der schwimmenden Insel, die ihm der alte Jäger nicht oft genug erzählen konnte. Auf dem See, der so mächtig groß war, daß man seine gegenüberliegenden Ufer auch an den klarsten Tagen nicht zu erblicken vermochte, sollte sich zuweilen an schönen Sommertagen eine überaus herrliche Insel zeigen, die langsam wie ein Schwan über die spiegelklare Flut dahinzog und sich allmählich im Dämmer der Ferne verlor. In früheren Jahren wollten sie manche gesehen haben, und ein alter Fischer hatte dem Jäger oftmals erzählt, wie er einmal als junger Mensch an einem heißen Julitage in seinem Kahn mitten auf dem See eingeschlafen und von einem herrlichen Singen und Klingen, das wie lautere Himmelsmusik getönt habe, wieder erwacht sei. Das sei von der schwimmenden Insel gekommen, die nicht ferne von ihm vorübergezogen sei. Schöne Menschen in leuchtenden Gewändern seien dort unter blühenden Fruchtbäumen umhergewandelt, und Jünglinge und Jungfrauen mit Gesichtern so rosig wie Apfelblüte und Haaren gleich gesponnenem Golde, in kleinen Schiffchen sitzend, die von Lasur und Perlmutter glänzten, hätten die Insel spielend umschwärmt und sich unablässig glänzende Früchte im Fangespiel zugeworfen, so daß die Luft wie von einem goldenen Regen erfüllt gewesen sei. Dazu hätten sie jenen lieblichen Gesang vollführt, während andere auf schimmernden Saiteninstrumenten Musik machten. Das Sonderbarste aber sei gewesen, daß sie gar keine Ruder zur Fortbewegung gebraucht hätten, nur vorn an der Spitze des Schiffes habe ein feiner Schleier so zart wie ein Hauch geweht, und es sei gewesen, als habe dieser die zierlichen Fahrzeuge nach sich gezogen. Und weiter hatte der Fischer erzählt, er habe ganz starr und mit offenem Munde diese Wunderdinge betrachtet, indes alles langsam in die Ferne gezogen sei. Dann habe sich ein leichter, bläulicher Dunst um die Insel verbreitet, bis das ganze Abenteuer darin eingehüllt gewesen und nur noch ein liebliches verworrenes Tönen zu ihm gedrungen sei. Sodann sei auch dies verstummt, der Dunst habe sich verzogen, und rings sei weiter nichts gewesen als die leere Luft.

Diese wunderbare Geschichte trug Fridolin stets in seinem Sinn, und nichts Herrlicheres hätte ihm begegnen können, als wenn er selbst einmal dieses Anblickes teilhaftig geworden wäre. Aber sooft er auch an schönen Sommertagen von der Turmgalerie des Schlosses auf den See hinausspähte oder in dem kleinen Boote seines Vaters bei stillem Wetter weit hinausfuhr, niemals konnte er auch nur einer Spur dieses Seewunders ansichtig werden. Seltsame Anzeichen stellten sich aber öfters ein. Es begab sich zuweilen, wenn er an dem mit glänzenden Kieseln und zarten Muscheln bedeckten Ufer des Sees entlangging, daß, besonders wenn vorher ein Sturm gewesen war, eine Blume von wunderlicher Art und besonderer Pracht von den Wellen ans Ufer geworfen ward oder ein Apfel von seltenem Duft und zarter Farbe, dergleichen Gewächse also köstlich in der ganzen Gegend nicht gediehen. Stellte man eine solche Frucht auf den Sims, so ward das ganze Zimmer von ihrem lieblichen Wohlgeruch erfüllt, und ihr Geschmack war frisch wie Morgentau und süß wie Blumenduft. Solche merkwürdigen Funde, die doch nur von der schwimmenden Insel kommen konnten, erweckten die Sehnsucht Fridolins immer wieder aufs neue und bestärkten ihn in dem Vorsatz, den er schon früh gefaßt hatte, nämlich, wenn er erwachsen sei, dieses Wunder um jeden Preis aufzusuchen und seines Anblickes teilhaftig zu werden.

*

Indes war Fridolin fünfzehn Jahre alt geworden und half den Eltern bei der Bestellung des Gartens, der sich von dem Jagdschlosse zum See hinabzog, und bei der Bearbeitung des kleinen Feldes, weshalb er nicht mehr soviel Zeit zu träumerischem Sinnen fand als früher. Aber sein Lieblingsplatz in freien Stunden blieb immer die Galerie des alten Turmes mit dem ungehinderten Blick über das Wipfelmeer des Waldes und den unbegrenzten See.

Als er hier an einem stillen heißen Junimittag saß und seine Blicke über die glatte Wasserfläche schweifen ließ, bemerkte er plötzlich in der Ferne etwas wie einen kleinen Kahn, der regungslos auf dem Seespiegel lag. Kein Mensch war darin zu bemerken, und es ging ein Schimmern und Glänzen von ihm aus, das Fridolin gar seltsam und wunderlich vorkam. Sodann erhob sich ein leichter Wind, der lange matte Streifen in den glatten Schimmer des Sees kräuselte und das fremde Gefährt langsam vor sich hertrieb. Fridolin verließ eiligst den Turm, lief an das Seeufer zu dem Boot seines Vaters, kettete es los und trieb es mit eiligen Ruderschlägen auf den Ort zu, wo er das Fahrzeug bemerkt hatte. Als er näher kam und das Ding sich deutlicher abhob, bemerkte er mit Verwunderung, wie das winzige Schiffchen prächtig von Lasur und Perlmutter glänzte und überaus zierlich und schön gebaut war. Voller Ungeduld stellte er sich auf seine Füße, um zu sehen, was darin sei, und bemerkte etwas, das wie Gold und Apfelblüte schimmerte. Mit schnellen Schlägen trieb er das Boot näher herzu, indes sein Herz vor Aufregung pochte und das Blut ihm ins Gesicht stieg, denn eine seltsame Vermutung hatte sich seiner bemächtigt. Als er sein Fahrzeug sanft an die Seite des glänzenden Schiffleins getrieben hatte und hineinschaute, sah er ein junges wunderschönes Mädchen mit Haaren wie gesponnenes Gold und einem Antlitz wie Apfelblüte, das auf dem Boden des Kahnes mit dem Kopf auf einem Kissen von hellblauem Sammet lag und schlief. Sie war angetan mit einem weißen schmiegsamen Kleide, das an den Ärmeln, am Halse und an seinem unteren Saume mit zarter goldener Stickerei geschmückt war, und auf dem Haupte schimmerte ein zierliches Krönlein, aus dem sich ein silberner Schwan von der feinsten und künstlerischsten Arbeit hervorhob. Fridolin verging fast der Atem vor Andacht, als er diese über die Maßen schöne Erscheinung mit staunenden Augen betrachtete. Indessen aber war eine Wolke vor die Sonne gezogen, und deswegen ging eine Kühlung und ein verstärkter Windzug über den See. Die Fahrzeuge schwankten stärker, und es lief etwas wie ein leiser Schauer durch die Glieder der Schlafenden. Dann bewegte sie den Arm, öffnete die dunkelblauen Augen und schaute mit einem verwirrten Blick auf Fridolin. Plötzlich schien sie sich ihrer Lage bewußt zu werden, erhob sich schnell auf ihre Knie und spähte mit den Anzeichen eines tödlichen Schreckens nach der Spitze ihres Kahnes und betastete sie mit zitternden Händen, indem sie offenbar dort etwas zu vermissen schien, dem sie große Wichtigkeit beimaß. Doch ihr Suchen war vergeblich, sie rang stumm die zarten Hände und ließ die irrenden Blicke über die einsame Fläche des Sees schweifen. Sodann hielt sie, noch immer kniend, Fridolin flehend die Hände entgegen und sah ihn mit hilfesuchenden Blicken an. Dieser empfand bei den kläglichen Gebärden der schönen Fremden ein solches Mitleid, daß er gern sein Herzblut für sie hingegeben hätte, wenn er hätte helfen können. Da sie aber auf seine Fragen nicht antwortete, sondern nur die Finger zum Zeichen, daß sie schweigen müsse, auf den Mund legte, so fand er keinen besseren Rat, als daß er das fremde Schifflein an sein Boot hängte und damit nach Hause zurückfuhr. Die Fremde drückte beide Hände vor das Angesicht und fügte sich ohne Widerstand in ihr Schicksal.

Fridolins Eltern waren aufs äußerste erstaunt, als er mit dem seltsamen Gefährt und seiner Insassin bei dem alten Jagdschlosse anlangte. Das schöne Kind schien sich in das Unvermeidliche gefunden zu haben; die Anzeichen von Furcht und Trauer hatten sich aus ihrem Antlitz verloren und dem Ausdruck einer stillen Ergebenheit Platz gemacht. Ihre übernatürliche Schönheit aber ließ kaum zu anzunehmen, daß man es mit einem irdischen Wesen zu tun habe. Etwas wie ein himmlischer Schein ging von ihr aus, Unschuld und göttliche Anmut waren gleich einem zarten Hauche um sie verbreitet, und in ihrer schimmernden Kleidung und mit dem goldenen Krönlein auf dem Haupte sah sie eher wie eine Königstochter aus dem Feenlande als wie ein Kind dieser Erde aus. Die beiden Alten empfanden etwas wie stumme Ehrfurcht vor dieser Erscheinung, es war ihnen wirklich, als sei eine Prinzessin in ihr armes Haus eingekehrt, und sie waren alsbald bemüht, dem fremden Mädchen zu tun, was sie ihm an den Augen absehen konnten und für eine gastliche Aufnahme zu sorgen, soweit es in ihren geringen Kräften stand.

*

Einige Tage vergingen, die Fridolin in späterer Zeit immer als die glänzendsten und schönsten seines Lebens vor Augen standen. Zwar zeigte das Antlitz seiner schönen Gespielin fast immer eine sanfte Schwermut, die nur selten durch den Schimmer eines freundlichen Lächelns erhellt wurde, allein ihm genügte es, um sie zu sein, ihr zu dienen und sie zu beschützen und zuweilen einen freundlichen Dankesblick von ihr zu erhalten. Er ruderte sie alle Tage weit auf den See hinaus, denn dort schien es ihr am besten zu gefallen. Sie saß dann vorn im Boot und spähte mit sehnsüchtigen Blicken in die Weite. Niemals aber schien sie zu finden, was sie suchte, und wenn dann Fridolin das Boot zum Jagdschloß zurücklenkte, schien sie noch trauriger zu sein als gewöhnlich. Er streifte mit ihr weit im Walde und am Seeufer umher und zeigte ihr die Stellen, wo die süßesten Erdbeeren und die seltensten Blumen standen. Dabei war es seltsam, daß nie ein Stäubchen Irdisches an ihr haften blieb, ob sie gleich zuweilen durch Moor und Bruch und feuchten Grund wanderte. Ihr schimmerndes Kleid war stets von derselben schneeigen Reinheit und ihre goldbeschuhten Füße immer von demselben fleckenlosen Glanze. Die Sonne brannte sie nicht, und der Regen glitt schadlos von ihr ab. Kein Dorn hielt ihr Kleid zurück, keine Nessel brannte sie jemals, und keine Mücke wagte es je, sich auf ihre reine Haut zu setzen. Aber ihr Antlitz, das zu Anfang in seiner Farbe der Apfelblüte geglichen hatte, erbleichte immer mehr im Laufe des Tages, bis es an Weiße dem schimmernden Schnee glich, denn das Heimweh und die Sehnsucht nach den verlorenen Freunden und Verwandten nagte offenbar am Herzen der Fremden.

Eines Tages, als es zu gefährlich war, auf den See hinauszufahren, weil sich in der schwülen Luft ein Gewitter zusammenbraute und ein Sturm in Aussicht stand, fiel Fridolin sein alter Lieblingsplatz auf dem Turm ein, den er in dieser ganzen Zeit vernachlässigt hatte. Er führte das Mädchen dort hinauf, und dieses war glücklich, wenigstens von hieraus die Blicke über den geliebten See schweifen zu lassen. Kaum hatten sie dort einen Augenblick gestanden, als in der Nähe ein starkes Klappern ertönte, worauf sich die Fremde wie in freudigem Schreck plötzlich umwandte und den schwarzen Storch erblickte, der auf seinem Neste stand. Die Fremde war auf einmal wie verwandelt, ihr Angesicht strahlte rosig von Hoffnung und Glück, und sie beschrieb mit den Armen seltsame Zeichen, die den Storch veranlaßten, sein Nest zu verlassen und sich auf das Geländer der Turmgalerie Zu schwingen, wo er stand, als erwarte er ihre Befehle. Sie nahm eine feine Goldkette vom Halse, an der eine fremdartige Münze hing, und streifte sie dem Vogel über. Dieser legte den Kopf in den Nacken, klapperte ganz gewaltig, erhob sich in die Luft, schwang sich in eilendem Fluge davon und verlor sich bald in der Finsternis des über dem See aufsteigenden Gewitters. Mit leuchtenden Augen blickte die Fremde ihm nach, und alle Traurigkeit war aus ihren Zügen verschwunden.

Unterdes war das Gewitter weiter heraufgekommen, und der See lag finster im Widerschein der dunklen Wolken da. In der Ferne sah man in langen Streifen den Regen niedergehen, durchzuckt von zackigen Blitzen, deren Donner drohend grollte. Dort brauste auch schon der Sturm einher und rückte näher, was sich durch das fortschreitende Schäumen und Wogen des Sees kenntlich machte. Fridolin rief: »Wir müssen hinunter, hier oben wird es gefährlich!« Allein das Mädchen achtete gar nicht darauf, sondern schaute nur unverwandt mit leuchtenden Augen in die Ferne. Da plötzlich tauchte in dem finsteren Dunste ein weißer Schimmer auf, wie ein Wölkchen, das eilend voranfliegt, und nahte sich wie auf Flügeln des Sturmes. Es war ein weißer wehender Schleier, den der schwarze Storch im Schnabel trug. Das Mädchen streckte ihm beide Arme entgegen, als er heranbrauste, und ergriff das zarte Gespinst und drückte es an ihre Lippen. Dann, während der Sturm heranjagte und unter dem krachenden Rollen des Donners die ersten schweren Tropfen fielen, schwang sie den Schleier über ihrem Haupte und lief so eilend die Treppe hinab, daß Fridolin kaum folgen konnte. Wie eine weiße Taube fliegt, so schnell lief sie durch den Garten zum Seeufer, wo ihr Schifflein angebunden lag. Sie sprang hinein und befestigte den Schleier an der Spitze des Kahnes, während Fridolin wie betäubt am Ufer stand und nicht begriff, was ihre Absicht war. Als sie ihn erblickte, sprang sie wie der Blitz noch einmal heraus, fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Dann eilte sie in das Schifflein zurück, streckte gebietend ihren Arm aus und gegen Regen, Wellen und Sturm kämpfend, setzte sich dieses in Bewegung, und, indem die Donner mächtig krachten und die Blitze blendend herniederfuhren, schwamm es in den wogenden See hinaus. Die Fremde stand aufgerichtet im Kahne, ihre Haare flogen wie eine goldene Flamme im Winde, und von ihrer weißen Gestalt ging ein magisches Leuchten aus. So trugen die Wogen sie und ihr Schifflein auf und nieder durch den sprühenden Schaum, und immer hielt die sie Augen rückwärts gerichtet auf Fridolin und winkte und grüßte mit schimmernden Händen, bis sie in der trüben Dämmerung des mächtig herniederströmenden Regens verschwand.

*

Wie ein holder, aber kurzer Traum war die Anwesenheit der Fremden auf dem alten Jagdschlosse vorübergegangen; auf seltsame Weise war sie angekommen, auf noch seltsamere wieder entschwunden, und keine Spur von ihr wollte sich wieder zeigen, so oft auch Fridolin von dem Turme aus auf den See spähte oder in seinem Boote weit hinausfuhr. Nur eines Sommermittags war ihm, als sähe er in der Ferne auf der glatten Fläche etwas schwimmen wie ein dämmeriges Wölkchen, während ein seltsam liebliches Klingen die sonnige Luft durchzog. Als er aber eilig hinausruderte, war alles entschwunden. Doch häufiger als sonst fand er am Gestade die wunderbaren Blumen und Früchte. Einst, als er an dem Vorsprunge einer mit hohem Schilf umgebenen Landzunge in seinem Boote geangelt hatte und, bewältigt durch die sommerliche Hitze, zurückgesunken und fast eingeschlafen war, hörte er plötzlich ein Sausen über sich, ein Schatten zog ihm über das Gesicht, und zugleich fühlte er, daß ein leichter Gegenstand auf seine Brust niederfiel. Er richtete sich schnell auf und blickte umher, konnte aber weiter nichts bemerken als den schwarzen Storch, der auf sein Nest zuflog. Bei der raschen Bewegung war mit leichtem Klirren etwas auf den Boden des Kahnes niedergefallen; er griff danach und fand eine runde glatte Kapsel von Gold, die an einer feinen Kette hing. Darin befand sich weiter nichts als ein kleiner Spiegel von Kristall. Als Fridolin aufmerksam in diesen Spiegel hineinschaute, ging eine leichte Trübung über seine Fläche, dann schimmerte es rosig und golden darüber hin und verstärkte und verdichtete sich zu einem lieblichen Mädchenantlitz, das ihm lächelnd entgegenschaute. Es war das Bild der Fremden in all ihrem Liebreiz. Dieser Wunderspiegel war nun sein köstlichstes Besitztum, er trug ihn stets am Halse unter seiner Kleidung verborgen und trennte sich niemals von ihm.

Die Zeit verstrich, und ein Jahr ging vorüber. Da begab es sich, daß böse Tage über das Land kamen, indem ein langwieriger Krieg ausbrach, der in seinem Gefolge Hungersnot und Pest mit sich führte. Zwar das einsame Schloß am See blieb wegen seiner verborgenen Lage von den Nöten des Krieges verschont, allein die Nachrichten, die der alte Jäger oder sonst ein versprengter Wanderer brachte, waren sehr trauriger Art. Zuletzt kam auch der alte Jäger nicht mehr, denn er war an der Pest gestorben. Um diese Zeit gelangte ein fremder Handelsmann, der sich im Walde verirrt hatte, durch Zufall auf das Schloß. Er führte einen Esel mit sich, der mit Stoffen und Kleidungsstücken und allerlei Waren reich beladen war. Fridolins Mutter kaufte ihm einige von diesen Gegenständen ab, was sie wohl unterlassen hätte, wenn ihr bekannt gewesen wäre, daß fast alle diese Sachen aus dem Nachlaß solcher Leute stammten, die an der Pest gestorben waren. So ward die Ansteckung in das einsame Waldschloß getragen, und beide Eltern starben kurz hintereinander. Auch der Handelsmann entging diesem Schicksal nicht, er ward an einer entlegenen Stelle des Waldes von der Krankheit hingestreckt und verkam. Die Überreste seines Leichnams fanden Holzsammler erst nach langen Jahren.

Nach diesen traurigen Ereignissen ward ein anderer Verwalter auf das Schloß gesetzt. Dieser, der ein geldgieriger und hartherziger Mann war, hielt Fridolin sogleich vor, daß seine Eltern ihm nichts hinterlassen hätten und er nun sein Brot durch tüchtige Arbeit verdienen müsse, und benutzte dies als Vorwand, die Kräfte des Knaben vom Morgen bis in die Nacht anzuspannen und ihn mit harten Worten zu Arbeiten anzuhalten, die für seinen jugendlichen Körper fast zu schwer waren. Die Erinnerungen an bessere Zeiten, der wunderbare Spiegel und die Hoffnung, die schöne Fremde noch einmal wiederzusehen, waren der einzige Trost, der ihm in dieser Zeit der Mühsal blieb und ihn Unfreundlichkeit und harte Behandlung vergessen ließ. Der Spiegel in der goldenen Kapsel war sein größter Schatz, und allemal, wenn er sich in einem der wenigen freien Augenblicke, die ihm spärlich zugemessen waren, unbeobachtet glaubte, zog er das sorglich verborgen gehaltene Kleinod hervor und betrachtete die anmutigen Züge, die aus dem klaren Kristall so lieblich hervorleuchteten. Das Bildnis lächelte nicht mehr wie einstmals, ein sanfter Ernst war über das Antlitz verbreitet, und die Augen blickten wie voll milder Teilnahme, als wüßten sie alles, was geschehen war. Ja, eines Tages, da ihn der neue Verwalter besonders hart behandelt hatte, war ihm, als nickte das Bildnis ihm freundlich zu, und ein sanftes Klingen entstand in der Luft, das sich deutlich zu den Worten formte: »Vertraue nur ... es kommt die Zeit ... die dich befreit ... sie ist nicht weit ... vertraue nur!«

Schon oft hatte Fridolin erwogen, ob er nicht fliehen solle und sein Glück in der weiten Welt versuchen als ein Jäger oder ein Kriegsmann, allein er konnte sich von dem See nicht trennen, an den sich so liebliche Erinnerungen und Hoffnungen knüpften, und dieser soeben erzählte Vorgang bestärkte ihn in dem Vorsatze, getreu auszuhalten und zu warten, was die Zeit bringen würde. Jedoch eines Tages trat ein Ereignis ein, das seinem Leben eine neue, unvorhergesehene Wendung gab. An einem Sonntage stand er an einer verborgenen Stelle des Gartens nahe dem Seeufer, hatte den Spiegel hervorgezogen und war so in die Betrachtung des lieblichen Bildes vertieft, daß er nicht eher das Nahen des Verwalters bemerkte, als bis dieser dicht vor ihm stand. Als er nun schnell und erschrocken das Kleinod in seiner Kleidung verbarg, rief jener: »Was versteckst du da? Her damit, ich will es sehen!«

Fridolin hielt entschlossen die Hand auf die Brust gedrückt und schüttelte den Kopf.

»Was, du weigerst dich?« rief der Verwalter und hob ein wenig den Stock, den er in der Hand trug; »wie kommst du zu Gold und Edelstein? Wo hast du es genommen?«

»Ich habe es nicht genommen!« sagte Fridolin, »und ich werde es nicht zeigen! Dies ist mein Eigentum, das mir niemand nehmen darf!«

»Was, Junge, du weigerst dich?!« schrie der Verwalter und wurde dunkelrot vor Zorn. Er hob den Stock und holte zum Schlage aus.

Fridolin sprang leichtfüßig ein paar Schritte zurück und rief: »Das sage ich Euch, wenn Ihr mich schlagt, dann wehre ich mich! Ihr habt kein Recht, mich zu schlagen!« Dies brachte den Mann vollends in Wut, er stürzte auf Fridolin zu, indem er rief: »Dich will ich mürbe machen!« Allein jener hatte sich unterdes nach einem Gegenstande umgesehen, der zu seiner Verteidigung dienen könnte, und da er weiter nichts bemerkte als einige Stangen und Ruder, die im Boote lagen, so war ihm plötzlich ein anderer Gedanke gekommen. Er eilte schnell ans Ufer, sprang in das Fahrzeug und stieß es mit raschem Stoß vom Lande ab.

Er war auf einmal entschlossen, nicht wieder in das Schloß zurückzukehren, mochte es kommen wie es wollte. Der Verwalter stand außer sich vor Wut am Ufer und befahl ihm unter den furchtbarsten Drohungen, sofort ans Land zu kommen, allein Fridolin ergriff wohlgemut das Ruder und trieb das Boot mit kräftigen Schlägen in den See hinaus. Dann schwenkte er noch einmal die Mütze gegen den Tobenden am Ufer, rief ihm ein fröhliches Lebewohl zu und überließ ihn mit erleichtertem Herzen seinem fruchtlosen Zorn.

*

Fridolin hatte bei seinen früheren Fahrten zuweilen eine Insel in der Ferne liegen sehen, dahin beschloß er seine Fahrt zu richten. Man sagte, es solle dort schon seit vielen Jahren einsiedlerisch ein Mann leben, der sich aus einem geräuschvollen Welttreiben dorthin zurückgezogen hätte. Fischer wollten ihn von ferne gesehen haben, wie er in einem Kahne, der aus einem ausgehöhlten Baumstamme gemacht war, auf dem See geangelt habe, auch konnte man Zuweilen an stillen, klaren Tagen den schmalen Rauchfaden eines Feuers aus den waldigen Wipfeln der Insel hervorsteigen sehen. Jedoch eine abergläubische Furcht vor dem Manne, den man für ein seltsames und gespenstisches Wesen hielt, hatte diese Leute abgehalten, ihn anzureden, und keiner würde es gewagt haben, diese Insel freiwillig zu betreten.

Der Tag war heiß, und der Weg war weit, erst spät am Nachmittage lief das Boot in eine stille Bucht der Insel ein. Zum Glück für Fridolin war alles nötige Angelgerät, wie gewöhnlich, in seinem Fahrzeuge vorhanden, und so begab er sich sofort daran, für sein Abendbrot zu sorgen, was um so notwendiger war, als er den Tag über fast noch gar nichts gegessen hatte. Es gelang ihm auch nach kurzer Zeit, einen ziemlich großen Fisch zu fangen. Er zog sein Boot ans Land, machte ein Feuer an und briet seine Beute, so gut er es vermochte. Dann hielt er im Angesichte der untergehenden Sonne seine Abendmahlzeit, legte sich ins Gras und entschlief nach den Anstrengungen des Tages süß und sanft, indes über ihm die funkelnden Sterne gemessen ihre urewige Bahn zogen.

Als er am anderen Morgen mit Sonnenaufgang erwachte, stand vor ihm ein seltsam in Tierfelle gekleideter Mann. Er trug keine Kopfbedeckung als seine kurzgelockten weißen Haare, sein Antlitz war von der Sonne und Luft tief gebräunt, und ein langer weißer Bart wallte weit hernieder. »Steh auf und folge mir!« sagte dieser Mann mit schwerer Zunge. Es war zu bemerken, daß er durch lange Jahre des Sprechens ungewohnt war.

»Seid Ihr der Mann, den die Leute den Einsiedler nennen?« fragte Fridolin.

»Ich bin es«, sagte jener und fuhr dann fort: »Wie süß ist es, ein Menschenantlitz wieder zu sehen und eines Menschen Stimme zu hören. Ich dachte, dessen mein Leben lang nicht mehr zu bedürfen, da mir soviel Übles in der Welt geschehen ist. Sprich nur, lieber Junge, und erzähle mir, was dich antrieb, diese Einsamkeit aufzusuchen.« Fridolin teilte dem Manne, während sie beide auf dem sandigen Seeufer dahinschritten, die Geschichte seines Lebens mit.

»Also die schwimmende Insel willst du aufsuchen?« sagte dieser, als der Knabe seine Mitteilungen beendigt hatte. »Oh, sie zu finden, ist nicht so schwer, wenn man ernstlich darauf bedacht ist, aber sie zu erreichen und des Glückes teilhaftig zu werden, das ihre Bewohner genießen, das gelingt nur wenigen. Wenn du ein Erwählter bist, nur dann darfst du darauf hoffen. Bist du es nicht, so ergeht es dir wie mir, der ich auch in jüngeren Jahren mit aller Kraft meiner Seele dieses Glück erstrebt und nicht erreicht habe. Mir ist nichts geblieben als die unstillbare Sehnsucht und von Zeit zu Zeit der Anblick dieser seligen Insel, die mir unerreichbar und verschlossen ist.«

Unterdes waren sie an einen Ort gekommen, wo aus einer Talsenkung hervor ein plätschernder Quellbach zwischen Farnkraut und bemoosten Steinblöcken dem See zueilte. Sie gingen eine kleine Strecke dem Laufe dieses munteren Wassers entgegen und gelangten an den Ort, wo der Einsiedler seine von wilden Rosen überrankte Hütte erbaut hatte. Vor der Tür war ein Bänklein und ein Tisch angebracht, von welchem Orte aus man das grüne Quellental entlang durch eine von Baumwipfeln überwölbte Lücke über den flimmernden See hinaussah.

Als sie sich hier gesetzt und Fridolin sich an Speise und Trank erquickt hatte, sagte der Einsiedler ferner zu ihm: »Du kannst hier bei mir bleiben, bis die Zeit günstig ist. Es wird nicht lange mehr hin sein. Ich weiß, daß die Insel sich am Tage der Sonnenwende zur Mittagszeit blicken lassen wird. Du wirst dein Glück also noch in dieser Woche versuchen können, denn dieser Tag ist übermorgen.«

*

Fridolin schaffte im Laufe des Nachmittags sein Boot herbei und machte es fest in der kleinen Bucht, in die sich der Bach ergoß. Am Tage der Sonnenwende begab er sich mit dem alten Einsiedler dorthin. Dieser legte ihm die Hand auf das Haupt und segnete ihn. Dann machte Fridolin den Kahn los und wollte gerade in den See hinausrudern, als sich ein liebliches Singen und Klingen vernehmen ließ und es plötzlich hinter dem Waldvorsprung grün, golden und farbig hervorschimmerte. Es war die schwimmende Insel, die leuchtend im Sonnenschein langsam wie ein Schwan vorüberzog. Schöne Menschen sah man dort wandeln unter blühenden Fruchtbäumen, und rings war das schimmernde Eiland umschwärmt von kleinen Schiffchen, in denen Jünglinge und Jungfrauen saßen mit Gesichtern so rosig wie Apfelblüte und Haaren gleich gesponnenem Golde. Sie trieben unter lieblichem Singen und Musizieren wieder das Fangespiel, das schon der Fischer damals gesehen hatte, aber diesmal waren es keine glänzenden Früchte, sondern schöne Blumensträuße, die die Luft wie ein bunter Regen erfüllten.

Fridolin nahm sein Ruder zur Hand und trieb sein Boot auf die Insel zu. Aber seltsam, nun schien sich das wunderbare Eiland in gleicher Geschwindigkeit von ihm zu entfernen, denn er rückte ihm nicht näher, obgleich er seine Anstrengungen verdoppelte. Auch schien ihn niemand zu bemerken, denn kein Antlitz wandte sich ihm zu, und alle fuhren unbekümmert in ihren Beschäftigungen fort. Schon hatte er eine ganze Weile mit Anstrengung aller Kräfte gerudert und wollte fast verzagen, da er bemerkte, daß sich ein leichter bläulicher Dunst um die Insel verbreitete und sie leise in Nebel hüllte. Da, im letzten Augenblick erinnerte er sich des magischen Spiegels, den er auf seiner Brust trug. Er riß ihn schnell hervor, richtete sich hoch auf und hielt ihn empor. Da begann der Kristall in seiner Hand zu funkeln und zu leuchten, und die Strahlen sammelten sich zu einem mächtigen Schein, vor dessen Glanz die Nebel sich lichteten und verteilten, bis alles wieder in neuer Klarheit dalag. Alle Gesichter waren Fridolin zugewendet und alle Hände ruhten plötzlich, so daß wie auf einen Schlag die fliegenden Blumensträuße aus der Luft verschwunden waren. Am Ufer sammelten sich die Leute in farbigem Gewimmel, und aus den schimmernden Wohnungen, die weiterhin zwischen blühenden Gesträuchen lagen, eilten fortwährend noch andere herzu. Plötzlich teilte sich das Gedränge und machte einer hellen Mädchengestalt Platz, die eilig in eines der am Strande liegenden Schifflein sprang und unverweilt durch eine Gasse, die die anderen Fahrzeuge auf dem Wasser bildeten, auf Fridolin zufuhr. Er sah es wohl, es war die schöne Fremde. Der weiße Schleier wehte an der Spitze ihres Kahnes, und mit leuchtenden Augen streckte sie ihm die Arme entgegen und rief: »Komm, o komm, die Zeit ist vollendet!«

Fridolin stieg zu ihr ins Schifflein, und Hand in Hand fuhren sie der seligen Insel zu. Und während die Insassen der anderen Fahrzeuge lieblich musizierten und sangen, hielten sie sich dicht gedrängt zu beiden Seiten ihres Weges und warfen sich im Bogen mit eilfertiger Geschicklichkeit die bunten Sträuße zu, so daß die beiden gleichsam durch einen Laubengang von fliegenden Blumen ihren Einzug hielten. Der alte Einsiedler aber stand ferne am anderen Ufer und hielt seine Hände wie segnend emporgestreckt, während zwei große Tränen über seine gebräunten Wangen langsam herabrollten.


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