Christoph Martin Wieland
Philosophie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet
Christoph Martin Wieland

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Christoph Martin Wieland.

Philosophie.

Als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet.

 


 

Die Menschen haben gelebt und vielleicht Jahrtausende gelebt, eh' einer von ihnen auf den Gedanken kam, daß Leben eine Kunst seyn könnte; und nach aller Wahrscheinlichkeit ist jede andre Kunst, von den Künsten TubalkainsTubalkain – Nach der Genesis Erfinder der Schmiedekunst. an – bis zur Kunst, Fliegen zu fangen (von welcher Schach Baham, ein Peritus in arte, versichert, daß es keine so leichte Sache sey, als viele Leute sich einbilden), schon längst erfunden gewesen, als endlich die scharfsinnigen Griechen, mit andern schönen Wissenschaften und Künsten, auch diese berühmte Kunst, zu leben, Philosophie genannt, wo nicht gänzlich erfunden, doch zuerst in Kunstform gebracht und auf einen hohen Grad der Verfeinerung getrieben haben.

Bei weitem der größte Theil der Menschenkinder ließ sich nie etwas von einer solchen Kunst träumen. Die Leute lebten, ohne zu wissen, wie sie es damit machten; ungefähr wie Herr Jourdain in Moliere's bürgerlichem Edelmann sein Leben lang Prose gesprochen hatte; oder wie wir Alle Athem holen, verdauen, uns auf mancherlei Art bewegen, wachsen und gedeihen, ohne daß unter Tausenden nur Einer weiß oder zu wissen verlangt, nach was für mechanischen Gesetzen und durch welche Verbindung von Ursachen das Alles geschehe. Und in diesem dicken Nebel der Unwissenheit leben bis auf diese Stunde nicht nur alle die unzähligen Völker in Asia, Africa, America und den Inseln des Südmeers, weiße und 154 olivenfarbne, schwarzgelbe und pechschwarze, bärtige und unbärtige, beschnittene und unbeschnittene, tättowirte und nicht tättowirte, mit und ohne Ringe durch die Nase, von den Riesen in Patagonien bis zu den Zwergen an der Hudsonsbay u. s. f. – sondern auch selbst von dem größten Theile der Einwohner unsers aufgeklärten Europa's läßt sich mit gutem Fuge behaupten, daß sie von besagter Kunst, zu leben, eben so wenig wissen und sich eben so wenig darum bekümmern, als das leichtsinnige Völkchen in Otahaity oder als die halb erstarrten Bewohner des Feuerlandes, die kaum etwas mehr als Seekälber sind.

Das Wunderbarste bei der Sache ist, daß alle diese Menschen (die, nach einer sehr billigen Berechnung, beinahe das ganze menschliche Geschlecht ausmachen) gleich ihren Voreltern bis auf Adam und Eva – die von wohl besagter schönen Kunst auch nichts wußten – dessen ungeachtet so herzhaft drauf losleben, als ob sie ausgemachte Meister darin wären; ja, daß der größte Theil dieser Pfuscher sich so wohl dabei befindet, daß, in Rücksicht der sämmtlichen wesentlichsten und wichtigsten Verrichtungen des menschlichen Lebens, nicht leicht einer von den auf- und abgedungenen Meistern und Professoren der Kunst sich neben ihnen sehen lassen darf.

Cicero sagt irgendwo: die Natur sey die beste Führerin des Lebens, welches vermuthlich so viel sagen soll, sie zeige uns am besten, wie wir uns durch dieß Erdenleben durchhelfen können; – ingleichen: man könne gar nicht fehlen, wenn man sich von ihr führen lasse. – Darauf müssen sich nun wohl von jeher die Menschen verlassen haben. Eben diese Natur (dachten sie), die uns athmen, essen und trinken, Hände und Füße brauchen lehrt u. s. w., lehrt uns auch unsre Sinne, unser Gedächtniß, unsern Verstand, alle 155 unsre übrigen Kräfte brauchen, lehrt uns auch, was sich für uns schickt oder nicht. Es bedarf nur so vieler Aufmerksamkeit, als uns jeder Gegenstand selber abnöthigt, so sehen oder fühlen wir, ob er Freund oder Feind ist. Unsre Nase und unsre Zunge lehren uns ohne allen andern Unterricht, welche Früchte, Kräuter, Wurzeln u. s. w. gut zu essen sind; im Nothfalle lehrt es uns auch wohl der Hunger ohne viele Umstände. Für alle unsre dringenden Bedürfnisse hat die Natur gesorgt. Entweder ist die Sache, die wir brauchen, schon da – so haben wir, was vonnöthen ist, sie zu ergreifen und zu genießen; oder wenigstens sind die Materialien dazu da – so haben wir gerade so viel Verstand und Kraft und natürliches Geschick in unsern Gliedmaßen, um sie zu unserm Brauch und Zweck zu formen. Was dann aufs erstemal nicht geht, geht beim zehnten oder zwanzigsten; und reichen zwei Arme nicht, so werden vier, sechs oder acht damit zu Stande kommen. Jeder neue Versuch setzt etwas zu unserm Begriff von der Sache und zu unsrer Geschicklichkeit zu; wir lernen durch Irren und Fehlen und werden Meister durch Uebung, ohne zu merken, wie es zugegangen ist. Und eben diese Natur, die uns so weit bringt, verbirgt immer vor uns, was zu weit von uns liegt, als daß wir es, da wo wir sind, erreichen könnten; lehrt uns zufrieden seyn mit dem, was wir haben, macht uns durch Unwissenheit glücklich und hat uns diese wohlthätige TrägheitDie Weltverbesserer klagen über die Trägheit der Menschen ungefähr aus eben dem Grunde, warum die Wucherer immer über nahrungslose Zeiten klagen, und meistens, wenn die Zeiten am besten sind. Es ist natürlich, daß ein Mann, der sich bewußt ist, daß er einen herrlichen Entwurf zur Verbesserung des Zustandes eines ganzen Volkes gemacht hat, seine Ideen gern realisirt haben möchte: so wie einer, der ein Schauspiel gemacht hat, es gern aufgeführt sieht. Alle Köpfe, meint er, sollten sich also geschwinde nach dem seinigen drehen, und alle Arme nach seinem Winke rudern. Thun sie es nicht (wie dieß denn gemeiniglich der Fall ist), so schmählt er auf die Trägheit der Menschen; und das ist ihm zu verzeihen, weil er dabei verliert. Aber diese nämliche Trägheit schützt die Leute vor der Gefahr, alle Augenblicke das Opfer eines Projects und einer angeblichen Verbesserung unwissender Adepten zu werden; und dieß, denke ich, ist ihnen auch zu verzeihen, weil sie dabei gewinnen. Denn selten bezahlt das zehnte Project, wenn es auch anschlägt, den Schaden von den neunen, die fehl geschlagen sind. W., worüber die Weltverbesserer täglich so viel Klagen erheben, blos dazu gegeben, damit wir nicht, vor ewiger Unruhe, unsern Zustand zu bessern, aus dem Regen in die Traufe gerathen, und es uns nicht alle Augenblicke ergehe, wie Jenem, der, um sich besser zu befinden, sich zu Tod arzneite und zur Grabschrift erhielt: Per star meglio, sto quiWeil ich mich besser befinden wollte, befind' ich mich hier. W..

156 So lehrt die Natur alle Menschen leben, die der guten Mutter nicht aus der Lehre und Zucht gelaufen sind; und in Allem dem ist, wie ihr seht, keine Kunst. Es ist die leibhafte Natur selbst. Das berühmte Quam multis non egeo!Wie vieles bedarf ich nicht! W. jenes alten Weisen ist die angeborne Philosophie aller Samojeden, Lappen, Eskimos u. s. w., eine Philosophie, worin die Neuholländer oder Neuwalliser (wie sich die ehrlichen Leute nach Willkür der gebietenden Herren mit den Feuerröhren nennen lassen müssen) es am weitesten gebracht zu haben scheinen. Man komme nicht und sage: ein solches Leben sey ein Austernleben. Nennt es, wenn ihr wollt, fortdauernde Kindheit: aber ehret die Natur, die diese ihre Kinder auf dem kürzesten Wege zu jenem Glücklichleben (beate vivere) führt, wohin wir aufgeklärte Leute vor lauter Menge der Wege, die dahin führen, so selten oder gar nie gelangen können.

Der weise Theophrast (nicht Paracelsus, sondern der Schüler und Thronfolger des göttlichen Aristoteles) lebte neunzig Jahre, und als er nun zum Sterben kam, beklagte er sich über die Natur: »daß sie dem Menschen so wenig Zeit zum Leben gegeben habe, und ein ehrlicher Kerl gerade dann sterben müsse, wenn er die Kunst, zu leben, endlich in etwas begriffen habe.« – Wo hat ein Neu-Holländer jemals eine so unbillige Beschwerde geführt? Wenn er hundert Jahre alt geworden (was bei ihnen nichts Seltnes ist), so hat er just hundert Jahre gelebt und steht von dem Gastmahle der Natur gesättigt auf – und wahrlich von einem Gastmahle, wo die Natur so schlecht zu essen gibt, daß der strengste Candidat der Heiligsprechung es ohne Bedenken mithalten dürfte.

Aber – im Vorbeigehen zu sagen – ich glaube nichts weniger, als daß Theophrast die Albernheit gesagt habe 157 die man ihn sagen läßt. Die Leute an seinem Bette verstanden ihn nicht recht; und dann kam irgend ein Schulmeister lange hinter drein, wollte Sinn draus machen und machte, daß es eine Albernheit wurde. Ich wollte wetten, Theophrast meinte weder mehr noch weniger damit, als: er bedaure, daß er vor sechzig oder siebzig Jahren nicht schon so klug gewesen sey, zu sehen, daß er sich die Mühe ersparen könne, das als Kunst und Wissenschaft zu studiren, was ihn die Natur ohne Studium weit besser und sichrer würde gelehrt haben, wenn er Einfalt des Sinnes gehabt hätte, auf sie zu merken. – Nicht die unschuldige Natur, sondern seine eigne Thorheit klagte er an, wie die Meisten es in seinem Falle zu machen pflegen, wiewohl sie es eben so wohl bleiben lassen könnten; denn wozu hilft Reue, wenn man keine Zeit mehr hat, es besser zu machen?

Bei Allem dem ist meine Meinung keinesweges, der wohlgedachten Kunst, zu leben, ihren Werth, so viel sie dessen haben mag, streitig zu machen.

Es ist irgendwo gesagt worden: die Kunst sey im Grunde nichts Anderes als die Natur selbst, die durch den Menschen, als ihr vollkommenstes Werkzeug, dasjenige, was sie gleichsam nur flüchtig entworfen oder angefangen, unter einem andern Namen ausbilde und zur Vollkommenheit bringe – Wenn die Kunst das ist, und sofern sie das ist, gebührt ihr alle Achtung.

Ja, auch alsdann, wenn sie blos der geschwächten oder verderbten Natur zu Hülfe kommt, ist sie, wie die Arzneikunst, zuweilen wohlthätig, obgleich eben so ungewiß und oft eben so unvermögend. Wo die Natur nicht mehr zum Leben hinreichend seyn will, muß die Kunst freilich sticken und stützen, kleistern und quacksalben, so gut sie kann. Oder, 158 richtiger zu reden, auch auf diesen Fall hat die gute allgemeine Mutter für ihr Lieblingskind gesorgt, hat Mittel in ihren Vorrathskammern für jede Wunde oder Krankheit des äußern und inwendigen Menschen, so daß der Kunst nichts übrig bleibt, als zu beobachten und darzureichen. Je einfacher dann ihre Mittel sind, je weniger sie daran künstelt, desto besser für den Leidenden! Der Erfolg aber muß doch immer von der Natur allein erwartet werden. Hat sie noch Kräfte genug, sich an der Hand der Kunst aufzurichten, gut: wo nicht, so bleibt auch dieser nichts übrig, als den Kranken – sterben zu lassen und den Todten – einzubalsamiren. Lebenskraft kann sie nicht geben, wo keine ist.

Es ist schon lange, daß man der Philosophie wegen dieser Aehnlichkeit mit der Arzneikunst den Namen der Medicin für die Seele gegeben hat; und wirklich scheint diese Qualification geschickter zu seyn, ihr Zutritt zu verschaffen, als wenn sie Anspruch macht, uns nach den Regeln ihrer Kunst leben zu lehren. Denn welcher Mensch, der den freien Gebrauch seiner natürlichen Kräfte hat, fühlt nicht, daß er ohne sie leben kann? Sobald sie sich hingegen nur als Arzt anbietet, so wissen die Gesunden, daß sie nichts mit ihr zu verkehren haben.

Die Indianer in den Inseln der Südsee kennen, wie es scheint, keine Arzneien; aber sie wissen auch nichts von Krankheiten. Kleine Wunden oder Unpäßlichkeiten heilen bei ihnen von selbst, und an den tödtlichen sterben sie – wie wir auch. Und weil sie so glücklich sind, von einer Seele an und für sich keinen Begriff zu haben, sondern ein Mensch ihnen immer ein Mensch aus einem Stück ist: so wissen sie auch nichts von besondern Seelenkrankheiten; und wenn sie ja zuweilen einen Anstoß dieser Art bekämen. so ist die 159 Hungerkur, wozu sie mehr als zu viel Gelegenheit haben, ordentlicher Weise das kräftigste Heilmittel.

Ist es hingegen bei einem Volke mit der Verfeinerung schon so weit gekommen, daß Leib und Seele – anstatt daß beide nur eine Person seyn sollten – als zwei Mächte von verschiednem Interesse behandelt werden, wo (wie bei unartigen Eheleuten) jedes seine eigne Wirthschaft hat; was ist natürlicher, als daß aus einer so heillosen Ehe böse Folgen entstehen müssen? Der Mensch ist dann nicht mehr das edle Geschöpf, an dem Alles Sinn und Kraft und Seele oder (so zu sagen) alles Körperliche geistig und alles Geistige körperlich ist: er ist ein unnatürlicher centaurischer Zwitter von Thier und von Geist, wo Eines auf Unkosten des Andern lebt, das Thier sich Bedürfnisse, der Geist Leidenschaften, Entwürfe und Endzwecke macht, die der Naturmensch nicht kannte, Jedes das Andre nach Vermögen drückt, zerrt, ängstigt und erschöpft, und endlich eine ungeheure Menge Leibes- und Seelenkrankheiten die Früchte sind dieser Scheidung dessen, was Gott zusammengefügt hat. Da mag nun wohl, wenn das Uebel aufs Höchste gestiegen ist, jene Seelenarzneikunst ihre Hülfe zuweilen mit einigem Erfolg anbieten und entweder purgando, saignando et clysterizandoIn dem dritten Zwischenspiele von Molière's Malade imaginaire ist auf die Frage des Examinators, welches Heilverfahren bei dieser oder jener Krankheit anzuwenden sey, allezeit die Antwort des Candidaten: er werde Clysterium donare, Postea seignare, Ensuita purgare; worauf die Facultät Chorus singt:

Bene, bene, bene, bene respondere!
Dignus, dignus est intrare
In nostro docto corpore.

diesem oder jenem Patienten einige Erleichterung – oder wenigstens durch angenehme Opiate etwas betrügliche Ruhe verschaffen. Aber man hat doch nie gesehen, daß sie fähig gewesen wäre, das Uebel aus dem Grunde zu heben; und man darf kühnlich behaupten, daß ein Volk, wenn es einmal in die Hände der beiden Heilgöttinnen gefallen, schon zum voraus unwiederbringlich verloren sey. Nicht eben, als ob man nothwendig von ihren Arzneien bersten müßte: sondern, weil, sobald man seine Zuflucht zu ihnen nimmt, das Uebel schon 160 zu weit gekommen ist, um eine völlige Wiederherstellung zuzulassen.

Ich sagte: die Philosophie könne als Arzneikunst für die Seele um so eher ihren Platz behaupten, weil die Gesunden dann wüßten, daß sie nichts mit ihr zu schaffen hätten. – Allein, wie alle Künste sich gern wichtiger machen, als sie sind, so hat auch diese Mittel gefunden, sich aller Welt als unentbehrlich aufzudringen. Sie gesteht nämlich (so wie ihre Schwester, die leibliche Arzneikunst) keinem Menschen zu, daß er gesund sey. Ihren Lehrsätzen und ihrem Ideal von Gesundheit nach ist die ganze Erde ein großes Narren- und Siechenhaus, und nicht Einer befindet sich wohl genug, um ihrer Vorschriften entbehren zu können. Zum Glück ist dieß eine Anmaßung, die man beiden nicht gelten läßt. Die Natur weiß nichts von Idealen. Solange ein Mensch sich gesund fühlt, hat er auch Recht, sich für gesund zu halten; und, ohne sich zu bekümmern, ob Jemand was dagegen einzuwenden habe, lebt er geradezu als ein Gesunder und liest (wie Voltaire's Zadig) keinen Buchstaben von allen den gelehrten Dissertationen, worin ihm die Herren beweisen, daß er unmöglich gesund seyn könne. Es gibt freilich Fälle, wo ein Kranker eben darum desto gefährlicher krank ist, weil er sein Uebel nicht fühlt: aber diese Fälle sind selten und können dem großen Haufen der sich wohl Befindenden an ihrem wohl hergebrachten Rechte, gesund zu seyn, keinen Abtrag thun.