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Im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts war der Vintschgau ein nicht viel einsameres und karger bevölkertes Tal als heute. Die begrenzenden Bergwände sind steil und waldlos; durch die zahlreichen Seitentäler blicken hochgetürmte Gipfel: Mut- und Rötelspitze, Texel, Schwarz- und Trübwand, Lodner und Tschigat und der majestätische Laaser Stock. Braunes und gelbes Felsgestein ist allenthalben emporgezackt, auf den Hangwiesen leuchten die Blumensterne alpiner Flora, schwarze Ziegen grasen bis hoch hinauf in den Mulden, schmalhüftige Rinder brüllen über die ganze Weite der Senkung einander zu, gischtweiße Wasserfälle donnern in die Etsch, das aufgerissene Dunkel langer Engpässe und gewundener Schluchten läßt im Innern der Gebirge tiefere Abgeschiedenheit ahnen, und auf dem zerklüfteten Gestein sieht man von Meile zu Meile uralte Schlösser. Der Sommer bringt den Mandelbaum und die Edelkastanien zum Blühen, und bis zu der Stelle, wo das Schlandernauntal mündet, schlingt sich die Weinrebe um die schwärzlichen Moränen. Aber der Winter ist selbst im untern Tal hart; es heißt, daß die krankhafte Langeweile vom Oktober bis zum April fast alle Regierungsbeamten zu Morphinisten macht. Die Poststraße von Finstermünz übers Stilfser Joch ist acht Monate hindurch verschneit; nur nach Meran führt ein bequemer Weg, aber dort wohnt leichtes Volk, das viel lacht und wenig denkt. Im Vintschgau denkt man viel; seine Menschen sind hager, schweigsam, wachsam und seit dreihundert Jahren in ihrem Wesen kaum verwandelt.

Man sollte glauben, daß Jugend und Schönheit nicht von Belang sind in einer Welt, wo die herrische Natur während der längsten Dauer des Jahres ihre Geschöpfe in so strenger Zucht bindet. Trotzdem hat sich bis heute die Nachricht von einer leidenschaftlichen Begebenheit erhalten, vielleicht der außerordentlichen Umstände wegen, die damit verknüpft waren. Die Geschichte spielt zwischen den feindlichen Familien Ladurner und Tappeiner, die bei Schlanders in zwei Dörfern rechts und links der Etsch wohnten, die Ladurner in Goldrein, unterhalb Kastell Schanz und Schloß Annaberg, die Tappeiner in Morter an der Mündung des reißenden Plimabachs. Die Zwietracht bestand schon seit mehreren Geschlechtern, und niemand kannte die Ursache; einige sagten, eine böswillig zerstörte Brücke sei der Anlaß gewesen, andere behaupteten, Uneinigkeiten über Jagdbefugnisse. Ich will mich nicht dabei aufhalten, jedenfalls war es der richtige scheele, eiserne Bauernhaß, wo Blut gegen Blut steht.

Man hat oft erfahren, auch die Dichtung bezeugt es, daß gerade die überlieferten Feindseligkeiten zwischen nah beieinander wohnenden Familien plötzlich und in natürlichem Widerpart gegen eingefleischte schlechte Instinkte einen Bund zweier Herzen hervorbringt und das Element der Liebe sich gegen das des Hasses stellt. Und wenn hier die Lösung der Geschehnisse den Hassern aus der Hand gerissen wurde, geschah es nicht, weil die Liebe stärker war, sondern weil eine allgemeine Vernichtung den Untergang der Liebenden begleitete.

Am Pfingstsonntag des Jahres 1614 hatte auf dem Marktplatz in Schlanders eine Truppe von Gauklern ihr Zelt aufgeschlagen. Es waren Italiener, die einen Taschenspieler, einen Seiltänzer, einen Wunderdoktor, einen Athleten und vor allem eine Gorilla-Äffin bei sich hatten. Diese Affin erregte teils Neugier, teils Furcht, da sie ungeachtet ihrer Menschenähnlichkeit in Gebärden und Verrichtungen doch eine unsägliche Wildheit merken ließ. Jene Leute selbst waren des Tieres, das sie erst vor kurzem von maurischen Kaufleuten in Venedig erhandelt hatten, noch keineswegs sicher und legten es bei Nacht in Ketten.

Im Gedränge um den abgesteckten Platz waren drei Ladurnerburschen und der junge Franz Tappeiner, der sich in Gesellschaft einiger Kameraden aus Morter befand, aneinandergeraten, und es sah aus, als ob es nicht bei drohenden Mienen und Augenblitzen sein Bewenden haben sollte, als die junge Romild Ladurner ihrem Vetter die Hand auf den Arm legte und zum Frieden mahnte. Als Franz Tappeiner das Mädchen gewahrte, das feste Schultern und Zähne wie ein junger Hund hatte, trat er einen Schritt auf sie zu, denn er hatte sie vorher nie gesehen, und ihre Erscheinung rief auf seinem frischen Gesicht ein unendliches Erstaunen hervor. Sie hielt seinem Betrachten stand, und ihre Augen blickten starr wie die des Adlers, bis sie der Vetter, der Unheil witterte, bei der Hand packte und hinwegzog. Der junge Tappeiner drängte den Ladurnern nach, indem er sich wie ein Schwimmer durch die Menge arbeitete, und als er hinter Romild wieder an dem Strick angelangt war, der die Zuschauer von dem fahrenden Volk trennte, produzierte sich gerade die Gorilla-Äffin im Gewand eines vornehmen Fräuleins, wandelte knicksend auf und ab und wehte mit einem florentinischen Fächer ihrem haarigen Gesicht Kühlung zu.

Die Bauern kicherten und grinsten vor Verwunderung. Auf einmal hielt die Äffin inne, ließ die glühend unruhigen Augen über die versammelten Köpfe schweifen, und in ihren Mienen war die diabolisch freche Überlegenheit eines Wesens, das, einer Riesenkraft bewußt, es dennoch vorzieht, sich in spielerischer Tücke zu verstellen. Da blieben ihre Blicke auf dem Antlitz der jungen Romild haften; das zarte Menschengebild schien es ihr anzutun, sie fletschte in grauenhafter Zärtlichkeit die Zähne, verließ mit einem Sprung das Podium, wobei der seidene Rock an einem Nagel hängenblieb und zerfetzt wurde, und streckte den überlangen Arm aus, um das Mädchen zu betasten. Mit einem einzigen Schreckensschrei wich die ganze Menschenmasse zurück; nur Romild verharrte wie eingewurzelt auf der Stelle; in derselben Sekunde griff eine Faust nach dem Handgelenk des Gorillas; es war Franz Tappeiner, der trotz seiner knabenhaften Jugend als ein Mensch von großer Stärke galt und den knöchern-schmächtigen Arm des furchtbaren Tieres leichterdings meistern zu können glaubte. Aber sogleich spürte er den eigenen Arm so gewaltig umklammert, daß er stöhnend in die Knie brach. Im Nu war ein leerer Raum um ihn und Romild entstanden, den die Affin durch heiser bellende Schreie vergrößerte, und Männer und Weiber begannen in fast lautlosem Gewühl zu fliehen. Die bestürzten Gaukler, die sich um ihren Verdienst gebracht sahen, liefen beschwörend hinterdrein, nur der Seiltänzer hatte Geistesgegenwart genug, den dicken Strick, der unter den Röcken der Äffin am Knöchel eines Fußes befestigt war, zu packen und um einen Pflock zu schlingen. Aus einem Fensterchen des Reisewagens der Bande schaute das bleiche Gesicht eines jungen kranken Frauenzimmers in die heillose Verwirrung. Wahrscheinlich kannte sie ein beeinflussendes Zeichen, denn kaum hatte sie den Mund zum Ruf geöffnet, so drehte sich das Gorillaweib um, trottete wie ein gescholtener Hund auf die Estrade zurück, kauerte mit gekreuzten Beinen nieder und stierte, die Kinnladen leer bewegend, in boshafter Nachdenklichkeit am Firstkranz der Häuser empor. Indessen ging der Wunderdoktor auf Franz zu, hieß ihn den Rock ausziehen, wusch das Blut von der Wunde, die sich oberhalb des Ellenbogens zeigte, und schmierte eine nach Honig riechende Salbe darauf. Romild war verschwunden. Das heftige Durcheinanderreden seiner Begleiter, die sich wieder zu ihm gefunden hatten, hörte Franz kaum, sondern wartete nur auf eine Gelegenheit, um sich ihrer zu entledigen. Doch mußte er sich gedulden, bis die Dunkelheit angebrochen war, dann eilte er wie fliehend an Gärten und Schänken vorüber, wo überall an rasch gezimmerten Tischen und Bänken die Vintschgauer beim Wein saßen und das aufregende Ereignis beredeten. Die Goldreiner Leute waren gewöhnlich im Postwirtshaus, und wie er dort am Tor stand und in die fackelbeleuchtete Halle spähte, fiel ein Schatten über ihn, und aufschauend sah er Romild neben sich. Das glitzernde Augenpaar eines alten Bauern von der Ladurner Sippe verfolgte die beiden in blödem Entsetzen, als sie schweigend den Torweg verließen und im Abend, rätselhaft gesellt, verschwanden.

Sie gingen am Hang der schwarzgeballten Berge talabwärts, Romilds Dorf entgegen; sie hatten die gleiche Empfindung von Gefahr, und als sich zur Linken eine Schlucht öffnete, folgten sie ohne gegenseitige Verständigung einwillig dem wirbelnden Bach nach oben. In der Höhe hellte sich die Nacht, in der Tiefe versank die Etsch als schimmerndes Band, und das Firmament wehte wie eine bestickte Fahne über ihren Köpfen. Anrückende Felsen machten den Uferpfad ungangbar, und sie schlugen die Richtung nach einem kleinen Joch ein, wo das Kirchlein von St. Martin am Kofl stand. Vor der Kapelle ließen sie sich nieder und beteten, darnach küßten sie einander und nannten sich zum erstenmal bei Namen. Statt ins Dorf zurück, marschierten sie tiefer ins Gebirge hinein, um sich ein Hochzeitslager zu suchen, und Romilds stolzer Gang und die gerade Haupthaltung, die bei den Mädchen dieser Gegend vom Tragen schwerer Wassergefäße herrührt, verwandelten sich in frauenhafte Lässigkeit und lauschendes Anschmiegen. Als die bläulichen Ferner des Angelusgletschers über dem Tannen- und Felsendunkel aufrückten, ward ihnen fast heimatfremd zumute, und sie schlossen ihre Augen einer Welt, die so berückend und traumhaft sein wollte, wie sie selbst einander waren.

Die am Morgen aus dem Tal herauftönenden Kirchenglocken trieben sie zur Flucht vom Lager, und sie kamen zu einer Sennhütte, wo sie Milch und Brot empfingen. Dann wanderten sie weiter, und mittags und abends stillten sie den Hunger von dem Vorrat, den ihnen der Senner gegeben und den sie an den folgenden Tagen erneuerten. Wenn die Nacht kam, glaubten sie Himmel und Sonne nur einen Augenblick gesehen zu haben, weil ihnen die Finsternis erwünscht und natürlich war. So lebten sie, ich weiß nicht wie lange, gleich verirrten Kindern, völlig ineinander geschmiedet, ohne Erinnerung an Vergangenes, ohne Erwägung der Zukunft, leidenschaftlich in Trotz und Furcht, denn die Angst vor dem, was sie bei den Menschen erwartete, hielt sie in der Einsamkeit fest. Eines Tages nun kam ein Hirt auf sie zu, der sie schon von weitem mit Verwunderung betrachtet hatte. Er erkannte sie, stand scheu vor ihnen und machte ein böses Gesicht. Sie fragten ihn, was sich drunten im Gau ereignet habe, und er erzählte, daß die Goldreiner schon am Pfingstmontag über den Fluß gegangen seien, um die in Morter wegen der entführten Jungfrau zur Rechenschaft zu ziehen. Die aber hätten die Beschuldigung zurückgewiesen und im Gegenteil die andern verklagt, daß sie an dem jungen Tappeiner sich vergangen hätten. Die Redeschlacht habe so lange gedauert, bis die von Morter zu Hirschfängern und Flinten gegriffen, um die Eindringlinge zu verjagen. Am nächsten Tag sei das Gerücht gegangen und wurde bald Gewißheit, daß zu Schlanders die Pest ausgebrochen sei; der Affe, den die welschen Gaukler mit sich geführt, habe die Krankheit eingeschleppt. Ein großes Sterben habe begonnen; von feindlichen Unternehmungen zwischen beiden Dörfern sei nicht mehr die Rede, und man glaube, die Äffin habe die beiden jungen Leute auf geheimnisvolle Weise verhext. »Folgt meinem Rat«, so schloß der Alte, »und geht hinunter zu den Euern, damit der Zauber geendet wird.«

Franz und Romild gehorchten. Schaudernd machten sie sich auf, um heimzuwandern. Alles Glück hatte sich in Traurigkeit verkehrt, und das längst; seit der ersten Umarmung hatten sie keine Freude genossen, aus der nicht grauenhaft das Bild der Äffin aufgetaucht wäre. In der Dämmerung langten sie unten an; noch ein Umschlingen, ein Druck der heißen Hände, noch ein Anschauen und Zurückschauen, dann ging jedes seinen Weg.

Auf den Fluren war tiefe Stille. In keinem Haus brannte Licht, und alle Tore waren verschlossen. Als Franz das Dorf betrat, grüßte ihn kein vertrautes Gesicht, überall war die gleiche Dunkelheit und Ruhe. Er klopfte ans Haus, nichts rührte sich. Erst als er den bekannten Pfiff erschallen ließ, raschelte es hinter den Läden. Das Fenster wurde geöffnet, und das fahle Gesicht seiner Mutter blickte ihn an. Ihr Schrei rief Vater und Bruder herzu, man ließ ihn ein, aber da er auf alle Fragen nur halbe Antwort gab und schließlich verstummte, betrachteten sie ihn ängstlich wie ein Gespenst. Die neueste Kunde war, daß die Äffin den Gauklern entlaufen sei und sich im Tal herumtreibe; wer ihr nah komme, der werde von der Pest ergriffen, die von Naturns und Kastelbell bis Eyrs hinauf Hunderte von Menschen schon hinweggerafft habe. Schweigend lauschte der Heimgekehrte, und diese anscheinende Teilnahmslosigkeit brachte den Bruder in Wut. Er schrieb ihm alle Schuld zu: »Hättest du das Affenweib nicht berührt, so wäre das Land verschont geblieben«, rief er, »und weil du mit einer Ladurnerin davongegangen bist, darum ist ein Fluch auf dir, und wir müssen verderben.« Plötzlich stieß die Schwester einen gellenden Angstruf aus und stammelte, sie habe die grinsende Affenfratze am Fenster gewahrt, das noch offen war. Die Mutter warf sich Franz zu Füßen und beschwor ihn, von dem Mädchen zu lassen. Er wandte sich bebend ab, verstand kaum den Zusammenhang, wollte hinwegeilen und hielt schon die Klinke in der Faust, da rief ihn die Schwester fieberhaft bettelnd zurück, und er nahm wahr, daß die Krankheit sie gepackt hatte, denn ihr Gesicht sah bleiern aus wie das jenes Frauenzimmers, das aus dem Wagen der Gaukler geschaut. Er setzte sich an den Tisch und weinte. Am Morgen hatte sie die Beulen unter den Armen, das Fleisch zerging unter der Haut, und als sie starb, hatten ihre Züge den Ausdruck der Gorilla-Äffin.

In den Ställen hungerten Kühe und Ochsen; ihr Gebrüll war der einzige Laut des Lebens. Nachbarn hüteten sich, einander vor die Augen zu kommen. Der Himmel schien erblindet, die Luft verwest. Gefürchtet war der Tag, Schatten und Abend gemieden, Wasser und Wind todbringend. Von Dorf zu Dorf zogen die Mönche vom Karthäuserkloster in Neuratheis, segneten die Leichen vor den Haustoren und trösteten die rasenden Kranken. Es ging kein Wanderer mehr auf der Landstraße, es tönte kein Posthorn mehr, die Hirten blieben auf den Almen, kein Glockenecho brach sich an den Bergen. Aus Furcht vor dem Affen wurden die Fenster verhängt und die Türen verriegelt, so daß in den ungelüfteten Stuben die Seuche doppelt leichtes Spiel hatte. Nach der Schwester sah Franz den Bruder erliegen, und am Dreifaltigkeitssonntag spürte der Vater den ersten Frost. Als die Sonne untergegangen war, pochte es ans Fenster, die Mutter schlug vor Grausen die Hände zusammen und kreischte: »Das Tier! Das Tier!« Es pochte abermals, da öffnete Franz den Laden und erblickte eine Gestalt, die jetzt unter dem Ahornbaum am Brunnen stand. Er erkannte Romild, die aus dem zinnernen Becher mit der Gier einer Gehetzten Wasser trank. Drei Sprünge, und er war draußen, der Hofhund winselte matt um seine Knie. Schluchzend vor Jubel, daß er noch lebte, zog ihn das Mädchen bis zum Rand des ausgetrockneten Bachs. Sie hatte noch immer die herrisch-gerade Haltung, doch ihre azurgeäderte Haut war entfärbt von überstandenen Leiden vieler Art. Die Ihrigen hatten sie beschimpft wie eine Ehrlose, der Vater hatte sie geschlagen, aber nun kam sie von einem Haus der Toten und Todgeweihten; der Liebeswille hatte sie getrieben, den schauerlichen Gang übers Tal zu wagen, und da stand sie, flüchtig und zitternd, dennoch beglückt. »Wir wollen uns ein Zeichen geben«, schlug sie vor; »wenn die Nacht kommt, steckst du eine brennende Fackel übers Dach, ein gleiches will auch ich tun, so wissen wir doch täglich voneinander, daß wir leben.« Franz war damit einverstanden; die Häuser beider Familien waren so gelegen, daß ein Feuersignal von einem zum andern wahrgenommen werden konnte.

So geschah es. Jeden Abend um die zehnte Stunde flammte von Goldrein und von Morter aus ein brennendes Scheit übers Tal, wie zwei irdische Sterne, die einander grüßen. Aber schon am vierten Tag fühlte sich Franz sterbensmatt, und bevor er im Fieber die Besinnung verlor, zwang er der Mutter, deren Herz schon erstorben und hoffnungslos war, das Versprechen ab, an seiner Statt das Flammenzeichen zu geben. Die Greisin übte diese Pflicht treu, und nur der Untergang einer Welt vermochte ihr Gewissen zu betäuben, denn was lag jetzt noch an Zuchtlosigkeit und Entehrung. Aber als der Einzige und Letzte des Stammes langsam zu genesen anfing, fand sie sich belohnt, und sie bekehrte sich zu der Meinung, daß Gott diesen Bund begünstigte, denn es gab nur wenige, die, von der Pest einmal erfaßt, wieder ins Dasein treten durften. Am neunten Tag war er imstande, das Bett zu verlassen; zwei Tage später versuchte er, nach Goldrein zu wandern, doch am Fluß überfiel ihn die wiederkehrende Schwäche des Kränklings, und er mußte von seinem Vorhaben abstehen. Nachdem er den ersten Schein des nächtlichen Fackelbrandes vom Ladurnerhof gewahrt, indes die Mutter willig über seinem Haupt die Lohe hinausreckte, fiel er in einen gesunden Schlaf. Und wieder zwei Tage später machte er sich kraftvoller auf den Weg, und er wählte den Abend hiezu, weil er sich bei hellem Licht der Beachtung der feindseligen Sippe nicht aussetzen wollte. Er wußte nicht, daß es keine Feinde mehr dort drüben gab und daß der Gau entvölkert war.

Die Dunkelheit war längst eingebrochen, als er über die Brücke ging, und er entnahm dem Aussehn des Sternenhimmels die Stunde. Noch sah er die Fackel nicht, so daß er wähnte, die nahen Häuser des Dorfs entzögen sie seinem Auge. Aber plötzlich flammte sie auf; die Straße noch, der Platz, und nun das Haus. Er pochte; er rief, erst leise, dann laut. Da ihm keine Stimme antwortete, auch kein Schritt hörbar wurde, öffnete er ungeduldig die Türe und eilte ermattend durch den finstern Gang, der ihn zu einer niedrig gewölbten Küche führte. An der linken Seite befand sich ein vergittertes Fenster; durch dieses Fenster wurde die Fackel hinausgehalten, und ihr Schein erhellte düster und mit beweglichen Schatten rückstrahlend den Raum. Aber es war nicht Romild, in deren Händen das Holz brannte, sondern es war die Gorilla-Äffin. Das Tier kauerte am Fenster, zähnefletschend und mit den Lippen in gräßlicher Possierlichkeit schmatzend. Die Gebärde sinnloser Nachahmung, die sich im Hinausstrecken des Armes mit dem brennenden Scheit kundgab, war noch schrecklicher als der Anblick des entseelten Mädchenkörpers, der knapp vor den Beinen des Gorillas über die Herdsteine hingebreitet lag, die Gewänder halb vom Leib gerissen, die schneeige Haut blutbesudelt, der Hals wie gebrochen zur Seite geneigt, die toten Augen weit geöffnet und von der Kohlenglut unterm Rost mit täuschendem Leben bestrahlt. Franz Tappeiner stürzte nieder wie einer, dem der Schädel gespalten wird. Der Affe schleuderte die Fackel weg, packte den Wehrlosen und zerbrach ihm mit einer spielenden Gleichgültigkeit das Genick. Dann begann er abermals, stumpfsinnig wie die Nacht, die Bewegungen der schönen Romild nachzuahmen, die er überfallen haben mochte, während sie, im Fieber vielleicht, dem Geliebten das sehnsüchtig erwartete Zeichen gab. Es war aber in seinen großen Urwaldaugen die instinktvolle Melancholie der Kreatur, die von weiter Ferne ahnt, was Verhängnis und Menschenschmerz bedeuten, jedoch in ihren Handlungen nur das willenlose Werkzeug eines unerforschlichen Schicksals bleibt.

Die Pestplage soll damit ihr Ende erreicht haben.

Sicher ist, daß die Äffin, als kurz hernach Regengüsse eintraten, während welcher sie, von Bauern und Hirten verfolgt, durchs Martelltal irrte, bei einem Ausbruch des Stausees am Zufallferner von den eisigen Fluten erfaßt wurde und elend ersoff.