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Drittes Buch.
Geschichte als Ideal.

οὔτε λέγειν, οὔτε κρύπτει, ἀλλὰ σημαίνει.

Heraklit.

Vorbemerkung.

Haben wir im 1. und 2. Buch das Lebendige, Wirkliche, Wahre scharf unterschieden, so dürfen wir nun die Vereinigung ahnen lassen, für welche das Lebenselementare Stützpunkt ist, um die Sphäre des Normativen in historische Wirklichkeit zu wandeln.

XV. Wille und Willenschaft.
§§ 81-87.

§ 81. Wissenschaft und Willenschaft.

Wir können hinter die unseren Sinnen unmittelbar gegebenen Erscheinungen greifend, das den Sinnen Erscheinende umdenken.

Das tut Naturwissenschaft.

Wir können die sinnlichen Gegebenheiten der Erscheinungswelt, sie in Wertzusammenhänge einstellend, umdichten.

Das tut Geschichte.

Die umdenkende Wissenschaft setzt hinter die unmittelbare Erscheinungswirklichkeit der Sinne eine neue Wirklichkeit. Hinter diese eine zweite, dritte, vierte. Es geschieht an hand des Prinzipes des kleinsten Kraftmaßes. Schließlich macht die Umdeutung Halt bei der vereinfachtesten, inhaltlosesten, objektivsten, nicht weiter umdenkbaren ›wirklichen Wirklichkeit‹, der der mathematischen Mechanik.

Die umdichtende Willenschaft dagegen verwebt die Inbegriffe der Erscheinungen zu zeitlichem Zusammenhang an hand von ›Gesichtspunkten‹. (Wunsch-Anbild; εἴδωλον ἡγεμονικὸν.) Sie läßt die einen aus den anderen hervortreten und gibt somit der Welt, sei sie Natur- oder Seelenwelt, eine Geschichte.

Das erste ist der Weg, auf dem der Mensch im Lebenselement, wissend, sich zurechτfindet.

Das zweite ist der Weg, auf dem der Mensch im Lebenselement, wollend, Wünsche verwirklicht.

Der wollende Mensch umfaßt den wissenden. (Beide umfaßt der Fühlende.)

§ 82. Geschichte als Element. Geschichte als Wille.

§ 82 verweist auf den Punkt, der unsre Drei-Sphären-Theorie von der Schopenhauer-Bergsonschen Metaphysik trennt. Über das Nähere unterrichtet der Essay ›Die Krontermini: Wille und Vorstellung‹ der Festschrift zur Jahrhundertfeier des Erscheinens der ›Welt als Wille und Vorstellung‹.

Descartes (welcher die Doppelnatur des ›Seins‹ vernachlässigte) schrieb über die Pforte der Philosophie den Satz: ›Ich denke also bin ich.‹

Ein Seiendes also denkt: Da ist etwas!

Indem das Seiende das aussagt, hat sich ein doppeltes Sein dargetan. Erstens fordert: ›Da ist etwas!‹ ... daß Etwas als seiend gedacht werde (also: ein gedachtes, von Erlebnis unabhängiges, objektives Sein). Zweitens aber drückt im Denken gedachten Seins ein anderes Sein sich aus (ein auch im Gedachtsein seiner selbst sich denkend darlebendes Sein). Diese Doppelheit gilt auch für die Feststellung meines eigenen Selbst. Unmittelbar habe ich mich nur, indem ich mich erlebe. Dieses darlebende Ich aber unterscheiden wir deutlich von der Feststellung seiner selbst im Bewußtsein.

Das Ich wie die Welt sind also doppelt gegeben. Einmal als Ausdruck, zweitens als Gedanke.

Jedes Wort der Sprache hat diese doppelte Verrichtung. Es kann einmal unmittelbarer Ausdruck eines Erlebens sein (Gestalt, Form, Lied, Gesang). Es kann zweitens ein unmittelbar nur Erlebbares denken oder meinen (Begriff, Hinweis, Rede, Formulierung). Was der Dichter, der Philosoph gibt, ist zugleich Ausdruck und Meinung; sowohl Leben wie Lehre, sowohl der Natur wie dem Geiste angehörend.

Wohlgemerkt aber muß beides sozusagen im selben Atem geschehn.

Auf Geschichte angewendet bezeichnen wir diese Doppelheit des Seins als:

1.  Lebenselement von Geschichte (d. h. unmittelbarer Ausdruck geschichtlichen Seins),

2.  Wirklichkeit der Geschichte (d. h. festgestellte, gedachte, formulierte Geschichte).

Denken von Geschichte bezeichne ich im Gegensatz zur orientierenden Wissenschaft als Willenschaft (d. h. als Funktion menschlicher Wunsch-Anbilder; sogenannter Werte).

(›Wille‹ als Gestalter der geschichtlichen Wirklichkeit muß vom Element historischen Lebens ausdrücklich unterschieden werden.). Vgl. Philosophie als Tat S. 68 über ›Sprache als Intention und als Ausdruck‹. Ferner Europa und Asien, Kap. XIV über ›Symbolisch und Gegenständlich‹. Auch Schopenhauer, Wagner, Nietzsche S. 67 f. über Sein, Vorgestelltsein und die Doppelnatur des cogito ergo sum.

§ 83. Das Ideal als Norm der Geschichte.

›Gott bewegt den Menschen wie das Geliebte den Liebenden bewegt.‹

Aristoteles, Metaphys. XII, 7.

Wir haben im ersten und zweiten Buche Geschichte als Wirklichkeit betrachtet, welche Betrachtung zu dem Ergebnis führte, daß Geschichte sich als völlig sinnlos enthüllte, indem sie weder Wahrheit im Sinn der logomathischen Erkenntnis noch auch Wirklichkeit im Sinn der Erfahrungswissenschaft jemals gewähren kann.

Nun aber tritt uns Geschichte in einer völlig anderen und neuen Bedeutung entgegen. Nicht als eine Wirklichkeit, sondern als eine Verwirklichung. Nicht als Wissenschaft, sondern als Willenschaft. Was aber für die Wissenschaft die Richtschnur der logischen Vorformen ist, das ist für die Willenschaft die fordernde Welt der Ideale (das System der Zwecke und zuoberst die Axiomatik der Werte). Beides zusammen (die logischen und ethischen Normen) bezeichnen wir als die ideale Sphäre des Wahren.


Der Ausgangspunkt des aufbauenden Teiles unsrer Untersuchung ist die Einsicht, daß die Triebkräfte des geschichtlichen Geschehens nicht Ursachen ( causae) und nicht Gründe ( rationes), sondern Werte ( normae) sind, und daß ›Werte‹ eine andere Klasse von Ursächlichkeit bilden, als jede Art der Notwendigkeit oder Begründung.

Über kein Thema ist mehr geschrieben und gesprochen worden als über das des Werthaltens und der Werte. Um so erstaunlicher ist es, daß die eigentümliche Natur ihres Wirkens an Geschichte nie beobachtet wurde, so daß es zunächst wohl befremdlich anmuten mag, daß wir das Ideale oder Normative als eine besondere, von jeder sonstigen Wirkung oder Begründung verschiedene › Kausalität‹ bezeichnen und als die fünfte Wurzel den vier anderen Wurzeln des Satzes vom zureichenden Grunde nebenordnen. Schopenhauer als erster unterscheidet bekanntlich vier Klassen von Ursächlichkeit, nämlich des Seins in der Mathematik, des Erkennens in der Logik, der Motivation in der Geschichte und der Kausalität in der Naturwissenschaft. Zu diesen vier Klassen ratio essendi, cognoscendi, agendi und fiendi füge ich also als fünfte die ratio aestimandi. Vgl. hierzu Kap. III §§ 16-26.

Es kommt hier nicht darauf an, ob nun diese fünf Gruppen die möglichen Arten von Ursächlichkeit erschöpfen. Wesentlich ist nur die Feststellung, daß die eigentümliche, mit keiner anderen Art Ursächlichkeit zu vergleichende Natur der normativen Ursache bisher übersehen ist. Eine Kritik der Lehre von der vierfachen Wurzel der Kausalität findet man ›Wertaxiomatik‹ S. 100 f. Vgl. auch ›Philosophie als Tat‹ S. 367.

Der Richter, welcher ein Urteil fällt ›auf Grund‹ des Gesetzes, der Gläubige, welcher dem Dogma ›gemäß‹ bestimmte Handlungen tut, bestimmte verwirft, der Enthusiast, welcher eine schöne Tat begeht nach dem ›Vorbild‹ eines Helden; sie alle brauchen nicht kausiert oder motiviert zu werden durch Gesetz, Dogma, Anbild, welche ihre Wertungen normieren, sondern es ist möglich, daß die an hand eines bestimmten Wertmaßes von ihnen bewertete Tat aus Gründen geschieht, welche mit der Norm der Werthaltung nichts zu tun haben.

Mithin sind Werte oder Ideale zunächst nicht ›Geschichte‹, sondern eine fördernde Welt über Geschichte, eine Welt, an hand deren freilich alle Wirklichkeit der Geschichte gedacht und denkend gestaltet wird; ein stilles Geisterreich, das nirgend derb und faktisch in das Getriebe der Geschichte-wirkenden Motivkräfte eingreift, dennoch aber das eigentliche Vor- und Anbild, das Regulativ, die Richte abgibt, bei jedem Urteil, das wollend oder denkend der Geist über Wirklichkeit fällt.

Erst zweiterhand und dank einer Doppelsinnigkeit bezeichnet man die faktisch wirksamen Motive der Geschichte als Werte und Ideale. Wir werden gut daran tun, für die Sphäre des reinen Wertes lediglich die Begriffe Norm, normativ zu verwenden, dagegen dort, wo man gemeinhin von Idealen spricht, an die oft recht ›unidealen‹ Motivkräfte der Geschichte zu denken.

Während die Normen des Wollens oder Denkens ( vérités de raison) klar und einsinnig in sich selber sind, unabhängig von Glaube und Zweifel, Gewißheit und Ungewißheit, ja sogar davon, ob sie gesehen werden oder ungesehen bleiben, sind alle faktischen Motive ( vérités de fait) unsicher und wandelbar.

Über die Formen und Normen von Geschichte ließe sich die Einigkeit aller denkenden und wertenden Geister erzielen, die Einheit anschauender reiner Erkenntnis; aber steigen wir aus der Wolkenschicht der reinen Idee auf der Geschichte blutgetränkten, notgepflasterten Boden, dann wird aus dem Ideal die – Lüge (§ 31). Ein klassisches Beispiel für die Unvermittelbarkeit von Motiv und Norm bildet die ganze Kritik der praktischen Vernunft, deren ›Kategorischer Imperativ‹ unbedingt einsichtig ist als wahre Norm des als rein zu beurteilenden Willens, während doch gleichwohl diese Entdeckung der Norm für die praktische Sittlichkeit ohne jede Bedeutung und nicht im mindesten imstande ist, in der Kette wirklicher menschlicher Willensakte jemals irgendwo wirksam zu werden, so daß Kants unvergleichlicher Scharfsinn ganz verzweifelt und ganz vergeblich sich daran abmüht, mit Hilfe von allerlei Mystizismus nachzuweisen, daß aus der Norm des Wollens ein Motiv des Willens werden könne, oder in Kants Sprache, ›wie der Kategorische Imperativ praktisch werden könne‹. (Vgl. ›Der Bruch in der Ethik Kants‹, Bern 1909.)

§ 84. Das Ideal als Bewegkraft der Geschichte.

›Wenn der Geist sich gegen das Leben kehrt, so kehrt das Leben sich gegen den Geist.‹

Thomas Hobbes.

Sogenannte geschichtliche Ideale sind, wie wir wiederholt betont haben, nie etwas anderes und werden nie etwas anderes sein als Umschreibungen für völkische oder persönliche Notstände.

Daher steht es in keines Menschen Belieben, sich geschichtliche Ideale zu wählen, sondern Geburt, Volkheit, Landschaft, Gesundheit, Zufallslage usw., alles wirkt vorbestimmend auf seine Ideale ein, und während er zu denken glaubt, denkt und handelt aus ihm ein Klima und ein Beruf, ein Interesse und eine Notdurft. Erst in der Sphäre der normativen Erkenntnis erlischt die Person und ihre Seelenkunde; damit aber auch das Leben.

Diesen Zusammenhang der historischen Werte oder Ideale mit Notständen (seien die nun seelischer oder wirtschaftlicher Art) hat die vielverkannte Lehre des historischen Materialismus durchaus erfaßt.

Man hat das Notprinzip des Materialismus freilich dadurch zu widerlegen vermeint, daß man darauf hinwies, daß Geschichte als ein Kampf um Ideale eine Fülle von Bedürfnissen und Nöten im Dienste der Ideale erzeuge, so daß man ebensogut das Bedürfnis aus dem Ideal wie das Ideal aus Bedürfnis herleiten könne.

Nun in der Tat, es scheint wohl so, als ob erst Ideale dasein müßten, ehe sich Bedürfnisse einstellen. Auch scheinen Ideale grade daran sich zu bewähren, daß sie unabhängig von Alltag und Not von einem Hauche rührender Erdenferne umwittert sind, ja die höchsten Ziele scheinen sich sogar gegen Geschichte und gegen Leben zu kehren. Soll man etwa annehmen, daß z. B. die religiöse Ethik des Christentums oder des Buddhismus gleichfalls dem Notprinzip unterstehe?

Ich glaube in der Tat, daß man das annehmen muß! Denn da die ganze Geistigkeit des Menschengeschlechts auf Leidenserlösung hinauskommt, so könnte unmöglich je ein Ideal erstarken, welches die Not des Lebens vermehrt. Scheint das gleichwohl der Fall zu sein, womit ja der Materialismus seine Angriffe gegen Christentum und Buddhismus als vermeintlich ›lebensfeindliche Mächte begründet, so täuscht uns die Kurzsichtigkeit aller weltlichen Zwecke.

Die tiefste Erkenntnis, – @@@Buddha nennt sie Wissen aus Leiden ( dukhasatyia),%%% – stellt uns vor die ungeheure Wahrheit, daß Befreiung vom Leiden nur durch Aufhebung des Lebens selber sich vollenden läßt, da das Leiden das Wesen der Vergänglichkeit, also der eigentliche Kern dieser Welt ist. Buddha und Christus also vollenden den Epikur. (§§ 99-101.)

Die Wahrheit des historischen Materialismus und seines Notprinzips ist also unwiderleglich! Aber sie ist nur eine Hälfte der Wahrheit.

Wie der Begriff ›Funktion‹, y = k(x), die Wechselwirkung zweier Größen meint, nicht nur die einseitige Wirkung der einen auf die andere, so muß, wer die Abhängigkeit der historischen Ideale von der Not der Wirklichkeit erkannt hat, auch ergänzend feststellen, daß die Wirklichkeit und ihre Not hinwiederum nichts ist als das Werk der Ideale.

Es hat noch nie einen Glauben gegeben, der nicht grade dadurch, daß er geglaubt wurde, zu Wirklichkeit von Geschichte geworden ist. Indem ich eine Norm der mir zugänglichen Wirklichkeit ergreife, beginne ich die Wirklichkeit nach dieser Norm zu strecken. Denn schließlich ist Wirklichkeit nichts anders als das an der Norm gebrochene Leben.

Warum bauen die christlichen Völker Dampfschiffe, Fernschreiber, Fernsprecher, Luftkreuzer? Warum haben sie allein unter allen Völkern der Erde die ungeheure Überwältigung und Übermächtigung der Natur erwirken können? Darum, weil sie das Ideal eines Heilandes geglaubt haben, der über Meere schreiten und durch die Luft fahren konnte, der die Kranken heilte und mit einem einzigen Brote tausend Hungernde speiste. Es ist der Segen oder Fluch von Träumen der Dichter und Denker, daß sie Geschichte werden. Es ist der Fluch oder Segen jeder großen Liebe, daß sie den Liebenden wandelt in das Geliebte.

Die ganze Geschichte des Menschengeschlechtes ist Ergebnis von Traum! Der Teppich der Ereignisse wird nach geträumtem Musterbilde gewebt. Von Scham und Sehnsucht, Wunsch und Hoffnung, Angst und Ermutigung, Reue und Erbarmen, Selbstachtung, Schuldgefühl, von allen Mächten der Menschenseele. Und daß dem so ist, gesellt die Geschichte allem Erlösenden, das der grauen Lebensnüchternheit Heiligung und Ansporn verleiht.

Wenn wir die Särge unsrer Toten mit Blumen kränzen und ihre Gräber bepflanzen (statt aus ihren Häuten Leder und aus ihren Zähnen Armreifen zu machen); wenn sich Weib und Mann seiner Nacktheit schämt und voreinander sich schmücken (statt entblößt in der Sonne zu laufen und voreinander sich’s bequem zu machen); wenn wir Zurückhaltung vor dem Alter üben und Ehrfurcht vor den Schwachen (statt über das Alter zu spotten und den Schwächeren zu überrädern), so liegt in diesen und tausend anderen Verhaltungsweisen kein praktischer Nutzen und keine faktische Erkenntnis (weswegen der nüchterne Verstand immer geneigt ist, sie aus bloßer Gewohnheit, Angst, Aberglauben, mittelbarer Nutzabsicht zu ›erklären‹). Man beseitige aber die in gemeiner Hinsicht sinnlosen Tatbestände des Lebens, und man beseitigt alles, was des Menschen Auferhöhung über das Tierisch-Natürliche verwaltend, der Wirklichkeit ihren ›Sinn‹ erst gibt.

So ist auch die rein illusionäre Natur der Geschichte grade der Geschichte unverwelklicher Ruhmestitel! Was aus Geschichte spricht, sind Herzenswünsche. Sie überliefert nicht mechanische Objektivität; sie befreit uns aus ihr; es gilt für sie das Wort aus Novalis’ Historischen Fragmenten: ›Nur solche Geschichte kann Geschichte sein, die zugleich auch als Fabel erzählt werden könnte.‹ Man mag in dieser Lehre eine Bestätigung der ideae innatae (eingeborenen Gesichte) des Descartes sehn. Ja, es ist so! Der Geist verwirklicht an der Welt eingeborene Gesichte.

§ 85. Die Übertragung der Ideale auf die Ebene der Zeit.

›Die Weltgeschichte ist das Weltgedicht.‹

Schon Vico hat den merkwürdigen Gedanken ausgesprochen, daß das Zustandekommen von geschichtlichen Legenden seinen Ursprung in der Unfähigkeit zur Begrifflichkeit haben müsse, indem der Mensch eine Erkenntnis, die er mit seinem Geiste nicht zu fassen vermöge, in eine sinnliche Begebenheit umwandle und durch Gleichnisse ausdrücke, wobei zuletzt der Erkenntnisgehalt verschwindet und nur die Mumie ( caput mortuum) der sinnfälligen Geschichte übrig bleibt. Michelet, Hist. rom. 1831 VII.

Die Flügel unsrer Seele können wohl auf Augenblicke in den luftleeren Raum der reinen Erkenntnis sich heben, aber sie können dort nicht leben. Wie helfen wir uns? Dadurch, daß wir das Zeitlos-Normative zu einem zeitlich-einmaligen Geschehnis herabsetzen, also den Himmel gleichsam herniederholen auf unsre Erde.

Somit ist denn Geschichte, wie sie in den Geschichtsbüchern von Geschlecht zu Geschlecht überliefert wird, eine fast möchte ich sagen erotische Vereinigung von Leben und Wahrheit zu Wirklichkeit, eine organische Durchdringung der zeitlich sinnfälligen Erdenbegebenheit mit zeitloser Wahrheit zu dem, was (nach Schillers schönem Wort) ›sich nie begeben hat und immer‹.

Wer die großen Geschichtsschreiber liest, steht unter dem Gefühle, daß es ihnen zuletzt nicht so sehr darauf ankomme, die einmalige und darum nichts offenbarende Tatsächlichkeit des Geschehens zu überliefern, sondern daß dieses bestimmte tatsächliche Geschehnis etwas geheimnisvoll Bedeutsames allgemeingültig offenbare, welches der Mensch gleichsam durch das Transparent der sinnfälligen Geschichte hindurcherblicken und ›wahr‹nehmen soll.

Kann man bei geschichtlichen Erzählungen vergessen, daß ihre Inhalte zu bestimmter Zeit, an bestimmtem Orte geschehen sind? Kann man die geschichtlichen Inhalte bildhaft so anschaun, als ob sie niemals ›wirklich‹ gewesen wären? Nur wenn uns das gelingt, vermag Geschichte ihre Bedeutung zu entfalten. Denn als bloße Feststellung: ›Dies war damals; dort und so‹ wäre Geschichte die unnützeste Belastung des Geistes, während sie doch als anschauliche Wirklichkeit den selben geheimnisvollen Zauber ausübt wie jedes Kunstwerk, welches immer etwas Bestimmtes vor die Augen stellt, gleichwohl aber grade vermittelst seiner Sonderzüge ein für alles Leben Gültiges vorbildlich schauen läßt. Es gibt freilich gewisse, im engeren Sinne historische Fragestellungen, welche grade ausdrücklich auf Entscheide über Existenz oder Nichtexistenz abzielen. Fragestellungen wie die, ob Wilhelm Tell, Arnold Winkelried, Till Eulenspiegel oder der brave Schweppermann wohl ›historische Personen‹ gewesen sind. Solche Fragen verkennen gern den Sinn von geschichtlicher Wirklichkeit und geschichtlicher Wahrheit.

Was wir als scheinbar starre Gegebenheit wahrnehmen, enthält ebensoviel allzu menschliches Bedürfnis, allzu menschlichen Wunsch wie menschenferne Tatsächlichkeit, wir wissen nicht, können nicht wissen: wieviel Traum in unsere Erfahrungserkenntnis einfließt. Selbst in der stummen Dingwelt, die die mechanische Naturwissenschaft erschließt, steckt immer noch ein Endchen Menschentraum. Ja, selbst in die Wahrheit der reinen Logik und Mathematik – der einzigen unverbrüchlichen Bündigkeit, die es gibt – strahlt noch etwas über vom entgegengesetzten Pole, von der andersartigen, aber ebenso unumstößlichen Bündigkeit unmittelbaren Gefühls. Der Mensch kann nicht anders als Wirklichkeit in Wahrheit, Wahrheit in Wirklichkeit wandeln; und jenseits beider lebt das Lebendige.

Vermitteln wir uns den Tatbestand durch ein Gleichnis, welches wir einer Fabel von Lafontaine entnehmen.

Ein Greis verteilt sterbend sein Besitztum unter seine drei Söhne, indem er den beiden älteren alle Wiesen, Wälder und Weinberge hinterläßt, dem jüngsten geliebtesten aber nichts zuspricht als einen steinigen Acker, mit der Versicherung, daß in diesem unergiebigem Acker ein Topf mit Gold gefüllt verborgen liege. Als der Alte gestorben ist, beginnt der Sohn den Goldtopf zu suchen, indem er den Acker täglich ein Stückchen um und um schaufelt. Dadurch aber wird der Boden allmählich bestellbar. Nach vielen mühevollen Jahren ist der Goldschatz noch immer nicht gefunden, aber während die älteren Brüder in Wohlleben und Müßiggang ihre ererbten Besitztümer vergeudet und eingebüßt haben, ist der jüngste über dem Suchen nach dem Goldhort zu Wohlstand gelangt. Als er nun unter der Linde auf seinem selbsterworbenem Lande zum Sterben kommt, umstehen ihn seine Enkel und fragen, ob der Ältervater sie nicht belogen habe, aber der Sterbende erwidert: ›Grabt weiter, es liegt ein Goldtopf im Acker‹ ... In aller Völker Sagenbildern taucht übereinstimmend das selbe Traumgesicht auf: die Sage von einer besseren Zeit und schöneren Menschheit, von einem großen Geiste oder hohen Geistern, von denen wir stammen, von Wundertätern, Drachentötern, Helden, Halbgöttern, die zu uns niederstiegen, Erlösern, auf wundersame Weise erstanden, durch Wunder von den Frauen aufgefunden und erhalten, durch übernatürliche Zeichen bestätigt; die Sage von einem Paradiese, das wir besaßen aber verloren haben durch Abfall und Schuld; von einem goldenen Zeitalter, da der Wolf friedlich weiden wird beim Lamm; von Arsareth, dem Rubinland, dem Land, wo Milch und Honig fließt; von den Feldern Zions, der ewigen Stadt mit goldenen Zinnen; die Sage vom Elysium und dem Glück der Asphodeloswiesen, deren Farben allmählich verblassen zum Gefilde des Himmelreichs, darin die Engel wohnen und Gott.

Wer möchte bezweifeln, daß diese Überlieferungen der Schriften, die aus Historienbüchern in die Sphäre des Immerwahren wuchsen und daher heilige, geoffenbarte heißen, keine historischen Feststellungen realer Begebnisse darbieten? Und ebenso gewiß ist, daß ein Seelenbedürfnis am Teppich biblischer Legende wob, ähnlich wie an Träumen und ihrem farbigen Dickicht unser Wunsch und unsere Liebe.

Die Entwicklungslehre hat, indem sie den Schleier der Mythe über Herkunft, Vorgeschichte und Urgeschichte der Erde zerriß, in den märchenhaften Vorstellungen über das, was vor uns war, eine Beziehung entdeckt zu dem, was geworden ist und künftig werden soll. Was die Überlieferung der Vorwelt als Wissenschaft verlor, hat sie somit gewonnen als Weisheit. Der Mensch kann nicht anders, als was er liebt, für wirklich halten, um so die Kraft zu gewinnen, es tatsächlich zu verwirklichen. So werden Ideale zu historischer Tatsache und aus vermeintlicher Geschichte gehen neue Ideale hervor.

Es ist ein fruchtloses Bemühen, die beiden Bereiche scheiden zu wollen. Was wir heute Geschichte nennen, wird in zehntausend Jahren die traumhafte Legende unsres Lebens sein; was vor zehntausend Jahren Geschichte war, das ist heute Legende, übergipfelt von den unerklimmbaren Felsen des Mythus, umblüht von holden Blumen des Märchens, überwuchert vom Eppich der Anekdote.

Wie könnten wir Wirklichkeit und Wahrheit auseinanderreißen, da wir Wahrheit nicht anders haben und haben können als in Gestalt von Wirklichkeit? Das ganze Wesen unsres menschlichen Ameisenbaus ist Verwirklichung von Wahrheit am Element des Lebendigen! Geburt immer neuer Träume und Anbilder, damit Träume und Anbilder Wirklichkeit werden. In diesem Geschäfte der Verwirklichung erschöpft sich das Leben! Mag tausendmal eine nüchterne Wissenschaft sagen: › So war es‹; die Hoffnung, Sehnsucht, Begeisterung tönen dazwischen: ›So soll es gewesen sein‹; und die Wissenschaft der Geschichte steht machtlos und muß erkennen, daß sie nie etwas anderes ist als Sprachmund wissens fremder Gewalt. Blut und Tränen, Tränen und Blut. Das Ganze ein chaotisches Gewirre undurchdringlicher Fäden. Aber der Historiker kommt und dichtet ihm Geschichte, in welcher es Helden gibt, Könige und hohe Seelen. Ein Glück, daß wir sie nicht kannten.

Dieser Vorgang der Anbildverwirklichung im Glauben ist nicht Sonderbesitz der Geschichte. Er unterströmt das ganze Menschenleben. Indem der Mensch, der zu einer bestimmten Tagesbeschäftigung nicht geeigneter ist als zu einer anderen, sich gleichwohl zuspricht, daß er grade für diese Art der Betätigung berufen sei, indem ein liebendes Paar, das auch hundert andere Möglichkeiten der Liebeswahl gehabt hätte, sich die historische, also zufällige Tatsache seines Zueinanderfindens von nachhinein sinnvoll auslegt (›In den Sternen stand es geschrieben ... Wir sind von der Natur füreinander bestimmt gewesen ... Unsere Ehe wurde im Himmel geschlossen ... Gott fügt zusammen, was zusammen gehört‹); indem der Freund im Glauben des Freundes eine Schönheit besitzt, die er zu haben wünscht, indem der Verbrecher sich als Ehrenmann, die Dirne sich geglaubt sieht als geachtete Frau, da erwirkt der Glaube das, woran geglaubt wird, da wandelt Traum sich in Wirklichkeit, da bildet Einbildung zuletzt die reale Geschichte. Immer werden wir genau soviel wirklich machen, als wir verwirklichen zu können glauben und geglaubt werden. Und tausendmal besser Illusion als volle Ernüchterung zur Glaubenslosigkeit erschöpften Wollens, die zusammenfällt mit dem letzten Siege eines schlaflosen Wissens über die Hoffnung. Die Unfähigkeit der erschöpften Kraft, weitere ›Rauschsurrogate‹ aus sich herauszustellen, wird der Tod der abendländischen Welt sein an ihrem Wissen. Schopenhauer, Wagner, Nietzsche S. 304-322 ›le fin du monde par la science‹.


Lessing hat das Wort gesprochen: ›Was das Auge sieht, das glaubt das Herz‹, ich aber möchte es umkehren und sagen: ›Was das Herz glaubt, das sieht das Auge‹; denn die gesamte Welt, die wir die wirkliche nennen, außermenschliche Natur nicht minder als das Reich der Städte und Stuben, mußte zunächst einmal als unwirkliche Vision da sein, ehe bewußter Geist imstande war, das bildhaft Geschaute zu verwirklichen.

Entkleidet einmal das, was die europäische Wissenschaft in die abstrakte, nur wenigen zugängliche Sprache der Mathematik kleidet, seiner wissenschaftlichen Form und merkt, was dann übrig bleibt und was ihr in der Hand behaltet. Ein Wunschbild, ein Ideal! Und zwar genau das selbe, welches auch der Mythus und die Religion unsres Kulturkreises in Form von Traum und Vision verkündet hat. Ob das Märchen spricht von Kobolden, Zwergen und Wichtelmännchen oder die Mechanik von Atomen, Ionen und Elektronen, ob der Glaube Wasser und Luft bevölkert mit Undinen und Elfen, oder die Physik sie zusammengesetzt sein läßt aus Molekülen der Elemente und Milliarden Ätherwellen, ob der Priester spricht von dem einen Gotte oder der Gelehrte von der einen Kraft, vielleicht ist das alles gar nicht so verschieden, sondern beides nur Ausdruck des selben Ideals und die ganze Natur- und Geschichts-welt nur das Abbild der Seele, die sie denkt, das Abbild eines Willens zur Macht, indem das Bewußtsein am Lebenselemente das verwirklicht und zu Wirklichkeit macht, was es als wahr ergreift.

Der Grieche besaß den Olymp nicht darum, weil er selbst ein schöner Mensch war, sondern er wurde schön, weil just diese Götter in ihm lebten. Nicht darum verneint der Hindu die Welt, weil er keinen Platz fand an ihren Tischen, sondern er wird nie an ihren Tischen einen Platz gewinnen, weil das Hochziel seiner Weisheit ihre Feste verneint. Der Römer ersann nicht als Gesetzgeber und Krieger ein Leitbild der Kriegergröße und Bürgertugend, sondern das Ideal, auf das er blickte, gestaltete ihn, wie die Pflanze annimmt die Farbe ihres Bodens, der Vogel die Natur des Baums, auf dem er nistet, das Insekt die Gestalt der Reiche, die es sucht, der Schäfer die Physiognomie der geliebten Herde. Die Fülle von Mittlergestalten zwischen Gott und Mensch ist darin begründet, daß das hohe abstrakte Strebebild dem armen Vogel Strauß so unerschwinglich ist, daß die Ermutigung, es je als Wirklichkeit zu vollenden, erlahmen müßte, wenn nicht der Beweis gegeben wäre, daß am geschichtlichen Menschen in Fleisch und Blut und zu geschichtlicher Zeit das ersehnte Ideal einmal leibhaft gewesen ist. Da der Gottmensch einmal da war, so liegt darin die Ermutigung, daß er künftig werden kann. Madonna Sixtina S. 36 f. ...

Es steht uns nicht zu, in Streitigkeiten der Theologen uns einzumischen; sie liegen außerhalb unsres kleinen Gartens. Unvermeidlich aber ist es, den Zusammenhang unsrer Geschichtsauffassung mit den Tagesfragen des christlich-europäischen Kulturkreises zu berühren. Daß wir ihm fernstehn, suchten wir damit zu bekunden, daß wir unserm Garten das Doppelbild des Buddha und des Epikur voranstellten.

Die große Selbstgerechtigkeit der Menschen, die auf dem Boden des naturübermächtigenden, das Anbild des weltüberwindenden Menschen errichtenden Christentums erwuchsen, gipfelte in der Umwandlung lebendiger Glaubenskräfte in Menschengeschichte und Menschenseelenkunde, in wissenschaftliche Gotteslehre, die zuletzt geschichtliche Menschenlehre werden muß. Dieser letzte Stamm der erschöpften Wurzel trägt als Wipfel die Historisierung der Heilswahrheit.

Die ewigen Gleichnisbilder, (Christi Geburt aus der reinen Jungfrau, Erdenwallfahrt und Kreuzestod des Göttlichen, seine Wunder, sein Wandeln über Meere, das Durchschweben der Luft, die Speisung der Armen, die Wiedererweckung der Toten, seine Auferstehung, Himmelfahrt und Verklärung, alle großen Wunschanbilder der europäischen Menschheit, welche als Wahrheit ihres Ideals wichtiger und mächtiger sind als alle Ausgemachtheiten der Geschichte), müssen zum Staube herabgezogen werden, indem der Theologe sie zu Daseinstatsachen der Vergänglichkeit erniedert. Weil Ideale nur in Form historischen Berichtes verständlich sind, so wie Märchen dem Kinde wirklich werden; weil die Abstraktionsunfähigkeit bedürftiger Massen greifbares Brot des Geistes fordert, ist es darum geboten, Leitbilder zu zeitlicher Menschengeschichte zu verkleinern oder das beschämende Doppelspiel zu spielen, das für die Eingeweihten philosophisch ausdeutet, was der Laie derb und deftig glauben soll? ... Mit dieser zweifelfreien Unterscheidung der menschheitlichen Wunschanbilde von der geschichtlichen Daseinsform darf nun freilich nicht die Frage vermengt werden, ob Wunsch- und Willensmodelle ohne Anhalt und Anschluß an irgendwelche historische Wirklichkeit, gleichsam als freies Dichten aus leerem Nichts von Einzelnen oder Völkern geschaffen werden.

Wir haben diese Frage beantwortet, indem wir betonten, daß selbst das phantastischste Traum- und Hirngespinst immer nur das Gegebene der historischen Wirklichkeit zu ordnen und an hand überzeitlicher Normen zu gruppieren vermöge. Damit ist aller Zweifel aufgeklärt-liberaler Theologie an dem historischen Jesus, historischen Zoroaster, historischen Buddha bestimmt zurückgewiesen. Woher denn sollten Ideale ihre Lebenskraft, ihr leuchtendes Auge, ihr Wangenrot haben, wenn nicht aus Geschichte? Menschheitliche Idealbildungen können nicht beziehungslose Gedankenbilder sein. Sie trinken aus dem natürlichen Leben ihre Nahrung, wie der Rosenstrauch aus der Ackerkrume der Vergangenheit. So knüpft schon frühester Mythus zweifellos an höchst sinnenhafte Naturbeobachtung an. Fernste Heldensagen weisen auf historische Begebenheit. Die fabelhaftesten Berichte von Drachen, Minotauren und Lintwürmern bergen zweifellos irgendeinen wirklichen Kern. Auch Götter sind Kinder bestimmter Landschaft. Und was Mythus berichtet, ist zwar niemals so gewesen; aber ist gewesen. Gestalten des Glaubens erstehn, indem Wünsche des Herzens auf die Ebene der Zeit übertragen und an der gelebten Wirklichkeit versinnlicht werden. So wird die an sich gleichgültige zufällige Tatsächlichkeit der Geschichte vom dichtenden Volksgeist und seinem Fürsprech, dem Geschichteschreiber, zu Wahrheit erhoben. Vgl. § 51.

§ 86. Die Arten der Geschichtswillenschaft.

›Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.‹

Die Betrachtung Friedrich Nietzsches ›Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹ hat zuerst den Versuch unternommen, die verschiedenen Arten der Geschichtswillenschaft gegeneinander abzugrenzen, ein Unternehmen, das man Bacos verdienstlichem Versuche einer Theorie der menschlichen Vorurteile an die Seite stellen darf.

Als Urteil an den alexandrinischen Künsten der Gegenwart, als Bekenntnis des Zweifels und der Hoffnung, als schönste Verteidigung unhistorisch-unpolitischen Denkens ist Nietzsches Schrift von entzückendem Reiz; aber was sie an schöpferischen Einsichten bietet, ist voll Unsicherheit und enthält im Keim die ganze Fülle widersprechender Fragen, welche lebenslang den großen Denker nicht mehr losließen, ohne je einheitlich von ihm gelöst zu werden. Seine Dreiteilung der Geschichte als monumentalische, antiquarische und kritische, das heißt als die Geschichtsschreibung der Tätigen und Strebenden, der Bewahrenden und Verehrenden, der Leidenden und Befreiung-Bedürftigen erschöpft nicht im mindesten die unübersehbare Mannigfaltigkeit möglicher Willensgesichtspunkte der Geschichtsschreibung, welche gleicherweise und selbst einander den Rang ablaufend, an ein und demselben Geschichtswerk mitwirken können. Vor allem aber lauert hinter dem führendem Begriff des Heroischen eine unbeantwortete Frage, denn wer Geschichte als den Ehrentempel der Heldengeister betrachtet, müßte klar und scharf sagen können, was als Heldengeist und Heldenleben unwidersprochen zu gelten habe.

Die Gestalten, welche die Geschichte festhält, sind zufällige Vertreter eines auf- und abwogenden Vorgangs der Idealbildung. Völkische Bedürfnisse heften sich an sie und tragen sie empor. Die große Masse notgestachelter Erdenwesen, welche völlig machtlos zur Welt geboren, durch Bedürfnis und Gläubigkeit allen historischen Ruhm geschaffen und an einzelne geheftet hat, blieb dabei selber der arme Caliban der Geschichte, der seinen wahren Vorteil nicht kennt, denn der unbenannte Erfinder der Zahnbürste oder der Seife leistete für ›Fortschritt‹ mehr als alle die verherrlichten Siege Cäsars und Bonapartes, und ein stummer Held, dessen Namen kein Heldenbuch zurückbehielt, nahm stolzere Möglichkeiten der Natur mit ins Grab, als jene darlebten, deren Ruhm höher stieg als ihre Leistung, deren Leistung höher stieg als ihre Person. Sollten wir angeben, was in historischer Verklärung eigentlich dauere, so könnten wir nur hinweisen auf Erfolg- und Machttatsachen, an welche zweiterhand wesentliche Werte oder wertbildende Vorgänge sich knüpften.

Die Lesungs-Gesichtspunkte der Geschichteschreiber sind nur Teilausdruck der gesamten religiösen oder philosophischen Wunschanbilder der Zeitalter. Sie entfalten ihre Macht in Bezirken, welche scheinbar mit der Natur der Geschichtsschreibung nichts zu tun haben (zum Beispiel als wechselnde Leitbilder bei der Liebeswerbung der Geschlechter). Im Zeitalter der Revolution ergriff die Frauen und Mädchen ein solches Freiheitspathos, daß alle erotischen Gefühle davon durchtränkt waren. Der leidenschaftliche Weltbürger, der Gleichheitsapostel, der Jakobiner und Sansculotte, er mochte sein, wer er wollte, entfachte die Liebe der Frau. In den Zeiten der Religionsstürme wurde der Märtyrer, der Blutzeuge, der Bußprediger angeschwärmt. Zur Zeit der großen Kriege der Patriot, der Soldat, der Verteidiger der Heimat.

Würde also an den Willens- und Geschmackseinstellungen einer Volkheit eine wesentliche Wandlung vorgehn, so würde sich sofort auch die scheinbar-objektive Überlieferung ihrer Geschichte verändern. ...

Als der Knopfgießer, der den ›Menschen ohne Selbst‹ gleich einem mißlungenen Knopfe immer neu umgießt, den verzweifelten Peer Gynt zu holen kommt, da richtet dieser an ihn die anklagende Frage: ›Wie kann einer wissen, wozu er geboren ist?‹ Und der Tod hat darauf nur die eine Antwort: ›Das soll er wissen.‹

Wie der Schiffer auf der Wasserwüste seinen Weg kennt, indem er den Blick gerichtet hält auf den unverrückbaren Polarstern, so baut Volk und Mensch seine Geschichte, indem man das Auge richtet auf den Pol des Normativen, welcher niemals selber tathaft und historisch werden kann, wohl aber die notbewegte Welt des Tatsächlichen richtig beurteilen und auswerten lehrt.

§ 87. Über die dreifachen Leitbilder der Geschichte.

Solange der Mensch im bloßen Anschauen verharrt, ist er frei von aller Not und allem Schmerz, die mit dem Bewußtsein auch die Welt des Bewußtseins und ihren furchtbaren Gegensatz: Subjekt-Objekt aus dem Lebendigen herausschlagen.

Es ist der glücklichste und ursprünglichste Zustand der Seele über der Ausdrucks- und Bilder-seite des Lebens seine menschliche (sei es logische, sei es ethische) Bedeutung vergessen zu können.

Darum ist die ästhetische Geschichtsbetrachtung, wenn auch nicht die höchste, so doch die ursprünglichste und lebensnächste. Denn wie jedes unmittelbare Schauen eine Entselbstung und Ichauflösung im Gegenstande, also die Aufhebung des Gegensatzes (Ich und Gegenstand) benötigt, so ist die Kraft der ästhetischen Geschichte eine Hingabe und Anerkennung des ›andern‹, befreiend von aller Not des eigenen zeitlichen Daseins.

Wer diese ungeheure Seelenkraft besitzt, den grauenhaften Höllenbildern der Weltgeschichte rein als schauendes Auge sich hinzugeben (so daß er den Tod vergißt über den Anblick seiner Schönheit und gleichsam unter den Klauen des Tigers die Pracht des Felles bewundert), für den gilt das tiefe Wort Buddhas: ›Es ist alles schrecklich zu sein, aber schön zu sehn.‹

Vergessen wir nie, daß die wirkliche Geschichte nicht die lebende, sondern nur ›gewirkte‹, das heißt gedachte Geschichte ist, daß wir aber die geschichtliche Wirklichkeit erleben müssen, ehe wir sie denken.

Was bedeutet die ganze historische Wirklichkeit gegenüber dem allumfassenden naturgegebenen Meere des Lebens, welches die menschliche, das heißt wirkliche Geschichte mitsamt all ihrer Logik und Ethik nur wie ein vergängliches Wellengekräusel aufwarf, um schließlich die ganze Wirklichkeitswelt in Raum und Zeit wieder aufzutrinken und einzuschlucken. Wir haben das Leben nur, solange wir es nicht denken ( homo fit omnia non intelligendo). Nur in dem Erlebnis der Welt steckt eine keines Beweises bedürftige Gewißheit und Bestätigung, die die gedachte Welt, genannt ›historische Wirklichkeit‹ niemals haben wird. Es handelt sich um Unterscheiden des Daseins der ›Welt in Raum und Zeit‹ von ihrem Sein. Denn nur das Dasein der historischen Wirklichkeit untersteht der sinngebenden, gestaltenden Kraft des Geistes. Das Sein der Geschichte dagegen, jenseits von Sinn und Nichtsinn, ist uns so gewiß, daß der Begriff Gewißheit darauf nicht anwendbar ist. ...

Beobachten wir näher den Schlag des ästhetischen Geschichtsschreibers, Bhagavadgita, Herodot, Goethes Tagebücher, Henri Barbusse le feu; lettres d’un soldat 1917. so fällt uns auf: die bewundernswerte Freiheit von aller Stellungnahme zum eigenen Erlebnis und der Verzicht auf das Auswertenwollen der Tatsachen, die als Lebensgeschehnis eben jenseits von Vernunft und Sinn beharren. – Der ästhetisch gerichtete Historiker (mag das nun naive Ursprünglichkeit des Gefühls oder letzte menschliche Weisheit sein) hat alle Geschichtereignisse, selbst auf die Gefahr hin, mitleidlos, grausam, unsozial, unbewegt uninteressiert zu heißen, lediglich als Bild der Anschauung vor Augen. Und während der moralische Mensch im Grund sich selber liebt, erlebt der Schauende, im fremden Dinge weilend, die Liebe des fremden Dinges zu sich selbst und lernt es auf diese Art bestätigen. Können wir die Berechtigung einer Lebenstatsache nicht erfassen, so besagt das nur, daß wir weit von ihr entfernt sind; und unser Gut und Schlecht entfremdet uns mehr und mehr und vereinzelt uns gegenüber der Lebendigkeit. Der künstlerisch Schauende kennt weder das Gut und Schlecht, noch das Wahr und Falsch. Er begrübelt das Leben nicht, auch da nicht, wo er als Philosoph spricht. (Wenn aber der wollende Mensch den denkenden mitumfaßt, so umfaßt der nichts-als-fühlende alle beide. § 81.)

An diesem Punkte hat der zweite Schulfall der Geschichtsschreiber, der humane und heroische, trotz höherer Würde und edlerer Wärme seine Grenze. Tacitus, Plutarch, Carlyle, Niebuhr, Schlosser, Treitschke.

Er ist als der leidendere auch der tätige, der somit den Geschehnissen gegenübersteht und bei geringerer Kraft der Einahmung in Ereignisse die stärkere Rückstauung gegenüber Ereignissen besitzt. Für diesen wollend auswertenden Historiker gilt das Wort: indignatio facit historiam. Er hält die Wage der Werte. Seine Geschichtsauffassung entfließt weniger der künstlerischen Freude an Wiedergabe der bunten Wandelwelt als vorbestimmender Absicht, die ihn zum Prediger, zum Priester, in den höchsten Abarten zum Richter der Erde macht. In Worten, wie Gegen’stand, Ob’jekt, res, steckt deutlich der Hinweis auf das Abgeleitete aller Wirklichkeit. Sie ist ja eigentlich immer nur eine Rück-wirklichkeit. Nur im Ahmungserlebnis ist sie unmittelbar. Das aber kennt nur der ästhetisch-religiöse Mensch, nie der moralische, nie der logische.

Der denkende, logische Geschichtsschreiber endlich Cäsar, Livius, Ranke, Mommsen. wird von einer Lust rein wissenschaftlicher Art beflügelt, die man in einem ganz anderen Sinne der künstlerischen Freude vergleichen kann, indem diese Art Historiker weniger geleitet werden von der Frage nach dem Wirklichsein dessen, was sie feststellen als von dem Genuß am Zusammenhang und an Aufdeckung der lückenlosen historischen Notwendigkeit. Diese dreifache Einstellung des Historikers entspricht der dreifachen Art, die Not des Lebens zu bewältigen: gestaltend-anschauend; beurteilend-auswertend; einordnend-orientierend. Man könnte unterscheiden den fühlsamen, reizsamen, ordnenden Historiker: l’histoire sensitive, irritable, pensive.

Von einer anderen Seite her möchte ich die dreifache Möglichkeit der Geschichtsschreibung an hand jener drei Illusionsmächte beleuchten, die das Christentum die Kerntugenden nennt. (Liebe, Glaube, Hoffnung)

Goethes Auge war das eines großen Liebenden. Indem er auf die Geschichte blickte, schaute er die Wahrheit des Ideals in das den Sinnen unmittelbar Gegebene liebend hinein. Daher sind seine Berichte zwar immer realistisch, aber ihre Wirklichkeit ist auferhöhte, verklärte, gesteigerte. Dabei bedarf er weder des Glaubens an eine ideale Welt jenseits von Geschichte, noch der Hoffnung auf den durch geschichtliche Entwicklung in der Zeit verbürgten Fortschritt. Ihm genügt der Augenblickspunkt, selbstgenugsam, göttlich, unersetzlich. Alle Würde und aller Wert ist in Gestalt und Form der jeweils lebendigen Gegenwart unmittelbar gegenwärtig.

Anders das Auge Schillers, das gläubige Auge. Als das eines Sehers und Propheten schweift es von dem in Raum und Zeit leidvoll Gegenwärtigem hinweg zu heiteren Regionen, wo des Jammers dunkler Strom nicht mehr rauscht. Er besitzt den Blick des typischen Geschichtsschwarzsehers, dessen Poesie Nahrung zieht aus dem Zwist von Wirklichkeit und Ideal, eine Poesie teils des jugendlichen Überschwangs, teils der wirklichkeitunfrohen Ernüchterung, zugleich jüngling- und greisenhaft, wie denn Greis und Jüngling einander begegnen, dieser noch nicht auf der Erde daheim, jener schon nicht mehr. Aber nur darum ist Wirklichkeit voller Ekel, weil der sittliche Heros sie meistern will mit dem Maßstabe des höheren Glaubens.

Herder endlich, von den drei Großen der deutscheste und glückloseste, hat in seinem brüchigen Leben das hoffende Auge des Bestgläubigen, der, die großen Zusammenhänge sehend, auf Entwicklung vertraut. Nicht wie Goethe besitzt er die zeugende, allüberwindende Liebeskraft, die, festlicher Gegenwart froh, selbst in Staub und Kiesel den Gott einblickt, noch sieht er wie Schiller hinauf zu den Sternen als auf das bessere Jenseits, sondern sein Blick ruht auf der weiten Ebene Zeit, wartend auf Entwicklung, die aus Natur und Geschichte heraus den in der Welt eingekerkerten Gott stufenweise hervortreten lassen wird.


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