Ludwig Tieck
Ulrich, der Empfindsame
Ludwig Tieck

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Ludwig Tieck.

Ulrich, der Empfindsame.

Erzählung.

1796.

 


 

In einer Stadt, wo man schon sehr früh, um die Aufklärung zu befördern, Leihbibliotheken einrichtete, damit die Jugend, so wie sie lesen könne, lerne, wie man lieben und verzweifeln, deklamiren und tragiren, auch wie man zärtliche Dialogen führen müsse; in dieser Stadt, wo die Knaben im zwölften Jahre Verse machten und im vierzehnten die Dichter Deutschlands vom ersten bis zum letzten rezensiren konnten, in dieser Stadt lebte Hartmann, ein alter reicher Kaufmann, den die jungen Leute geizig nannten, weil er sich einfach trug und kein Mitglied ihrer Ressourcen war, man ihn auch nie auf einem Kaffeehause Billard spielen sah; alte Leute nannten ihn einen Sonderling, weil er fast mit Niemand in der Stadt Umgang hatte, sondern sich immer nur mit sich selber beschäftigte.

Hartmann hatte in seinen jüngern Jahren viele Reisen gemacht, und war dabei mit mancherlei Menschen in Bekanntschaft gerathen; er hatte viel erfahren, und sich mit in den bunten verworrenen Zirkeln gedreht, aus denen das seltsame Ding vom menschlichen Leben gebildet ist. Er hatte hundert Freunde treulos und eigennützig, tausend Bekannte albern und langweilig, dreitausend Frauenzimmer koquett und ohne Herz gefunden, so daß ihm, als er älter ward, der Umgang mit Menschen anekelte. Er etablirte eine Handlung und 124 spekulirte kaltblütig und gut, sein Vermögen wuchs mit jedem Jahre, und um einen Erben seines Geldes und seiner Handlung zu haben, heirathete er ein unbefangenes, einfältiges Mädchen, die ihm nach zwei Jahren einen Sohn zur Welt brachte, nach dem er sich gesehnet hatte. Von dieser Zeit an bekümmerte er sich wenig um seine Frau, er hatte keine Freunde und Bekannten, sondern lebte gewöhnlich in einem verschlossenen Zimmer unter seinen Rechnungen und Büchern, mit denen er sich den ganzen Tag beschäftigte. Es ist ausgemacht, daß einen Menschen, dessen Seele beruhigt ist, nichts so sehr anzieht, als seine Arbeiten, sie mögen nun bestehn, worin sie wollen; er bildet sich nach und nach eine Welt um sich her, die ihn in der Einsamkeit genügend unterhält. Viele Leute, die diese Selbstbeschäftigung nicht begreifen konnten, und gern irgend etwas Wunderbares erzählen mochten, vertrauten daher jedem unter dem Siegel der Verschwiegenheit: der alte Hartmann sei eigentlich ein Goldmacher.

Die Frau Hartmann war sich also mit ihrem Sohne Ulrich ganz selber überlassen, so daß sie ihn erziehen und verziehen konnte, wie sie nur wollte. Sie hatte einen eignen kleinen Schrank voll empfindsamer Erziehungsschriften in das Haus gebracht, deren Theorie jetzt bei dem Knaben praktisch angewendet wurde.

Dieser Ulrich ist der Held der gegenwärtigen Geschichte. Da er der einzige Sohn war, ward er von den Muhmen und Vettern der Mutter natürlicherweise für ein Genie erklärt; er konnte sich schon, noch eh er sprechen lernte, allein in die Speisekammer finden, und als er sich die menschliche Sprache erworben hatte, wußte er sehr geschickt den Diebstahl der eingemachten Sachen, 125 die man vermißte, von sich abzulehnen und auf das Gesinde zu schieben.

Hartmann hatte in der Stadt nur noch einen einzigen Verwandten, den er je zuweilen sah, einen abgedankten und auf Pension gesetzten Offizier, und von diesem hatte der junge Sprößling eben den Vornamen Ulrich empfangen.

Hätte der alte Hartmann einigen Geschmack gehabt, oder nur im Tristram Shandy das Kapitel von den Namen gelesen, so würde er gewiß nicht so unbesonnen gewesen sein, seinem Erben aus bloßer Höflichkeit einen Namen von so übler Vorbedeutung zu geben. –

Es ist seltsam, wenn man bedenkt, was sich die Menschen einander für Höflichkeiten erzeigen. Hartmann nannte seinen Sohn Ulrich, und bedachte dabei nicht, daß er seinem Freunde, dem auf Pension sitzenden Offizier, den Charakter, ja das Glück von vielen Jahren seines Sohnes aufopfere. Denn in keiner Sache kann ich so sehr mit dem alten Shandy sympathisiren, als eben in seiner wunderbaren Theorie über die Namen; ich halte nicht nur alles für wahr, was sein Sohn in dem bekannten Kapitel schreibt, sondern ich bin sogar oft in Versuchung gekommen, dieses Kapitel besonders abdrucken zu lassen, und es mit einem Kommentar und neuen Zusätzen zu versehen. – Ich will nur zu bedenken geben, welche sonderbaren Eindrücke in der Seele eines Kindes entstehen müssen, wenn es sich immer mit einem dumpfen Laut, wie ein verzauberter Geist, Ulrich gerufen hört, wenn es diesen seltsamen Klang mit dem Begriff seiner Ichheit verbindet: ob dies nicht einen Einfluß auf das ganze Leben des Menschen haben muß, und sich daraus tausend Charakterzüge nach und nach 126 entwickeln können, die man sonst gewiß nicht an ihm finden würde. Man erwäge nur, an welche Zufälligkeiten sich der zarte Kindergeist lehnt, und die nach und nach seine Originalität bilden, um einzusehn, daß es nicht ganz und gar Narrheit war, was die Weisheit des alten Shandy sprach.

In Campens Kinderbibliothek lernte der junge Ulrich lesen, auch wurden ihm oft gute und erbauliche Kupferstiche vorgehalten; man hielt ihm die großen Muster einiger Kinder, als Gretchen, Minchen oder Wilhelmchen beständig vor Augen; auch wurde ihm die Moral und Religion in nuce beigebracht, und der Knabe wuchs und gedieh, und es fehlte weiter nichts, als daß man ihn in Kupfer stechen und eine Epopöe in Hexametern auf ihn dichten ließ.

Ein junger Mensch, mit Namen Seidemann, ward in dem Hause bekannt, und sein zartes Herz fühlte sich vom ersten Tage zu der hoffnungsvollen Pflanze hingezogen. Er kam unlängst von der Universität, und hatte einen Dornenstock, abgeschnittene Haare, viel Weltkenntniß und wenige Hefte mitgebracht: er war jetzt über Dessau gekommen, um das weltberühmte Philanthropin in Augenschein zu nehmen, und sein Herz schlug so gewaltig, als er die Meritentafeln mit goldenen Punkten, die Ordensbänder und das Privattheater, die Uniform und das Voltigirpferd sah, daß er das Gelübde that, wenigstens im Kleinen eben so viel zu wirken, wenn es ihm etwa nicht gelingen sollte, in's Große zu gehn.

Gottlob, daß alle diese Narrheiten, von denen ich hier spreche, nun in die Polterkammer geworfen sind, wo sie bald mit so dickem Staube werden überzogen sein, daß man ihre eigentliche Farbe und Gestalt gar nicht 127 erkennen kann, daß unsere Nachkommen uns nicht werden glauben wollen, wenn wir ihnen von den wunderseltsamen Fratzen erzählen, die wir erlebt haben. Nirgends zeigt sich mehr Mannichfaltigkeit, nirgends größere Abwechslung, als in den menschlichen Narrheiten; wer kann die gedrängte Schaar zählen und übersehn, die seit funfzig Jahren allein unser Deutschland durchzogen hat? Das Füllhorn leert sich immer wieder von neuem und wird doch nicht erschöpft; Dichter und Rezensenten, Pädagogen und Philosophen, Kleiderthoren und Jakobiner, Aufklärer und Schwärmer, Betrüger und Betrogene, Feuillants und Terroristen, Journale und Zeitungen, Fausts Gesundheitskatechismus und die Debatten für und gegen die Beinkleider, – und alles zum Besten der Menschheit! Da sich jetzt von allen Seiten so viele Aerzte hinzudrängen, so sollte man fast auf den Gedanken kommen, daß sie in den letzten Zügen läge, so daß man nur noch in der Eil alle möglichen Mittel aufbieten müsse, um sie zu retten. Aber die Menschheit krankt eigentlich nur an diesen unberufenen Aerzten, es geht ihr wie den Staaten, wo oft die Mitglieder allen Unfug anrichten, die sie regieren und verbessern wollen. – Doch damit nur etwas wirklich Heilsames zum Besten der ganzen Menschheit geschehe, will ich in meiner erzmoralischen Erzählung fortfahren, und mir nicht durch unnütze Anmerkungen unter meinen eigenen Lesern einen Haufen von Feinden erwecken.

Also Herr Seidemann erbarmte sich des jungen Ulrich, und erhob ihn zum Stande eines ordentlichen kultivirten Menschen. Er lehrte ihn schreiben und rechnen, die Anfangsgründe der Sprachen, wobei der Lehrer 128 die so oft gepriesene Bemerkung an sich machte: docendo discere. Als der Jüngling anfing, zuweilen nach der Aufwärterin zu schlagen, oder den Hund unter dem Tische heimlich mit dem Fuße zu stoßen, suchte der Pädagoge, mit zartem Sinne, diese Kraftäußerungen zu ihrem wahren Endzweck zu lenken.

Manche von den alten epikurischen Philosophen sind der irrigen Meinung gewesen, der Mensch sei da, um zu trinken und zu essen, worüber sie denn längst sind belehrt und zurecht gewiesen worden. Die neuern Pädagogen besonders nahmen an, der Mensch existire, um sich zu bewegen; daher muß vor allen Dingen die Theorie, wie man sich am besten bewegt, um die Gesundheit zu bewahren, in's Reine gebracht werden. Die Kunst, sich Bewegung zu machen, ist nicht so leicht, als man auf den ersten Anblick meinen dürfte, sie scheint zwar jedem Menschen angeboren, und noch leichter, als die Kunst zu sprechen; aber wie wenige Menschen sprechen gut, und wie wenige bewegen sich auf die wahre Art! Unserm erleuchteten Zeitalter (das dem Herrn Guthsmuth gar nicht genug dafür danken kann) war es aufbehalten, ein eignes schönes Buch nach Kapiteln und Abschnitten darüber zu bekommen, und so die natürliche Leibesbewegung zu einer Wissenschaft zu erheben.

Von der Kunst also zu laufen und zu springen, so wie vom Balgen und Voltigiren, hatte Herr Seidemann wenigstens oberflächliche, encyklopädische Kenntnisse, die zwar nicht gründlich, aber doch auch nicht völlig zu verachten waren. Er hatte überhaupt einen kompendiösen Auszug von der jetzigen kompendiösen Bibliothek aller Wissenschaften im Kopfe, und dies 129 war die Ursache, daß er nicht so schwer an seiner Gelehrsamkeit zu tragen hatte, wie es wohl vielen unsrer altfränkischen Gelehrten geht, die das menschliche Wissen noch gern in Masse handhaben.

Madam Hartmann war von dem jungen Manne entzückt, denn er kam ihr wie ein Heiland vor, der die Welt von Stock und Ruthe, von Buchstabiren und Pedanterie erlösen würde; sie betrachtete ihn als einen Engel, der ihr ausdrücklich vom Himmel geschickt sei, um aus dem kleinen Ulrich das kräftigste Urgenie zu bilden, das nur jemals in Deutschland auf Stelzen gegangen ist.

Seidemann machte in der Stadt erst Aufsehen, und dann viele Bekanntschaften. Die Damen wurden besonders durch das runde Haar entzückt, welches damals noch nicht so gewöhnlich war als jetzt, wo es sich selbst Leute zu tragen unterstehn, die keine Genies sind; Seidemann kam allen als ein wunderbarer Mensch vor, und wenn sie die kräftigen Bücher lasen, die damals Mode waren, in denen sich mehr Apostrophen als Buchstaben fanden, so glaubten sie im Stillen, sie wären von diesem wunderbaren Candidaten. Bald erhielt er in vielen der angesehensten Häuser Zutritt, und jemehr in seiner Abwesenheit die alten Männer die Köpfe über ihn schüttelten, um so mehr gewannen ihn die Frauenzimmer lieb; denn jemehr einer ein determinirter Narr ist, um so mehr macht er Glück bei diesem Geschlecht, weil die Frauen sich dann vor einem solchen um so weniger zu geniren brauchen, und ein Hausfreund in einem Hause, wo sich Frauenzimmer befinden, und ein Thor, sind in unserm modernen Dialekte fast gleich bedeutende Worte. – Es währte 130 nicht lange, so bekam der Wundermann in mehrern Familien die Direktion der lieben Jugend, an der er zur Erbauung der Aeltern und zum Schrecken der Großväter frisch darauf los erzog. Er gab ihnen keinen bestimmten Unterricht über irgend eine Wissenschaft, sondern er hatte nur die allgemeine Aufsicht und Herrschaft über die ganze Erziehung, er stand wie mancher Premierminister an der Spitze, ohne von den Details unterrichtet zu sein; er konnte weder Französisch noch Latein, weder Fechten noch Tanzen, weder Springen noch Voltigiren, aber er gab doch mit einem wahren Rezensenteneifer in allen diesen Dingen den gründlichsten Unterricht. – So wuchs die Jugend der Stadt unter Springen und Laufen auf, und ward groß und rüstig, philosophisch und lustig, und es hatte dabei den Anschein, als wenn sich Seidemann ein ganz artiges Vermögen sammeln würde.

Der alte Hartmann wußte von diesem Unfuge nichts, denn er bekümmerte sich nicht weiter um seinen Sohn, außer, wenn dieser etwa krank war, in welchem Falle er sich sehr fleißig nach ihm erkundigte; er wunderte sich zwar manchmal über dessen wunderliche Geberden und Ausdrücke, aber er schrieb alles auf die Rechnung der großen Jugend, und blieb ohne Sorgen. –

Ulrich verachtete unter der Anführung seines Lehrers nicht nur alle Einwohner der Stadt, sondern auch alle Gelehrten und selbst alle Wissenschaften. Wenn er irgend einen naseweisen Satz gesprochen, und ihn sein Lehrer dabei recht unmäßig gelobt hatte, so kam er sich größer vor als Cicero und Aristoteles. Sein Lehrer sparte nichts, ihn schon recht früh zur edlen 131 und freien Kunst der Impertinenz anzuführen, vermittelst deren so manche unbedeutende Leute imponiren, und schon oft ihr Glück gemacht haben; er zeigte ihm, daß in unserm Zeitalter das eigentliche Leben nur in der Lebensart bestehe, und daß Lebensart nichts weiter sei, als daß man im Stillen bei sich ausmache: man sei der vollkommenste Mensch auf Erden, und so untrüglich, wie weiland der Pabst oder jetzt die Kantische Philosophie; auf diese Art könne man nie in Verlegenheit gesetzt werden, und die Menschen im Allgemeinen würden vor einem solchen Wesen stets eine heimliche Achtung haben, und im Allgemeinen müsse man die Menschen immer nehmen, wenn man mit ihnen zurecht kommen wolle; der Ausnahmen, die es etwa gäbe, wären so wenige, daß es nicht der Mühe werth sei, sie zu studiren.

Diese kompendiöse Menschenkenntniß suchte sich Ulrich tief einzuprägen, um in vorkommenden Fällen nach ihr zu handeln. Er war der hauptsächlichste und Lieblingsschüler des Seidemann, daher vertraute ihm dieser, daß er bloß dieser Art von Philosophie sein Glück zu verdanken habe, alle Menschen wären Narren, die einen so, die andern anders, man müsse sich, so viel man könne, in jeden schicken, damit dieser sich wieder nach uns bequeme. – Diese Geständnisse waren nur die Vorboten von andern, die für beide Partheien ungleich wichtiger waren.

Eine Fähigkeit, auf die sich der Pädagoge fast am meisten zu Gute that, war seine Kunst zu deklamiren; er hatte einmal etwas darüber gehört und gelesen, ohne es zu verstehen, und seine erhaschte Theorie rasch auf die Praxis angewendet. Er gab der ganzen Stadt 132 einmal gegen ein billiges Eintrittsgeld die Freiheit, ihn zu bewundern, als er sich bei einigen Stellen von Klopstock und Shakspear außerordentlich angriff, und acht Tage hindurch von einem heftigen und hartnäckigen Katharr zu leiden hatte; er malte mit Händen, Füßen und Mienen, und fand darin den Unterschied zwischen einem Maler oder Bildhauer und einem Schauspieler. Alle Zuhörer hatten Mitleiden mit dem armen Menschen, der sich zu ihrem Besten so abquälte, und im folgenden Monate hatte Seidemann zwölf Eleven mehr.

So einfältig manche Menschen sind, so haben doch diese grade oft eine große Portion von Lebensklugheit. Der verdiente Pädagoge sah ein, daß ihn nichts so sehr halte, als daß er bis jetzt keinen Nebenbuhler habe, der es ihm in dieser oder jener Narrheit zuvor thue; er hielt es daher für nöthig, sich von einem Vierteljahr zum andern wieder aufzufrischen, um nicht ein abgestandenes Gericht zu werden, und dann selbst von einem noch fadern Narren verdrängt zu werden: er setzte daher einen Plan ins Werk, den er schon lange heimlich bei sich genährt hatte.

Es war damals die Zeit, als man, der lieben Jugend zum Besten, auf Privattheatern mancherlei Schau- und Trauerspiele auf eine jämmerliche Art darstellte, um sich gegenseitig in der Kunst gerührt zu werden, zu üben. Seidemann hatte ein Projekt, in der Stadt ein Nationaltheater ganz heimlich zu errichten, ohne daß die deutsche Nation ein Wort davon wüßte; er hatte die Stücke ausgesucht, die gespielt werden sollten, so wie die Rollen, die er sich zu 133 übernehmen getraute, und es fehlte nun nur noch an den übrigen Spielern.

Ulrich war der Erste, den er zu seiner Entreprise engagirte. Er wußte es diesem so annehmlich zu machen, wie schön es sei, sich in die verschiedenen überaus edlen Charaktere hinein zu studiren, wie nöthig, um sich auszubilden, wie diese ganze Uebung der Seele einen neuen Schwung gebe, und wie man Miene, Geberdensprache und Gedächtniß zu gleicher Zeit vervollkommene, erwähnte dabei der Thränen, die man aus den schönsten Augen locke, kurz, er stellte ihm alles so paradiesisch vor, daß Ulrich, der ein ziemlich stammhafter Junge geworden war, sich nur gleich einen niederträchtigen Menschen herwünschte, den er nach einer ausgelernten Rolle im Edelmuth übertreffen könnte.

Mehrere Eleven wurden überredet, an dieser herrlichen Uebung Theil zu nehmen, und da es so außerordentlich nützlich sein sollte, fanden sich bald auch verschiedene Frauenzimmer, die sich gern dazu verstehn wollten, vor den Augen einer ansehnlichen Zuhörerschaft, von ihren begeisterten Liebhabern angebetet zu werden. – Der wahre Zusammenhang der Sache, der auch dem geliebten Ulrich eröffnet wurde, war aber dieser: Seidemann hatte sich bei seinen pädagogischen Bemühungen in ein Mädchen aus einer angesehenen Familie verliebt, das er noch immer nicht, trotz allen seinen Bemühungen, hatte sprechen können; er glaubte Mittel zu finden, sie in das Garn seines Theaters zu treiben, und so ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Ulrich machte seiner Seits die Bedingung, daß Louise Wallmuth eine der mitspielenden Personen sein müsse, woraus denn Seidemann den politischen 134 Schluß zog, das Herz des Jünglings sei nicht mehr frei: eine Entdeckung, die ihm außerordentlich angenehm war.

Und wie oft haben wir es nicht gehört und in Büchern gelesen: daß die Liebe eigentlich den Menschen erziehen müsse? Der Pädagoge kann nichts weiter thun, als ihn aus dem Groben hauen, wie Dädalus, und es ist schon immer bewundernswürdig viel, daß ein solches erzogenes Wesen zu gehen und zu sprechen scheint: die Liebe aber setzt erst den Meißel eines Phidias und Praxiteles an ihn, und bearbeitet die unbeholfene Masse. Erzieher können daher nicht genug damit eilen, daß sich ihre Zöglinge irgendwo verlieben, weil sie dann die bequemsten Ferien haben, und ein wahrer Erzieher braucht dann nur zuzusehn und der begierigen Welt die Wunder aufzuschreiben, die er erlebt. – Seidemann versprach sich also jetzt von seinem theuren Eleven ein wahres Fest, er beschloß für einen künftigen Erziehungsroman alle interessante Erscheinungen zu sammeln, und dabei in jener Liebe ein Vertrauter, Tröster und Rathgeber zu sein. Denn eine Liebe ohne Unglück ist völlig undenkbar.

Alles ward bald eingerichtet, die Mütter gaben ihre Töchter gern hin, damit die ganze Stadt nur Gelegenheit hätte, sie zu bewundern, ja einige Mütter übernahmen selbst die ältern Rollen, damit das patriotische Unternehmen guten Fortgang haben möchte.

Mau eröffnete die Bühne mit einem empfindsamen Familiengemälde, in welchem Seidemann den ersten Liebhaber, und seine Geliebte die Heldin des Stücks spielte. Ulrich spielte einen dummen Jungen zur Freude aller Zuschauer, und er that sich auf das Lob, 135 das er einärntete, nicht wenig zu Gute. Der alte Hartmann wußte kein Wort von den Fortschritten, die seine Vaterstadt jetzt in der Kultur machte, und daß deren im Modejournal auf eine rühmliche Art Erwähnung geschehen würde.

Alle Schauspieler konnten nach geendigtem Stücke nicht schlafen, jeder berechnete die Rollen, in denen er noch würde glänzen können, ein jeder hatte die Hauptrollen, und in dieser Nacht entsprang die Quelle aller künftigen Gezänke und Streitigkeiten.

Livius Andronikus kann in Rom nicht mehr Aufsehn gemacht haben, als Seidemann in dieser Stadt. Man hielt ihn für mehr als Garrick, man stellte ihn höher als den lateinischen Roscius, und einige ahndende Seelen sahen in ihm das Genie, das einst alle übrigen in Deutschland verdunkeln würde.

Ulrich näherte sich während der Proben und beim Aufführen hinter den Coulissen seiner geliebten Louise immer mehr, und sie schien ihm gar nicht abgeneigt zu sein; es währte nicht lange, so führte man sehr zärtliche Gespräche, indeß andre auf dem Theater gehalten wurden, und über eine kurze Zeit wollte Ulrich aus dem komischen Fache in das Fach der ersten Liebhaber übergehn.

Da entstanden nun viele Streitigkeiten mit Seidemann, der sich seine Rollen nicht wollte nehmen lassen, vorzüglich da Mademoiselle Stolbein immer die Liebhaberin spielte. Er wollte seine Autorität beweisen, aber der hartnäckige Ulrich achtete nicht darauf. Die Republik würde sich gewiß durch innerliche Bürgerkriege aufgerieben haben, wenn nicht grade damals zum Glück einige andre Stücke erschienen wären, 136 in denen es wenigstens Fünfen bis Sechsen gegeben war, vor ihren Herzgeliebten niederzustürzen, ewige Treue zu schwören, abzustürmen, und dergleichen mehr. Die Rezensenten, die diese Stücke so sehr herabgewürdigt haben, sind gewiß nicht darauf gefallen, welchem Unheil sie bei so manchem deutschen Privattheater Einhalt gethan haben.

Ich will hier dem Leser eine große Entdeckung mittheilen, die ich so eben gemacht: daß ich nämlich in dem klassischen Werke des Ovidii, de arte amandi, eine große Lücke entdeckt habe.

Ist es nicht zu verwundern, daß dieser große Kopf in seinen Vorschlägen, in der Kunst der Minne Terrain zu gewinnen, das Komödienspielen gänzlich ausgelassen hat? Nur Eine Hypothese kann ihm zur Entschuldigung dienen, daß nämlich das Leben der alten lateinischen Menschen vielleicht nicht so, wie das unsrige, mit Privatkomödien ausgeflickt war. In unserm Zeitalter sind Privatkomödien die wahren Stützen armer Verliebten, und es ist eine schöne Erfindung, daß sie sich ihre Herzensmeinung vor hundert Zuschauern sagen dürfen, die dabei noch gerührt sind und in die Hände klatschen, wohl gar zur Aufmunterung ein Bravo rufen, welches in unsern Konzerten und Schauspielen eben so zur Sache gehört, wie der Kolofonium und die Illumination; der größte Vortheil ist aber der, daß solche verliebte Seelen in der Fülle ihres Herzens ihren armen Kopf nicht noch obenein anzustrengen brauchen, sondern daß alles im Buche steht, was sie sich etwa zu sagen haben könnten. Man sehe darüber nur die rührenden Stellen in der Klara du Plessis. – Der Liebhaber muß nur immer auch in der Komödie 137 in seine Angebetete verliebt zu sein suchen; je herzhafter die Rolle geschrieben ist, je mehr erweicht sie sich für ihn; gleichgültige Rollen, vorzüglich aber komische, thun ihm großen Schaden, und vor diesen muß er sich, so wie vor den Spitzbuben und Betrügern, in den Stücken hüten, eben so vor den feigen Charakteren; ist ein Liebhaber aufzutreiben, der muthig oder wohl gar ein Held ist, so muß er sich diesen auf keinen Fall nehmen lassen, denn dann geht er in die Gunst seines Mädchens gleichsam mit Meilenstiefeln hinein; die Rollen, in denen geküßt wird, sind nicht mit Gold zu bezahlen, und Kotzebue hat hauptsächlich für die Privattheater gearbeitet, die ihn daher auch nicht genug spielen und loben können. – Ich habe diese wenigen scharfsinnigen Bemerkungen nicht unterdrücken wollen, weil sie, wie gesagt, im Ovid und in allen Büchern über dasselbe Sujet, die ich kenne, gänzlich fehlen.

Ulrich und seine Louise spielten sich also mit jedem Tage in das Verliebtsein mehr hinein, er machte alle leidenschaftlichen Scenen außerordentlich rührend und beweglich, wenn er auf die Kniee stürzte, so wankte das ganze Theater, und in dem Fußstampfen hatte er sich eine Fertigkeit erworben, in der es ihm schwerlich irgend ein Held oder Tyrann der deutschen Bühne gleich thun wird. Seine Mutter hatte eine herzliche Freude an ihm, und schluchzte manchmal laut, wenn es wohl vorkam, daß er sich zu ermorden drohte, oder andre ehrliche Leute umbrachte, und sich dann zuletzt selber erstach; ein andermal hatte sie dann wahre Hochachtung vor ihm, wenn er alle übrige Menschen in der Großmuth übertraf, oder sehr viel kindliche Liebe zeigte, und sie und alle Mütter fanden das 138 Komödienspielen außerordentlich moralisch, weil doch in den jungen Leuten überflüssige gute Gesinnungen auferweckt würden, denn es waren damals manche von den modernen Stücken noch nicht geschrieben, die die Vorurtheile so gewaltig bekämpfen, und gegen die unsre Aeltern daher so heftig eifern.

Louise und Ulrich, so wie Seidemann und Mademoiselle Stolbein führten nun eine Parallelliebe neben einander, die ich nicht zu schildern unternehme, so sehr sich auch vielleicht meine Leserinnen einen solchen Plutarch des menschlichen Herzens wünschen würden. Ich kann bloß sagen, daß sie sterblich in einander verliebt waren, sich ewige Treue schwuren, und Stellen in Romanen anstrichen, die wie auf sie gemacht waren.

Der junge Ulrich sollte nun zur Handlung angeführt werden, weil es endlich Zeit war, daß er sich zu irgend einer Lebensweise bestimmte; allein er hatte sich so an eine poetische Existenz gewöhnt, daß ihm dies prosaische Leben, als rechnen und Briefe schreiben, durchaus nicht behagen wollte, er behauptete, daß es unendlich leichter sei, dreimal in einem Tage edelmüthig zu handeln, als nur Eine Stunde die Buchhalterkunst zu studiren; er bejammerte die goldnen Kinderjahre, die ihm so plötzlich unter den Händen fortgekommen waren, und recitirte, wenn er allein war, lange Stellen aus Tragödien, um sich zu ennuyiren und so mittelbar zu trösten. Denn die Leute, die die Langeweile für eine eben so unnütze Gabe des Himmels halten, als Fliegen und Mücken, haben nicht bedacht, daß in ihr nicht nur aller Trost im Leiden, sondern auch das stärkste Motiv aller menschlichen 139 Thätigkeit liegt. Wenn die Menschen lange genug ihr Unglück empfunden haben, so fängt es an, ihnen langweilig vorzukommen, sie greifen zu den Zerstreuungen, die Zerstreuungen werden ennuyant, und sie fangen an zu arbeiten, bis ihnen die Arbeit Langeweile macht, und sie eine Weile müßig gehn; da nun der Müßiggang grade der einförmigste Zustand von der Welt ist, so fangen sie wieder an thätig zu werden, oder sie fallen zur Abwechselung in ein neues Unglück, und so geht es immer im Zirkel herum. Die alte griechische Mythe von der Io und ihrer Bremse habe ich immer für eine Allegorie auf die Menschen gehalten, die unaufhörlich von der Langeweile verfolgt werden, so daß sie mit ihnen zu Pferde und in den Wagen steigt, unter dem Arbeitstisch sitzt und laut gähnt, und mit ihrem Löffel zuerst in die Suppe greift. Es ist die Frage, ob diesen unglücklichen Menschen selbst das Sterben als eine Abwechselung vorkömmt; für sie ist doch die Zeit gewiß nicht ein bloßer Verstandesbegriff, sie sind unter den Menschen die Uhren mit ungeheuren langen Penduln, die langsam und schläfrig fortschwingen, und auf dem kleinen Zifferblatt ihrer Existenz die Zeiger ganz unmerklich rücken. So wie Prometheus seinen gestohlnen Funken in einen Feuerstahl versteckte, so sind diese Menschen nur lebendige Schachteln, die die größten Gesellschaften hinlänglich mit der nöthigen Langeweile verproviantiren können, und die auch zu diesem Endzweck immer ordentlich mit eingeladen werden; ja, um auch noch dem spätern Enkel nützlich zu werden, schreiben sie oft dicke Bücher, streuen sie in der Zukunft und im gegenwärtigen Zeitalter den Nesselsaamen aus, und aus diesem ächt patriotischen Gesichtspunkt 140 muß man, glaube ich, die Gesprächsromane, Heinrich der Vierte, und Friedrich mit der gebissenen Wange, ansehn, eben so die meisten unsrer gangbaren Journale, und es steht zu vermuthen, daß diese nützlichen Institute sich von Jahr zu Jahr vermehren werden, bis die Sündfluth der allgemeinen Langeweile Städte und Dörfer überschwemmt hat.

Hartmann glaubte gar nicht, daß es möglich sei, bei Rechnungen und beim Buchhalten Langeweile zu empfinden, er bekümmerte sich daher auch nicht um die verdrüßlichen Gesichter, die er wohl zuweilen an seinem Sohne wahrnahm, sondern arbeitete immer fort und ließ diesen weiter studiren; er wußte nicht, daß die Seele des jungen Ulrich sich schon zur Verzweiflung neige.

Es wurden jetzt seltner Stücke aufgeführt, und er sah daher seine Geliebte nicht so häufig als sonst, – und, o Jammer! ein andrer junger Mensch, der Sohn eines reichen Advokaten, hatte im Hause von Louisens Aeltern Zutritt gefunden, und machte dem Mädchen ziemlich öffentlich die Aufwartung. Dieser Nebenbuhler war älter als Ulrich, und schon seit einem halben Jahre von der Universität zurück. Er hatte Aussichten auf ein einträgliches Amt, und Louise entdeckte dem armen Verlassenen, daß dieser Mensch sie unaufhörlich mit seiner Neigung quäle und sie durchaus heirathen wolle, ja daß die Aeltern ihn gern zu sehn schienen, und ihn auf jede Weise begünstigten. – Welch ein fürchterlicher Schlag für das Herz des jungen Liebenden!

Es wurde ihm bald Gelegenheit zu noch größerem Verdrusse gegeben; der Nebenbuhler drängte sich in die 141 Komödie ein, und riß die dankbarsten Rollen, in denen am meisten geküßt wurde, wie ein wahrer Eroberer an sich, und Louise mußte spielen und küssen, sie mochte wollen oder nicht. Der Jammer ging für Ulrich zu weit, er beschloß, ein unerhörtes Ding zu thun, es möchte auch ausfallen wie es wolle.

Nichts ist für einen verzweifelnden Liebhaber so bequem, als sein Mädchen zu entführen. Aeltern, Verwandte, niemand kann dann dagegen etwas thun. Dieser Gedanke war auch gleich nach dem, sich umzubringen, der Erste in Ulrichs Seele. Er hatte es aus Romanen wohl inne, daß solche Entführungen immer einen äußerst romantischen und glücklichen Fortgang haben. Er theilte seinen Gedanken seiner Geliebten mit, die zwar anfangs davor erschrak, sich aber bald darin fand, da er so vertraulich und gleichgültig davon redete. Ulrich brachte also so viel Geld zusammen, als er nur konnte, und entdeckte seinem geliebten Lehrer nichts von diesem Vorsatz, weil er dessen Mißbilligung fürchtete.

O Ulrich! wärest du doch deinem Lehrer, deinem Chiron mit mehr Vertrauen entgegen gekommen! Denn eben dies Mißtrauen war die Ursach, daß sich ihre Liebe jetzt, die bis dahin in so schönen Parallellinien neben einander hingelaufen war, durchkreuzte und verwickelte.

Seidemann, der es nicht wagen durfte, auf die Tochter eines so angesehenen Mannes, als Stolbein war, Anspruch zu machen, und der überhaupt anfing etwas in Verfall zu gerathen, war auf denselben Gedanken gefallen, den sein Zögling gefaßt hatte. Ein unglücklicher Zufall machte, daß beide ihre 142 Entführung auf einen und eben denselben Abend festsetzten; zwei Wagen hielten vor dem Thore mit Kleidern und Wäsche bepackt.

Es wurde in der Stadt ein großer Ball gegeben, zu welchem fast die ganze Jugend der Stadt eingeladen war. Seidemann und Ulrich wollten beide unter dem Tumulte ihre Schönen davon führen, und mit ihnen über die Gränze eilen.

Schon sah Ulrich aus seinem Fenster Wagen mit geputzten Schönheiten vorüberrollen, die mit Federn und langen Schleppen sich hinfahren ließen, um im Saale recht viel Aufsehen und Staub zu erregen; junge Herren traten mit weißen seidenen Strümpfen behutsam über die schmuzige Straße; die Musikanten wankten schon nach dem Hause: und noch immer blieb sein Friseur aus. Er stampfte mit den Füßen, und studirte schon auf die Antrittsrede, wenn dieser in die Thür treten würde, aber er blieb aus; er bedachte, wie viele Zeit er noch zu seinem Anzuge brauchen würde, und sah von neuem aus dem Fenster, um den ersten Haarkünstler heraufzurufen, der vorüber rennen würde. Aber alle Menschen ließen sich jetzt frisiren, und die Straße war völlig an weißen Röcken leer. Endlich kam einer, der schnell um die Ecke lenkte und vorbeieilte. Ulrich rief so laut er konnte, der Friseur nahm den Hut ab, und schüttelte stillschweigend mit dem Kopf. Ulrich schickte ihm einige Flüche nach, und schrie nach der Aufwärterin, um sie zu seinem Friseur zu schicken. Sie war ausgegangen, um auf dem Balle dem Tanze zuzusehen, der schon seinen Anfang genommen hatte. Er stampfte noch ärger mit den Füßen, und sprach tragische Worte; noch nie hat jemand diese 143 Begierde gehabt, sich einpudern zu lassen. Er rief endlich jemand von der Straße, und schickte ihn gegen ein ansehnliches Trinkgeld zu seinem Perückenmacher, daß er sogleich, ja sogleich kommen solle. Bis der Bote wieder kam, lag Ulrich in einer stillen Verzweiflung auf seinem Sofa; ein Kranker, der auf dem Tode liegt, kann seinen Arzt nicht so sehnlich herbeiwünschen, als Ulrich, der immer mit starren Augen nach der Thüre sah, den hereinrutschenden weißen Rock erwartete. Aber der Bote kam mit der Nachricht wieder, er habe weder Meister noch Gesellen zu Hause angetroffen, sobald nur irgend einer von ihnen zurückkäme, wollte ihn die Frau sogleich dem jungen Herrn zuschicken. Der Bote empfahl sich wieder, und Ulrich saß wieder einsam in der Dunkelheit auf seinem Sofa, und zählte mit einer unbeschreiblichen Angst, die so hoch stieg, daß sie wieder eine Art von Vergnügen ward, jede vorüberziehende Minute, er sah starr auf den Boden, und raufte sich manchmal wild in den Haaren, die aber bei allen seinen Bemühungen unfrisirt blieben.

O unglücklicher Jüngling! o bedauernswürdiger Ulrich! siehst du es nun wohl ein, wie sehr die Pädagogen Recht haben, wenn sie sich die Haare rund schneiden, und verächtlich von den Leuten sprechen, die von ihrem Friseur abhängen? denn Seidemann ist schon längst auf dem Balle, und – – doch, ich muß jetzt erst die Verzweiflung meines Helden zu Ende schildern, da ich mich überdies nicht erinnere, in irgend einem unsrer tragischen Romane eine ähnliche Situation gefunden zu haben.

Hundertmal war Ulrich im Begriff, sich, so gut 144 es gehn möchte, selbst zu frisiren, aber er hatte sich in der Verzweiflung die Haare nur noch mehr durcheinander gerissen, so daß es selbst dem künstlichen Kamme des Meisters beschwerlich fallen mußte, die wilden Ruinen wieder zu einem schönen Gebäude zu ordnen.

Endlich klopfte ein leiser Finger schnell an die Thür, die sich schon öffnete, noch ehe er herein! rief. Selbst in der dicksten Finsterniß erkannte er den alten behenden Meister Leyser. Er fuhr diesem fluchend auf den Hals, und der gewandte Perückenmacher konnte nicht unterscheiden, wo die Stimme herkam, die ihn so anfuhr. Man verglich sich endlich; Leyser bat tausendmal um Verzeihung, wie er gewiß und wahrhaftig den jungen Herrn beinah vergessen habe, er sei mit allen Kunden fertig gewesen, und habe sich nur auf eine halbe Stunde nach so vielen Strapazen beim benachbarten Weinschenken erquicken wollen, wo ihm der Gedanke an den jungen Herrn Hartmann wie ein Stein aufs Herz gefallen sei. – Da Ulrich überlegte, daß es nun endlich Zeit sei, nicht noch mehr Zeit zu verlieren, indem er schon seit zwei Stunden hätte auf dem Ball sein sollen, so ward endlich mit dem Künstler ein Vergleich geschlossen, daß er ihn recht schön und schnell frisiren solle; der Friseur willigte ein, machte aber die Bemerkung, daß man zu dieser Beschäftigung nothwendig Licht haben müsse. Ulrich suchte in allen Winkeln das Feuerzeug, und konnte es nirgends finden, und als er es fand, schlug er den Feuerstein entzwei und sich fast die Hände wund, aber der nasse Zunder wollte nicht zünden, – Ich bitte alle meine Leser aus dem besten Herzen, sich ja sogleich, indem sie noch dieses lesen, aus Berlin eine von den 145 schönen und äußerst nutzbaren elektrischen Lampen zu verschreiben; hätte man damals schon diese nützliche Erfindung gekannt, so stände der verunglückte Prometheus jetzt nicht mit knirschenden Zähnen da, und bliese in den nassen Zunder, so daß ihm Augen und Backen glühen, und nur das eigensinnige Feuerzeug kein Feuer fangen will, so sehr er auch demüthig bittend ein Endchen des Schwefelfadens hineinhält. – Der Friseur brachte indeß ganz kaltblütig sein Handwerkszeug in Ordnung, und nichts empört in einer ähnlichen Situation so sehr, als einen kaltblütigen Menschen vor sich zu sehn. – Da sich kein Funken entzünden wollte, mußte man auf eine andre Art Licht zu bekommen suchen. Ulrich wankte im ganzen Hause herum und fand alle Zimmer verschlossen, denn seine Mutter war auf einen Besuch. Er klopfte endlich an die verschlossene Thür seines Vaters, der bei seinen Büchern saß und ihm brummend öffnete. Ulrich bat um Verzeihung und zündete eilig sein Licht an, kam aber sogleich wieder, weil es ihm beim zu großen Eilen auf der Treppe wieder ausgelöscht war. Der Vater öffnete wieder mit einer geduldigen Verdrüßlichkeit, und mußte es noch zweimal thun, weil ein boshafter Zugwind die Flamme immer wieder von neuem ausblies. Endlich war das Licht unbeschädigt hinaufgebracht, und Ulrich setzte sich, um frisirt zu werden, nieder. Ist eine Geduld erst abgenutzt, so reißt sie leicht bei der kleinsten Gelegenheit. So raufte der Friseur seinen Untergebenen kaum dreimal etwas empfindlich in den Haaren, als er auch schon eine so schallende Ohrfeige empfing, daß die Flamme des Lichtes wankte. Herr Leyser, der im nächsten Laden ziemlich viel getrunken hatte, und den eine ganze Atmosphäre feuriger Geister umgab, erstaunte nur einen Augenblick, dann warf er sich auf den Helden der Geschichte, und suchte ihm auf eine geschickte Weise die Ohrfeige wieder zurückzugeben. Ulrich widersetzte sich und ward wüthend, als er die Fäuste des Friseurs in seinen kaum etwas ausgekämmten Haaren verspürte. Ulrich fiel vom Stuhl herunter und der Friseur auf ihn, so daß Ulrich einen sehr empfindlichen Stoß an das Schienbein bekam: unter stummen Geberden wälzten sie sich ein paarmal übereinander, als der Friseur plötzlich aufstand und stillschweigend Hut und Muff ergriff. Ulrich, der seinen Entschluß errieth, hielt ihn beim Kleide fest, und wollte ihn zwingen, den Haarbau zu vollenden. Der Friseur aber hatte die Klinke in der Hand, und drängte mit seinem Knie herzhaft gegen die Thür; so stritten sie eine Weile, indem dieser jenen zurückhielt, und jener in jedem Augenblicke zu entwischen drohte, und von Impertinenzen, beleidigter Ehre und dergleichen redete. Ulrich mußte endlich wirklich zu Höflichkeiten und Bitten seine Zuflucht nehmen, nur um den theuren Mann da zu behalten; man schloß also einen Waffenstillstand, und Ulrich setzte sich wieder nieder, aber mit dem Gesichte gegen die Thür, damit ihm der Friseur nicht heimtückischerweise plötzlich entlaufen könne. Dieser bedachte sich in der Bosheit seines Herzens, ob er nicht, wie durch einen Zufall, das Licht von neuem auslöschen solle, und strich mit seinem Rücken oft dicht daneben weg; da er aber doch die Wuth und die Stärke des jungen Menschen fürchtete, so gab er diesen Gedanken wieder auf. Aber er versuchte dafür, ob er den Kopf 147 Ulrichs nicht nach Herzenslust raufen dürfe, und fing daher in den Haaren ganz leise an zu ziehn, und immer stärker und stärker, indem er beständig über die unauflösliche Verwickelung klagte. Da er merkte, daß Ulrich ganz geduldig blieb, um nur endlich fertig zu werden, zog er die Haarschrauben immer schmerzhafter an, und touppirte und kämmte, wickelte und stach in den armen Ulrich hinein, daß diesem endlich Hören und Sehen verging. Dann beschüttete ihn Leyser noch mit einem gewaltigen Puderregen, ließ den Helden sitzen und empfahl sich.

So war Ulrich doch nun wenigstens frisirt. Er stand auf, nahm das Licht und stellte sich dicht an den Spiegel, um mit einem Messer den Puder von der Stirn zu streichen. Ueber alle Verwirrungen hatte er seinen Plan beinahe ganz vergessen, und er dachte jetzt wieder zum erstenmale an die entworfene Entführung.

Er zog sich nun mit unbeschreiblicher Eile an, und vergaß und verwickelte dabei alle Augenblicke etwas. Er war schon fertig, und mußte wieder umkehren, weil er den Hut vergessen hatte. Er nimmt ihn und eilt davon; sein Schienbein schmerzt ihn, und er stößt sich unten an der Treppe noch einmal; ihm ist, als höre er ein kleines Prasseln an seinen Füßen, er geht an die Laterne vor der Thür und sieht den einen von seinen seidenen Strümpfen von unten bis oben aufgerissen.

Ich hoffe, ich habe nun das tragische Mitleid für meinen Helden bis auf den höchsten Punkt gespannt. – O warum stehn denn die Tage nicht im Kalender, in einem von den unzähligen Taschenbüchern, mit denen jetzt Deutschland überschwemmt ist, an welchen wir so 148 viele ähnliche Unglücksfälle erdulden müssen? Ist es denn überhaupt an den schwarzen Kolossen nicht genug, die wie schreckliche Meilenzeiger in unserm Leben hinunterstehn, müssen uns auch noch diese Gewürme von Unglücksfällen anspringen, und uns mit ihrem stechenden Rüssel rasend machen? Denn rasend war Ulrich fast, als er von neuem aus seines Vaters Stube Licht holte, der ihm nun noch zum Ueberfluß den Text las, als er wieder oben ging, um andere Strümpfe anzuziehn. Er suchte und suchte wieder, und fand immer kein weißes Paar; endlich erinnerte er sich, daß sich die andern schon auf dem Entführungswagen befänden. Er mußte also in der Noth ein schwarzes Paar anziehn, das wieder nothwendigerweise einen ganzen veränderten Anzug nach sich zog. – Endlich war er fertig, blies das Licht aus und ging. –

Er hatte nun alle widrigen Zufälle überwunden, aber das größte Unglück blieb ihm noch zurück. Louise hatte ihn immer erwartet, war oft hinausgegangen um zu sehn, ob er nicht käme. Seidemanns Geliebte war krank geworden und konnte nicht kommen; der Lehrer ging eben so oft, um sie zu suchen, beide Suchenden begegnen sich endlich auf dem dunkeln Gange. Seidemann redet sie an, in der Meinung, es sei Mademoiselle Stolbein, sie antwortet, in der Meinung, er wisse als der Vertraute Ulrichs den ganzen Plan, so verlassen beide den Ball und die Stadt, setzen sich in den dazu bestimmten Wagen und fahren davon.

Ulrich rannte einen Bedienten um, der ihm mit Thee entgegen kam, er stürzte in den Saal, und ein 149 lautes Gelächter lief an den Wänden herum, denn der schön geputzte junge Herr erschien ohne Weste.

Ulrich ließ sich nicht irre machen, sondern forschte nur nach seiner Geliebten, ohne in seiner Verwirrung daran zu denken, daß dieses emsige Nachsuchen nothwendig Aufsehen erregen müsse. Er fand sie nicht und wurde immer ängstlicher; andere, die durch ihn aufmerksam gemacht waren, suchten auch nach der Mademoiselle Wallmuth, und sie war immer nirgends zu finden; die ganze Tanzgesellschaft versammelte sich endlich, selbst mit den Musikanten, um sich zu verwundern und nachzuforschen. Man bemerkte nun auch, daß Seidemann fehle, und Ulrich gab sich etwas zufrieden und ließ einen Wink über seinen Entführungsplan fallen: die Aeltern des verlornen Mädchens waren indeß hinzugekommen, man schickte nach Seidemanns Wohnung, er war fort und hatte viele seiner Sachen weggeschickt. Aller Verdacht fiel jetzt auf den jungen Hartmann; man glaubte, alles sei mit seinem Pädagogen ein abgeredeter Plan, die Aeltern zankten mit ihm, alles war in der größten Verwirrung, Ulrich stand ohne Bewußtsein da, und ward endlich arretirt und nach dem Stadtgefängnisse hingeführt.

In dem engen Gefängnisse hatte Ulrich wieder Zeit, sich zu sammeln; er stand an der Wand gelehnt, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, sah sich von allen Seiten um und redete also:

O boshaftes Schicksal! Ward es mir aufbehalten, den schrecklichsten von deinen Kelchen zu leeren? Bin ich unter den Millionen Geschöpfen auserlesen, das elendeste zu sein? – Ein Friseur läßt mich sitzen, und schlägt sich dann mit mir herum, selbst die leblose 150 Natur empört sich gegen mich, Stein, Zunder, Feuerzeug, Weste und seidene Strümpfe: und nun endlich – meine theure Geliebte! O! wo bist du, und wo soll ich dich finden? Hier eingesperrt, bin ich dir, und du bist mir verloren. O Seidemann, Seidemann, warum hast du mir das gethan?

Er überlegte noch einmal sein ganzes Schicksal, und wollte immer mehr verzweifeln, je mehr er es überlegte. Er sprang manchmal hastig auf, als wenn er einen großen und schrecklichen Entschluß faßte, aber die verschlossene Thür und die eisernen Stangen vor den Fenstern erstickten immer wieder allen heroischen Muth. Da er gar nichts thun oder verbessern konnte, so überließ er sich endlich einer trägen Dumpfheit, die so oft bei Unglücksfällen unsern Verstand und unser helles Bewußtsein ablöst, und unsern Hoffnungen, aber auch unsrer Reue ein Ende macht.

Der alte Hartmann erstaunte nicht wenig, als er die Gefangennehmung seines Sohnes erfuhr; er verließ sich darauf, daß dieser gewiß unschuldig sei, und legte sich daher ruhig schlafen. Die Mutter weinte und betete viel ehe sie einschlief; sie dachte an die üble Nachrede, in die jetzt die Familie kommen würde.

Ulrich selbst konnte die ganze Nacht hindurch nicht schlafen. Am Morgen brachte ihm der Aufseher sein Frühstück und kündigte ihm an, daß er gegen Mittag verhört werden solle. Ulrich hatte gerade, um sich etwas zu trösten, alles Geld aufgezählt, was er bei sich trug, nur um etwas Anschauliches zu haben, wobei sich besser überlegen ließe. Der Aufseher sah die Goldstücke mit glänzenden Augen an, und näherte sich 151 schleichend dem Tische, an welchem Ulrich saß, und den Kopf melankolisch auf den Arm stützte. – Ei, so in Gedanken? schmunzelte er sehr freundlich.

Ulrich, der zum erstenmal im Leben unglücklich war, hatte noch viel Vertrauen auf das Mitleid der Menschen; er sah den Aufseher mit weinenden Augen an, und dieser fing an, ihn über seine Lage zu trösten.

Ei, junger Herr, sagte er mit einem rauhen Tone, Sie müssen nicht so kläglich thun; Sie sind nicht der Erste, der hier gesessen hat, und werden auch nicht der Letzte sein. Nur munter und lustig! Mancher ehrliche Mann hat da schon aus dem Stuhle gesessen, und mancher Schlingel ist hier lustig und guter Dinge gewesen. Drum nicht gegrämt! Es kann ja noch alles gut werden.

Ach nein, seufzte Ulrich aus tief betrübter Seele, ach nein, ich bin ganz unglücklich.

Sie dauern mich, junger Herr, sagte der rauhe Mann, gewiß und wahrhaftig, Sie dauern mich! Aber was ist da zu machen? Gerechtigkeit muß sein, und wie du mir, so ich dir. – Ein Komplott machen! Ei, in so jungen Jahren! Und ein Mädchen entführen! Ei, ei, junger Herr, wo haben Sie hingedacht? Solch' Ding kann kein gut Ende nehmen, da muß sich die Obrigkeit drein schlagen.

Ach, wenn ich nur hier fort wäre! klagte Ulrich.

Ja das Lied hab' ich schon von manchem hier singen hören, antwortete der Aufseher, und ich bin eine gute mitleidige Seele; wenn's auf mich ankäme, ja ich ließe meiner Seele alle Vögel gleich ausfliegen.

O, fiel ihm Ulrich hastig und freudig ein, es 152 kommt ja bloß auf ihn an, laß Er mich fort, lieber Mann, wenn er des Mitleids fähig ist, so laß Er mich gehn.

Wenn man uns nicht auf die Finger klopfte, sagte jener; ja wenn sich das so thun ließe! Aber wir sind in Eid und Pflicht genommen; und ich würde auch noch gar ins Gebet genommen werden. –

Nur diesmal; nur dies einzige Mal kann es ihm ja unmöglich Schaden thun! rief Ulrich immer dringender.

Sie bitten wohl, rief der Mann, aber wenn ich Sie um etwas bitten wollte, Sie würden nicht gleich so bei der Hand sein.

Alles, alles, fordr' Er, was Er will! –

Nun, wenn ich nun sagte, schenken Sie mir etliche von den Füchsen, so –

Nehm' Er, nehm' Er, so viel Er will!

Der Gewaltige hatte schon acht Stück zwischen den Fingern und machte Miene wegzugehn. – Nun, ich will sehn, sagte er im Fortgehn, ob ich bei Gelegenheit etwas für Sie thun kann; und so ging er und schloß wieder hinter sich zu.

Ulrich war wie versteinert, er hatte eine augenblickliche Erlösung gehofft, und war nun so übel dran als zuvor. Er ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, und deklamirte gegen die Niederträchtigkeit der Menschen. Endlich bemerkte er, daß die Thür nur angelehnt war, und empfand ein freudiges Erstaunen bei dieser Entdeckung. Er merkte nicht, daß es vorsätzlich geschehen sei, und berathschlagte lange mit sich selber, ob er es wohl wagen dürfe, hinauszugehn. Er machte endlich die Thüre leise auf, und schlich sich mit 153 Herzklopfen einen langen Gang hinunter. Im Vorhause begegneten ihm einige Menschen, die aber nicht auf ihn achteten, weil er gut gekleidet war; so kam er auf die Gasse, und eilte sogleich um die nächste Ecke.

Louise war jetzt sein einziger Gedanke, und er ging daher geradesweges zum Thore hinaus, mit dem Vorsatze, sie aufzusuchen. Er berechnete auf eine ganz falsche Art, wie lange er wohl noch von dem Gelde zehren könne, das er bei sich habe, und ging so wohlgemuth die große gebahnte Straße hinunter, ohne auf den kalten Wind besonders zu achten, der ihm einen feinen schneidenden Regen entgegen trieb.

So lange Menschen Hoffnung haben sind sie nicht arm und nicht unglücklich, ein Satz, der schon außerordentlich oft gesagt ist: so hatte Ulrich immer Louisens Bildniß vor Augen, er dachte sich schon die verschiedenen Dörfer und empfindsamen Haine, in denen er sie wieder finden könne, und fiel gar nicht darauf, daß sie ja eben so gut aus dem entgegengesetzten Thore hätte fahren können, und es war sehr gut, daß ihm dieser Gedanke nicht einfiel, sonst hätte er wahrscheinlich allen Muth zu seiner Wanderschaft verloren. Dabei stellte er sich die Menge von Bequemlichkeiten vor, die er sich auf der Reise machen könne, sein kleines Vermögen erschien ihm als ein unermeßlicher Schatz, und er sah in seiner Phantasie schon Flaschen Wein und Tische mit einer Menge von Gerichten vor sich. Hätte er auch hier die Nichtigkeit seiner Rechnungen gefühlt, so wäre er vielleicht noch an demselben Tage zu seinen Aeltern zurückgekehrt.

Von je an sind solche irrende Ritter ihrem Instinkte gefolgt, und haben den ersten Weg genommen, der 154 ihnen unter die Füße gekommen ist. Diesem löblichen Gebrauche folgte auch Ulrich; denn was kann uns der Verstand in einer Sache nützen, wo wir gar nichts wissen und nichts berechnen können? Eben weil es hier keinen vernünftigen Grund zu handeln giebt, so müßte man am Ende gar nichts thun, wenn man nicht die unvernünftigen Gründe für sehr gültig erklärte. – Er fand auf seiner Reise das Paradies nicht, das er sich geträumt hatte, er mußte oft mit schlechtem Essen und noch schlechtern Betten, manchmal sogar mit einer Streu zufrieden sein: da er zu Fuße ging, waren die Wirthe oft sehr grob, und manche, die ihn für verdächtig hielten, weil sich seit einiger Zeit Spitzbuben in der Nähe merken ließen, stichelten auf ihn auf eine ziemlich handgreifliche Weise.

Sein Muth wurde zwar etwas gedemüthigt, er setzte aber seine Reise demohngeachtet fort. – An einem Abend, als es schon anfing dunkel zu werden, gesellte sich ein Reisegefährte zu ihm, mit dem er allerhand Sachen sprach. Als sie um eine Ecke im Walde bogen, und der Forst nun dichter ward, kamen noch mehrere Menschen zu ihnen und gingen denselben Weg. Ulrich, der sich plötzlich unter so vielen fremden Menschen sah, fing an, etwas ängstlich zu werden, er erinnerte sich so mancher Geschichten, die er ehemals in Romanen gelesen hatte, von grausamen Ermordungen und Plünderungen; mit diesen Erinnerungen hielt er die Erzählung mancher Wirthe von den benachbarten Straßenräubern zusammen, und da es um ihn her mit jeder Minute dunkler ward, und immer noch kein Dorf erscheinen wollte, so glaubte er am Ende zu der Ueberzeugung ein Recht zu haben, daß er sich unter Spitzbuben befinde. 155 Seine Begleiter ließen ihn auch nicht lange in Zweifel, sondern fielen über ihn her, und nahmen ihm Geld und Uhr, und was sie sonst noch brauchbar fanden. Dann zwangen sie ihn mit zu ihrer Wohnung zu gehen, wo sie ihn bereden wollten, ein Mitglied ihrer Gesellschaft zu werden.

Sie kamen nach mancherlei verschlungenen Fußpfaden an eine geräumige Hütte im Walde an. Hier nahmen alle Mitglieder Platz, zu denen sich bald noch mehrere gesellten. Man sprach über die Einrichtung ihres Staats und über die Beuten, die jeder noch zu machen hoffte, indessen Ulrich zahm und in sich gekehrt im Winkel saß, und mit heimlicher Furcht dem Gespräche zuhörte. Als er gefragt ward, ob er sich noch nicht entschlossen habe, sagte er weder Ja noch Nein, sondern schlich sich mit seiner Antwort zwischen beide Extreme hindurch. – Als man noch sprach, kam ein Bote in der größten Eile, der ihnen ansagte, daß eben aus dem benachbarten Städtchen ein Detaschement von Soldaten ihnen auf der Spur sei. Alle griffen sogleich zu den Gewehren und verließen schnell das Haus.

Aber statt ihren Verfolgern zu entwischen, liefen sie diesen grade in die Hände. Man erstaunte von beiden Seiten, sich so schnell und unvermuthet anzutreffen, man feuerte auf einander und auf beiden Seiten fielen einige Mann.

Ulrich erschrak nicht wenig, als die Unterredung plötzlich eine so ernsthafte Wendung nahm, er retirirte sich eilig mit seinen Begleitern in das dickste Buschwerk zurück. Die Soldaten verfolgten sie durch wiederholtes Schießen, und der unbewaffnete Ulrich war zweifelhaft, zu welcher Parthei er sich schlagen sollte. Jetzt 156 fiel der von den Räubern neben ihm nieder, der seine Börse zu sich gesteckt hatte, und die übrigen entflohn. Ulrich stand eine Weile, dann untersuchte er die Taschen des Getödteten, und fand einen großen schweren Beutel, in welchem er mit vieler Wahrscheinlichkeit auch seine Goldstücke zu finden hoffte. Er überlegte nicht lange, was hier Recht oder Unrecht, sein oder eines andern sei, sondern steckte den Beutel zu sich, ward aber in demselben Augenblicke von den nachsetzenden Soldaten ergriffen und fortgeführt; einen andern Räuber hatte man auch gefangen genommen, und man hielt es für bequemer die andern laufen zu lassen, weil das Nachsetzen in der Nacht eine höchst unsichere Sache schien.

Man führte den gefangenen Ulrich im Triumph in das nächste Städtchen, wo man ihn mit dem Räuber in ein fest verwahrtes Loch sperrte, so sehr er auch protestirte, daß er nicht zu ihm gehöre. Da aber der Räuber das Gegentheil behauptete, so achtete man nicht viel auf seine Einwendungen.

Da saß nun der arme Ulrich zum zweitenmale in strenger Verwahrung. Die Leute kamen häufig um die beiden Delinquenten zu sehn, und verwunderten sich besonders über Ulrich, daß er schon in so zarter Jugend einen so bösen Lebenswandel anfange. Ulrich weinte viel, und bereute es mit jedem Tage mehr, daß er je seine Vaterstadt verlassen, daß ihm je der verwegne Gedanke einer Entführung in den Kopf gekommen sei. Sein Gefährte im Gegentheil war sehr lustig und guter Dinge, und hatte seine Freude an der Angst, die er dem armen Ulrich machte, er redete ihm täglich vor, daß er doch nur höchstens aufgehängt werden könne, daß das ganze Leben, so wie der Tod nur ein lustiger 157 Spaß sei, und daß er sich wie ein braver Kammerad betragen, und nicht den Muth so schändlich sinken lassen solle.

Es wurden mehrere Verhöre mit den Verbrechern vorgenommen, in denen Ulrich alles läugnete, und der Mitgefangne ihm beständig widersprach, und dem unglücklichen Hartmann selbst eine Menge von Bubenstücken andichtete. Es ward alles Wort für Wort niedergeschrieben und Ulrich hörte von jedermann, daß es mit seinem Handel sehr übel stehe. – Die Richter schienen manchmal wohl von seinen Klagen gerührt, aber der Gang der Gerechtigkeit war immer gerade aus, und da sahe man nicht auf das Mitleid, das manchmal neben dem Wege lag.

Doch es ist Zeit, daß wir uns endlich wieder um Louisen, die Geliebte Ulrichs bekümmern.

Louise Wallmuth also stieg mit ihrem Entführer ohne Bedenken in den dazu bestimmten Wagen und fuhr fort. Seidemann regierte die Pferde selbst, es war eine trübe regnigte Nacht, beide litten von der Kälte und sprachen daher nur wenig. Sie stiegen in einem Wirthshause ab, das einsam im Walde lag, und hier erkannte Seidemann mit großem Schrecken, wen er entführt habe. Louise war ziemlich ruhig, und fragte nur nach ihrem Geliebten. Seidemann, der sich bald erholte, gab ihr zweideutige Antworten, um sie nur zufrieden zu stellen. Nach einer kurzen Zeit, in der man sich erquickt hatte, stiegen beide wieder in den Wagen und fuhren weiter.

Die Wege waren vom häufigen Regenwetter sehr schlecht geworden, und der Wagen konnte jetzt nur langsam weiter fahren, worüber Louise anfing etwas 158 furchtsamer zu werden, und Seidemann über seine Lage ernsthafter nachzudenken. Was ist hier zu thun? sagte er bei sich selber. Ich bin wahrlich in einer schönen Verlegenheit. – Soll ich umkehren oder weiter fahren? In beiden Fällen hab' ich nichts gewonnen. – Je nun, es findet sich vielleicht am Tage ein guter Gedanke. – Bei dieser letzten Vorstellung trieb Seidemann die Pferde von neuem an, die den Wagen eben in einer sumpfigen Stelle wollten stecken lassen. Sein guter Gedanke, auf den er gehofft hatte, kam, noch eh es Tag wurde, und es war kein andrer, als Louisen immer weiter mitzunehmen. Seidemann sah nämlich mit seinem praktischen Verstande sehr wohl ein, daß das Geschehene nun nicht mehr zu ändern sei, die Reue aber hielt er für die allerdummste Erfindung des menschlichen Geschlechts, der kein großer Geist jemals unterworfen sein müsse. Er überlegte, daß Louise doch fast ein eben so hübsches Mädchen sei, als Mademoiselle Stolbein, daß er also doch immer einen guten, wenn gleich nicht den besten Fang gethan habe, und daß er sich also auf die Art zufrieden geben müsse. Er überlegte dies von allen Seiten, und fand, daß es das vernünftigste sei; er leitete also schon in der Nacht von seinem Sitz herab seinen Plan durch zärtliche Gespräche ein, denn er bedachte, daß er doch wenigstes eine Frau gewonnen habe, wenn ihm sein Anschlag gelinge. Und an ein Mißlingen konnte er durchaus nicht glauben, denn Louise war ohne ihn in einer unbekannten Gegend, von Geld entblößt, unter fremden Menschen gänzlich verlassen.

Als es Morgen ward, lößte er seiner schönen Begleiterin das seltsame Räthsel ihrer Entführung auf, als sie 159 eben zu wiederholten Malen nach ihrem geliebten Ulrich gefragt hatte. Sie erstaunte, und Seidemann glaubte in diesem Erstaunen schon das Entgegenkommen auf halbem Wege zu bemerken. Ein Mann, hatte er bei sich selber schon ehemals ausgemacht, der über einen Antrag in Verwunderung geräth, ist schwer zu gewinnen, und Menschen, die etwas durchsetzen wollen, müssen daher sehr genau auf die Mienen derer Acht geben, mit denen sie sprechen; bei einem Weibe aber ist schon alles gewonnen, indem sie erstaunt, denn sie hat schon immer alle möglichen Fälle in Gedanken kombinirt, und sich dagegen gerüstet; tritt aber irgend eine Idee in ihren Kopf, die eigentlich dort nicht zu Hause ist, so verliert sie Gedächtniß und Besinnung, und eben deswegen, weil sich ein Weib nie schnell entschließen kann, wird sie es immer leichter finden, das Ungescheidteste zu thun, als einen gescheidten Entschluß zu fassen. Seidemann hatte einen eignen kleinen Roman geschrieben, und ich glaube, er ist noch in manchen Buchhandlungen zu haben, in welchem er diesen Satz hauptsächlich durchgeführt, und sich in seiner Weiberkenntniß gleichsam erschöpft hatte. In diesem seinem Buche läßt er eine äußerst vortreffliche Frau durch einen Menschen verführt werden, der weder schön noch besonders geistreich ist; denn wie hätte er einen geistreichen Menschen darstellen wollen? Dieser geistlose Held des Seidemannischen Romans also hatte bloß die Fähigkeit, sich sehr gut mit der stillen ruhigen Maske eines Pietisten bedecken zu können, er ging im Hause aus und ein, und schien für alle Güter dieser Welt so gleichgültig, daß kein Mensch den Fuchs hinter diesen Schaafskleidern argwöhnte. Aber wie erstaunte die oben erwähnte vortreffliche Frau, als 160 er plötzlich in einer Stunde der Einsamkeit die Maske fallen ließ? sie wußte keinen andern Entschluß zu fassen, als sich zu ergeben. – Als Seidemann seinen Roman fertig hatte, und ihn einigen seiner vertrauten Freunde vorlas, lernte er selbst recht viel aus seinem eigenen Buche, er zog die Moral davon auf sich, und beschloß, stets nach seiner selbst erfundenen Theorie zu handeln. Allein die wahre List ist die, List zu verbergen, und Seidemann hatte im Grunde nur eine Ahndung davon, wie man listig sein könne, – er handelte daher beständig viel zu fein, um eigentlich klug zu handeln; er machte bei keinem Frauenzimmer Glück, eh er nach Ulrichs Geburtsstadt kam, und hier that das Fremde und Geheimnißvolle, das ihn umgab, mehr als alle seine Theorie.

Dieser Hang zum Wunderbaren nimmt in der Konstitution der menschlichen Seele einen großen Paragraphen ein, bei den Frauenzimmern aber macht er sogar ein eignes Kapitel aus. Kein andrer Mann wird bei diesem Geschlechte so viel Glück machen, als ein Fremder, der plötzlich in der Stadt auftritt, und aus dem man nicht recht klug werden kann; alle Zirkel drängen sich nach ihm, um ihn in ihrer Mitte zu haben; dies ist für alle Liebhaber die gefährlichste Periode, und es giebt, glaube ich, gar keine Kriegslist gegen einen solchen Menschen so lange, bis er sich für eine der regierenden Schönheiten ausdrücklich erklärt hat; dies ist die einzige Art, wie ein außerordentlicher Mensch zu einem gewöhnlichen herabsinken kann. Allen fahrenden Abentheurern und Glücksrittern ist es daher sehr anzurathen, sich auf keinen Fall zu verlieben, und nie ein gewisses geheimnißvolles Wesen und eine Kälte gegen 161 alle Weiber ganz abzulegen. Die Menschen sind die interessantesten, eben so wie die Frühlingstage, die nicht hell sind, aber wo die Sonne in jedem Moment durchbrechen will.

Mancher findet es unbegreiflich, wie Cagliostro und so manche andre Betrüger haben Glauben finden können; aber ich begreife es wohl. Die Menschen, besonders aber wieder die Frauenzimmer, machen sich so gern eine poetische Täuschung, die unendlich stärker ist, als der prosaische Zweifel. Ihr Vergnügen an wunderbaren Abentheuern ist daher gerade dasselbe, das wir bei guten Tragödien empfinden; so wie wir uns im Schauspielhause umsehn, oder so wie der Vorhang fällt, oder ein elender Spieler auftritt, in allen diesen Momenten hört unsre Täuschung nothwendigerweise auf, aber die Illusion ist uns weit lieber, als die trockne Ueberzeugung, daß wir uns in einem simpeln Komödienhause befinden, daher knüpfen wir freiwillig die unterbrochene Täuschung wieder an. Eben so geht es den Weibern, man braucht es ihnen gar nicht zu sagen, daß N. N. sehr wahrscheinlich ein Betrüger sei, denn ihr feiner Sinn hat das schon lange durchgesehn, eh' es ihnen ihre Männer sagten, die freilich früher davon überzeugt waren, als sie es glaubten; aber sie knüpfen an den wundervollen Menschen den Gedanken, daß denn doch wohl alles, was man von ihm erzähle, und noch tausend seltsame Sachen, die nur keiner wisse, möglich sein könnten, und dies setzt sie in eine so wunderbare Stimmung, daß sie in manchen Stunden alles glauben. Das Sprichwort: »ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande,« ist daher außerordentlich richtig, weil man dort nicht den Dunstkreis um sich her 162 versammeln kann, der zum Prophezeien gewiß außerordentlich nöthig ist.

Um diese Bemerkungen auf Seidemann anzuwenden; so hatte er bloß diesem Hange zum Wunderbaren sein Glück bei Frauenzimmern in Ulrichs Geburtsstadt zu verdanken. Sie wurden ihm alle gewogen, weil sich jede in seiner Person etwas anders denken konnte: einige hielten ihn für einen unglücklichen Grafen, der in irgend einem Duell Unheil angerichtet, und sich deshalb die Haare rund geschnitten habe, um desto leichter inkognito zu bleiben; andre machten aus ihm einen Geisterseher oder Goldmacher, weil er mit dem einen Auge ein wenig schielte; noch andre meinten, er wäre ohne Zweifel das Haupt einer geheimen wohlthätigen Gesellschaft; – und doch waren alle diese Damen Freunde der Aufklärung, und Antagonisten aller möglichen Schwärmerei; sie hatten auch gar keine Gründe zu diesem seltsamen Glauben, aber sobald sie Gründe gehabt hätten, wäre ihnen Seidemann auch sogleich uninteressanter geworden, weil dann ihren erfindungsreichen Muthmaßungen ein Ziel wäre gesetzt worden.

Charlotte Stolbein war ein viel zu einfältiges und eben darum zu vernünftiges Mädchen, als daß sie den Pädagogen hätte liebenswürdig finden können: aber der Hang zum Wunderbaren riß sie zu ihm hin, sie konnte ihn nicht leiden und liebte ihn, sie interessirte sich für ihn, weil es mit zur Mode gehörte. Kaum aber hatte sich Seidemann auffallend für sie erklärt, als er auch sogleich einen großen Theil seines Ansehns verlor; ein Mann wird nur recht liebenswürdig gefunden, so lange sich ihn jedes Mädchen als ihren Liebhaber denken kann, entscheidet er sich aber 163 für eine bestimmte Geliebte, so sehn ihn alle übrigen nur als einen Anhang ihrer Feindin an; er ist ein todtes Wild, das nicht mehr gejagt wird.

Seidemann glaubte also auch jetzt seine eben auseinander gesetzte Ueberraschungstheorie bestätigt zu finden. Ich brauche den Leser wohl nicht auf das jugendliche und unreife darin aufmerksam zu machen, und wie diese Wahrheit zu denen gehöre, die man nur umzukehren brauche, um sie noch wahrer zu machen. – Louise ging wider seine Erwartung plötzlich vom Erstaunen zum Schmerze über, sie weinte, sie klagte, sie verwünschte wechselseitig bald Seidemann, bald ihr grausames Schicksal: ein Wort, das eben so zum verwünschen erfunden ist, als die Namen Cajus und Sempronius in den juristischen Collegien die Exempelträger sind. – Seidemann wußte nun selbst nicht, was er für Erstaunen thun sollte, er war selbst außer aller Fassung, denn alle seine feinen Bemerkungen waren nun plötzlich umgestoßen, dabei hatte er noch die Pferde zu regieren, die jetzt ungeduldig werden wollten, Louisen zu trösten, und was mehr als alles war, sie zu überreden, daß sie seine Gedanken, seine Liebe und seine Person annehmlich fände; wahrlich, Cäsar ist mit seinen Briefstellern dagegen nur ein kleines Licht gewesen. Ist es daher dem Seidemann auch wohl so besonders zu verübeln, wenn keine von seinen Bemühungen recht gelingen wollte? Es überstieg die Kräfte eines Menschen, und Seidemann, der nur ein Sterblicher war, unterlag seinen Versuchen.

Aber so geben Sie sich doch zufrieden, theureste Freundin, rief Seidemann. Umkehren können wir auf keinen Fall, ohne uns der Schande und Strafe 164 Preis zu geben; wer weiß wie es mit Ulrich geworden ist, Sie bedürfen meiner Hülfe. – Hier mußte er inne halten, denn die Pferde liefen seitwärts, da er immer das Gesicht nach der Chaise zukehrte, und drohten den Wagen in einen Graben zu werfen.

Louise hörte indessen nicht auf sich zu beklagen, sie schalt den armen Pädagogen, der jetzt die ungezogenen Pferde statt der geduldigen Jugend unter Händen hatte, einen schändlichen Bösewicht, einen Betrüger; er suchte sich zu vertheidigen, und ihr zugleich zu erklären, wie er sie jetzt plötzlich liebe und anbete; seine pathetische Erklärung ward unaufhörlich von Interjectionen unterbrochen, die die Fuhrleute erfunden haben, um sich den Pferden verständlich zu machen. Wie? rief er; himmlisches Wesen meiner einzigen ewigen Liebe – halloh! hottoh! – Wollen Sie nicht glauben? – Ich schwöre Ihnen beim Firmament und allen – will der Racker wohl im Wege bleiben! – und allen seinen Gestirnen, daß – ich werde Dir auf den Grind kommen, Spitzbube! – daß mein inbrünstiges Herz nur dieß Eine Gefühl – der Satan stellt sich lahm, das infame Vieh! Weg da vom Graben! – Eine ideale Empfindung, aus dieser Verkettung von Umständen – Himmel! Donnerwetter noch einmal! – Was sagten Sie, Geliebteste? Louise hörte wenig aus seine Betheurungen, sondern ward zorniger, er immer verliebter, und mit Schwüren und Betheurungen zudringlicher, der Weg ward unebner und die Pferde noch ungeduldiger. Jetzt fielen ihm sogar die Zügel aus der Hand, und die Pferde standen durch einen glücklichen Zufall; er stieg hinunter, um die Zügel behutsam wieder aufzunehmen, denselben Augenblick aber benutzte Louise, um leise 165 vom Wagen zu steigen, und, ohne zu wissen, was sie thue, feldeinwärts zu laufen. Seidemann saß schon wieder auf seinem Regierungssitze, als er mit nicht geringem Erstaunen die flüchtige Louise schon in einer ziemlichen Entfernung wahrnahm; er stieg schnell von neuem herunter, und die Pferde benutzten diesen glücklichen Augenblick, in welchem er die Regierung niederlegte, um, sich selbst überlassen, mit dem rasselnden Wagen durchzugehn.

Seidemann stand nun in einem wahren Dilemma, ohne zu wissen, ob er Louisen, oder dem flüchtigen Wagen folgen solle; und da eine Kugel, die von zwei Punkten gestoßen wird, die Diagonale geht, so lief Seidemann weder dem Wagen, noch Louisen nach, sondern in einer Mittelrichtung, um beide wieder einzuholen. Da er aber eine Strecke gelaufen und wieder zur Besinnung gekommen war, und einsah, daß er auf diesem Wege beide verlieren würde, so wandte er sich jetzt zu Louisen, und lief noch stärker. Es kamen Menschen übers Feld gegangen, und er eilte nun dem Wagen nach; der Wagen schien an einer Anhöhe still zu stehn, und er wandte sich wieder zu Louisen, und so ward er von entgegenstehenden Empfindungen hin- und hergetrieben, bis er müde war, und Louisen sowohl, als den Wagen aus den Augen verloren hatte.

Nun ging Seidemann ganz gelassen zu Fuß den gebahnten großen Weg hinunter, und wäre herzlich zufrieden gewesen, wenn er in seinen Beinen weniger Müdigkeit gefühlt hätte. So geht es den Menschen, sagte er schwerseufzend, wenn sie zu viele Plane zu gleicher Zeit verfolgen! Und so sprach er bei dieser 166 Gelegenheit unwissend das Klügste aus, was er noch in seinem Leben gesagt hatte.

Seinen Wagen traf er ganz wohlbehalten im nächsten Flecken wieder an. Die Pferde waren bald langsamer gegangen, und ein Vorübergehender war mit dieser Gelegenheit weiter gereist, er hatte den Sitz bestiegen, und war auf die Art als blinder, und zugleich regierender Passagier froh und gutes Muths im Flecken angelangt. Der Zank zwischen diesem und dem Pädagogen war sehr bald beigelegt.

Erst nach einigen Tagen kam Louise in eine ansehnliche Stadt, wo es ihr gelang, als Kammermädchen in einem vornehmen Hause Dienste zu finden, da sie nicht wagte, zu ihren Aeltern zurückzukehren. – Sie fühlte hier ihre bedrängte Lage nun oft, und bereute herzlich den voreiligen Schritt, den sie gethan hatte, aber sie mußte sich in ihr Schicksal finden und einsehn lernen, daß die Entführungen oft ein sehr unromantisches, unglückliches Ende nehmen.

So viel zur moralischen Nutzanwendung; und nun wollen wir zu unserm Haupthelden zurückkehren, da die Nebenpersonen alle in der weiten Welt zerstreuet sind. –

Ulrich saß noch immer im Gefängnisse, und ward oft und immer schärfer verhört. Der Richter wandte alle nur ersinnliche Kunstgriffe an, um ihn in seinen Aussagen zu verwickeln, und auf die Art die Wahrheit zu ergründen: aber Ulrich war zu einfältig, um sich zu widersprechen, er hatte sich keinen Plan gemacht, wie er sich in seiner seltsamen Lage benehmen wolle, sondern antwortete stets dasselbe, was er schon am ersten Tage ausgesagt hatte. Die Richter wußten nicht, was sie aus ihm machen sollten, und hielten ihn endlich für den 167 abgefeimtesten Schurken, für ein wahres Genie unter den Spitzbuben, weil er alle ihre Bemühungen vereitelte, und sich sogar fromm und ehrlich zu stellen wußte.

Die wiederholten Verhöre aber, die beständigen Beschuldigungen seines Mitgefangenen, und dessen seltsame Art den unglücklichen Jüngling in seiner Lage zu trösten, die Leute, die die Delinquenten besuchten, alles zusammengenommen, machte endlich, daß Ulrich selbst anfing an seiner Ehrlichkeit zu zweifeln; in manchen Augenblicken glaubte er es selbst, daß er ein Straßenräuber und ausgemachter Spitzbube sei, und er fürchtete sich dann vor dem nächsten Verhöre, um sich nicht zu verrathen.

Als man endlich seinem Gesellschafter das Urtheil sprach, ging dieser in sich, bezeugte die Unschuld des jungen Menschen, und erzählte, wie er in ihre Gesellschaft gerathen sei. Die Richter freuten sich, daß die Unschuld doch nun endlich an's Tageslicht komme, und setzten den jungen Hartmann sogleich in Freiheit. Wer war glücklicher, als Ulrich! ihm war zu Muthe, als wenn er das Leben verwirkt hätte, und nun aus übergroßer Gnade Pardon erhielte. Er bedankte sich bei seinen Richtern, und dachte in seiner Freude gar nicht daran, die Goldstücke wieder zu fordern, die das Gericht mit dem Beutel des Räubers an sich genommen hatte. Man erinnerte ihn auch nicht weiter daran, sondern ließ ihn so seine Straße ziehen.

Ulrich sah mit inniger Freude das freie Feld rings umher an, als er die Stadt verlassen hatte; er ging in das Wirthshaus eines Dorfes, und bestellte sich ein gutes Mittagsessen, ohne daran zu denken, daß er es nicht bezahlen könne. Er erinnerte sich erst, daß man in dieser besten Welt, selbst unter den glücklichen 168 Dorfbewohnern Geld nöthig habe, als ihn der Wirth nach Tische mit seinem Knechte prügelte, so viel er nur konnte, um sich wenigstens statt der Bezahlung eine Motion an ihm zu machen. – Ulrich schüttelte gedankenvoll das Haupt und ging weiter.

Er glaubte jetzt einzusehn, daß die Lebensart, die er seit seiner Flucht geführt hatte, nicht die beste und angenehmste sei. Er erinnerte sich der schönen Tage, die er im Hause seines Vaters verlebt hatte, sein Rücken schmerzte ihn, und das Buchhalten und Rechnen kam ihm heut weit erträglicher als damals, ja sogar angenehm vor. Er wußte nicht, was er jetzt anfangen solle, und nahm daher in einem Bauerhause Tinte und Feder, und schrieb auf einem Blatte Papier, das ihm die Leute schenkten, folgenden Brief an seinen Vater:

Theuerster Vater!

Wenn Sie sich Ihres Sohnes noch erinnern, so versagen Sie ihm nicht Ihr Mitleid und Ihre Verzeihung. Meine Reue und Bitte um Ihre Vergebung ist aufrichtig; ehe ich aber nicht von Ihrer gütigen Gesinnung gegen mich überzeugt bin, wage ich es nicht, vor Ihnen zu erscheinen, oder Ihnen den Ort meines Aufenthalts zu nennen. Aber, wenn Sie sich meiner erbarmt haben, so lassen Sie es mich durch eines der öffentlichen Blätter erfahren.

Er blieb einige Tage bei dem Bauer, den Ulrichs häufige Thränen gerührt hatten. Bald darauf las er in der Zeitung folgende Nachricht: 169

Ein ungerathener Sohn muß erst Zutrauen zu seinem Vater haben, eh' ihm dieser seine Bosheit verzeihen kann; bis er nicht persönlich zurückkehrt, kann sich der Vater auf keine Weise mit ihm in Bedingungen einlassen.


Ulrich war in Verzweiflung; er fürchtete nur den Zorn seines Vaters, sonst wäre er dennoch zu diesem zurückgekehrt. Der alte Hartmann war jetzt auch wirklich sehr gegen ihn aufgebracht, er hielt seinen Sohn für einen ausgemachten Bösewicht, seit dieser aus dem Gefängnisse entsprungen war. Die Mutter weinte täglich um ihren Ulrich, und Seidemann ward in der ganzen Stadt als ein Verführer der Jugend gehaßt. Das Komödienspielen ward eingestellt, die runden Haare und Dornenstöcke wurden verdächtig, und jedermann bekam ein großes Mißtrauen gegen alle Philosophen. Die Prediger sprachen von den letzten Zeiten und von den falschen Propheten, die sich dann zeigen würden, und deuteten alles sehr scharfsinnig und erbaulich auf die Pädagogen.

Ulrich mußte jetzt das Haus des Bauers verlassen, bei dem er indeß die Dienste eines kleinen Knechtes verrichtet hatte. Er stand von neuem auf der großen Heerstraße, und konnte hingehn, wohin es ihm gefiel.

Er wanderte unter tiefsinnigen Betrachtungen durch einen Wald, als sich ein Mensch zu ihm gesellte, der dieselbe Straße ging, und bald ein Gespräch mit ihm anspann. Dieser erkundigte sich, warum Ulrich so 170 trübsinnig sei, und dieser bedachte sich nicht lange, sondern erzählte ihm den größten Theil seiner Geschichte.

Ulrich konnte unmöglich gegen seinen Gefährten zurückhaltend sein, denn dieser hatte in seinem Aeußern außerordentlich viel Aehnlichkeit mit seinem geliebten Seidemann. Er trug wie dieser einen Dornenstock und abgeschnittenes Haar, und hatte eine so auffallende Weltbürgerphysiognomie, daß es dem Ulrich war, als wenn er ihn schon seit lange gekannt hätte. Der Unbekannte trug einen Bündel auf dem Rücken, und sah ganz so aus, wie wir so häufig in den Büchern die wandernden Menschenfreunde beschrieben finden.

Er nannte sich Holmann, und sprach dem abgehärmten Ulrich wieder Muth ein. Er war grade der Mensch, für den ihn Ulrich gleich anfangs gehalten hatte, und sie liebten sich beide schon, als sie sich noch kaum gesehen hatten.

Da das Wetter schön war, setzten sie sich im Walde an einer angenehmen Stelle nieder. Holmann fing an zu erzählen, daß er ein Schriftsteller sei, und daß Ulrich eben dies Gewerbe, wenn er einen Trieb dazu in sich fühle, ergreifen könne.

Ulrich erschrak bei diesem Vorschlage, weil er sich gar keine Kräfte zutraute, um ihn auszuführen. Der reisende Schriftsteller aber hob ihn bald durch seine Erfahrungen über alle Bedenklichkeiten hinüber.

Sie sehn, sagte er, in mir einen Mann, der schon im sechszehnten Jahre sein erstes Buch drucken ließ, ich gehöre zu jenen frühreifen Genie's, die sich schon in der Kindheit entwickeln. Sie sind noch jung, es ist wahr, aber um desto origineller wird Ihre Schreibart sein; Sie sind von der modernen Erziehung, nun 171 gut, versuchen Sie die Grundsätze derselben in ein recht helles Licht zu stellen, wir können dann mit gegenseitiger Unterstützung arbeiten. Ich habe über alle Fächer der Pädagogik viel und reiflich nachgedacht, und gefunden, daß wir in diesem Fache noch außerordentlich wenige nutzbare Schriften besitzen. Lassen Sie uns hier eine neue Fackel der Aufklärung anzünden.

Er öffnete darauf das Bündel, zeigte ihm seine Manuskripte, und las ihm einige Stellen vor, die er so ohngefähr für die besten hielt. Es waren Lieder für Kinder, von der Wiege bis zum männlichen Alter; dann eine Anleitung, wie man auch ohne Kirche gottesfürchtig sein könne; ein bündiger Beweis, daß die natürliche Religion die allein seligmachende sei; verschiedene kleine Abhandlungen über den Nutzen des Stelzengehens.

Holmann erzählte ihm nachher von den verschiedenen Projekten, die er noch auszuführen gedächte. Er hatte sich vorgenommen, ein Aufklärer zu werden, und vorzüglich auf die untern Volksklassen zu wirken, er meinte, daß man die Menschen nur erst recht genau eintheilen müsse, um ihnen auf die wahre Art nützlich sein zu können. So wollte er ein eignes Gesang- und Verhaltungsbuch für Dienstmägde schreiben, eigne Volkslieder für ein jedes Handwerk, moralische Betrachtungen bei den unterschiedenen Handwerksgeräthen. Manche von diesen Büchern sind auch nachher wirklich herausgekommen.

Ulrich hörte seinen Gesprächen aufmerksam zu, und entdeckte nun plötzlich eine wahre Schatzkammer von Talenten in sich, an die er bis dahin noch gar nicht gedacht hatte. Er summirte im Kopfe die Bücher 172 zusammen, die er gar wohl noch schreiben könne, ohne seinen Kopf besonders zu erschöpfen. Er sah schon im Geiste Drucker und Setzer mit seinen Schriften beschäftigt, das Vaterland, das nicht müde werden konnte, sie zu kaufen und zu lesen, die Aufklärung, die wie eine neue Morgenröthe aus seinen Manuskripten hervorstieg. Unwillkührlich bewegte er die Finger der rechten Hand, die alles zu schreiben brannten, was er nur irgend denken mochte.

Beide Wandrer machten sich wieder auf den Weg und erreichten bald das nächste Städtchen, den Wohnort des Schriftstellers. Ulrich zog bei diesem ein, und fing noch an eben dem Tage einen Aufsatz an: Wie die Privattheater auf die Bildung der Jugend und so mittelbar der ganzen Nation wirken könnten. Alles was er schrieb, gefiel seinem Beschützer Holmann außerordentlich, er fand so viele Spuren eines neuen Urgenies darin, so tiefe und doch so praktische Ideen, daß er es sich sechsmal hintereinander vorlesen ließ.

Man muß gestehen, daß damals in Deutschland alles, was nur die Finger regen konnte, zum Besten der Jugend arbeitete, und auch Holmann und Ulrich thaten redlich das Ihrige; sie vermehrten die ungeheure Bibliothek für Kinder, die so anwuchs, daß ein Kind wenigstens dreißig Jahr alt werden muß, um nur das Nutzbarste daraus mit Nutzen lesen zu können.

Ulrich lernte manchen neuen Gedanken kennen, manchen alten würdigen; und schätzte vorzüglich die Vorstellungen und schrieb sie nieder, die ihm wohl schon manchmal als Schimären durch den Kopf gegangen waren, und die er nie geachtet hatte. 173 Holmann aber zeigte ihm, wie man eigentlich keinen Gedanken umsonst denken, und die Finger nicht ohne unmittelbare Bezahlung bewegen müsse. Holmann hatte überhaupt ein eignes Noth- und Hülfsbüchlein für Autoren im Kopfe, das Ulrich sich auswendig zu lernen bemühte. – Nach dem Beispiel der größten Männer fing der angehende Schriftsteller nun auch an, sein eignes Leben zum Besten der Jugend zu beschreiben, worin er sich als außerordentlich liebenswürdig, und die erlittenen Drangsale als ungeheuer darstellte. Er machte dabei die Erfahrung, wie ein Mensch in sich selbst etwas hineinlügen könne, der von dem Vorsatz ausgegangen, die lauterste Wahrheit zu sprechen.

Wie es dem Menschen gewöhnlich geht, so erging es auch unserm Ulrich. Er vergaß die Leiden nach und nach, die er überstanden hatte, und hielt bald seine gegenwärtige Lage für die allerunglückseligste; er sehnte sich wieder nach Louisen hin, seine Liebe erwachte mit neuen Kräften in ihm, und er dachte bei Tage und in der Nacht nur an sie. Sein Styl ward unvermerkt sehr empfindsam, und zog sich die Mißbilligungen des gesetzten Holmann zu; in seinen Büchern ward viel von Liebe beigemischt, so daß sie sein Beschützer gar nicht mehr wollte drucken lassen: – endlich faßte Ulrich an einem Morgen einen raschen Entschluß; er nahm sein vorräthiges Geld und seinen Wanderstab, und begab sich noch einmal auf die Reise, um Louisen aufzusuchen.

Er hatte sich vorgesetzt, seine Reise ziemlich weitläuftig zu beschreiben, er eilte daher nicht zu sehr, sondern verweilte gern an Orten, an welchen er 174 beschreibungswürdige Merkwürdigkeiten erwartete. Er wollte das Buch sehr empfindsam einrichten, und ließ sich daher oft mit Bauern und jungen Mädchen in Gespräche ein, bekam aber fast eben so oft Händel, weil die Leute glaubten, er wolle sie foppen. – Er ward unterwegs zum Mitgliede mancher bekannten und unbekannten Gesellschaft aufgenommen, die alle zu gleicher Zeit ihre Hände in Deutschland hineinstrecken, um es aufzuhelfen, und dafür das gebührende Lob und Geld zurück zu empfangen.

Er kam endlich an eine Stadt, und schon beim Eintritt in's Thor sagte ihm eine Ahndung, daß hier das Ende seiner Wanderschaft sein würde. Selbst die aufgeklärtesten Menschen glauben an Ahndungen, weil es eine Poesie ist, die in ihnen selbst ertönt, und nicht von außen in ihr Ohr kömmt. – Es war ein trüber Abend, und er freute sich herzlich, als er an einer Ecke einen Komödienzettel angeschlagen fand. Man spielte Nicht mehr als sechs Schüsseln; und Ulrich ging stehenden Fußes in das Theater.

Es war eine herumziehende Truppe, die hier die Sitten verbesserte; die Bühne war im Rathskeller aufgeschlagen, und eben nicht die prächtigste. Die Basis bestand aus einer Menge von ausgeleerten Tonnen, die der Wirth gerade entbehren konnte, nur wenige Lichter brannten, der Vorhang war ein buntes verschossenes allegorisches Gemälde voller Tugenden und Laster, das Orchester bestand aus den Söhnen des Stadtmusikanten, die mit dem Bogen auf gesprungenen Geigen herumfuhren, und mit der größten Freimüthigkeit die Pedanterie des Taktes und der Tonarten verachteten. – Das Publikum war gemischt, d. h., es bestand aus 175 Personen beiderlei Geschlechts und von verschiedenen Vermögensumständen, deren Geschmack aber so gleich abgeschliffen war, daß alles so eben und platt war, daß man auch nicht die kleinste Nüance entdecken konnte. Die meisten waren hergekommen, weil sie gehört hatten, im Stücke komme ein gar kurioser Sattler vor, den ein Schauspieler zur allgemeinen Freude mit einer ungeheuern langen hochroth gefärbten Nase spiele.

Manche der Schauspieler trieben sich unter den Zuschauern herum, und machten sich bald auf dem Theater, bald im Parterre Geschäfte, um sich schon vorher bewundern zu lassen; besonders konnten sich die nicht genug hervordrängen, die zu ihren Rollen fremde Kleider von den Einwohnern der Stadt geliehen hatten.

Man klagt so oft darüber, daß unser Theater jetzt ganz mit dem wahren Geschmack verfallen, und beides bald in einen völligen Ruin begraben liegen werde. Es ist hier gar nicht meine Absicht, das Gegentheil zu beweisen, sondern nur zu zeigen, daß dieser Verfall gut und heilsam sei, und zwar so sehr, daß wir ihn von allen Seiten wünschen und befördern sollten.

Wenn wir uns einmal auf die philosophische Seite legen, (und das versucht doch jetzt wohl ein jeder,) so werden uns bald alle sogenannten schönen Künste abgeschmackt erscheinen, vorzüglich aber das Theater. Der Zweck der Bühne ist, uns durch erlogene Geschichten zu rühren, und Thränen aus den Augen zu locken, oder uns zum Lachen zu bewegen. Je mehr ein Theater dies bewerkstelligt, um so vortrefflicher ist es.

Wir lesen in Beschreibungen, daß es ehedem Schauspiele und Stücke gegeben habe, die diesen Zweck auf die beste und vollkommenste Art erfüllt haben, man 176 schrieb Dramaturgien, um die Kunst und den Geschmack des Publikums zu veredeln, ein großer Theil der Nation, und gerade der bessere, interessirte sich lebhaft für das Schauspiel, von allen Seiten kamen Vorschläge zu Verbesserungen, Uebersetzungen guter Stücke, und Versuche, auch im Deutschen gute Schauspiele zu schreiben. Es war ein wahres Fieber in Deutschland, Geschmack und Liebe zum Theater mußte jedermann haben, aber es war nur die Vorbereitung zu einer klügern Existenz.

Man überlege nur, ob vernünftige Menschen sich wohl auf lange für Lügen interessiren können, oder ob sie nicht viel mehr so bald als möglich wieder zur Wahrheit greifen werden. Das erste Prinzip der Moral ist, Niemand zu täuschen, und das erste Prinzip der Klugheit, sich von Niemand täuschen zu lassen.

Den ersten reellen Stoß, als die Bewunderer und Geschmacksmenschen ausgestorben waren, erhielt das Theater schon von jenen verständigen Leuten, welche sagten: warum soll ich noch nach einem eigenen Hause gehn, um Unglück zu sehn und zu erleben, wohl gar zu weinen, welches sich durchaus nicht für einen alten Mann schickt, da ich im Hause Unglücks genug, und ohne Geld auszugeben, Ueberfluß daran habe? Muß ich mich nicht täglich mit meiner Frau zanken? Bin ich nicht um Geld betrogen? Macht mein eigener Sohn nicht liederliche Streiche genug? Ist mein Bedienter nicht dummer, wie der beste in der Komödie? u. s. w. Dadurch sahen andere vernünftige Menschen ein, daß sie Narren wären, die ihr Geld und ihre Rührung für bessere Gelegenheiten sparen könnten. Das Theater kam in ein lächerliches Licht zu stehn, 177 und wenn man noch etwa hinging, nahm man sich sehr in Acht, sich von keiner Rührung überraschen zu lassen.

Aber so wie die Menschheit immer gesetzter und philosophischer wird, so sah man nun ein, daß das ganze Theater nur ein kindisches, unnützes und lästiges Spielzeug sei; es wurde von Obrigkeitswegen und durch die Mehrheit der Stimmen beschlossen, es nach und nach ganz eingehen zu lassen, damit die Menschen sich den ernsthaftern Beschäftigungen widmen könnten. Weil man aber fürchtete, daß dies bei manchen unverständigen Leuten Mißvergnügen und Unzufriedenheit erregen könnte, so beschloß man, die Sache leiser anzugreifen, um sie dann desto sichrer in den Gang zu bringen.

Es thaten sich daher langweilige Schriftsteller zusammen, die die bessern Stücke, die gar zu leicht einen Respekt vor der Kunst einflößen könnten, verdrängten; man machte Langeweile, um darauf aufmerksam zu machen, wie wenig unterhaltend das ganze Vergnügen sei, so wurden wir mit schlechten Lustspielen und Familiengemälden überschüttet, eine Reihe von Dialogen, wo der Vorhang manchmal dazwischen fällt, um sie zu ordentlichen Stücken von vier bis fünf Akten zu machen. Da der guten Schauspieler weniger wurden, so traten andre auf, die eben so wie jene Bewunderung erregten, weil die Verständigern nun schon das Theater verlassen hatten; diese verschrieen und zerstampften die ältern guten Stücke, sie lernten die Rollen nicht mehr auswendig, sie geberdeten sich wie unsinnig, um die elende Täuschung völlig zu zernichten. Diese haben der Aufklärung einen wesentlichen Dienst gethan, denn seit 178 der Zeit sieht man nur selten noch einen vernünftigen Mann im Theater.

Nun wurden die Bühnen zu Nationalbühnen erhoben, und dieser Schritt war für die Aufklärung sehr berechnet und nothwendig. Nun waren die Schauspieler unter schützenden Privilegien schlecht, und Niemand durfte es wagen, viel dagegen zu sprechen, wenn auch noch hie und da ein Thor gewesen wäre, der im Theater von Kunstwerk, Geschmack, oder dergleichen Narrenpossen geredet hätte. Denn die ganze Absicht war, die Theater zu einer Art von Kaffeehäusern zu machen, in denen zufälliger Weise manche Menschen auf einem erhöhten, illuminirten Gerüste etwas lauter sprachen als die übrigen.

Darauf wurde noch die Oper eingeführt, um den Rest von gesundem Menschenverstand mit den Wellen einer strömenden Musik wegzuspielen, die ausgetretenen Kinderschuhe wurden wieder hervorgesucht, das Theater wurde zu einem Tollhause umgeschaffen, und seit der Zeit schämt man sich zu gestehn, wenn man nämlich Minna von Barnhelm gelesen hat, daß man im Theater gewesen sei.

An manchen Orten soll die Obrigkeit sogar Direktoren angesetzt haben, die sich vorsetzlicherweise stellen, als verstünden sie vom Theater nichts, um diese abgeschmackte Spielerei nur völlig zu Grunde zu richten. Man nimmt immer mehr schlechte Schauspieler an und dankt die bessern ab, es werden unaufhörlich Opern auf Begehren gespielt, die Schauspieler schreien immer stärker, die Dichter schreiben immer langwieriger, so daß das deutsche Theater und der deutsche Geschmack 179 gewiß eine eiserne Natur haben müßten, wenn sie dies alles, ohne zu sterben, ertragen könnten. – –

Ulrich stand und erwartete das Emporziehn des Vorhangs; es geschah, und der Hofrath zankte mit Friedrich, dieser Hofrath aber war niemand anders, als Seidemann.

So hat er das Fach des Liebhabers aufgegeben! dachte Ulrich bei sich; ja wohl ist das Theater ein Bild des menschlichen Lebens! begeisterte Liebhaber werden unglückliche Väter, die Geliebten zänkische Tanten, Narren ernsthaft, und gesetzte Leute Narren.

Ulrichs Erstaunen wurde noch vermehrt, als er im Kammerherrn seinen alten Friseur Leyser erkannte, auch die Frau von Schmerling kam ihm bekannt vor, er konnte sich aber gar nicht erinnern, wer es sein möchte. Das Stück ging seinen Gang fort, und ward recht tapfer zu Ende gearbeitet, die Biederkeit des Hofraths erhielt allgemeinen Beifall. In der letzten Scene, die die Frau von Schmerling hat, erkannte Ulrich sie plötzlich an einem eigenthümlichen Zeichen der Augenbraunen: es war Niemand anders, als seine Louise. Er sprang sogleich über das Orchester hinweg, und kletterte über Lichter und Lampen zum Theater empor, fiel der erstaunten Schauspielerin um den Hals; alles, Theater und Publikum war erstaunt, der Regisseur ließ den Vorhang fallen, und das Stück war auf die Art mit einem neuen Schluß versehn.

Seidemann, Louise und Leyser freuten sich, ihren Ulrich wieder zu sehn, es kostete nur wenig, ihn dazu zu bereden, ein Mitglied der Truppe zu werden. In wenigen Tagen trat er als rechtschaffener 180 Liebhaber auf, und beschämte an Edelmuth die ganze Truppe; in vierzehn Tagen war er Louisens Ehemann.

Das Publikum fand sein Spiel bewundernswürdig, denn er hatte einen weit herzhaftern Tritt als alle übrigen in der Gesellschaft, er ward unaufhörlich beklatscht, und dies erweckte den Neid seiner Gefährten.

Ulrich lernte nun die Fülle der niedrigen Kabalen kennen, von kleiner und heimtückischer Bosheit; vorzüglich that ihm Leyser viel Herzeleid, der in der Truppe die Spitzbuben spielte, und nun manches aus seinen Rollen auf den armen Ulrich anwandte. Auch Louise, die bis dahin nicht von Seidemann gekannt war, hatte viel zu dulden. Der Direkteur gab beiden endlich den Abschied, und da sie nun gar nicht wußten, was sie anfangen sollten, ward ihre Reue und ihr Schmerz nur um so lebhafter.

Ulrich faßte endlich einen schnellen Entschluß, nahm Louisen und reiste mit ihr zu seinem Vater, der auf dem Krankenbette lag, und ihnen darum leichter, als sonst, verzieh. Da ihm Louise bald darauf einen Enkel brachte, war der alte Mann wieder ganz heiter, und Ulrich widmete sich dem Kaufmannstande.

Sein Vater starb bald nachher. Ulrich sieht jetzt als Kaufmann dem damaligen Ulrich gar nicht mehr ähnlich; er lebt äußerst eingezogen und haushälterisch, und alle Leute sagen von ihm, er sei ein solider, vernünftiger Mann geworden.