Christoph Martin Wieland
Das Gesicht des Mirza
Christoph Martin Wieland

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Christoph Martin Wieland.

Das Gesicht des Mirza.

1754.

 


 

Als ich (so erzählte Mirza) an einem heitern Morgen die östliche Anhöhe von Bagdad bestieg, fand ich den Geist wieder unter der jungen Ceder sitzen, den ich an eben dem Tage des vorigen Monats hier angetroffen hatte. Ich näherte mich ihm mit einer ehrerbietigen, dreimal wiederholten Neigung. Da sagte er mit der Stimme der Nachtigall zu mir:

Mirza, ich habe dir versprochen, dich mit der Geisterwelt bekannt zu machen, ehe du den Körper, den du nach Gottes Willen noch tragen mußt, abgelegt haben wirst. Die geistigen Dinge sollen durch meine Vermittlung einige Stufen von ihrem höhern Stande heruntersteigen und sich dir in einer Gestalt darstellen, die in einer nähern Verwandtschaft mit deiner jetzigen Denkart und Fähigkeit seyn wird.

Als er dieß gesagt hatte, warf ich mich zu seinen Füßen. Er befahl mir aufzustehen, und nachdem er mein Gemüth durch ein Lied aus einer silbernen Laute in eine sanfte Harmonie eingewiegt hatte, hieß er mich gegen Abend sehen. Ich hob meine Augen auf und sah eine weite Ebne, in deren Mitte sich ein Hügel erhob, dessen Haupt mit Myrten und Citronenbäumen gekrönt war. Anfangs schien mir diese anmuthige Gegend unbewohnt zu seyn; ich sahe aber bald eine schöne Gestalt, einer Nymphe des Himmels ähnlich, im Begleite vieler jungen Knaben von freien lustigen Geberden, über das Feld herabkommen.

66 Der Geist sagte mir, daß der Name dieser Nymphe Seele sey. Man halte dafür, sie sey von ätherischem Stamme, ob es gleich nicht völlig bekannt sey, aus was für Ursachen sie von dem Könige der überirdischen Gegenden in die Unterwelt verwiesen worden sey. Einige sagen, sie habe sich an einem himmlischen Feste, da sie zu viel Nektar getrunken, in eine Verschwörung gegen den König der Geister ziehen lassen; Andere geben ihr sonst ein Verbrechen schuld, welches ihr die Ungnade ihres Herrn und diese Verbannung zugezogen. Andere glauben, daß nicht sowohl ein vorhergegangenes Verbrechen, als vielmehr eine geheime Absicht des Königs, welche sich nicht wohl errathen lasse, daran schuld sey, und dieß ist um so glaubwürdiger, da dieser unstreitig besorgt ist, die Seele wieder in ihr angebornes Land zurück zu führen.

Unter diesen Reden des Geoncha war die Seele näher herbei gekommen, und ich konnte nun sie selbst und ihr Gefolge besser betrachten. Mich däuchte in ihrem Gesicht eine gewisse Erstaunung über die Veränderung, die mit ihr vorgegangen, und eine gewisse zweifelhafte Miene zu sehen, als ob sie weder ihren Augen noch den Gegenständen, von denen sie umringt war, trauete. Die Knaben, welche sie begleiteten, werden Begierden genannt. Sie trugen eine Miene der Einfalt und Leichtgläubigkeit auf der Stirne, welche vielmehr von einem guten Herzen als von Dummheit zu zeugen schien. Sie waren liebenswürdig gebildet, doch däuchte mich, als ob ich etwas sehr Leichtsinniges in ihrem hüpfenden Gang und ihren herumschießenden Blicken wahrnähme. Ich sahe, daß die Seele ihre Augen oft gen Himmel wandte; und es schien dann aus ihrem Lächeln und aus einem stillen Seufzer, der ihr entfloh, als ob sie sich wieder an die Gegend, wo sie hergekommen war, erinnerte.

67 Nicht weit von dem Orte, wo sie sich befand, war eine kleine Höhe, mit den angenehmsten Blumen bedeckt. Auf der Höhe stand ein mit Rosen bestreutes Lager, auf dem eine Frau von einer feinen, obgleich allzuweichlichen und frechen Gestalt saß, welche sich Glückseligkeit nennen läßt, in der Sprache der Himmlischen aber heißt sie die Thorheit. Sie war von einer Menge kleiner Sylphen und Sylphiden umgeben, die von mannigfaltigerer Bildung waren als die Blumen in den Gärten des Königs in Persien. Ihr Name ist Freuden. Sie sind alle Kinder der Thorheit, welche sie in himmlischen Umarmungen mit verschiedenen Vätern gezeuget hat. Diese Freuden, die gleich den Mücken an einem Sommerabend unter einander wimmelten, machten mit ihren Flügeln eine Art von Musik, welche die Seele auf einmal von ihrem Staunen erweckte. Die Begierden waren schon, sobald sie die schönen Freuden erblickt hatten, auf sie zugeeilt. Es war, als ob sie von einer angebornen Zuneigung zu ihnen gezogen würden. Sie umarmten einander mit so großer Heftigkeit, daß es schien, als ob sie, wie jene Nymphe mit dem spröden Jüngling, in einen einzigen Leib zusammen wachsen wollten.

Die Seele schien anfangs zweifelhaft, wo sie hingehen sollte. Sie horchte mit heimlichem Vergnügen dem lockenden Getön der Freuden zu; sie wollte zu ihnen gehen, aber sie wich immer wieder von dem geraden Weg ab. Da ich mich über diese schlangenförmige Bewegung verwunderte, sahe ich einen kleinen Knaben mit goldenen Flügeln, in der Gestalt eines aufblühenden Engels, welcher sie, so oft sie zu dem Hügel der Freuden abwich, mit seinen Flügeln berührte, worauf sie sogleich wieder in die vorige Bahn zurückzitterte. Ich bat meinen Schutzgeist, mir dieses Gesicht zu erklären.

68 Er sagte: Daß du die Seele so oft und mit einer sichtbaren Ungeduld nach der Seite abweichen siehest, wohin die Freuden mit ihrem Sirenengesange sie einladen, ist eine Wirkung der dunkeln Empfindung, die ihr von ihrem ehemaligen Stande zurück geblieben ist. Ehemals lebte sie als eine Schwester und Gespielin der Engel in den ätherischen Gegenden und gewöhnte sich daselbst an einen viel hellern Tag, als dieser ist, und an die reinen Harmonien der Sphären. Ungeachtet sie nun bei ihrer Verweisung vom Himmel aus dem Zauberfluß der Vergessenheit trinken mußte, welcher die Kraft hat, die Erinnerung des vergangenen Lebens aus dem Gemüthe zu wischen, so sind ihr doch noch einige Eindrücke und Neigungen von ihrem angebornen Zustande zurück geblieben, welche sich bei jeder Gelegenheit äußern. Jeder Schimmer, jedes Getöne setzt sie in Bewegung und zieht sie mit einer heimlichen Gewalt in sich. Sowohl die reizende Gestalt jener bunten Freuden, als das liebliche Geräusch ihrer musikalischen Flügel bemeistert sich ihrer mit einer Stärke, der sie nicht widerstehen könnte, wenn nicht der Instinct, dieser ätherische Knabe, der immer um sie schwebt, ob sie ihn gleich nie siehet, sie von Zeit zu Zeit zurück triebe, indem er sie mit der äußersten Schwinge seiner magischen Flügel berührt. Es ist nicht ausgemacht, was diesen jungen Engel bewogen hat, die Himmelslust zu verlassen und der Seele so unverwandt nachzufolgen. Einige glauben, daß es aus sonderbarer Liebe oder natürlicher Anmuthung zu ihr geschehe; mir ist es wahrscheinlicher, daß er ihr von dem König der Geister zugegeben worden, damit er sie auf den einzigen Weg bringe, auf welchem sie zu ihrer verlorenen Hoheit und Glückseligkeit zurück kommen kann. Nichts desto weniger wirst du sehen, daß er zu schwach ist, sie von den Lockungen der 69 Freuden abzuziehen. Du siehest, wie sie dem bezaubernden Hügel immer näher kommt; die Begierden eilen, mit Rosen bekränzt, sie einzuladen; jetzt ist sie gefangen; der Instinct schüttelt seine Flügel umsonst; die Freuden binden sie mit Blumenkränzen, sie umwinden sie ganz und ziehen sie in den Arm der Thorheit.

Indem ich dieser Scene mit Aufmerksamkeit zusah, sah ich eine wundersame Verwirrung unter den Freuden und Begierden entstehen. Jene, welche diesen vor etlichen Minuten so reizend vorgekommen waren, daß sie dieselben mit der feurigsten Inbrunst umarmten, verwandelten sich jetzt in ihren Armen in die abscheulichsten Gespenster und Mißgestalten. Einige, die vorher so schön wie die Liebe geschienen hatten, wurden jetzt zu unfläthigen Harpyen; andere bekamen eine andere, alle aber eine sehr häßliche Gestalt. Die Begierden bebten mit Unmuth von ihren Lieblingen hinweg. Aber, kaum hatten sie sich aus ihren ekelhaften Umarmungen losgemacht, so erschienen die kleinen Zauberinnen wieder in den reizendsten Gestalten. Die Begierden wurden aufs Neue angereizt, sich mit ihnen zu vereinigen, aber sie fanden sich bald eben so sehr getäuscht als zuvor. Einige der Freuden stellten sich spröde und flohen vor den nacheilenden Begierden; andere verfolgten diejenigen, die vor ihnen flohen. Man sah nichts als ein buntes widerliches Gewimmel, und von dem gewaltigen Getöse, welches das Klatschen der Flügel, die ungeduldigen Klagen der betrogenen Begierden und die vermischten Stimmen der Fliehenden und Nacheilenden verursachten, hätte man taub werden mögen. Dieser Lärm weckte endlich die Seele auf, die neben der Thorheit auf einem Rosenlager eingeschlafen war. Sie wollte aufstehen und ihre Begierden zusammenrufen; aber die Thorheit, welche ihren 70 Arm fest um ihren Leib geschlungen hielt, war ihr zu stark. Sie konnte sich nicht losmachen, zumal da ein Weibsbild von plumper Bildung, die man Gewohnheit nennt, sie mit neuen und stärkern Banden an das Lager der falschen Glückseligkeit fest machte. Unterdeß hatten sich die Begierden durch ihre beständige, aber vergebliche Bewegung so sehr ermüdet, daß sie ganz entkräftet niedersanken und einschlummerten.

Während der allgemeinen Stille, die jetzt auf ein so großes Getümmel folgte, hörte die Seele von ferne ein liebliches Getöne, wovon sie auf eine so süße und mächtige Weise ergriffen wurde, daß sie sich eine starke Bewegung gab, aufzustehen und die blumigen Fesseln zu zerreißen, womit sie gebunden war. Ich sahe auch, daß der Knabe mit den goldenen Flügeln, den ich lange nicht mehr bemerkt hatte, wieder um sie schwebte, als ob er ihr mit seinen ätherischen Flügeln Muth und Stärke zufächeln wollte. Sie riß sich zuletzt wirklich los und weckte ihre Begierden auf, um der holden Symphonie mit einander nachzugehen, von der sich nur die letzten und schwächsten Ausflüsse in ihrem Ohre verloren. Sie würde aber schwerlich so bald und so leicht aus dem bezauberten Gebiete der Thorheit hinweggekommen seyn, wenn sich nicht eine Frau von ernsthaftem Ansehen zu ihr gefunden hätte, von der mir Geoncha sagte, daß sie Ueberlegung genannt würde. Die Ueberlegung hatte eine Brille in der Hand, welche sie der Seele aufsetzte. Sie befahl ihr erstlich, die Thorheit und ihre Töchter damit anzusehen, welche ihr nun so häßlich und schändlich vorkamen, daß sie vor Ekel die Augen wegwenden mußte. Dann befahl sie ihr, vor sich hinaus zu sehen, und da entdeckte die Seele auf einem weit entlegenen Berge eine Gestalt von erhabenem 71 himmlischem Ansehen. Sie betrachtete sie lange, und es war ihr, als ob sie sich erinnerte, ehemals etwas Aehnliches gesehen zu haben. Sie eilete nunmehr, wie mit geflügelten Füßen, vom Instinct begleitet, nach der glücklichen Gegend, wo sie die schöne Gestalt gesehen hatte, von welcher auch die liebliche Symphonie kam, die sie zuweilen stärker, zuweilen aber fast gar nicht vernahm. Ihre Gefährten schwebten ungeduldig voran und schienen durch eine geheime Ahnung zum voraus zu empfinden, daß das Leere, das sie in sich empfanden, bald ausgefüllt werden sollte.

Ich sahe auch, wie sie endlich den Fuß des Berges erreichten, wo sie still hielten, um sich ein wenig zu erholen. Denn der Berg schien ihnen sehr schwer zu ersteigen. Ich wurde aber bald einer weiblichen Gestalt von gesunder und starker Leibesbeschaffenheit und einer sehr sanften Gesichtsbildung gewahr, die zu ihnen herunterstieg. Sie nannte sich Mäßigkeit, zuweilen heißt sie auch Geduld. Sie erbot sich, die Seele an ihrem Arm auf den Gipfel des Berges zu führen. Was die Begierden betrifft, so waren einige so leicht auf den Füßen und so erhitzt nach der Schönheit, von der sie zwar nur eine dunkle Vorempfindung hatten, daß sie ohne Führer, ob sie gleich nicht selten ausgleiteten, den obern Theil des Berges erreichten. Andere, die etwas träger waren, nahm der Instinct auf seine Flügel und brachte sie also sicher auf den Gipfel.

Jetzo däuchte mich, als ob ich selbst durch eine unmerkliche geschwinde Bewegung auf die Stirn dieses Berges gebracht würde, damit ich Alles genau beschauen könnte, was ferner mit der Seele, gegen die ich eine zärtliche Zuneigung empfand, sich zutragen würde.

72 Ich sahe nun eine große Ebne, an der einen Seite von hohen Cedern umringt, an den übrigen offen und mit allerlei gesunden und wohlriechenden Pflanzen bedeckt. Die Luft, die man hier athmete, hatte die Eigenschaft, daß sie die Uebung der Leibes- und Seelenkräfte ungemein beförderte. Man schien sich selbst leichter und wie ätherisch zu werden. Aber ein entzückendes Gesicht, das sich mir anbot, versicherte sich bald meiner ganzen Aufmerksamkeit. Ich sahe die Gottheit dieses Orts, eine himmlische Gestalt, aus dem Cedernhaine hervorgehen, eben diejenige, welche die Seele durch das wunderbare Glas der Ueberlegung von fern erblickt hatte. Wenn man sie gesehen hat, so kann man nichts Anderes mehr schön heißen, als sie; aber es ist unmöglich, sie denen genugsam zu beschreiben, die sie nicht selbst gesehen haben. Sie trug ein goldenes Stirnband, auf welchem in der himmlischen Sprache ihr Name geschrieben stand, den nur die Unsterblichen nennen können; bei den Menschen aber heißt sie die Tugend. Zu ihrer Linken ging eine Nymphe, gleich einem Mädchen in der vollen Blüthe der Schönheit, aber von einer so untadeligen und glänzenden Schönheit, daß ich sie für die Einwohnerin einer höhern Welt halten mußte. Mein Ausleger sagte mir, man nenne sie Harmonie, und die goldene Laute, die an ihrer weißen Schulter hing, sey eben dieselbe, womit sie die Gestirne und Welten in richtige Bewegung und Kreisläufe gezogen und den allgemeinen Lobgesang beherrscht habe, den die neugebildete Schöpfung dem Herrn der Wesen gebracht. Ungeachtet sie jetzt nicht spielte, so floß doch noch ein sich sanft verlierendes liebliches Getöne um sie her, gleich dem milden Glanz, den die untergegangene Sonne auf den westlichen Bergen zurück läßt, wenn er sich allgemach unter den Flügel der Nacht verbirgt.

73 Als die Seele die himmlische Tugend auf sich zukommen sah, eilte sie in einer Art von Entzückung, sich zu ihren Füßen zu werfen und ihre Knie zu umarmen. Jetzt empfand sie zum ersten Mal, seitdem sie in den irdischen Gegenden gewallet hatte, etwas, das jener Seligkeit glich, die sie unter den Engeln unvermischt genossen hatte, und sie glaubte im Antlitz der Tugend Züge von dem Ewigen Schönen zu entdecken, den sie ehemals angebetet hatte.

Die Tugend hob sie liebreich auf, umarmte sie und führte sie mitten zwischen ihr und ihrer Schwester Harmonie zu einem erhöhten Orte, wo sie sich niedersetzten. Ich sahe auf dem Angesicht der Seele eine Zufriedenheit leuchten, die nur aus einer Glückseligkeit entspringen kann, welche ganz und gar nach unserer Natur abgemessen ist. Ich sah auch, wie die Begierden ganz erstaunt am Boden klebten und die Augen nicht von der göttlichen Majestät der Tugend und der unwiderstehlichen Anmuth der schönen Harmonie verwenden konnten. Aber, sobald diese ihre Laute hervor nahm und einen Gesang zu spielen anfing, der die ganze Natur zu erhöhen schien, so standen die Begierden auf und machten, mit den Armen in einen Kreis geschlungen, einen sphärischen Tanz um die Tugend, gleich dem Tanze, den die Welten um die königliche Sonne machen. Diese sanfte und wohl abgemessene Bewegung wiegte sie in ein Vergnügen, dergleichen sie nie empfunden hatten. Aber, was noch weit wunderbarer und für mein Aug' ein entzückender Anblick war, jede Begierde, indem sie sich solchergestalt um die Tugend als ihren Mittelpunkt herum bewegte, faßte, wie in einem Spiegel, die Gestalt derselben auf und schien eine nachgebildete Tugend, und zwar jede auf eine ihr eigene Weise, zu werden. Man hätte sie für eine Schaar von 74 Kindern einer Mutter gehalten, von denen jedes ein Nachbild der Mutter scheint, obgleich keines dem andern völlig ähnlich ist.

Indem ich diese wundervolle Scene mit ungemeiner Freude betrachtete, rührte mich Geoncha mit seinem Stabe an, und sogleich verschwand das Gesicht, und ich befand mich allein auf dem Gipfel des Berges Kakan.