Christoph Martin Wieland
Was ist Wahrheit?
Christoph Martin Wieland

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Christoph Martin Wieland.

Was ist Wahrheit?

 


 

Diese Frage ist dadurch, daß sie schon so mannigmal durch den Mund eines Pilatus ging, nichts desto schlechter geworden. Wessen Augen blinzen nicht, wenn er mit dieser Frage überrascht wird? Schon tausend und zehntausendmal entschieden, wird sie immer wieder als ein Räthsel aufgeworfen werden und in zehntausendmal tausend Fällen ein unauflösbares bleiben.

Aber, so gewiß dieß auch ist, wehe denen, die eine boshafte Freude daran finden, der Schwäche unsers Gesichtes dadurch zu helfen, daß sie uns vollends blind machen! Das Wahrste von Allem, was jemals wahr genannt wurde, ist: daß mitten unter allem Trug von Erscheinungen, Gespenstern und Traumgebilden, wovon wir umgeben sind, jeder Sterbliche gerade so viel Wahrheit auffassen kann, als er zu seiner eignen Nothdurft braucht.

Die Wahrheit ist, wie alles Gute, etwas Verhältnißmäßiges. Es kann Vieles für die menschliche Gattung wahr seyn, was es für höhere oder niedrigere Wesen nicht ist, und eben so kann etwas von dem einen Menschen mit innigster Ueberzeugung als wahr empfunden und erkannt werden, was ein anderer mit gleich starker Ueberzeugung für Irrthum und Blendwerk hält.

Die Uebereinstimmung eines Gefühls oder einer Vorstellung mit den allgemein anerkannten Grundwahrheiten der 142 Vernunft ist eben so wenig als der Zusammenhang einer Vorstellung mit allen übrigen, welche die gegenwärtige innere Verfassung eines Menschen ausmachen, ein sicheres Merkmal der Wahrheit. Jene läßt uns weiter nichts als die Möglichkeit der Sache erkennen, und dieser kann eben sowohl bei der wahresten Vorstellung fehlen, als bei der täuschendsten zugegen seyn. Geschieht nicht öfters, was Jedermann für unmöglich hielt? Und wie oft betrügt die höchste Wahrscheinlichkeit? Erweitert sich nicht der Kreis der Möglichkeiten mit unserer Kenntniß der Natur und mit dem Anwachs unserer Erfahrungen? Daher zum Theil, daß Leichtgläubigkeit eine charakteristische Eigenschaft des hohen Alters ist, und, was seltsam scheinen mag, neben dem Unglauben besteht, der es nicht weniger ist. Kinder sind leichtgläubig aus Unwissenheit dessen, was möglich oder unmöglich ist; Alte sind es, weil sie so oft unglaubliche Dinge sich haben zutragen sehen, daß ihnen nichts mehr unglaublich scheint. Jene glauben Alles, weil sie das Mißtrauen noch nicht kennen; bei diesen ist Mißtrauen eine der bittern Früchte des Lebens und macht sie eben so geneigt, an Allem zu zweifeln, als die Erfahrenheit auf der andern Seite, Alles für möglich zu halten.

Die subtilste und kaltblütigste Vernunft hat von jeher die subtilsten Zweifler hervorgebracht. Karneades, Pyrrho, Sextus, le Vayer, Bayle, Hume waren Männer von großer Vernunft – und ich frage einen Jeden, der sich nicht erst seit ehegestern in der Welt umgesehen hat, was ist es, als gerade die kaltblütige, spitzfindige, immer zurückhaltende, immer argwöhnische, immer voraussehende, immer raisonnierende Vernunft, was von jeher am geschäftigsten gewesen ist, Glauben und Liebe, die einzigen Stützen unseres armen 143 Erdenlebens, zu untergraben und umzustürzen? – Wer wollte darum verkennen, wie viel der Mensch diesem Strahle der Gottheit, dem wir den so sehr gemißbrauchten Namen Vernunft geben, schuldig ist? Allerdings kann sie nichts dafür, daß Sophisten und Witzlinge von je her ihren natürlichen Gebrauch in den unnatürlichen verwandelt haben; aber, da der Mensch nun einmal diesen unglücklichen Hang hat, wehe ihm, wenn seine Vernunft die einzige Führerin seines Lebens ist!

Man hat sich schon so lange über die Leute aufgehalten, die ein unerklärbares inneres Licht zum Leitstern ihres Glaubens und Lebens machen; man hat sie in Schimpf und Ernste bestritten, zu Boden gespottet und zu Boden raisonnirt: und dennoch haben unläugbar alle Menschen etwas, das die Stelle eines solchen innern Lichts vertritt, und das ist – das innige Bewußtseyn dessen, was wir fühlen. Unter allen Kennzeichen der Wahrheit ist dieß unläugbar das sicherste; vorausgesetzt, daß ein Mensch überhaupt gesund und des Unterschieds seiner Empfindungen und Einbildungen sich bewußt ist. Beweiset einem Menschen, seine Vernunft sey eine Zaubrerin, die ihn alle Augenblicke täusche und irre führe – das wird ihn noch nicht verwirren; beweiset ihm, daß er seinen Sinnen, seinem innern Gefühle nicht trauen dürfe – das verwirrt ihn! Und wenn es möglich wäre, daß euer Beweis seine volle Wirkung auf diesen Menschen thäte, so bliebe nichts übrig, als ihn stehenden Fußes ins Tollhaus zu führen.

Zum Glück ist der Glaube an sein eignes Gefühl gerade das, was sich der Mensch am schwersten und seltensten nehmen läßt, ja, was sich schwerlich irgend ein Mensch, wie schwach er immer sey, in irgend einem Falle nehmen läßt, wo er sich innigst bewußt ist, daß er gefühlt hat. Das Einzige, 144 wodurch er dahin gebracht werden könnte, an der Wahrheit seines eignen Gefühls oder, was eben dasselbe ist, an sich selbst und seinem eignen Daseyn zu zweifeln, wäre der Fall, in welchen (in einer der arabischen Erzählungen, die Herr Galland lle Dormeur éveillé betitelt) der Kalife Harun Alraschid den armen Kaufmann Abu-Hassan durch einen Betrug, den dieser unmöglich entdecken konnte, versetzte; der aber auch, unvermeidlicher Weise, die Folge hatte, daß Abu-Hassan darüber in Raserei verfiel und nicht anders als durch Entdeckung des Betrugs wieder hergestellt werden konnte.

Aber, sagt man, wie häufig sind die Fälle, wo ein Mensch durch seine Sinne oder durch sein inneres Gefühl betrogen wird? wo er, ohne darum ganz wahnsinnig zu seyn, für Empfindung hält, was bloße Einbildung ist? wo er einen Gegenstand in dem verfälschten Lichte der Leidenschaft oder des Vorurtheils sieht? u. s. w.

Unstreitig sind diese Fälle häufig. Und eben so häufig geschieht es, daß von Zweien, die einander durch ihr Gefühl widerlegen, Beide betrogen werden; daß, während der Eine Jupiter ist und die sündige Welt mit Feuer zu zerstören droht – der Andere uns dagegen seines gnädigen Schutzes versichert, weil er Neptunus ist, der durch seine Gewässer den Brand gar leicht wieder löschen kann. – Aber alle diese Fälle vermögen gleichwohl nichts gegen die Grundveste des allgemeinen Menschensinnes; und der Glaube, den ein Jeder an sein eignes Gefühl hat, bleibt nichts desto minder in seiner vollen Kraft. Ich kann von der Natur, von unsichtbaren Mächten, kurz, von Ursachen, die ich nicht kenne, getäuscht werden; aber, solange ich mir bewußt bin, daß ich etwas gefühlt, beschaut, betastet habe – so glaube ich meinem Gefühl 145 mehr als einer ganzen Welt, die dagegen zeugte, und als allen Philosophen, die mir a priori beweisen wollten, ich träume oder rase.

Freilich ist es verdächtig, wenn ein Mensch in Sachen des Gefühls eine ganze Welt oder, was nicht viel besser ist, die vernünftigsten Leute in der Welt wider sich hat, oder wenn er in sehr zusammen gesetzten und verwickelten Dingen, in Sachen, die von scharfer Zergliederung und von richtiger Zusammenstellung und Verknüpfung einer Menge von Begriffen abhangen, welche selbst wieder Resultate von einer Menge anderer sind, – es ist, sage ich, verdächtig, wenn Jemand in Sachen dieser Art dem Wege der scharfen Untersuchung ausweicht und immer nur auf sein Gefühl oder unser Gefühl provocirt. Aber was wollen wir mit ihm anfangen, wenn er uns nicht zur Untersuchung stehen will? Und wenn wir ihn auch dazu nöthigen könnten, wer soll zwischen seiner Empfindung und der unsrigen oder zwischen unserer Vernunft und seinem Gefühl oder Glauben Richter seyn? Wo ist der AreopagusAreopagus – Der oberste Gerichtshof in Athen., wo sind die AmphiktyonenAmphiktyonen – Die Repräsentanten der griechischen Bundesstaaten bei der Nationalversammlung, die jährlich zweimal zu Delphi gehalten wurde., deren Ausspruch man in solchen Fällen sich unterwerfen könnte, wollte, müßte?

In metaphysischen und ästhetischen Dingen,. das ist, in Sachen, wo das Meiste auf Einbildung und Sinnesart ankommt, wäre das Billigste, einen Jeden im Besitz und Genuß dessen, was er für Wahrheit hält, ruhig und ungekränkt zu lassen, solange er Andere in Ruhe läßt. Wer hat ein Recht in seines Nachbars Verzäunung einzudringen und den Frieden seiner Hausgötter zu stören? Mag doch seine Melusine einen Fischschwanz unter ihrem Rocke tragen; was geht das Andere an? Aber freilich, sobald der Mann ins Kreuz und in die Quere auf allen Landstraßen herum reitet und 146 Alle, die da ruhig ihres Weges gehen, anhalten und mit eingelegter Lanze zwingen will, zu bekennen, daß seine Prinzessin schöner ist als die ihrige, oder wohl gar, daß sie allein schön, und jedes andere Gesicht ein Meerkatzengesicht ist, – das ist etwas sehr Unangenehmes für Leute, die keine Lust haben, sich zu balgen: und wiewohl die irrenden Ritter, die solche Thaten thun, in den Augen kluger Leute ihre Entschuldigung unter dem Hute tragen; so mögen sie sich's doch selbst zuschreiben, wenn sie dann und wann unter Mauleseltreiber und Preller fallen, die nicht so säuberlich mit ihnen verfahren.

Die Wahrheit (wenn wir noch einen Augenblick mit dem Gleichniß spielen dürfen) flieht vor der keichenden Verfolgung ihrer feurigsten Liebhaber, um in die Arme dessen zu laufen, der sie weder erwartete, noch suchte. Der einfältigste Menschensinn findet sie am ersten und genießt ihrer, wie der Luft, die er athmet, ohne daran zu denken. Der Grübler, der sie überall sucht, findet sie nirgends, just darum, weil er sich nicht einbilden kann, daß sie ihm so nahe sey. Und sobald ihrer Zwei sich über ihren ausschließenden Besitz in die Haare gerathen, so darf man sicher rechnen, daß sie es ihnen macht, wie Angelika den beiden Rittern im Ariost: während die tapfern Männer sich bei den Köpfen haben, geht die Dame davon und lacht über beide.

Ist dieß Bild zu komisch? – Nun, so ist hier ein anderes, das eben so gut zur Sache paßt. Die Wahrheit ist weder hier, noch da, – sie ist, wie die Gottheit und das Licht, worin sie wohnt, allenthalben: ihr Tempel ist die Natur, und wer nur fühlen und seine Gefühle zu Gedanken erhöhen und seine Gedanken in ein Ganzes zusammen fassen und ertönen lassen kann, ist ihr Priester, ihr Zeuge, ihr 147 Organ. Keinem offenbart sie sich ganz; Jeder sieht sie nur stückweise, nur von hinten oder nur den Saum ihres Gewandes – aus einem andern Punkt, in einem andern Lichte; Jeder vernimmt nur einige Laute ihres Göttermundes, Keiner die nämlichen –

Und was haben wir also zu thun?

Anstatt mit einander zu hadern, wo die Wahrheit sey? wer sie besitze? wer sie in ihrem schönsten Lichte gesehen? die meisten und deutlichsten Laute von ihr vernommen habe? – lasset uns in Frieden zusammen gehen oder, wenn wir des Gehens genug haben, unter den nächsten Baum uns hinsetzen und einander offenherzig und unbefangen erzählen, was jeder von ihr gesehen und gehört hat oder gesehen zu haben glaubt, und ja nicht böse darüber werden, wenn sich's von ungefähr entdeckt, daß wir falsch gesehen oder gehört oder gar (wie es brünstigen Liebhabern, die ihr zu nahe kommen wollen, öfters begegnet) eine Wolke für die Göttin umarmt haben.

Vor Allem aber, liebe Brüder, hüten wir uns vor der Thorheit, unsere Meinungen für Axiome und unumstößliche Wahrheiten anzusehen und Andern als solche vorzutragen. Es ist ein widerlicher, harter Ton um den Ton der Unfehlbarkeit; aber es gibt einen, der noch unausstehlicher ist – der Ton eines EnergumenenEnergumenen – Besessene., der, auf dem heiligen Dreifuße sitzend, alle seine Reden als Göttersprüche von sich gibt. – Bescheidenheit würde uns vor dem Einen und vor dem Andern sicher stellen.

Wenn ein Mann auch so alt wäre, wie Nestor, und so weise, wie siebenmal sieben Weise zusammen genommen, so müßt' er doch – eben darum, weil er so alt und so weise wäre – einsehen gelernt haben: daß man immer weniger 148 von den Dingen begreift, je mehr man davon weiß, daß gegen eine lichte Stelle, die wir in der unermeßlichen Nacht der Natur erblicken, zehntausend in Dämmerung und zehnmal zehntausend im Dunkeln vor uns liegen, und daß, wenn wir uns auch von diesem Erdklümpchen, das uns ein ungeheures Weltall scheint, bis zur Sonne aufschwingen und in ihrem Lichte dieß ganze Planetensystem mit allem seinem Inhalt und Zubehör so deutlich übersehen könnten, wie Jemand von der Spitze einer Terrasse seinen Garten übersieht, dieß nämliche Planetensystem nun abermal nichts mehr für uns wäre als – eine lichte Stelle in der unermeßlichen Nacht der Natur.

Und wenn dann der weise Mann in einer so langen Lehrzeit auch noch gelernt hätte, daß eben diese Unermeßlichkeit und Unbegreiflichkeit, die für uns Erdebewohner eine Eigenschaft der ganzen Natur ist, sich auch in jedem einzelnen Stäubchen befindet; daß in jedem einzelnen Punkte der Natur Strahlen aus allen übrigen zusammenlaufen, und wie unbegreiflich alle diese Strahlen, Beziehungen, Aus- und Einflüsse aller Dinge auf jedes und jeden Dinges auf alle einander durchschneiden und durchkreuzen; wie unmöglich es also ist, nur eine einzige Erscheinung, eine einzige Bewegung oder Wirkung eines einzigen Theilchens der Natur recht zu erkennen, ohne zugleich die ganze Natur eben so zu durchschauen, wie der, in dem sie lebt und webt und ist: beim Himmel! ich denke, das müßte den weisen Mann bescheiden gemacht haben, und es sollte mich nicht wundern, wenn er alle seine Urtheile und Meinungen in einem Tone vorbrächte, den ein Mann wie ElihuSo heißt der junge Mann im Buche Hiob, der, nachdem er dessen ältern Freunden lange stillschweigend zugehört hatte, und es nicht mehr länger ausstehen konnte, sie so mächtig deraisonniren und zuletzt doch vor Hiob verstummen zu sehen, endlich im Unmuth seiner Seele ausbricht, sich der guten Sache Gottes anzunehmen, und im Eingang seiner Rede sagt: Ich bin der Rede so voll, daß mich der Odem in meinem Bauch ängstet; siehe, mein Bauch ist wie der Most, der zugestopft ist, der die neuen Fässer zerreißt – u. s. w. W., der Sohn Barachiel von Bus, des Geschlechts Ram, mit allem Unwillen eines ehrlichen überzeugten Dogmatikers für baren Skepticismus halten müßte.

149 Ein Anderes ist, wenn ein Esel, dem der Herr den Mund aufthut, mit Zuversichtlichkeit spricht: Dafür ist aller Respect zu tragen; denn es ist nicht der Esel, sondern ein Gott (dem es gleich viel gelten kann, durch welches Organ er sich hörbar macht), der durch den Esel spricht. Einem Menschen aber – es sey denn, er könne uns beweisen, daß er sich im Falle des besagten Esels befinde – ziemt es, ungeachtet des aufgerichteten Angesichts und des Blicks gen Himmel, der ihm gegeben ist, von Zeit zu Zeit auf seine Füße zu sehen und – bescheiden zu seyn.