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V. Die tätige und die leidende Einstellung
in Geschichte.

§§ 30-33.

Vorbemerkung.

In den obigen Ausführungen über logificatio post festum liegt ein Gegensatz verborgen, welchen ich in dieser Schrift nur andeuten, nicht aber in seiner ganzen gewaltigen Wirksamkeit darstellen will: der Gegensatz der aktiven und passiven Einfühlung in Geschichte.

§ 30. Über die historische Mit- und Gegenahmung.

Hierzu der Entwurf der Ahmungspsychologie in ›Philosophie als Tat‹ S. 127-151. Ferner der Entwurf zu einer ›Allgemeinen Charakterologie‹ im Archiv für System. Philosophie 1918.

Jedes Werturteil wird durch die Frage vorbestimmt, ob ich die zu bewertende Tatsache als Täter oder als Erleider bewerte. Wir sind z. B. geneigt, Lüge und List für gerechtfertigt zu erachten, wenn just unsere Existenz sich ihrer aktiv bedienen muß, werden aber ausnahmslos jede Lüge, jede List mit sittlichen Widerständen beantworten, wo unsere Existenz wehrlos-duldend oder unnötig-leidend daran zugrunde geht. – Die bloße Tatsache der Defensive oder des Nichtanderskönnens gilt daher in der Geschichte als ein Rechtstitel; alles in ihr geschieht aus Notwehr, und die entscheidende Frage der Geschichte als Wirklichkeitswissenschaft ist immer: Wie erhalten wir uns? {Während die Ethik (im Gegensatz zu Geschichte) fragen müßte: Sind wir wert, erhalten zu bleiben?}

Fühlen wir uns demnach in der politischen Geschichte als das aktive Subjekt des Vorgangs (als diejenigen, die Geschichte machen und historische Schicksale verhängen und entscheiden), so gewinnen wir ein völlig anderes Weltbild, als wenn wir uns als vergewaltigte Opfer der Geschichte, als ihr bloßes Menschenmaterial oder Kanonenfutter empfinden. Daher ist es schon nicht gleichgültig, ob man einen Sachverhalt als Vorgesetzter oder als Untergebener zu betrachten hat, vielmehr ist die immer wiederkehrende Erfahrung der Geschichte, daß man fanatische Vertreter der duldenden Parteien dadurch umstimmt, daß man sie zu Ausführern und Verwaltern der von ihnen bekämpften Maßregeln macht, daß aber umgekehrt eine völlig aussichtslos nur zu Leiden vorbestimmte Schicht jede Gegenwart verwirft und jeder historischen Veränderung zustimmt, wie denn überall die historische Veränderung von dem ›kranken Punkte‹ ( a loco minoris resistentiae) ausgehn muß, welches sehr weittragende Gesetz ich das Gesetz der kranken Minorität genannt und als den eigentlichen und wahren Kern der Marxschen Verelendungstheorie sowie der Fortschrittstheorie von Proudhon und der von Henry George aufgewiesen habe. Schopenhauer, Wagner, Nietzsche S. 115.

Ein türkisches Sprichwort sagt ›Anders philosophiert das Pferd über die Peitsche, anders der Fuhrmann‹ und ein mittelalterliches Wort ›Wo der Goi lacht, da weint der Jüd‹; das will besagen, daß alle Geschichte aus einer Vogel- wie aus einer Froschperspektive gesehen werden kann und daß Bejahung des historischen Ereignisses nur das Werk derer sein kann, die das Ereignis übrig läßt und emporträgt; Verneinung dagegen der Notausgang derer, die dabei die Kosten tragen und mit dem Hinweis auf die Vernunft alles Wirklichen abgefunden werden.

§ 31. Lüge der historischen Ideale.

Wie würde eine Geschichtsschreibung vom Standpunkt der Schlechtweggekommenen die historischen Überlieferungen ändern? Wie würde Geschichte Roms und des römischen Reiches vom punischen Standpunkt aus zu schreiben sein? Wie Geschichte Spaniens vom Standpunkt der Azteken?

Die Politik des römischen Raubreiches im Beginne der Vernichtungskämpfe gegen Karthago ist von unübertrefflicher Nichtswürdigkeit; der stolzeste Senat entblödet sich nicht, unter tückischen Verklausulierungen mit offenkundigen Strolchen, den sogenannten Mamertinern ein Schutz- und Trutzbündnis zu schließen, nur um Gelegenheit zu bekommen, sich in die punischen Händel auf Sizilien einmischen und der Nebenbuhlerin Karthago schaden zu können. Als die nach Sizilien entsandte römische Flotte unterwegs ist, erhält sie die Nachricht, daß die Händel auf Sizilien schon beigelegt und ihre Sendung somit hinfällig geworden sei, aber schnell einsehend, daß damit eine erwünschte Gelegenheit verpaßt werde, befiehlt der Führer, die Nachricht nicht zu beachten, sich unwissend zu stellen und auf Sizilien zu landen.

Die Nichtswürdigkeiten des spanischen Heldengesindels in Peru, unter Cortez und Pizarro, ihre Treulosigkeit, Gemeinheit, Raub- und Mordlust gegen die Inka spotten jeder Beschreibung. Wir sind jedoch gewohnt, die Geschichte mit den Augen der überlebenden Sieger zu betrachten und besitzen keine Geschichte der untergegangenen Völker.

Es macht schon einen Unterschied, ob ich vorgeneigt bin, durch Sieg und Macht oder durch Mitleid und Erbarmen mein Urteil bestimmen zu lassen, ob ich geschichtliche Tatbestände ästhetisch oder moralisch begutachte. Die Geschichtschreibung eines Leopold v. Ranke zeigt ästhetische, die eines Johannes Scherr durchaus moralische Werte. Lesen wir eine vortreffliche historische Arbeit, wie die Darstellung der griechischen Sophistik durch George Grote, so lächelt hinter jedem Blatt das zufriedene Gesicht eines unabhängigen, begüterten Mannes, welcher Griechenlands dialektisches Zeitalter mit dem Auge des ästhetisch Genießenden betrachtet. Liest man aber die nicht minder vortreffliche Darstellung des selben Gegenstandes in der kritischen Geschichte Eugen Dührings, dann steht ein Entrüsteter hinter jedem Wort, der mit der Moral wie mit einer Keule die selben Personen erschlägt, die der englische Darsteller mit soviel Liebe schildert. Der italienische Historiker, der die Kultur der Päpste aus den Häusern Borgia und Medici weit über Luthers Reformation stellt und die Persönlichkeit Luthers als eng, bronzestirnig und bäurisch schildert, hat ganz sicher recht; aber die deutschen Historiker, welche Luthers sittliche Persönlichkeit gegen die liederliche Geschichte der Päpste auftrumpfen, haben zweifellos nicht minder recht.

Ein geschichtliches Faktum als solches, z. B. das Ende Roms, der Untergang Griechenlands, der Aufschwung Amerikas, ist an sich weder gut noch schlecht, weder positiv noch negativ wertvoll. Erst die Beurteilung gibt dem Geschehen ein Wertprädikat; diese Beurteilung aber ist Funktion der persönlichen Notwendigkeit, aus der heraus wir Stellung nehmend, das eine bestätigen und das andere verwerfen. Wahrscheinlich aber ist die Geschichtsentstellung aus Gegenahmung ( ressentiment) häufiger als Tatsachenverfälschung aus Liebe und Enthusiasmus. Diese Rolle des Ressentiment in der Geschichte ist noch völlig unerforscht. Nur Adolf Stahr versuchte in seinen zu Unrecht vergessenen, die Taciteischen Geschichtsmythen umstürzenden historischen Werken den Nachweis zu führen, daß viele Ungeheuerlichkeiten der römischen Kaisergeschichte, insbesondere der Geschichte des Tiberius, Caligula, Nero und Titus, nur Erzeugnisse eines sich rächenden Massengrolles sein können. Wer aber will bestreiten, daß ähnliche Skepsis selbst gegenüber der vermeintlich objektivsten Geschichtsschreibung berechtigt ist. Grade Tacitus behauptete reinen Gewissens sine ira et studio Geschichte zu schreiben und lieferte doch nur Tendenzschriften. Auch sei hier an die unausrottbare Gewalt gehässiger Legenden erinnert. Es hat vieler Jahrhunderte Mühe bedurft, bis man das Bild des Römers Vergil von dem Verdachte reinigte, daß ein böser Zauberer dahinterstehe. Im Augenblick belfert alle Welt gegen das sogenannte Testament Peters des Großen, obwohl längst erwiesen ist, daß es sich um eine freche Fälschung handelt. Kaum je ist eine keckere Lüge ersonnen worden als die Lüge von der Konstantinischen Schenkung. Aber länger als ein Jahrtausend wurde sie geglaubt. Alle Rechtstitel der Kirche ruhten auf den pseudoisidorischen Dekretalien. Noch Walther von der Vogelweide, ja noch Dante glaubten fest an ihre Wahrheit.

Eine der häufigsten Wahrnehmungen der Geschichte ist fernerhin jene, die Friedrich der Große in folgende Worte faßt: ›Daß Staatsmänner irren ist keine Eigenart unsres Jahrhunderts. Die Geschichte hat immer gelehrt, daß die großen Dinge klein enden.‹ – Man denke nur an die berühmte Liga von Cambrai, die Armada, den Krieg Philipp II gegen Holland, die großen Pläne Ferdinands II zu Beginn des dreißigjährigen Krieges, an den Erbfolgekrieg. Kein Mensch hatte gedacht, daß sie so auslaufen könnten, wie sie ausliefen.

Zwischen 1852 und 1862 wurde in Deutschland jeder als Verräter am vaterländischen Ideal gebrandmarkt, der die Politik Otto v. Bismarcks zu verteidigen unternahm; nachdem aber diese Politik siegreich geworden war, wendete das Blatt sich so gründlich, daß heute, 1914, just umgekehrt als Verräter am vaterländischen Ideal gebrandmarkt wird, wer z. B. die Annexion des Elsaß, die Ausstoßung Dänemarks aus dem Deutschen Reich, die Entfremdung des Königreichs der Niederlande, die Einverleibung Hannovers in Preußen usw. als Fehler der Bismarckschen Politik brandmarken oder gar den Deutschen Bund zurückwünschen würde. Wer die selben Ansichten, die vor fünfzig Jahren die öffentliche Meinung von ganz Deutschland waren, heute verteidigt, gilt als Lump oder Narr. So aber steht es um alle Ideale der Geschichte. Sie veralten von heute auf morgen. Überhaupt aber ist es Lug und Trug zu wähnen, daß starke sittliche Gesinnungen und Inhalte jemals im öffentlich-politischen Leben sich durchsetzen können; vielmehr sind die sogenannten politischen Charaktere durchaus ein Gegenpol der sittlichen. Sie sind im besten Fall von der Art des Mark Anton in Shakespeares Julius Cäsar, dessen Rede III, 1 die beste Darstellung völkischer Meinungpflanzerei ist.

Jedes Blatt Geschichte, von der frühesten Ahnenzeit bis zur Gegenwart, predigt immer und immer wieder neu, daß historisch-politische Ideale Umschreibungen für praktische Absichten sind und nie etwas anderes sein können, wenn auch freilich jedes Volk das andere totzuschlagen oder zu begaunern sucht in der heiligsten und reinsten Überzeugung, die Kultur, den Weltfrieden, die Sittlichkeit, das Recht und ich weiß nicht was alles zu verwirklichen; am meisten freilich glänzen in ideologischer Verlogenheit die germanischen Völker, besonders Engländer und Deutsche.

›Wenn Glocken läuten, haben Menschen fromme Gefühle,
Wenn die Kanonen dröhnen, kriegerische.‹

(Russisch.)


Um zu lernen, daß die idealen Attituden der Völkergeschichte zuletzt irgendwelche Macht- und Nutzwilligkeiten der Menschen verbergen, betrachte man nur das ewige widerwärtige Gezänk der Ghibellinen und Guelfen während des ganzen Mittelalters, wobei nicht etwa nur einzelne Personen, nein ganze Städte innerhalb weniger Monate drei- oder viermal ihre politische Überzeugung von Grund auf wechselten, je nachdem die selbstsüchtige Notwendigkeit das empfahl; oder um ein Beispiel aus jüngerer Zeit zu haben, so beobachte man, wie die katholische Kirche sich bald bestimmten nationalen Erfordernissen, zumal denen Frankreichs, anpaßt, bald auch wieder auf eine übernationale Denkart und die Zwischen- und Allmenschlichkeit ihrer Glaubenslehre sich besinnt; oder wie der europäische Sozialismus, August 1914, den entscheidenden Augenblick, wo sein internationaler Gedanke sich erproben und zur Wahrheit werden konnte, kläglich charakterlos verpaßte, aber auf die alte internationale Phraseologie sich sofort besann, sobald die Massen sie wieder zu hören wünschten. Oder man betrachte die über alle Begriffe klägliche und erbärmliche Haltung der Frauen und Frauenbewegung während des Weltkrieges oder die Friedens- und Fortschrittsphraseologie, mit der Amerika seine ganz vortrefflichen Geschäfte bemäntelte. – Gegenwärtig (1916) werden in England die Serben, weil sie einen Unabhängigkeitskrieg gegen die Türken führen, als Märtyrer und Helden der Freiheit bewundert, dagegen die Iren, weil sie den selben Unabhängigkeitskrieg gegen England führen, Verräter genannt und grausam hingeschlachtet. In Deutschland bezeichnet man umgekehrt die Iren als Märtyrer und Helden der Freiheit, dagegen die Serben aus den nämlichen Gründen als Schurken, die den Völkertod verdient haben. – Nach Rénan sind die Jahre 1815-1848 die glücklichsten, die das Menschengeschlecht je erlebt hat: Treitschke dagegen bezeichnet die selben Jahre als die allerunglücklichsten. Gibbon nennt die Zeitalter der großen Monarchien, Macaulay die der großen Republiken die Höhepunkte der Geschichte. So also entscheidet niemals der reine Wert der Sache, sondern unsere Einstellung zur Sache und die Frage, ob wir zu ihr als Täter oder als Erleider uns verhalten.

§ 32. Die Geschichtsethik der Sterben- und Tötenkönner.

›Philosophie als Tat‹ S. 79-82.

Die Doppeleinstellung als Mit- oder Gegenahmung wird nur selten so klar und einfach zum Ausdruck kommen wie an der tätigen Geschichtsphilosophie Hegels und an der erleidenden Schopenhauers.

Wenn Hegel von Geschichte spricht, dann pflegt er stets sein eigenes Volk, ja sogar die preußisch-protestantische Sondergeschichte mit dem absoluten Geist zu identifizieren, ehrlich davon überzeugt, daß, wenn er, Friedrich Wilhelm Hegel philosophiert, dann eigentlich das Logos selber durch ihn hindurch philosophiert, wie Jehova durch Bileams Esel. Immer denkt Hegel sein eigenstes logisches Ich als handelndes Subjekt der Geschichte. Schopenhauer aber fühlt anders. Er weiß sich dazu berufen, die Stimme der leidenden Kreatur wiederzutönen, und indem er von Geschichte spricht, steht er durchaus draußen, dem Ringkampf um die Macht nur zuschauend und auch den Freuden der ritterlichen Tat so abhold, wie der Buddhist oder der Christ, dessen Reich ›nicht von dieser Welt ist.‹

Die beiden Denker vertreten Gegenpole der Geschichtsauffassung. Der gewöhnliche Mensch ist bald Täter, bald Dulder der Geschichte, oft leidend und tuend zugleich, ja vielleicht sogar im Leide aktiv oder in aller Aktivität ein Leidender; zugleich Richter und Opfer des historischen Prozesses.

Zu voller Ruhe und Sicherheit kommt daher das historische Urteil nur dort, wo die historische Tatsache kein Interesse mehr hat; so lange aber die Tatsachen mit Interesse betrachtet werden, kann es sich immer nur um den Wechsel zwischen aktiver und passiver Einstellung handeln. Die historische Auswertung kommt dabei in gleicher Art zustande, wie z. B. ein moralisches Urteil über Statthaftigkeit oder Verwerflichkeit der Untreue, Lüge, List usw. Je nachdem der Urteilende sich in Lagen einversetzt, in denen er selbst gezwungen ist, die Treue zu brechen oder aber in solche, bei denen er selbst der Betrogene ist, ändert sich der Wertakzent. Keiner will belogen werden, jeder aber Gelegenheiten gelten lassen, in denen er sich eine Lüge zubilligt. Immer also muß eine Eigenbezüglichkeit des Wollens hinter dem Werturteil stehn. ...


Eine Nation, die ihren eigenen Untergang als sittlich-sinnvoll bejubelte, würde möglicherweise den letzten Gipfel der Ethik darstellen, sicher aber nicht lebensfähig sein; muß daher noch gefunden werden. Die Notwendigkeit und Berechtigung der eigenen Existenz ist die unerschütterliche Voraussetzung aller historischen Urteile und Schätzungen. Gleichwohl kann geschehen, daß die logificatio post festum den im § 28 dargelegten Notausgang einschlägt und das eigene Leiden als eigene Schuld logifiziert, womit das, was ohnehin getragen werden muß, mit scheinbarer Freiheit getragen wird, indem man es als irgendwie verdiente Bestrafung von nachhinein billigt. Dies ist – (ein immer wiederkehrender Vorgang der Geschichte) – der Weg, auf dem der Besiegte und Leidende seine Aktivität zu erretten pflegt. So lassen die Kinder Israel zu Zeiten der Macht, in aller Herzenseinfalt von Jehova mit der Vernichtung der Kananiter sich beauftragen; aber in den Tagen des Exils erretten sie sich eine aktive Macht auf dem Umweg über die Ethik, welche auf die Frage: Warum haßt man uns? die Antwort erteilt: Weil wir schuldig sind. ... In dem Augenblick einer entscheidenden Niederlage wird eine große Literatur da sein, die post festum darlegt, durch welche Schuld diese Niederlage entstanden sei; und zwar werden die selben Leute, die den gegenwärtigen Krieg gemacht haben, (dadurch, daß sie ihm nicht Widerstand entgegensetzten), nachdem er traurig ausging, das Problem lösen, auf Grund welcher Fehler er traurig ausgehen mußte. ›Philosophie als Tat‹ S. 324.

Wir haben somit die geschichtliche Meinung durchaus als Funktion von Zuständen oder Lagen zu begreifen. Geschichtliche Meinungen beweisen, was ein Mensch will und was er nötig hat. Daß dabei die Aktivität oder Passivität der Einstellung entscheidet, behauptete schon die oft vorgetragene und zumal durch Friedrich Nietzsche so volkstümlich gewordene Lehre von der doppelten Moral, einer Moral der Mut- und einer anderen der Angstmenschen, einer Offensiv- und Defensiv-, Herren- und Sklavenmoral. Der Fehler dieser Lehre ist nur der, daß sie für historische Tatsache ausgibt, was psychologische Grundtatsache der Geschichts stiftung ist. Denn sämtliche Gedanken der Menschen, auch die zartesten, könnte der Psychologe im Graben auf die beiden Formeln zurückführen: ›Ich will fressen‹ oder: ›Ich will nicht gefressen werden.‹

§ 33. Zusammenfassung der §§ 30-32.

Zum Schluß fasse ich das Ergebnis der §§ 30-32 folgendermaßen zusammen: Was wir Geschichte nennen, das geht einmal am Menschen vor. Insofern empfindet das Individuum und mehr als jedes andere das vereinzelte und einzige Individuum sich als Opfer der Geschichte. Daher denkt das Individuum von sich aus immer unhistorisch und beurteilt die Geschichte als paradox und widersinnig, gemessen an der sittlichen Forderung des Leidenden. Andrerseits aber machen wir selber Geschichte. Und insofern wir jene lebendigen Energien, welche als Erden- und Menschengeschichte sich verleiblichen, mit unserm Wesen gleichsetzen und uns selbst als Motorkraft in ihnen wieder finden, d. h. unsern bewußten, die Erde umgestaltenden Willen in sie hinein versetzen, stellen wir uns auch zur Geschichte bejahend. Wahrscheinlich dürften Stimmen der fernsten Vorzeit, teils die Instinkte ins Befehlsrecht eingeborener, teils die unterdrückter Rassen in diese zwiefache Optik sich einmischen, jener wesentliche Unterschied der Sterbenkönner und der Tötenkönner, den ich ›Philosophie als Tat‹ I, 79 darlege und als Grundlage der Ethik aufweise. Ich verweise als auf den unvergleichlich typischen Ausdruck dieses Verhältnisses auf die beiden ungleichen Definitionen des Kriegs aus der Feder des preußischen Generals Karl v. Clausewitz und des slawischen Märtyrers Fedor Dostoiewski in meinem Buch: Europa und Asien S. 75f. (Handelnder und duldender Geist Kap. XII.) –

*

An einem sonnigen Morgen, Frühling 1914, ging ich in Paris über den noch wenig belebten Place de la bastille, fand die Tür der Julisäule unverschlossen und beschloß, hinaufzusteigen, um von droben die Stadt zu besehn. Als ich auf der letzten Stufe der Steintreppe anlangte, sah ich auf der engen Plattform die Gestalt eines Apachen von bösartiger Physiognomie und hatte einen Augenblick die Vorstellung: Wenn der dich ausplündern und über das niedere Gitter stoßen und man dich dann unten finden würde, so würde man an Selbstmord glauben, der Täter aber straflos ausgehn. In diesem Augenblick schien mir’s, als ob diese ängstliche Vorstellung die gleiche aktiv in dem Entgegenstehenden auf mich zöge und im Nu schlug jener Gedanke um in den entgegengesetzten, die günstigere Stellung nahe der Treppe benutzen und den andern über das flache Gitter drängen zu können. Auch das fühlte der andere, dessen bedrohliche Geste der kriechenden des Almosenbettlers wich. Dieser Vorgang zwischen zwei Seelen dauerte noch nicht den hundertsten Bruchteil einer Sekunde und lag eigentlich nur in einem einzigen Austausch des Blicks. Der aber genügte, um die entscheidende Rolle aktiver oder passiver Einstellung klarzumachen.


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