Ottilie Wildermuth
Das Bäumlein im Walde
Ottilie Wildermuth

Ottilie Wildermuth

Das Bäumlein im Walde


1.

Kein Mensch hätte es des Hirten Hannesle angesehen, was das für ein geschickter Bub' sei; nur der Schulmeister, obgleich er ihn wegen der vielen Schulversäumnisse oft auszankte, sagte doch, wenn er seine raschen, flinken Antworten hörte: »Hannesle, du hast's hinter den Ohren!«

Im Winter war zwar Hannesle ein fleißiger Schüler, er lernte gern und hatte eine große Liebe zu dem Schulmeister; nur fragte er oft so viel, daß zuletzt dem Schulmeister das Antworten ausging, weshalb er auch der Fragenhannesle genannt wurde. Er saß aufmerksam da mit seinem Tafelscherben (zu einer ganzen Tafel hatte er's noch nie gebracht) und rechnete alle Aufgaben nach, oft sogar noch neue dazu, die er sich selbst gestellt hatte. Aber im Frühling, da wollte es ihn gar nicht mehr auf der Schulbank leiden; er sah viel öfter zum Fenster hinaus als in das Buch, und so lieb er sonst dem Schulmeister war, er mußte doch manchmal die starken Haselstöcke spüren, die er selbst dem Lehrer in dem Wäldchen geschnitten hatte.

Gelegenheit zum Schulversäumen gab's nun freilich manchmal, da sein Vater nicht nur Viehhirte, sondern auch Amtsbote war, und am Markttage, wo er in die Stadt mußte, den Hannesle als Amtsverweser bei den Kühen anstellte, die er schon recht ordentlich zu regieren wußte. Der Schulmeister drückte wohl auch ein Auge zu; Hannesle brachte ihm nicht nur die guten Haselstöcke, er brachte auch der Frau Schulmeisterin trockene Tannenzapfen, um ihre Bügelstähle heiß zu machen, und ihrem kleinen Minchen reife Erdbeeren. Er trieb überhaupt beständig einen kleinen Handel mit Rohrflöten, mit kleinen Ketten aus Roßhaar geflochten oder aus Kirschensteinen geschliffen, Klappern aus Welschkornstengeln, Hexenklavieren aus Nußschalen und allerlei solchen Raritäten, zu denen ihm die liebe Natur den Stoff lieferte. Dafür gaben ihm dann die wohlhabenderen Jungen Brot, Ölkuchen, wohl auch ein Würstchen am Tag, wo geschlachtet wurde. Der Schulmeister durfte schon ein bißchen Nachsicht üben, denn Hannesle war ein nachdenkliches Büble; er verarbeitete sich an den freien Tagen, was er in den Schulstunden gelernt hatte, und wußte so am Ende mehr als mancher gedankenlose Bengel, der mit offenem Maule dasaß und sich das Wissen hinunterstopfen ließ wie eine Gans das Welschkorn.

Hannesle war blutarm, obschon der Hinterlohn und das schmale Botenbrot, das der Vater einnahm, diesen und das einzige Büblein vor dem bitteren Mangel hätten schützen können, der zur Winterszeit oft in der Hütte einbrach. Aber leider hatte er schon vor Jahren seine gute, treue Mutter verloren und ein armer Hirt kann sich keine Haushälterin nehmen. So wurde denn der Erwerb nicht ordentlich zu Rate gehalten, wenn auch der Vater den besten Willen hatte; nur die kleine Handelschaft Hannesles schützte zuzeiten den Knaben vor bitterem Hunger.

Hannesle ließ sich das aber nicht anfechten; wenn er mit einem Stück Schwarzbrot im Sack hinter seinen Kühen herzog, so dachte er nicht an Not und Sorge, er sang ein Liedchen vor sich hin, das er irgendwo aufgeschnappt hatte und das ihm besonders wohlgefiel:

»Ich lebe in Einsamkeit
Gelassen für mich hin,
Und es hat mich noch nie gereut,
Daß ich kein König bin.«

Dann dachte er sich allerlei aus, was er einmal tun und ausführen wolle, um dem Vater gute Tage zu machen: er wollte sich zusammensparen zu einer Hacke und Schaufel, womit er an der Eisenbahn arbeiten könnte; dann wollte er so viel verdienen, daß er ein Pferd und einen Karren kaufen könnte. »Fuhrwerken trägt schwer Geld ein,« dachte er weiter; »dann kauf' ich mir einen Wagen, zuerst mit zwei Gäulen, dann mit vier, zuletzt mit acht. Ho, Braun!« schrie er, schon in Gedanken hinter seinem achtspännigen Wagen, und knallte dazu mit seiner Hirtengeißel. Das dünkte ihm das schönste und lustigste Leben, mit einem Wagen und stattlichen Pferden landaus landein zu fahren; mit wahrer Ehrfurcht lauschte er dem schweren langsamen Gerumpel eines großen Frachtwagens, besonders wenn er so in die stille Nacht hineinfuhr, wo er sich 's gar wunderbar und abenteuerlich vorstellte.

Noch viel schöner aber, dachte er, müßte es sein, übers Meer zu gehen, nach Amerika! Oft und oft bat er den Vater, wenn der klagte über sein mühseliges Tagewerk: »Oh Vater, wir wollen nach Amerika gehen; da gibt's Geld genug und die Säu laufen ledig auf der Gaß herum.« – »Dummer Bu', bild' dir so nichts ein!« sagte dann der Vater; »ich bin zu alt nach Amerika; das Geld hab' ich nicht und von der G'meind fortschaffen laß ich mich nicht, dabei bleibt's.« Dabei blieb's denn, und doch schien dem Hannesle Amerika das gelobte Land, und er kannte keinen höhern Wunsch, als es einmal zu erreichen.

Es war in den glückseligen Tagen der Heuvakanz, als Hannesle singend und pfeifend mit seiner Herde auszog. Da sah er auf einem Stein vor dem Dorf ein Mädchen von etwa zwölf Jahren sitzen, die ein kleines, vielleicht zweijähriges Kind auf dem Schoße hielt und bitterlich weinte. Die Mädchen waren Hannesle fremd und die Kinder vom Orte kannte er doch alle so genau. Er wollte vorbeigehen, die Kleine aber streckte die Hände aus und rief: »Mokele Muh,« als die Kühe vorüberzogen; er konnte nicht loskommen, das weinende Mädchen dauerte ihn so. So hielt er denn still und fragte: »Wie heißt du?«

»Rösle,« antwortete das Mädchen, schüchtern die Augen zu ihm erhebend.

»Warum heulst, Rösle?« fragte er weiter.

»Ich schäm' mich so.«

»Warum schämst dich?«

»Weil man uns ins Bettelhaus gebracht hat,« und Rösle, deren Tränen einen Augenblick getrocknet waren, brach, in ein neues Schluchzen aus.

»Warum seid ihr im Bettelhaus?« fragte der unermüdliche Fragenhannesle weiter, aber in so gutmütigem Ton, daß ihm Rösle die Antwort nicht versagen konnte.

»Weil mein Vater und Mutter nach Amerika sind und wir sind da 'blieben,« schluchzte sie, und die Kleine weinte jetzt zur Gesellschaft mit.

»Aber warum seid ihr nicht nach Amerika?« fragte Hannesle, dessen Augen funkelten, wenn man nur Amerika nannte.

Ja, das war eine lange, traurige Geschichte! Hannesles Kühe waren während seiner vielen Fragen schon vorausgelaufen und machten eben die schönste Anstalt, sich in dem grünen Saatfeld satt zu fressen.

»Potz Kuckuck!« rief der Fragenhannesle und sprang den Kühen nach, die er alsbald mit seiner langen Geißel wieder auf den rechten Weg brachte. Das Rösle, dessen Tränen unter dem Frag- und Antwortspiel etwas getrocknet waren, spaziert ihm langsam nach mit dem Schwesterlein auf dem Arm; Hannesle winkt ihr näher, und indem er unter dem Erzählen sein Vieh besser im Auge behielt, fragte er aus dem blöden Mädchen nach und nach alles heraus, was er gern von ihr gewußt hätte.

Eine gar betrübte Geschichte war es, die ich euch kürzer und genauer erzählen will, als Hannesle sie von dem armen Rösle erfuhr, deren Tränen unter ihrem Bericht immer wieder neu flossen.

Der Vater der zwei Mädchen stammte aus dem Dorf hier; er war seines Handwerks ein Küfer, ein geschickter und fleißiger Mann, aber gar heftiger und unstäter Natur. Als Gesell schon bekam er überall, wo er in Arbeit stand, Händel; wenn er aber auch keine bekam, so blieb er selbst nicht lange: »Es leid't mich nicht zu lang an einem Ort,« sagte er oft. Nach langen Wanderungen hatte er sich endlich in einem weit entfernten Städtchen als Meister gesetzt, hatte ein braves Weib geheiratet und nach und nach vier Kinder bekommen; Rösle war die älteste, dann kamen zwei kleine Buben und das Jüngste, Rikele, die jetzt an der Schwester hing. Eine Zeitlang schien's fast, als ob das eigene Haus, das Weib und die lieben Kinder dem Matthes Brauser, so hieß der Mann, die Wanderlust vertrieben hätten; er arbeitete ordentlich, und trotz der vier Kinder wären sie doch wohl zu einem kleinen Vermögen gekommen, wenn nicht der Mann allezeit so mancherlei angefangen hätte. Es fiel ihm alles mögliche ein, was gar nicht zum Küferhandwerk gehört: bald wollte er fischen, bald entlehnte er ein Gewehr und ging heimlich aufs Hasenschießen aus und legte Vogelschlingen. Lisbeth, sein Weib, hatte gar keine Freude an den Braten, die er ihr heimbrachte. »Schuster, bleib' beim Leisten,« sagte sie oft; »ich sag' dir, Matthes, es ist nichts nutz, wenn ein Handwerksmann seinen Profit nicht beim Handwerk sucht.«

Dann kamen viele schlechte Weinjahre, das Handwerk wollte nicht mehr gehen; dem Matthes entleidete nicht nur das Gewerbe, es waren ihm oft auch Weib und Kind entleidet, die ihn hinderten, wieder in die weite Welt hinauszuziehen, nach der es ihn so gewaltig zog. Lisbeth bemerkte das wohl, und wie sie sah, daß trotz ihres treuen Fleißes die Armut mehr und mehr einkehrte in ihrem Haus, da schlug sie selbst am Ende ihrem Mann vor: »Matthes, wir wollen lieber miteinander fort, und recht weit weg, nach Amerika, wenn du willst.«

Das richtete den Matthes auf, und voll Lust und Leben schickte er sich dazu an; bald war alles verkauft und der Vertrag geschlossen; nur kam er seufzend zurück: er habe gehört, Kinder seien eine grausige Last in Amerika. »Ich wär' lieber zuerst allein gegangen,« schlug er seinem Weib vor; »dann hätt' ich euch nachkommen lassen, wenn's gut gegangen wäre.«

»Nichts da!« sagte Lisbeth entschlossen, »was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. Mann und Weib und Kinder gehören zusammen.«

So war denn an einem Morgen das traurige Deckelwägelein, wie man sie hier und da mit Auswanderern sieht, zur Stadt hinausgefahren; die Kinder jubelten, daß sie fahren durften, das Weib weinte, Matthes war still und finster und brütete über einem dunkeln Entschluß. »Matthes, du hast nichts Gutes im Sinn,« sagte Lisbeth ein paarmal ängstlich zu ihm.

Jawohl war es nichts Gutes, was Matches sich ausgedacht hatte! An dem kühlen nebeligen Morgen, wo die Passagiere eingeschifft werden sollten, war wie immer groß Gedränge und Getümmel am Landungsplatz; Matthes hieß die vier Kinder hübsch beisammenbleiben, bis er und die Mutter die Kiste aufs Schiff geschafft hatten; aber – o weh! als die Mutter, die gar lange im Schiff aufgehalten wurde, bis die Kisten und Körbe recht gestellt waren, eilig zurück wollte, um jetzt ihre Kinder zu holen, da war das Schiff schon im Gang, schon weg vom Ufer und vergeblich war das verzweifelte Geschrei der Mutter, die ins Wasser springen wollte, um ihre Kinder wiederzuholen. »Sei ruhig, Weib!« bat sie Matthes, »wir können nichts davor, 's ist jetzt schon so; den Kindern geschieht gewiß nichts, und geht ihnen vielleicht besser, als wenn sie sich mit uns hätten durch die Welt plagen müssen; vielleicht gibt's hier zu Lande gute Leute, die sie behalten, oder im schlimmsten Fall bringt man sie zur Gemeinde zurück, die muß sie erhalten; wenn's uns dann drüben gut geht, so holen wir sie alle.« Das half aber wenig bei der betrübten Mutter; da hieß es auch, wie in der Bibel steht: Sie weinte um ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen.

Und die armen Kinder, die sich so gefreut hatten, bis sie auf dem großen Meerschiff fahren durften! freilich wußten sie nicht, wie schwer und lang oft eine solche Fahrt ist. Lange, lange konnten sie gar nicht begreifen, daß sie vergessen sein sollten. Rösle wiegte fort und fort das Rikele in ihrem Schoß und tröstete die Brüder: »Sei ruhig, Fritzle, d' Mutter kommt bald; wart nur. Gottlieb, der Vater holt dich!« aber Vater und Mutter kamen nicht, und als endlich die Kinder sich dicht ans Ufer drängten, als sie das große Schiff dahinbrausen sahen, da begriffen sie es erst nach und nach und brachen in lautes Jammergeschrei aus.

Es sammelten sich viele neugierige und mitleidige Leute um die armen Kinder; man schenkte ihnen etwas Geld, ein gutmütiger Wirt nahm sie nach Hause und gab ihnen reichlich zu essen. Den Buben schmeckte es bei allem Jammer, Rösle allein konnte nichts essen und mußte fort und fort weinen, während sie dem Rikele sein Milchsüppchen gab, die mit großen Augen in der fremden Wirtsstube herumsah. Von all dem Unglück verstand die Kleine nichts, als daß die Mutter fort sei, und tröstetete die andern immer mit dem alten Trost, den ihr sonst Rösle gab: »Mamme fortgangen, Mamme wiederkommen.«

Behalten wollte niemand die verlassenen Kleinen. So wurden sie denn nach ihrem Heimatort zurückgeschafft; die zwei Buben wurden in der Stadt aufgenommen, wo der Vater zuletzt gelebt hatte und bei armen Leuten gegen geringes Kostgeld untergebracht; Rösle und ihr kleines Schwesterchen kamen nach dem Geburtsort ihres Vaters und wurden ins Armenhaus, von den Bauern schlechtweg Bettelhaus genannt, aufgenommen.

Das alles hatte Hannesle nach und nach dem Rösle abgefragt, und er hatte schrecklich Mitleid mit den armen Kindern, nicht sowohl weil sie von Vater und Mutter getrennt waren, als weil sie schiergar nach Amerika gekommen waren und dann doch nicht. »Ja wär' eben ins Wasser gesprungen und dem Schiff nachgeschwommen,« versicherte er Rösle, »ich hätt's lang noch eing'holt.«

»Ich kann nicht schwimmen,« entschuldigte sich das arme Rösle, »und mit meinem Rikele vollends nicht.« Das mußte Hannesle zugeben.

»Aber warum gehst ins Bettelhaus und wirst nicht lieber Kindsmagd?« fragte er weiter.

»Ich muß mein Rikele hüten,« sagte Rösle; »und uns beide will kein Mensch.«

So war es; obgleich das Rikele wohl selbst gehen konnte, so hing sie doch unzertrennlich an der Schwester, die ihr jetzt Vater und Mutter sein mußte. Erstaunlich gescheit war das gute Rösle nicht und gelernt hatte sie noch nicht viel; ihr Amt war auch daheim immer gewesen, die kleinen Geschwister zu hüten. So war sie dem kleinen Rikele nun alles und alles, und verpflegte das Kind wie eine Mutter; aber ins Haus nehmen wollte sie niemand mit der kleinen Last.

Im Armenhaus zu sein schämte sie sich bitterlich, wie sie schon dem Hannesle geklagt; auch herrschte nicht viel Frieden und Eintracht unter den paar mürrischen alten Weibern, die es bewohnten; da zog sie denn Tag für Tag, wenn es nicht regnete, mit dem Rikele heraus an die Straße, wo sich die Kleine mit allem unterhielt, was vorüberging.

Von jenem Morgen an bildete sich eine Freundschaft zwischen den Kindern; Rösle und ihre Kleine gingen mit Hannesle auf den Weideplatz, und da gab es immer Unterhaltung für das muntere kleine Dinglein. Die Mokele, wie sie die Kühe nannte, taten ihr gar nichts; sie lachte laut, wenn sie um sie herumsprangen, und Hannesle übte alle seine Künste dem Rikele zu Gefallen: er machte ihr Körblein von grünen Klebbinsen und suchte rote Erdbeeren dazu: er blies ihr schöne Stücklein vor auf seiner Rohrflöte oder legte mit Rösle einen Kaufladen an, wo gelbe und weiße Blumenblättchen, Körnlein, Beeren und allerlei solche Dinge als Zucker, Kaffee, Eier und Butter verkauft wurden, und Rikele durfte mit kleinen und großen Kieselsteinchen kommen und abkaufen; die Kleine klopfte in die Hände und jauchzte laut auf, wenn sie Hannesle nur von weitem kommen sah. Den Handel mit den Schulbuben betrieb Hannesle jetzt noch viel eifriger, weil er sich so freute, wenn er der Kleinen etwas mitbringen konnte; er lachte hell auf, wenn sie mit ihren kleinen Händchen in seiner Hosentasche herumkrabbelte und immer fragte: »Annsle, nix bacht?«

Der Weideplatz war am Eingang des Waldes, wo mitunter noch weicher Moosgrund war und einzelne hohe alte Bäume standen. Das Liebste war den Kindern da eine alte hohle Eiche, in deren weiter Öffnung sie alle drei Platz hatten. Hier saßen sie gar manchmal in Sonnenschein und Regen, die drei verlassenen Kinder; denn auch um Hannesle bekümmerte sich sein Vater nicht viel und andere Leute noch weniger; Hannesle pfiff und sang und erzählte der Kleinen, und wenn die oft eingeschlafen war auf ihres Rösles Schoß, so hub er an zu fragen und ließ sich von dem geduldigen Mädchen immer wieder erzählen von jener unglücklichen Fahrt, von ihren Brüdern, von ihrer Heimat.

Am liebsten erzählte Rösle von ihrer Mutter, an der ihr ganzes Herz hing. »Oh, die ist arg brav,« versicherte sie den Hannesle. Auch redete sie gern von allem, was sie einst daheim gehabt, damit man sehe, daß sie nicht immer im Armenhaus gewesen. »Oh, und die Mutter hat versprochen, am nächsten Christtag, wenn's Rikele ein bißchen g'scheiter sei, krieg' sie einen Baum!« und sie weinte wieder.

»Einen Christtagsbaum?« sagte Hannesle, der das Weinen bei andern nicht ertragen konnte, »oh, das ist sein schön! ich hab's bei's Amtmanns schon zum Fenster 'nein gesehen; ich hab' nie einen gehabt.«

»Aber ich, wie ich klein g'wesen bin,« versicherte Rösle; »O, mein arms Rikele kriegt nie kein Bäumlein!«

Von der Stunde an aber sann der pfiffige Hannesle darauf, wie er dem Rikele ein Bäumchen verschaffe. Er hatte sich's endlich ausgedacht; er hatte allerlei gesammelt: ein paar schöne kleine purpurrote Äpfelein noch vom vorigen Jahr, Christtagsäpfel genannt, eine Handvoll Nüsse, allerlei Reste farbigen Papiers und bunte Bänder, die ihm Krämers Kaspar für einen prachtvollen Hornschröter (Hirschkäfer) gegeben hatte; nur Lichter, ach, Lichter wollten sich keine dazu finden! Aber warum brauchte er auch Lichter? Er hätte ohnehin gar nicht warten können bis Weihnachten, das war ja noch so schrecklich lang, und er freute sich doch auf des Rikeles Freude; warum sollte er nicht auch ein Bäumchen mitten im Sommer und am hellen Tag machen können? – »Aber ein Fest sollt's eben doch sein,« dachte Hannesle wieder und kratzte sich am Kopf. Da sagte man ihnen in der Schule, daß am Sonntag Pfingstfest sei, und ermahnte sie, das Fest still und andächtig zu begehen. »Jetzt ist's recht,« dachte Hannesle in hellem Jubel; »Pfingstfest! das ist auch ein hohes Fest, und ein Pfingstbaum gilt gerade so gut wie ein Christtagsbaum, bleib's dabei!«

»Du,« flüsterte er dem Rösle in lauterer Freude zu, die heute nicht auf die Weide konnte, weil sie im Armenhaus putzen helfen mußte, »du, aber am Pfingsttag wird's schön! Gib acht, da mußt mit dem Rikele in Wald kommen.«

Rösle freute sich sehr, obgleich sie sich gar nicht vorstellen konnte, was denn so schön werden solle. Es war Pfingsttag Morgen, herrlicher klarer Sonnenschein, alles still, ganz still drinnen im Dörflein und draußen in Feld und Wald; nur die Kirchenglocken klangen hell und schön durch die ruhige Luft. Hannesle hatte früh am Tag ein junges Tannenbäumchen aus dem Wald geholt; das putzte er jetzt prächtig auf mit seinen roten Äpfeln und bunten Streifen und meinte, so schön wie das könne es doch auf der Welt nichts mehr geben, »und am hellen Tag ist's ja erst noch viel schöner als bei Nacht,« dachte er triumphierend.

Jetzt hörte er hinter dem Baum Rösle mit der Kleinen. »Sachte!« kommandierte er. »Jetzt kommt ihr! du machst aber die Augen zu, und läßt auch das Rikele noch nicht hergucken; es steht noch nicht ganz fest; wenn ich dann schrei: ›Musch!‹ so guckt ihr her.«

Das Rösle, so neugierig sie war, folgte willig und setzte sich mit der Kleinen etwas abgewendet vom Baum; nur ein klein, klein wenig hatte sie gesehen, daß da etwas ganz Schönes sein müsse.

»Musch!« rief jetzt Hannesle. Da stand sein Bäumchen in der dunkeln Höhlung hell und licht in jungem Tannengrün, und die roten Apfel, die gefärbten Nüsse und die bunten Streifen, alles glänzte zusammen, daß es eine helle Pracht war. »Ah, ah!« rief Rikele einmal über das andere, »wie schön, wie schön!« klatschte in die Händchen und wollte an dem Bäumchen schütteln, was Hannesle aber nicht zugab, und zeigte eine solche Lust und Glückseligkeit, daß der glückliche Festgeber aus vollem Herzen hinaussang:

»Und es hat mich noch nie gereut,
Daß ich kein König bin.«

»Aber 's ist Pfingsttag,« mahnte Rösle, als die Lust sich ein wenig gelegt hatte, »wir müssen auch ein Festlied singen.«

Rösle hatte eine schöne Stimme, Hannesle war ohnehin ein Hauptsänger, so stimmten sie denn an:

»O heil'ger Geist, kehr' bei uns ein
Und laß uns deine Wohnung sein!«

Das Rikele mit seinem feinen Stimmlein sang auch mit. während sie kein Auge von ihrem schönen Bäumlein abwandte; – das war die Pfingstandacht der drei verlassenen Kinder.

Das Bäumlein stand so hübsch fest in der weichen schwarzen Walderde, daß Hannesle sogar hoffte, es werde ganz anwachsen und einst ein großes Wunder sein, wenn aus der alten Eiche eine hohe junge Tanne emporwachse.

Dies Wunder geschah nun zwar nicht; aber das Bäumchen blieb doch recht lange grün und frisch in dem feuchten Grunde, so daß Rikele noch oft seine Freude daran haben konnte. Hannesle hütete und bewachte das Bäumlein wie seinen Augapfel, und war auch so glücklich, daß keiner der mutwilligen Buben seinen heimlichen Schatz entdeckte. Rikele durfte nur nach und nach die schönen Äpfel vom Bäumlein pflücken, und wenn später Hannesle etwas Gutes oder Schönes bekam, so wurde es richtig an das Bäumlein gehängt, so daß die Kleine immer in heimlicher Erwartung mit der Schwester hinaustrippelte. Wie manches fröhliche Fest feierten da noch die Kinder in der tiefen Waldstille! Glücklich in dem Glücke der kleinen vergaß Hannesle das Fragen und Rösle das Weinen.

2.

Zwei Winter und zwei Sommer waren über das Dörfchen hingezogen und über das stille Plätzchen am Eichbaum; das Bäumchen stand noch in der Höhlung, aber die grünen Nadeln waren abgefallen und nur ein paar verbleichte Papierstückchen hingen an den unteren Ästen. Selten, gar selten fanden sich noch die Kinder zusammen; nur Hannesle allein lag oft traurig davor und dachte, wie es doch damals noch so schön gewesen sei

Es war anders geworden mit den Kindern. Den Leuten war nachgerade doch der Gedanke gekommen, daß Rösle ein großes Mädchen sei, das mehr tun könne und mehr lernen müsse, als das Schwesterchen hüten. So kam sie als Kindsmagd zu einer Bäuerin, wo sie ein Hemd und ein Paar Schuhe als Jahreslohn bekam; die Kleine aber kam zu einem alten Weib, die sie gegen das niederste Kostgeld nehmen wollte. Rösle hatte mit tausend Tränen gebeten, das Schwesterlein doch bei ihr zu lassen; das ging nun einmal nicht an, obgleich es die Leute nicht schlimm mit ihr meinten; die junge Bäurin sagte, sie habe selbst Kinder genug, und die Alte brauchte das Rösle nicht.

Da war denn das einzige Glück des armen Mädchens, wenn sie mit den Kindern der Bäuerin, von denen sie zwei im Wägelchen führte und eins auf dem Arm trug, auf den Balken sitzen konnte, die dem kleinen Häuschen der alten Bäuerin gegenüberlagen. Da sah sie hinüber und hinüber, bis ihr Rikele hervorkam und bei ihr bleiben durfte; es konnte schon ein wenig helfen, die Kleinen im Wägelchen hin- und herschieben und Rösle teilte jeden ersparten Bissen mit ihr; es war eine rührende Liebe zwischen den zwei verlassenen Kindern, eine Liebe, wie wir sie oft vergebens suchen bei Geschwistern, die goldne Tage miteinander im Elternhaus verleben könnten.

Die alte Bäuerin war eben nicht bös gegen Rikele; sie hatte das kleine Ding sogar lieb; aber sie verstand nicht, mit einem Kind umzugehen, es zu unterhalten oder zu beschäftigen, und dann war sie ängstlich, es mit andern Kindern fortzulassen. So hatte die Kleine meist eine trübselige Zeit in der dumpfen Stube der Alten. »Rikele, wirf nichts herunter!« – »Rikele, verderb nichts!« – »Rikele, laß mein Spinnrad stehen!« waren oft die einzigen Worte, welche die Kleine den ganzen Tag hörte.

Am trübseligsten von allen war aber dem armen Hannesle zumute, als er an einem sonnenhellen Pfingsttag allein, ganz allein draußen vor seinem alten Christbaum lag. Vor ein paar Tagen hatte man seinen Vater begraben und kein Büblein auf der weiten Welt konnte verlassener sein als der arme Knabe. Was sollte aus ihm werden, wo würde man ihn hinschicken? Wer in aller Welt würde sich nun noch um ihn bekümmern? Ach, wieviel hatte der Fragenhannesle bei sich selbst zu fragen, und niemand war da, der ihm antwortete; es war ihm, als sei die Welt ausgestorben. Rösle, sonst seine Vertraute, die mußte daheim ihre Kinder hüten; das kleine Rikele durfte gar nicht mehr zu ihm heraus, er wußte eben nichts mehr zu tun, als recht bitterlich zu weinen. Da hörte er hinter sich laufen und keuchen. »Hannesle!« rief es mit einer fast atemlosen Stimme, »aber Hannesle!« Er sah sich um – es war Rösle, schon in ihrem Sonntagsanzug mit halbgeflochtenen Zöpfen und glühendrotem Gesicht, aber ganz strahlend vor Freude. »Aber Hannesle!« rief sie noch einmal und sank erschöpft vom Laufen auf den Rasen. »Was ist's, Rösle? was hast?« fragte der erstaunte Hannesle; so hatte er das Rösle nie gesehen, sie war sonst immer fein sachte und stet. »Was gibt's, Rösle?« fragte er wieder, »ist dein Rikele krank? schickt dich die Bäurin fort? warum lachst so?« Jetzt hatte Rösle Atem gefunden. »Mein Vater ist da,« stieß sie heraus, »mein Vater!« wiederholte sie jubelnd; »aber die Mutter ist tot,« fügte sie traurig hinzu. »Was, dein Vater?« Jetzt ging das Fragen los beim Fragenhannesle: »Wo kommt er her? warum kommt er? hat er euch damals mit Willen zurückgelassen? nimmt er euch mit?« – »Ich muß wieder heim,« sagte das glückselige Rösle, die sich jetzt wieder erholt hatte, »bin ja noch nicht einmal geflochten; aber ich hab' dir's sagen müssen; gelt, mein Vater!?« Und auf dem Heimweg erzählte sie ihm die ganze merkwürdige Geschichte.

Der Küfer Matthes hatte leider Wohl gewußt, was er tat, als er es bei der Abfahrt so richtete, daß seine Kinder zurückgeblieben waren; er hatte sich gedacht, er könne drüben viel leichter und besser sein Fortkommen finden, wenn er frei sei; die Kinder müsse man ja daheim versorgen, und wenn es ihm gut gehe, könne er sie immer noch nachholen. Sein Weib aber ließ sich nicht so leicht beruhigen und trösten.. »Meine Kinder, meine Kinder!« rief sie in verzweifeltem Jammer; Tag für Tag, in Sonnenschein und Regen sah sie auf dem Verdeck und sah nach der Seite hin, wo sie dachte, daß das Land sei mit ihren verlassenen Kindern.

Auch drüben ging es mit dem Fortkommen so leicht nicht, obgleich sich's Matthes sauer werden ließ und ein vortrefflicher Arbeiter war. »Es ist kein Segen in all unserem Tun,« sagte das Weib, die krank war seit der Abreise; »es ist der Unsegen, den wir an unsern verlassenen Kindern verschuldet. Oh mein Rikele, mein kleines Rikele!« Die arme Mutter sollte ihr kleines Rikele nicht mehr sehen, sie starb ein halbes Jahr nach der Ankunft in Amerika. Matthes, dessen Herz von aufrichtiger Reue erfüllt war, versprach heilig in ihre sterbende Hand, daß er, sobald es ihm möglich sei, die Kinder alle holen wolle und ihnen ein treuer Vater sein.

Es war, als ob die treue Mutter im Himmel um Segen für ihn bitte; so war jetzt ein Gelingen und Gedeihen in allem, was er tat. Er ging tiefer ins Innere von Amerika, wo Arbeiter sehr gesucht und teuer bezahlt sind; er nahm Dienste auf einer Farm, und da er arbeiten konnte für drei, auch sonst eine geschickte Hand besaß, so hatte er in kurzer Zeit so viel erworben, als er gebraucht hatte, um seine Kinder Zu holen. Es war nicht Untreue, wenn er sein Versprechen nun doch nicht gleich erfüllte. Seit dem Tode seines Weibes hatte er sich in dem fremden Weltteil unbeschreiblich allein gefühlt; er empfand ein tiefes, schmerzliches, Heimweh nach seinen Kindern und wollte sie nicht nur holen, sondern auch bei sich behalten können. Das konnte er aber am besten, wenn er ein eigenes Besitztum erwarb, und mit unerhörten Anstrengungen hatte er es denn so weit gebracht; er war nun gekommen, um sein heiliges Wort zu lösen.

»Und denk' nur, Hannesle,« erzählte das glückselige Rösle weiter, »jetzt kauft der Vater ein eigenes Gut, eine Farm heißt man's, und das Haus drin heißt man ein Blockhaus, und da bleiben wir alle beisammen und haben eigene Gäns und Schweine und Äcker, und ich glaub' auch Gäule.«

So kamen die Kinder zusammen ins Dorf zurück; da kam ihnen Matthes entgegen, stattlich wie ein Herr gekleidet, das Rikele auf dem Arm, das sich noch halb fürchtete vor dem Vater, den es gar nicht mehr gekannt; ein Trupp Dorfkinder folgten ihm neugierig in einiger Entfernung, auch die Alten lugten da und dort aus den Fenstern, wo er sich zeigte.

»Guck, Hannesle, das ist der Vater!« rief Rösle, »und das ist der Hannesle, Vater, der so brav gegen uns gewesen ist, und hat dem Rikele so ein schöns Bäumlein gemacht ...« – »Und Äpfel geben und Nüss',« fügte das Rikele hinzu. Die Mädchen wurden gar nicht fertig mit Aufzählung von Hannesles Verdiensten, und der Vater schenkte ihm Zum »Mitbringet« einen schönen neuen Taler.

Aber Hannesle konnte sich nur halb freuen über den Taler und über das Glück seiner kleinen Freundinnen; was half ihm der Taler, wenn er sich ausdingen und herumschieben lassen mußte, und die Mädchen durften nach Amerika, wohin immer seine höchste Sehnsucht stand; ach, warum war sein Vater nicht auch nach Amerika gegangen, vielleicht lebte er dann noch und könnte ihn holen!

Rösle aber verstand Wohl die Gedanken ihres Kameraden. »Vater,« sagte sie, als sie allein mit diesem war, der sich gar nicht genug freuen konnte über seine Kinder. »Vater, wenn wir gehen, solltest du den Hannesle auch mitnehmen; du glaubst nicht, wie brav der ist, und so geschickt, er kann alles.« Und aufs neue erzählte sie alles, was Hannesle ihr und dem Rikele Liebes und Freundliches erwiesen hatte.

Matthes, dessen Herz so weich und glücklich war, konnte nichts abschlagen. »In Gottes Namen,« sagte er, »drei Buben sind noch nicht zuviel auf meine Farm; gibt Arbeit für alle, und deine Mutter selig hat noch auf dem Totenbett zu mir gesagt: »Matthes« hat sie gesagt, »wer unsern armen Kindern Liebs getan hat, dem vergilt' es, wenn du kannst!« ich hab's versprochen.«

An dem Morgen, wo Hannesle wußte, daß Matthes mit seinen Mädchen abreisen wollte, saß er traurig und verdrossen in dem Hirtenhäuschen, das er nun bald verlassen mußte. »Soll ich Abschied nehmen von den Mädchen, oder soll ich nicht?« fragte er sich; »wenn ich's tu', so muß ich heulen, und heulen ist eine Schand,« sagte er für sich; so blieb er, und doch hätte er sie gern noch gesehen, die Glücklichen, die nach Amerika durften!

»Hannesle!« rief es jetzt wieder, und freudestrahlend wie am Pfingsttag trat Rösle ein, vom Vater neu und sauber gekleidet; »Hannesle, richt' deine Sachen, der Vater nimmt dich mit!«

»Ist's wahr? heideldumdei!« rief Hannesle glückselig und machte Sätze fast haushoch vor lauter Freude, »nun vergelt's Gott dei'm Vater, und ich will ihm was nutz sein, ich will schaffen, ich!«

Hannesles Habseligkeiten waren bald gepackt; die Gemeinde gab Matthes einen kleinen Reisebeitrag für ihn, und fast in jedem Haus im Dorf bekam er noch ein kleines Abschiedsgeschenk, so daß er sich reich wie ein König vorkam und Matthes ihm in Heilbronn noch einen guten Anzug kaufen konnte.

Diesmal trug Matthes alle Sorge, seine Kinder sicher ins Schiff zu bringen. Gott gab ihnen gute Winde und glückliche Fahrt, so daß die ganze kleine Herde wohlbehalten drüben ankam.

Ob Hannesle alles so schön und herrlich in Amerika gefunden, wie er sich's vorgestellt, das kann ich in der Tat nicht sagen; gewiß aber ist, daß es ihm gut drüben ging, daß er ein treuer, guter Freund für Matthes' Kinder und zuletzt der Besitzer einer schönen Farm wurde, und daß ihm so jenes Tannenbäumchen im Wald gute Früchte getragen hat.

Ob er noch der Fragenhannesle ist, weiß ich nicht; ich hörte aber, seine liebste Frage sei an seine Frau: »Gelt, Rikele, wir haben's gut?«