Hermann Sudermann
Die Reise nach Tilsit
Hermann Sudermann

Hermann Sudermann

Die Reise nach Tilsit

Eine litauische Geschichte

Wilwischken liegt am Haff. Ganz dicht am Haff liegt Wilwischken. Und wenn man von dem großen Wasser her in den Parwefluß einbiegen will, muß man so nah an den Häusern vorbei, daß man Lust bekommt, ihnen vom Kahn aus mit ein paar Zwiebeln – es können auch Gelbrüben sein – die Fenster einzuschmeißen.

Um die schönen, blanken Fenster wäre es freilich schade. Denn Wilwischken ist ein sauberes Dorf und ein reiches Dorf. Seine Einwohner betreiben neben der Haff- und der Flußfischerei einträgliche Acker- und Gartenwirtschaft, und die Zwiebeln von Wilwischken sind berühmt.

Die stattlichste Wirtschaft von allen ist die, die an der Mündung der Parwe gleichsam die scharfe Ecke bildet, und sie gehört dem Ansas Balczus.

Der Ansas Balczus ist nicht etwa ein gewöhnlicher Fischer, der bei jedem Raubfang sein Teil einscharren muß und nie genug kriegt, der am Montagabend seine Barsche in Heydekrug unterm Preis ausbietet und am Dienstagnachmittag betrunken heimfährt; der Ansas Balczus ist beinahe schon ein Herr, der mit den Deutschen deutsch spricht wie ein Deutscher, der sich sein Glas Grog süßt wie ein Deutscher und der sich bei seinen Prozessen so gut zu verteidigen weiß, daß er die Anwaltskosten sparen kann.

Er hat sich auch eine feine Frau genommen, der Ansas Balczus. Sie stammt aus Minge und ist die Tochter von dem reichen Jaksztat, dem die großen Haffwiesen gehören. Daß er die Indre Jaksztat bekommen würde, hätte keiner geglaubt, denn um die rissen sich alle, und sie ging so blaß und sanft an ihnen vorbei, als ob sie eine Sonnentochter gewesen wäre.

Nun hat er sie aber und kann stolz auf sie sein. Sie hat ihm drei hübsche Kinder geboren, und sie sorgt für die Wirtschaft, als wäre sie mit der Laime, der freundlichen Göttin, im Bunde. Ihre Butter wird ihr von den Händlern schon weggerissen, wenn sie noch in der Milch steckt, ihr Johannisbeerwein ist der kräftigste weit und breit, und im Brautwinkel stehen seit vorigen Weihnachten zwei rote Plüschsessel. Man erzählt sich sogar, daß sie der kleinen Elske, wenn sie sieben Jahre alt sein wird, ein Klavier kaufen will. Und dabei geht sie noch ebenso sanft und blaß ihres Wegs, wie sie es als Mädchen getan hat, und wird so rot wie ein Nelkenbeet, wenn man sie anspricht.

So ist die Indre Balczus. Und wenn ich der Ansas wäre, ich würde meine Hände zum Himmel heben, morgens und abends, daß sie meine Frau ist und keine andere.

Und so war es auch früher, aber seit die Busze als Magd ins Haus gekommen ist, hat es sich sehr verändert. So sehr verändert, daß die Nachbarfrauen schon lange die Köpfe zusammenstecken, wenn von dem Hof des Balczus Schimpfen und Weinen herüberschallt.

Das Schimpfen kommt von dem Ansas. Die Stimme kennt ein jeder. Aber weinen tut nicht die Indre – wenn sie's tut, so nur ganz leis und in der Nacht –, es sind die drei Kinder, die da weinen über all das Üble, das ihre Mutter erleiden muß. Und manchmal mischt sich auch ein Lachen darein, ein gar nicht gutes Lachen, hart wie Glas und schadenfroh wie Hähergeschrei.

Der Teufel hat diese Busze ins Haus gebracht. Wenn sie nicht selbst eine Besitzerstochter wäre und als solche stolzen und hoffärtigen Sinnes, hätte sie so viel Schaden gar nicht anrichten können. Warum muß die überhaupt dienen gehen mit ihren blinkernden Achataugen und dem Fleisch wie von Apfelblüten? Wer weiß, wie vielen die schon die Köpfe verdreht hat! Aber sie nimmt sie und läßt sie laufen, und wenn sie irgendwo einen ganz verrückt gemacht hat, dann lacht sie und geht in einen anderen Dienst.

Hier in dem Hause des Balczus sitzt sie nun als das leibhaftige Gegenteil der stillen und sanftmütigen Frau. Singt und schmeißt und rumort vom Morgenstern an bis in die späte Nacht, schafft für dreie und wird schon aufgebracht, wenn man ihr nur sagt, sie möchte sich schonen.

Seit nun gar der Wirt bei ihr in der Kammer gewesen ist, kennt sie überhaupt keinen Spaß mehr. Es ist ein Elend, mitanzusehen, wie sie die Herrschaft mehr und mehr an sich reißt, und er ist schwach und tut, was sie will.

Sonst kommt das wohl in Wirtschaften vor, wo die Frau arm eingezogen ist oder aber kränklichen Leibes und darum die Dinge gehen läßt, wie sie gehen. Aber der Indre gegenüber, dem reichen Jaksztat seiner schönen Tochter, die bloß zu fein und zu hochgeboren ist, um sich mit so einem Biest auflegen zu können, da versteht man die Welt nicht mehr.

Eines Tages, als er wieder betrunken gewesen ist und sie geschlagen hat, kommt die Nachbarin, die Ane Doczys, zu ihr und sagt: »Indre, wir können das nicht mehr mit ansehen, wir ringsum. Wir haben beschlossen, ich schreib's deinem Vater.«

Die Indre wird noch blasser, als sie schon ist, und sagt: »Tut's nicht, sonst nimmt er mich mit, und was wird dann aus den Kindern?«

»Wir tun's doch«, sagt die Doczene, »denn solch ein Frevel darf nicht sein auf der Welt.«

Und die Indre bittet auch noch für ihren Mann und sagt: »Spricht es sich immer weiter herum, so kommt er ganz sicher ins Unglück. Heiraten darf er sie nicht wegen des Ehebruchs. Auf den müßt' ich klagen, denn nur so kann ich die Kinder zugesprochen kriegen. Schon jetzt betrinkt er sich immer häufiger. Was dann erst wird, das überlegt sich ein jeder.«

»Aber soll denn das immer so fortgehen?« fragt die Doczene.

»Sie ist schon aus fünf Brotstellen weggelaufen, wenn sie genug gehabt hat«, sagt die Indre, »und mit ihm wird sie's nicht anders machen.«

Aber die Ane Doczys, mitleidigen Herzens, wie Nachbarinnen sind, denen es morgen ebenso gehen kann, warnt sie wieder und wieder.

»Wir haben uns auch erkundigt«, sagt sie, »das sind dann immer Saufbengels gewesen und Duselköpfe. So einen wie deinen Mann läßt die nicht los.«

Dies Wort führt der Indre so recht zu Gemüte, was für einen vortrefflichen Mann sie gehabt hat, ehe die Busze ins Haus kam. Aber sie weint und klagt nicht, denn es ist nicht ihre Art. Sie wendet nur ein wenig das eingefallene Gesicht und sagt: »Wie Gott will.« Nun, vorerst geht es so, wie die Doczene will.

Die kommt nach Hause und sagt zu ihrem Mann, der auf der Ofenbank liegt und schläft: »Doczys«, sagt sie, »hier sind die Wasserstiefel. Setz die Segel ins Mittelboot, wir fahren nach Minge.«

»Aus welchem Grund fahren wir nach Minge?« fragt er ungehalten; denn er schläft, will Ruhe haben.

Aber die Doczene, in Wut bei dem Gedanken, daß es ihr morgen ebenso gehen kann, fackelt nicht viel und stößt ihn herunter. Er bekommt auch noch die schweren Stiefel angezogen, und eine halbe Stunde später fahren die beiden nach Minge.

Am Tage darauf kommt der alte Jaksztat in Wilwischken an. Er ist nicht zu Kahn gekommen, das hätte zu armemannsmäßig ausgesehen, sondern hat den Umweg über Land nicht gescheut, um seinem Schwiegersohn mit dem Verdeckwagen und dem neusilbernen Kummetgeschirr unter die Nase zu reiben, welcherart das Haus ist, aus dem seine Frau herstammt.

Des reichen Jaksztat erinnern wir uns noch alle. Der obeinige, kleine Mann mit dem lappigen Knochengesicht und den ewigen Rasiermesserkratzern war ja bekannt genug. Als er starb, ist er schließlich gar nicht so reich gewesen. Aber das tut nichts zur Sache.

Die Busze, die ihre Augen überall hat, sieht als erste das Fuhrwerk vorfahren und tritt aus dem Hause.

Was er wünsche, fragt sie, die Arme einstemmend, und funkelt ihn an.

Er, nicht faul, nimmt seinem Kutscher die Peitsche aus der Hand und reißt ihr eins über. Lang übers Gesicht und den nackten rechten Arm herunter flammt die Strieme.

Und was tut sie? Sie packt den alten Mann, zieht ihn vom Wagen und fängt ihn mit den Fäusten zu verprügeln an. Der Kutscher springt vom Bock, der Ansas Balczus kommt aus dem Hause gestürzt, und beiden Männern zusammen gelingt es erst, ihn der wütenden Frauensperson zu entreißen. Weiß Gott, sie hätte ihn sonst vielleicht umgebracht.

So schlimm dies Vorkommnis an und für sich sein mag, in der nun folgenden Unterredung gibt es dem Alten Oberwasser. Denn so weit vom Wege abgekommen ist der Ansas Balczus doch noch nicht durch seine Kebserei, daß er nicht wüßte, welche Schande ein solcher Empfang dem Hause weit und breit bereiten muß.

Nun steht er in seiner ganzen Länge mit dem hinter die Ohren gestrichenen gelben Flachshaar und dem braunen Sommersprossengesicht vor dem Alten und weiß nicht, wo er die Augen lassen soll. Der schnauft immerzu vor Zorn und weil ihm noch vom Herumrangen die Luft fehlt.

»Wo ist deine Frau?«

Wie soll der Ansas Balczus wissen, wo seine Frau ist? Die läuft in ihrer Ratlosigkeit oft genug aus dem Hause, dorthin, wo sie vor Schimpf und Schlägen sicher ist.

»Ich bin der reiche Jaksztat!« schimpft der Alte. »Mir soll so was passieren!«

Der Ansas Balczus entschuldigt den Überfall, so gut es geht. Aber was kann er viel sagen?

»Diese Bestije, diese Patartschke muß sofort aus dem Hause!«

»Na, na«, brummt der Ansas. Wäre das nicht eben geschehen, so hätte er wahrscheinlich die Brust ausgestemmt und geschrien, das sei seine Wirtschaft, hier hab' er allein was zu sagen, aber jetzt brummt er bloß: »Na, na.«

Der Alte merkt sofort, daß sein Weizen blüht, und nun legt er los. Es gibt nicht viel Schimpfwörter im Litauischen, die der Ansas für sich und sein Frauenzimmer nicht zu hören gekriegt hat in dieser Stunde.

Und schließlich ist er ganz windelweich, sitzt auf der Ofenbank und weint.

Indre kommt nach Hause. Sie hat die beiden Ältesten aus der Schule geholt und geht über den Hof, den kleinen Willus auf dem Arm, schlank und rank, geradeso wie die katholische heilige Jungfrau.

Wie sie das väterliche Fuhrwerk sieht, schrickt sie zusammen, setzt das Kindchen auf die Erde und sieht sich um, als wüßte sie nicht, wo sie sich am raschesten verstecken soll.

Aber noch rascher ist der Alte. Zur Tür hinaus – und sie packen – und sie hereinziehen – hast du nicht gesehen!

»Jetzt fällst du vor ihr auf die Knie«, fährt er den Schwiegersohn an, »und küssest den Saum ihres Gewandes!«

So ohne Willen, wie der auch ist, das will er doch nicht. Aber der Alte hilft kräftig nach, und richtig, da liegt er vor ihr und sagt mit einem Schluchzer: »Ich weiß, ich bin ein Sünder vor dem Herrn.«

»Steh auf, Ansas«, sagt sie in ihrer milden Weise und legt die Hand auf seinen Kopf. »Wenn du dich jetzt zu sehr demütigst, vergißt du es mir nachher nicht, und es bleibt alles beim alten.«

Ach, wie gut hat sie ihn gekannt!

Aber vorläufig geht er auf alles ein und verspricht dem Alten, daß die Busze mit seinem Willen den Hof nicht mehr betreten soll und daß sie jetzt auf der Stelle abgelohnt werden soll.

Die Indre warnt den Vater, so Hartes nicht zu verlangen. Aber er besteht darauf.

Er hätte es lieber nicht sollen.

»Die Busze! Wo ist die Busze?«

Da kommt die Busze. Sie hat das Gesicht mit einem Taschentuch verbunden wie eine mit Zahnschmerzen, und um den rechten Arm hat sie eine nasse Schürze gewickelt. Zum Kühlen.

Sie stellt sich in die Tür und sieht die drei ganz freundlich an.

»Na also, was ist?« sagt sie. »Ich hab' zu tun.«

»Du hast hier nichts mehr zu tun«, sagt der Alte, »und das wird dir dein Brotherr gleich klarmachen.«

»Da bin ich doch neugierig«, trumpft sie als eine, die ihrer Sache sicher ist.

Der Ansas Balczus weiß nicht, wo anfangen und wo aufhören. Aber weil sie mit ihrem verbundenen Gesicht nicht gerade sehr hübsch aussieht, wird es ihm leichter. Er stottert was von »Hausfrieden« und »man muß Opfer bringen« und so. Sehr würdereich sieht er nicht aus.

Sie lacht laut auf und lacht und lacht. »Haben sie dich richtig kleingekriegt, du Dreckfresser?« fragt sie. »Ums übrige wirst du ja bald wissen, wo du mich finden kannst.«

Damit dreht sie sich um und schlägt die Tür hinter sich zu. – – – Jetzt könnte der Friede wohl wiederkommen. Und anfangs scheint es auch so. Der Ansas tut freundlich zu seiner Frau, und als er mit Fischen auf den Heydekrüger Markt gefahren ist, bringt er ihr aus dem Hofmannschen Laden sogar ein Seidenkleid mit. Aber er hat einen schiefen Blick, und wenn er kann, geht er ihr aus dem Wege.

Die Indre schreibt nach Hause: »Es ist alles wieder gut.« Aber auf das Papier sind ihre Tränen gefallen.

Denn die Busze ist immer noch da. Sie hat sich bei den Pilkuhns eingemietet, die hinten am Abzugsgraben wohnen, und was das für Gesindel ist, das weiß in Wilwischken ein jeder. Sie tut so, als arbeitet sie in den Wiesen, aber man kann kaum ins Dorf gehen, dann trifft man sie irgendwo. Sie hat sogar die Dreistigkeit, den beiden Kindern, wenn sie aus der Schule kommen, Gerstenzucker zu schenken.

Und wohin geht der Ansas, wenn es dunkel wird? Kein Mensch weiß. Er geht an der Parwe entlang, wo die Weidensträucher so dicht stehen, daß sich kein Abendrot zum Wasser hinfindet. Und die Leute, die vor den Türen sitzen, reden leise hinter ihm drein: »Jetzt trifft er sich mit der Busze.«

Es ist eine Schande zu sagen: Er trifft sich wirklich mit der Busze. Dort, wo sich kein Abendrot zum Wasser hinfindet, sitzen sie bis in die Nacht hinein und schmieden Pläne, wie es werden soll. Aber was sie auch übersinnen – die Frau, die Indre, steht immer dazwischen. »Laß dich scheiden!«

Laß dich scheiden! Leicht gesagt. Aber die Kinder! Der Endrik, der Älteste, soll einmal das Grundstück erben. Und die Elske, die ihm selbst aus den Augen geschnitten ist, wird demnächst gar Klavier spielen. Solche Kinder stößt man nicht von sich. Von dem kleinen Willus gar nicht zu reden. Außerdem hat der Schwiegervater, der reiche Jaksztat, die zweite Hypothek hergegeben. Wo kriegt man die her, wenn er kündigt?

Aber die Indre muß fort! Die Indre muß aus dem Wege! Die Indre mit ihrem Buttergesicht. Die Indre, die ihm nachspioniert. Die Indre, die allabendlich von Tür zu Tür läuft, um ihn schlecht zu machen vor den Leuten. Die Pilkuhns wissen, daß es nichts Abscheuliches gibt, was sie nicht erzählt von ihm. Sogar daß er einen Bruchschaden hat, hat sie erzählt. Woher sollen es die Pilkuhns sonst wissen? Ja, so schlecht ist sie bei all ihrer Scheinheiligkeit.

Also die Indre muß fort. Das ist beschlossene Sache. Es fragt sich bloß, wie.

Er natürlich will nichts davon hören, aber es muß ja doch sein.

Manche Frauen sterben im Kindbett – man braucht kaum einmal nachzuhelfen, aber das kann lange dauern und bleibt eine unsichere Sache.

Gift? Das kommt aus. So sicher, wie zwei mal zwei vier ist. Und wer's dann getan hat, weiß heute schon das ganze Dorf. Ertrinken? Aber die Indre geht nicht aufs Wasser. Das ganze vorige Jahr ist sie nicht einmal auf dem Wasser gewesen.

Sie wird schon gehen – man muß ihr nur zureden.

Na, und dann? Wird sie etwa freiwillig reinspringen? Ja, selbst wenn sie's täte, wer würde es glauben? Kommt man ohne sie zurück, sitzt man auch schon in Untersuchung.

Gift oder Ertrinken – es ist ein und dasselbe.

Aber die Busze hat einen klugen Kopf, die Busze weiß Rat.

Ob er schwimmen kann.

Er kann schon schwimmen. Aber in den schweren Stiefeln nutzt einem das nichts. Da wird man auf den Grund gezogen wie die »Kulschen« – die kleinen Steine im Staknetz.

Dann muß man barfuß 'raus. Jetzt im Sommer fährt jeder barfuß 'raus.

Er, der Ansas, hat das nie getan, und das wissen die Leute.

Ob die Indre schwimmen kann.

Wie die bleiernen Entchen – so kann die Indre schwimmen.

»Also, es wird gehen«, meint nachdenklich die Busze.

» Was wird gehen?«

Ob er sich des Unglücks erinnert, im vorigen Sommer, an der Windenburger Ecke, wobei die zwei Fischer ums Leben gekommen sind?

Wie soll er sich dessen nicht erinnern. Der eine der Toten ist ja sein Vetter gewesen.

Ob er auch weiß, wie es geschehen ist.

Genau weiß es niemand, aber man nimmt an, daß sie betrunken gewesen sind und die gefährliche Stelle verschlafen haben, die Stelle hinter dem Leuchtturm, wo der Wind plötzlich einsetzt und wo man scharf aufpassen muß, will man nicht kentern wie ein zu hoch beladener Heukahn.

Ob man das Kentern nicht auch künstlich machen kann!

Ja, wenn man durchaus ersaufen will.

Ob man sich nicht aufs Schwimmen einrichten kann!

Bis an Land schwimmt keiner.

Ob man es nicht den Schuljungens nachmachen kann mit Binsen oder Schweinsblasen, die einen stundenlang über Wasser halten! Man kann schon. Aber es ist ungebräuchlich und würde bemerkt werden.

Dann müßte man sie nach dem Gebrauch aus der Welt schaffen.

»Ja, aber wie?«

Die Busze wird nachdenken.

So reden und beraten sie Stunden und Stunden lang, Nacht für Nacht. Die Busze fragt, und er antwortet. Und aus dem Fragen und dem Antworten backen sie bei langsamem Feuer den Kuchen gar, an dem die Indre sich den Tod essen muß.

Eins bleibt immer noch das Schwerste: wie sie am besten zu dem Ausflug zu bringen ist. Mehrere müssen es sein, die glücklich verlaufen, ehe der Schlag geführt werden kann. Wo aber die Gründe hernehmen, um die häufigen Fahrten zu rechtfertigen? – Und wie selten auch weht der Süd oder der Südwest, bei dem allein das Unternehmen gelingen kann, und noch dazu in der gehörigen Stärke. Darum muß noch etwas Besonderes gefunden werden, ein Grund wie kein anderer. Einer, der jede Vorbereitung unnötig macht und gegen den es keinen Widerspruch gibt.

Bis dahin aber, das legt ihm Busze immer wieder ans Herz, heißt es freundlich zu der Indre sein, damit ihr jeder Verdacht genommen wird und auch die Nachbarn glauben können, es sei nun alles wieder in Ordnung.

Und er ist freundlich zu der Indre – so freundlich, wie's einer versteht, der sich nie im Leben verstellt hat. Er schlägt das Herdholz klein und trägt es ihr zu, er hilft ihr beim Garnkochen, er bessert den Stöpsel im Rauchfang, er küßt sie beim »Guten Tag« und »Gute Nacht«, und er schläft sogar an ihrer Seite, aber er rührt sie nicht an.

Die Indre drückt sich still an die Wand, wenn er um Mitternacht heimkommt, um den Dunst der Magd nicht zu atmen, den er nach wie vor an sich herumträgt.

Und schließlich – die Busze hat es so verlangt – bringt er auch das schwerste Opfer und geht des Abends nicht mehr ins Sumpfweidendickicht. Von nun an verkehren sie nur durch den Briefträger. Die Aufschriften sind von einem jungen Kanzlisten in Heydekrug, dem er weisgemacht hat, er könne nicht schreiben, auf Vorrat gefertigt, und drinnen stehen Zeichen, die nur sie beide verstehen.

So muß auch die Indre glauben, der heimliche Verkehr habe aufgehört. Aber täuschen läßt sie sich doch nicht. Ihr ist manchmal, als habe sie die Gabe des zweiten Gesichts, und oft, wenn er sich vor ihr wunder wie niedlich macht, denkt sie sich: »Wie seh' ich ihn doch durch und durch!«

Eines Tages kommt er besonders liebselig auf sie zu und sagt: »Mein Täubchen, mein Schwälbchen, du hast böse Tage gehabt, ich möchte dir gern etwas Gutes bereiten, such es dir aus.«

Sie sieht ihn nur an und weiß schon, daß er Hinterhältiges im Sinne führt. Und sie sagt: »Ich brauche nichts Gutes. Ich hab' ja die Kinder.«

»Nein, nein«, sagt er, »es muß sein. Schon wegen der Nachbarn. Auch deinem Vater will ich einen Beweis meiner Sinnesänderung geben. Weißt du nichts, so denke nach, und auch ich werde mir den Kopf zerbrechen.«

Am nächsten Tag kommt er wieder. Aber sie weiß noch immer nichts.

Da sagt er: »Nun, dann weiß ich es. Du hast noch nie die Eisenbahn gesehen. Laß uns nach Tilsit fahren, damit du einmal die Eisenbahn siehst.«

Sie sagt darauf: »Die Leute erzählen sich, daß die Eisenbahn nächstens bis nach Memel geführt werden soll, und Heydekrug wird dann eine Station werden. Wenn es so weit ist, kann ich ja einmal zum Wochenmarkt mitfahren.«

Aber er gibt sich nicht zufrieden.

»Tilsit ist eine schöne Stadt«, sagt er, »wenn du nicht hinfahren willst, so weiß ich, daß du einen bösen Willen hast und an Versöhnung nicht denkst, während ich nichts anderes im Sinne habe, als dir zu Gefallen zu leben.«

Da fällt ihr ein, daß er die Zusammenkünfte mit der Magd wirklich aufgegeben hat, und sie beginnt in ihrer Meinung wankend zu werden.

Und sie sagt: »Ach Ansas, ich weiß ja, daß du es nicht aufrichtig meinst, aber ich werde dir wohl den Willen tun müssen. Außerdem sind wir ja alle in Gottes Hand.«

Der Ansas hat die Gewohnheit, daß er rot werden kann wie irgendein junges Ding. Und weil er das weiß, geht er rasch vor die Tür und schämt sich draußen. Aber ihm ist zumut, als muß er es tun und ein Zurück gebe es nicht. Als wenn ihn der Drache mit feuriger Gabel vorwärts schubst, so ist ihm zumut. Und darum fängt er an demselben Tage noch einmal an.

»In Tilsit ist ein Kirchturm«, sagt er, »der ruht auf acht Kugeln, und darum hat ihn der Napoleon immer nach Frankreich mitnehmen wollen. Er ist ihm aber zu schwer gewesen. Eine so merkwürdige Sache muß man doch sehen.«

Die Indre lächelt ihn bloß so an, sagt aber nichts.

»Außerdem«, fährt er fort, »gibt es ja ein Lied, das geht so:

Tilschen, mein Tilschen, wie schön bist du doch!
Ich liebe dich heute wie einst,
Die Sonne wär' nichts wie ein finsteres Loch,
Wenn du sie nicht manchmal bescheinst.

Nun weißt du hoffentlich, was für eine schöne Stadt Tilsit ist.«

Wie er sich so zereifert, lächelt ihn Indre noch einmal an, und er wird wieder rot und redet rasch von anderen Dingen.

Am nächsten Morgen aber sagt er ganz obenhin: »Nun, wann werden wir fahren?« Als ob es längst eine abgemachte Sache wäre.

Sie denkt: »Will er mich los sein, so kann er es auf tausend Arten. Es ist das Beste, ich füge mich.«

Und zu ihm sagt sie:

»Wann du wirst wollen.«

»Nun, dann je eher, je besser«, sagt er.

Es wird also der nächste Morgen bestimmt.

Und wie die Busze es ihm eingegeben hat, läuft er am Nachmittag von Wirtschaft zu Wirtschaft und sagt: »Ihr wißt, liebe Nachbarn, daß ich mich schlecht aufgeführt habe. Aber von nun an soll alles anders werden. Zum Zeichen dessen werde ich mit der Indre eine Vergnügungsfahrt nach Tilsit machen. Damit will ich sozusagen die Versöhnung festlich begehen.«

Und die Nachbarn beglückwünschen ihn auch noch. Genau, wie die Busze es vorhergesagt hat.

Was aber tut die Indre inzwischen?

Sie legt die Sachen der Kinder zurecht, schreibt auf ein Papier, was sie am Alltag und am Sonntag anziehen sollen und wie die Stücke Leinwand, die sie selber gewebt hat, künftig einmal zu verschneiden sind. Auch ihre Kleider verteilt sie. Das neue seidene kriegt die Ane Doczys, und die Erbstücke kommen an Elske. Dann legt sie noch ihr Leichenhemde bereit und was ihr sonst im Sarge angezogen werden soll. Und dann ist sie fertig.

Auf dem Hof spielen die Kinder. Sie denkt: »Ihr Armen werdet schlechte Tage haben, wenn die Busze erst da ist.«

Dann geht sie hinüber zur Ane Doczys, kurz nachdem der Ansas dagewesen ist, und sagt: »Dem Menschen kann leicht etwas zustoßen. Ich weiß, daß ich von dieser Reise nicht wiederkommen werde.«

Die Ane ist sehr erschrocken und sagt: »Warum sollst du nicht wiederkommen? Nach Tilsit ist bloß ein Katzensprung. Und es soll ja auch ein Versöhnungsfest sein.«

Die Indre lächelt bloß und sagt: »Wir werden ja sehn. Darum versprich mir, daß du auf die Kinder achtgeben wirst und dem Großvater schreibst, wenn es ihnen nicht gut geht.«

Die Ane weint und verspricht alles, und die Indre geht heim. Sie bringt die Kinder zu Bett und betet mit ihnen und stärkt sich in dem Herrn...

In der Frühe, lang' vor der Sonne, fahren sie ab.

Er, der Ansas, hat seine Sonntagskleider an, und auch sie hat sich geschmückt, denn es soll ja ein Versöhnungsfest sein. Sie trägt die rote, grüngestreifte Marginne, den selbstgewebten Rock, in dem sie vor neun Jahren mit ihm zur Versprechung nach der Kirche gefahren ist, und ein klares Mädchenkopftuch gegen die Sonnenstrahlen.

Auch zu essen und zu trinken hat sie mitgenommen und in dem vorderen Abschlag verstaut.

Er ist auf Klotzkorken und hat die leichten Wichsstiefel in der Hand. Im letzten Augenblick bringt er noch etwas angetragen, in Sackleinwand gepackt, das wirft er neben sich vor das Steuer und sieht sie verstohlen dabei an, als ob er eine Frage erwartet.

Aber sie fragt nichts.

Wie er das Großsegel setzt, gewahrt sie, daß ihm die Hände zittern. Er will sich nichts merken lassen und sagt:

»Es ist ein hübsches kleines Windchen, wir können zu Mittag in Tilsit sein.« Sie sagt: »Mir ist es gleich.«

Und er meint: »Ob es hin auch noch so rasch geht, zurück muß man kreuzen.«

Dann wirft er das Schwert aus und setzt auch den Raginnis, das kleine Vorsegel. Er sitzt nun halb zugedeckt von all der Leinwand, so daß sie ihn kaum sehen kann.

Der Kahn fährt wie an der Leine, und rings in dem Wasser glucksen die Fischchen.

Über das weite Haff hin ist es nach Westen wie eine blaugraue Decke gebreitet, nur drüben die Nehrung steht dunkelrot im Morgenschein.

Wie sie um die Windenburger Ecke herumkommen, dort, wo die Landzunge sich spitz in das Wasser hineinstreckt, lockert er erst die Segelleine und wirft dann mit raschem Griff das Steuer um, denn von nun an geht es mit vollem Wind geradeswegs nach Osten.

So oft sie zum Vater nach Minge fuhr, vor dieser Stelle hat sie schon immer Angst gehabt, denn wenn irgend einmal ein Unglück geschehen ist, dann war es nur hier.

Und sie sucht in ihrer ungewissen Angst das liebe Minge, das in der Ferne ganz deutlich zu sehen ist, und denkt bei sich: »Ach Vater, wenn du wüßtest, was für einen schlimmen Weg die Indre fährt.«

Aber sie ist still im Herrn. Nur die gefährliche Stelle macht ihr das Herz eng.

Und dann fährt der Kahn glatt auf die Mündung zu, die mit ihren Grasbändern rechts und links schon lang' auf sie zu warten scheint.

Da liegt nun vor ihr der breite Atmathstrom, breit wie die Memel selber, von der er ein Arm ist, und das hübsche kleine Windchen macht auf dem Wasser ein Reibeisen.

»Zwei Mundvoll mehr wären gut«, sagt der Ansas halb abgewandt zu ihr herüber, »denn wenn der Gegenstrom auch schwach ist, der Kahn merkt ihn doch.«

Sie denkt bloß: »Ich möchte nach Minge.« Aber Minge liegt längst im Rücken. Denn drüben ist schon Kuwertshof, das einsam zwischen Wasserläufen gelegene Wiesengut, von dem die Leute sagen, daß, wer darauf wohnen will, sich Schwimmhäute anschaffen muß, sonst kann er nicht vor und nicht zurück.

»Auch ich kann nicht vor und nicht zurück«, denkt sie, »und muß stillhalten, wie er es bestimmt.«

Nun macht der Strom den großen Ellbogen nach Süden hin, und die Segel schlagen zur Seite, so daß sie ihn mit seinem ganzen Körper sehen kann. Sie sitzt auf der Paragge, dem Abschlag vorn an der Spitze, und er hinten am Steuer. Der Mast steht zwischen ihnen.

Ihr ist, als will er sich vor ihren Blicken verstecken. Er rückt nach rechts, er rückt nach links, aber es hilft ihm nichts.

»Armer Mann«, denkt sie, »ich möchte nicht an deiner Stelle sein.« Und sie lächelt ihn traurig an, so leid tut er ihr.

Auf der rechten Seite kommt nun Ruß, der große Herrenort, in dem so viel getrunken wird wie nirgends auf der Welt. Vor dem Rußner Wasserpunsch fürchten sich ja selbst die Herren von der Regierung.

Zuerst mit den vielen Flößen davor der Anckersche Holzplatz und eine Sägemühle und dann noch eine und noch eine.

Die Dzimken, die Flößer, die mit den Hölzern stromab aus Rußland kommen, sitzen in ihren langen, grauen Hemden auf der Floßkante und baden sich die Füße. Hinter ihnen rauchen die Kessel zum Frühstücksbrot.

»Er wird mir wohl Gift 'reintun«, denkt sie. Aber noch hat sie das mitgebrachte Essen in ihrer Hand, und was anderes wird sie nicht zu sich nehmen.

Die Insel Brionischken kommt mit ihrer neuen Sägemühle. Auch hier liegen Holztriften fest, und die Dzimken, die Tag und Nacht Musik machen müssen, fassen schon an, die Kehlen zu stimmen. Eins von den Liedern kennt sie:

Lytus lynòju, rasà rasòju,
O mùdu abùdu lovò gulèju.

Sie denkt: »Wenn alles so wäre wie einst, dann würden wir jetzt mitsingen.«

Die Dzimken winken ihnen auch einladend mit den Händen, aber keines von ihnen beiden grüßt wieder. Und viele andere haben ihnen während der Fahrt noch zugewinkt, aber niemals haben sie Antwort gegeben.

Hinter Ruß kommt, wie wir ja wissen, eine traurige Gegend. Links das Medszokel-Moor, wo die Ärmsten der Armen wohnen, rechts das Bredszuller Moor, das auch nicht viel wert ist. Aber dahinter erhebt sich auf Hügeln und Höhen der Ibenhorst, der weitberühmte Wald, in dem die wilden Elche hausen.

Und sie muß an jenen Frühlingstag denken, vor sieben Jahren. Sie trug damals die Elske im sechsten Monat und war in der Wirtschaft schon wenig mehr nütze. Da sagte er eines Tages zu ihr: »Wir wollen nach Ibenhorst fahren, vielleicht daß wir die Elche sehen.« Aber er nahm nicht wie heute die Waltelle – das Mittelboot –, denn damit kommt man in den kleinen Seitenflüssen nicht vorwärts, sondern den Handkahn. In dem fuhren sie nun eng aneinander gedrückt durch das Gewirr der fließenden Gräben, durch Rohr und Binsen, stunden- und stundenlang. Und sie hatte den Kopf auf seinem Schoß liegen und sagte ein Mal über das andere: »Ach, was brauchen wir Elche zu sehen, es ist ja auch so ganz wunderschön.« Und schließlich sahen sie doch einen. Es war ein mächtiger Bulle mit einem Geweih, rein wie zwei Mühlenflügel. Der stand ganz nahe im Röhricht und kaute und sah sie an. Ansas sagte: »Sehr wild scheint der nicht zu sein, ich fahr' einfach auf ihn los.« Aber die Elske in ihrem Leibe, die wollte das nicht und machte einen heftigen Sprung. Und als sie ihm das sagte, da wußte er nicht, wie rasch er umkehren sollte.

An jenen Frühlingstag also muß sie denken, und dabei kommt mitten aus ihrer Ergebung der Jammer plötzlich über sie, so daß sie die gefalteten Hände vor die Stirn legt und dreimal weinend sagt: »O Gott, o Gott, o Gott!«

Dann sieht sie, daß er das Ruder festmacht und über die Großmastbank zu ihr herübersteigt.

»Worüber klagst du eigentlich?« hört sie ihn sagen.

Sie hebt die Augen zu ihm auf und sagt: »Ach Ansas, Ansas, weißt du nicht besser als ich, warum ich klage?«

Da dreht er sich auf seinen Hacken um und geht stumm zum Hinterende zurück.

Auf einer der entgegenfahrenden Triften spielt ein Dzimke die Harmonika.

Sie denkt: »Nun wird die Elske wohl nie mehr Klavier spielen lernen... und der Willus wird auch niemals ein Pfarrer werden.« Denn das hat sie sich in ihrem Sinne vorgenommen, weil es ein gottgefälliges Werk ist.

Sie denkt weiter: »Ich werde es mir noch vorher von ihm versprechen lassen.« Aber wie kann sie wissen, wann das Schreckliche kommen wird, so daß sie noch Zeit behält zum Bitten? Jeden Augenblick kann es kommen, denn oft ist alles menschenleer – auch an den Ufern weit und breit.

»Was mag er nur in der Sackleinwand haben?« denkt sie weiter. »Da drin muß es sein, womit er das Schreckliche ausüben will. Aber was kann es sein?« Das Paket ist rund und halbmannslang und etwa wie ein Milcheimer so stark. Als er es vor der Abfahrt auf den Boden warf, ist kein Schall zu hören gewesen. Es muß also leicht sein von Gewicht.

»Das Beste ist«, denkt sie, »ich lasse es kommen, wie es kommt, und nutze die Zeit, um Frieden zu machen mit dem Herrn.«

Aber der Herr hat ihr den Frieden längst gesandt. Sie weiß kaum, um was sie beten soll. Denn um die Rettung zu beten, ziemt ihr nicht. Da braucht sie ja nur zu schreien, wenn irgendein Floß kommt. Und so betet sie für die Kinder. Immer der Reihe nach und dann wieder von vorne.

Wie lange Zeit so verflossen ist, kann sie nicht sagen. Aber die Sonne steht schon ganz hoch, da hört sie von drüben seine Stimme: »Bring mir zu essen, ich hab' Hunger!«

Das Herz schlägt ihr plötzlich oben im Halse. »Jetzt wird es geschehen«, denkt sie. Aber wie sie ihm die Neunaugen und die Rauchwurst hinüberträgt und Brot und Butter dazu, da zittert sie nicht, denn jetzt denkt sie wieder: »Nein, so kann es nicht geschehen, er wird sich eine andere Art und Weise suchen.«

Und dann, wie er fragt: »Ißt du denn nichts?« kommt ihr plötzlich der Gedanke: »Es wird gar nicht geschehen. Und nur mein trüber Sinn malt es mir aus.«

Aber sie braucht ihn nur anzusehen, wie er dasitzt, in sich zusammengekrochen und die Blicke irgendwohin ins Weite oder aufs Wasser gerichtet, bloß nicht auf sie, dann weiß sie: »Es wird doch geschehen.«

Mit einmal faßt sie sich ein Herz und fragt: »Was hast du da in der Sackleinwand?«

Er zieht finster den Mund in die Höhe und antwortet: »Meine Wasserstiefel.« Aber sie weiß, das das nicht wahr sein kann, denn deren Absätze sind eisenbeschlagen und hätten beim Hinschmeißen geklappert.

Dann packt sie die Speisen zusammen und geht nach dem Vorderende zurück.

Die Sonne sticht nun sehr, und sie muß ihr Kopftuch tief in die Augen ziehen.

Längst haben sie die arme Moorgegend verlassen, auch der schwarze Rand des Ibenhorstes ist untergesunken, und hinter dem Damm dehnt sich die fruchtbare Niederung, wo der Morgen tausend Mark kostet und die Bauern Rotwein auf dem Tische haben.

Die Klokener Fähre kommt, hinter der Kaukehmen liegt, der große, reiche Marktort, in dessen bestem Gasthaus nur studierte Leute aus und ein gehen dürfen. »Wenn der Willus Pfarrer sein wird, wird er dort auch aus und ein gehen dürfen. Aber der Willus wird ja nie Pfarrer sein. Wird etwa die Busze ihn auf die hohe Schule gehen lassen?«

Nun dauert es noch etwa eine Stunde, dann kommt die Stelle, an der die Gilge sich abzweigt. Sie sieht das blanke Gewässer nach rechts hin im Grünen verschwinden, fragt aber nichts.

Da kriegt der Ansas mit einemmal die Sprache wieder und sagt: »Du, Indre, von nun an heißt es nicht mehr der Rußstrom, jetzt ist es die Memel.«

Sie bedankt sich für die Belehrung, und dann wird es wieder still. So lange still, bis Ansas plötzlich den Arm hebt und ganz erfreut nach vorne zeigt.

Sie wendet sich um und fragt: »Was ist?«

»Was wird sein?« sagt er. »Tilsit wird sein.«

Sie sieht nicht nach Tilsit. Sie sieht bloß nach ihm. Er lacht übers ganze Gesicht, weil sie nun bald da sind.

»Es wird nicht geschehen«, denkt sie. » Der Mensch kann sich nicht freuen, der so Schreckliches mit sich herumträgt.«

Und dann wird er ganz ärgerlich, weil sie so gar keine Neugier zeigt.

»Da vorne bauen sie die große Eisenbahnbrücke«, sagt er, »und hinten steht auch Napoleons Kirchturm, aber du siehst dich nicht einmal um.«

Sie entschuldigt sich und läßt sich alles erklären. Und so kommen sie immer näher.

Die Mauerpfeiler, die aus dem Wasser wachsen, und die Eisengerüste hoch oben, die in der Luft hängen wie der Netzstil beim Fischen – so was hat sie wirklich noch nie gesehen.

»Alles war Unsinn«, denkt sie. »Es wird nicht geschehen.«

Und dann kommen Holzplätze, so groß wie der Anckersche in Ruß, und Schornstein nach Schornstein, und dann die Stadt selber. Mit Wohnhäusern, noch höher als die Speicher in Memel. Denn Memel kennt sie. Dorthin ist sie früher manchmal zum Markt mitgefahren und um die See zu sehen.

Napoleons Kirchturm hätte sie sich wunderbarer vorgestellt. Die acht Kugeln sind wirklich da, aber das Mauerwerk steht darauf, als ob es gar nicht anders sein könnte.

Ansas zieht die Segel ein und lenkt dem steinernen Ufer zu. Dort, wo er festmacht, liegen schon ein paar andere Fischerkähne, mit deren Besitzern er sich begrüßt. Es sind Leute aus Tawe und Inse, die ihren Fang am Morgen verkauft haben.

»Kommt ihr Wilwischker jetzt auch schon hierher«, sagt einer neidisch, »und verderbt uns die Preise?«

Ansas, der sich gerade die Wichsstiefel anzieht, antwortet ihm gar nicht. Für solche Gespräche ist er zu stolz.

Indre breitet das weiße Reisetuch über den vorderen Abschlag und setzt die Speisen darauf. Neben den Neunaugen und der Rauchwurst hat sie auch Soleier und selbstgeräucherten Lachs mit eingepackt. Und da sie seit halb vier in der Frühe nichts mehr gegessen hat, merkt sie jetzt, daß ihr schon längst vor Hunger ganz schwach ist.

Sie sitzen nun beide auf den Kanten des Bootes einander nahe gegenüber und essen das Mitgenommene als Mittagbrot. Geld, um in ein vornehmes Gasthaus zu gehen und sich auftafeln zu lassen vom Besten, hat Ansas wohl übergenug. Aber das ist nicht Fischergewohnheit.

Sie denkt nun gar nicht mehr an das Schreckliche, aber das Herz liegt ihr von all dem Fürchten noch wie ein Stein in der Brust.

Jetzt ist es der Ansas, der nicht viel essen kann, denn die Erwartung, ihr alles zu zeigen, läßt ihm keine Geduld. Er steht auf und sagt: »Nun kann es losgehen.« Aber vorher kehrt er noch nach hinten zurück, das Hängeschloß zu holen, damit der Kahn nicht etwa inzwischen verschwindet.

Dabei kommt er mit einem Fuß zufällig unter den runden Sack, der vor dem Steuersitz liegt. Der fliegt wie von selber hoch, so leicht ist er, und sinkt dann wieder zurück. Sie sieht, wie er dabei erschrickt und zu ihr herüberglupt, ob sie's auch nicht bemerkt hat. Und der Stein in ihrer Brust wird schwerer.

Aber wie sie das Ufer hinanschreiten und er ihr alles erklärt, denkt sie wieder: »Es kann nicht sein, es muß eine andere Bewandtnis haben.«

Dann biegen sie in die Deutsche Straße ein, die breit ist wie ein Strom und an ihren Rändern lauter Schlösser stehen hat. In den Schlössern kann man sich kaufen, was man will, und alles ist viel schöner und prächtiger als in Memel.

Der Ansas sagt: »Hier aber ist das Schönste« und weist auf ein Schild, das die Aufschrift trägt: »Konditorei von Dekomin«.

Und da ein kaltes Mittagsbrot nie ganz satt macht, so beschließen sie auch sogleich hineinzugehen und die leeren Stellen im Magen aufzufüllen.

Und wie sie eintreten, o Gott, was sieht die Indre da! In einer langen, schmalen Stube, in der es kühl und halbdunkel ist, steht nicht weit von der Wand ein Tisch, der von einem Ende bis zum andern reicht und der ganz bedeckt ist mit Kuchen und Torten und sonstigen Süßigkeiten aller Art.

»Da wollen wir nun schwelgen«, sagt der Ansas und reckt sich.

Aber sie traut sich noch nicht, und er muß ihr die Stücke einzeln auf den Teller legen. Auch einen schönen Rosenlikör bestellt er. Der ist süß wie der Himmel und klebt an den Fingern, so daß man immerzu nachlecken muß.

»Darf ich auch den Kindern was mitbringen?« fragt sie.

»Nun, das versteht sich«, sagt er und lacht.

Da sticht ihr plötzlich der Gedanke ins Herz, daß sie die Kinder vielleicht niemals mehr sehen wird. Ganz abgeängstigt blickt sie ihn an – und siehe da! auch sein Gesicht hat sich verändert. Der Mund steht ihm offen, ganz hohl sind die Backen, und die Augen schielen an ihr vorbei.

»Es wird doch geschehen«, denkt sie und legt den Teelöffel hin, ißt auch nicht einen Bissen mehr; nur die Krumen, die rings um den Teller verstreut auf dem Steintisch liegen, wischt sie mit den Fingerspitzen auf und denkt dabei – – ja, was denkt sie? Nichts denkt sie. Und auch er sitzt da wie vor den Kopf geschlagen und redet kein Wort.

Also wird es doch geschehen!

Dann, wie er aufsteht, sagt er: »Nun laß dir einpacken.« Aber sie kann nicht. »Bring du es ihnen«, sagt sie, und er tritt an den Tisch und sucht aus. Aber er weiß nicht, was er aussucht, denn seine Augen gehen immer nach ihr zurück, als will er was sagen und traut sich nicht.

Dann, wie sie wieder auf die Straße hinaustreten, die von der Nachmittagssonne geheizt ist wie ein Backofen, gibt er sich einen Ruck und fängt von neuem mit dem Erklären an. Dies ist das und jenes ist das. Aber sie hört kaum mehr hin. Ganz benommen ist sie von neuer Angst. Die kommt und geht, wie die Haffwellen ans Ufer schlagen.

Dann stehen sie vor einem Kurzwarenladen, in dessen Schaufenster auch Kindersachen ausliegen. »Wir wollen 'reingehen«, sagt sie. »Du kannst den Kindern ein Andenken mitbringen.«

»Andenken? An wen?« fragt er und stottert dabei.

»An mich«, sagt sie und sieht ihn fest an.

Da wird er wieder rot, wendet die Augen ab und fragt nichts weiter.

Es wird also ganz sicher geschehen.

Sie sucht für den Endrik eine Wachstuchschürze mit roten Rändern, damit er sich nicht schmutzig macht, wenn er im Sand spielt; für die Elske eine blaue Kappe gegen die Sonne und für den kleinen Willus – was kann es viel sein? – ein Sabberschlabbchen, unter das Kinn zu binden. »Vielleicht werden doch noch einmal Pfarrerbäffchen daraus«, denkt sie und verbeißt ihre Tränen.

Der junge Mann, der die Sachen einwickelt, sagt zu Ansas gewandt: »Vielleicht haben Sie auch für die Frau Gemahlin einen Wunsch.«

Er steht verlegen und geschmeichelt, weil man die Indre eine »Frau Gemahlin« nennt, was von einer litauischen Fischersfrau wohl nicht häufig gesagt wird.

Und der junge Mann fährt fort: »Vielleicht darf ich auf unsere echten Schleiertücher aufmerksam machen, denn, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, das, welches die Frau Gemahlin augenblicklich trägt, ist etwas – durchgeschwitzt.«

Indre erschrickt und sucht einen Spiegel, denn noch hat sie nicht den Mut gehabt, sich irgendwo zu besehen. Und der junge Mann breitet eilig seine Gewebe aus. Die sind rein wie aus Spinnweben gemacht und haben Muster wie die schönsten Mullgardinen.

Ansas wählt das teuerste von allen – er getraut sich gar nicht, ihr zu sagen, wie teuer es ist –, und der junge Mann führt sie vor eine Wand, die ganz und gar ein Spiegel ist. Wie sie das Tuch am Halse geknotet hat, so daß es die Ohren bedeckt und die Augen verschattet, da weiß er sich vor Entzücken gar nicht zu lassen.

»Nein, wie schön die Frau Gemahlin ist!« ruft er einmal über das andere. »Nie hat dieser Spiegel etwas Schöneres gesehen!«

Und sie bemerkt fast erschrocken, wie der Ansas sich freut.

Im Rausgehen wendet er sich noch einmal um und fragt den jungen Mann, ob er wohl weiß, wie die Züge gehen.

»Zur Ankunft oder zur Abfahrt?« fragt der junge Mann.

Und Ansas meint, das wäre ganz gleich.

Da lächelt der junge Mann und sagt, bald nach viere komme einer an, und gegen sechse fahre einer ab. Man habe also die Auswahl. Ansas bedankt sich und sagt, als sie draußen sind: »Wir wollen lieber die Abfahrt nehmen, denn da sieht man ihn in der Ferne verschwinden.«

Aber bis sechs ist noch viel Zeit. Was kann man da machen?

Der Indre ist alles egal. Sie denkt bloß: »Wenn es doch geschehen soll, warum hat er dann noch so viel Geld für mich ausgegeben?« Und in ihr Herz kommt wieder einmal die Hoffnung zurück.

Ansas ist vor einer Mauer stehen geblieben, auf der ein Zettel klebt:

JAKOBSRUH
heute vier Uhr
GROSSES MILITÄRKONZERT
ausgeführt von der Kapelle
des litauischen Dragonerregiments Prinz Albrecht.

Und darunter steht alles gedruckt, was sie spielen werden.

Der Stein in Indres Brust ist nun ganz leicht geworden; kaum zu fühlen ist er. Aber sie hat Zweifel, ob bei einem solchen Vergnügen, das augenscheinlich für die Deutschen bestimmt ist, auch Litauer zugegen sein dürfen – und dazu noch in ihrer Landestracht.

Aber Ansas lacht sie aus. Wer sein Eintrittsgeld bezahlt, ist eingeladen, gleichgültig ob er »wokiszkai« spricht oder »lietuwiszkai«.

Indre zweifelt noch immer, und nur der Gedanke, daß es ja ein litauisches Dragonerregiment ist, welches die Musiker hergibt, macht ihr Schamhaftigkeit etwas geringer.

So fahren sie also in einer Droschke nach Jakobsruh, jenem Lustort, der bekanntlich so schön ist wie nichts auf der Welt. Bäume, so hoch und schattengebend wie diese, hat Indre noch nie gesehen, auch nicht in Heydekrug und nicht in Memel. Am Haff, wo es nur kurze Weiden gibt und dünne Erlen, könnte man sich von einer solchen Blätterkirche erst recht keinen Begriff machen.

Aber trotz ihrer Freude ist ihr vor dem fremden Orte noch bange genug, denn ringsum sitzen an rotgedeckten Tischen lauter städtische Herrenleute, und als Ansas vorangeht, einen Platz zu suchen, recken alle die Hälse und sehen hinter ihnen her. Es ist, um in die Erde zu sinken.

Ansas dagegen fürchtet sich nicht im mindesten. Er findet auch gleich einen leeren Tisch, wischt mit dem Schnupftuch den Staub von den Stühlen und befiehlt einem feinen deutschen Herrn, ihm und ihr Kaffee und Kuchen zu bringen. Genau so, wie es die anderen machen.

So ein mutiger Mann ist der Ansas. Man fühlt sich gut geborgen bei ihm, und alle die Angst war ein Unsinn.

Nicht weit von ihnen ist eine kleine Halle aufgebaut mit dünnen Eisenständern und einem runden Dachchen darauf. Die füllt sich mit hellblauen Soldaten! O Gott, so vielen und blanken Soldaten! Während es doch sonst nur drei oder vier schmutzige Vagabunden sind, die Musik machen.

Zuerst kommt ein Stück, das heißt »Der Rosenwalzer«. So steht auf einem Blatt zu lesen, das Ansas von dem Kassierer gekauft hat. Wie das gespielt wird, ist es, als flöge man gleich in den Himmel. Dicht vor den Musikern haben sich zwei Kinderchen gegenseitig um den Leib gefaßt und drehen sich im Tanze. Da möchte man gleich mittanzen.

Und hat sich doch vor einer Stunde noch in Todesnöten gewunden! Wie das Stück zu Ende ist, klatschen alle, und auch die Indre klatscht.

Rings wird es still, und die Kaffeetassen klappern.

Ansas sitzt da und rührt sich nicht. Wie sie ihn etwas fragen will – so gut ist sie schon wieder mit ihm –, da macht er ihr ein heimliches Zeichen nach links hin: Sie soll horchen.

Am Nebentisch sprechen ein Herr und eine Dame von ihr.

»Wenn eine Litauerin hübsch ist, ist sie viel hübscher als wir deutschen Frauen«, sagt die Dame.

Und der Herr sagt: »In ihrer blassen Lieblichkeit sieht sie aus wie eine Madonna von – –«

Und nun kommt ein Name, den sie nicht versteht. Auch was das ist: »Madonna«, weiß sie nicht. Für ihr Leben gern hätte sie den Ansas gefragt, der alles weiß, aber sie schämt sich.

Da fängt sie einen Blick des Ansas auf, mit dem er gleichsam zu ihr in die Höhe schaut, und nun weiß sie, was sie schon im Laden geahnt hat: Er ist stolz auf sie, und sie braucht nie mehr Angst zu haben.

Dann hört die Pause auf, und es kommt ein neues Stück. Das heißt »Zar und Zimmermann«. Der Zar ist der russische Kaiser. Daß man von dem Musik macht, läßt sich begreifen. Warum aber ein Zimmermann zu solchen Ehren kommt, ein Mensch, der schmutzige Pluderhosen trägt und immerzu Balken abmißt, bleibt ein Rätsel.

Dann kommt ein drittes Stück, das wenig hübsch ist und bloß den Kopf müde macht. Das hat sich ein gewisser Beethoven ausgedacht.

Aber dann kommt etwas! Daß es so was Schönes auf Erden gibt, hat man selbst im Traum nicht für möglich gehalten. Es heißt: »Die Post im Walde«. Ein Trompeter ist vorher weggegangen und spielt die Melodie ganz leise und sehnsüchtig von weit, weit her, während die andern ihn ebenso leise begleiten. Man bleibt gar nicht Mensch, wenn man das hört! Und weil die Fremden, die Deutschen, ringsum nicht sehen dürfen, wie sie sich hat, springt sie rasch auf und eilt durch den Haufen, der die Kapelle umgibt, und an vielen Tischen vorbei dorthin, wo es einsam ist und wo hinter den Bäumen versteckt noch leere Bänke stehen.

Dort setzt sie sich hin, schiebt das neue Kopftuch aus den Augen, damit es nicht naß wird, und weint, und weint sich all die – ach, all die ausgestandene Angst von der Seele.

Und dann setzt sich einer neben sie und nimmt ihre Hand. Sie weiß natürlich, daß es der Ansas ist, aber sie ist vor Tränen ganz blind. Sie lehnt den Kopf an seine Schulter und sagt immer schluchzend: »Mein Ansuttis, mein Ansaschen, bitte, bitte, tu mir nichts, tu mir nichts.«

Sie weiß, daß er ihr nun nichts mehr tun wird, aber sie kann nicht anders – sie muß immerzu bitten.

Er zittert am ganzen Leibe, hält ihre Hand fest und sagt einmal über das andere: »Was redest du da nur? Was redest du da nur?« Sie sagt: »Noch ist es nicht gut. Ehe du es nicht gestehst, ist es noch nicht ganz gut.«

Er sagt: »Ich habe nichts zu gestehen.«

Und sie streichelt seinen Arm und sagt: »Du wirst es schon noch gestehen. Ich weiß, daß du es gestehen wirst.«

Er bleibt immer noch dabei, daß er nichts zu gestehen hat, und sie gibt sich zufrieden. Nur wenn sie daran denkt, daß daheim im Dorf die Busze sitzt und lauert, läuft es ihr ab und zu kalt über den Rücken.

Mit aneinandergelegten Händen gehen sie zu ihrem Tische zurück und kümmern sich nicht mehr um die Leute, die nicht satt werden können, ihnen nachzusehen.

Und weil nun ringsum die Kaffeetassen verschwunden sind und statt ihrer Biergläser stehen, bestellt sich Ansas auch was bei dem feinen Herrn – aber kein Bier bestellt er, sondern eine Flasche süßen Muskatwein, wie ihn die Litauer lieben.

Und beide trinken und sehen sich an, bis Indre sich ein Herz faßt und ihn fragt: »Mein Ansaschen, was heißt das – eine Madonna?« »So nennt man die katholische heilige Jungfrau«, sagt er.

Sie zieht die Lippen hoch und sagt verächtlich: »Wenn's weiter nichts ist.« Denn die Neidischen, die sie ärgern wollten, haben sie schon als Mädchen so genannt, und sie ist doch stets eine fromme Lutheranerin gewesen.

Und sie trinken immer noch mehr, und Indre fühlt, daß sie rote Backen bekommt, und weiß sich vor Fröhlichkeit gar nicht zu lassen.

Da plötzlich fällt dem Ansas ein: »O Gott – die Eisenbahn! Und die Uhr ist gleich sechs!«

Er ruft den feinen Herrn herbei und bezahlt mit zwei harten Talern. Dann fragt er nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof. Aber wie sie nun dorthin laufen wollen, ergibt es sich, daß sie nicht mehr ganz gerade stehen können.

Die Leute lachen hinter ihnen her, und die Dame am Nebentisch sagt bedauernd: »Daß diese Litauer sich doch immer betrinken müssen.«

Hätte sie gewußt, was hier gefeiert wird, so hätte sie's wohl nicht gesagt.

Die Straße zum Bahnhof führt ziemlich nah an den Schienen entlang. Sie laufen und lachen und laufen.

Da mit einmal macht es irgendwo: »Puff, Puff, Puff.«

O Gott – was für ein Ungeheuer kommt dort an! Und geradeswegs auf sie zu.

Indre kriegt den Ansas am Ärmel zu packen und fragt: »Ist sie das?«

Ja, das ist sie.

Wie kann es bloß so viel Scheußlichkeit geben! Der Pukys mit dem feurigen Schweif und der andere Drache, der Atwars, sind gar nichts dagegen. Sie schreit und hält sich die Augen zu und weiß nicht, ob sie weiterlachen oder noch einmal losweinen soll. Aber da der Ansas sie beschützt, entscheidet sie sich fürs Lachen und nimmt die Schürze vom Gesicht und macht: »Puff, Puff.« Genauso kindisch, wie die Elske machen würde, wenn sie den Drachen sähe, mit dem die Leute spazierenfahren.

»Wohin fahren sie?« fragt sie dann, als die letzten Wagen vorbei sind.

Ansas belehrt sie: »Zuerst nach Insterburg, dann nach Königsberg und dann immer weiter bis nach Berlin.«

»Wollen wir nicht auch nach Berlin fahren?« bittet sie.

»Wenn alles geordnet ist«, sagt er, »dann wollen wir nach Berlin fahren und den Kaiser sehen.« Dabei wird er mit einemmal steinernst, als ob er ein Gelübde tut.

O Gott, wie ist das Leben schön!

Und das Leben wird immer noch schöner.

Wie sie auf dem Wege zur inneren Stadt an dem »Anger« vorbeikommen, jenem großen, häuserbestandenen Sandplatz, auf dem die Vieh- und Pferdemärkte abgehalten werden, da hören sie aus dem Gebüsch, das den Spazierweg umgibt, lustiges Leierkastengedudel und sehen den Glanz von Purpur und von Flittern durch die Zweige schimmern.

Nun möchte ich den Litauer kennenlernen, der an einem Karussell vorbeigeht, ohne begierig stehenzubleiben.

Die Sonne ist zwar bald hinter den Häusern, und morgen früh will Ansas beim Kuhfüttern sein, aber was kann der kleine Umweg viel schaden, da man ja sowieso an vierzehn Stunden kreuzen muß.

Und wie sie das runde, sammetbehangene Tempelchen vor sich sehen, dessen Prunksessel und Schlittensitze nur auf sie zu warten scheinen, da weist Ansas mit einemmal fast erschrocken nach dem Leinwanddache, auf dessen Spitze ein goldener Wimpel weht.

Sie weiß nicht, was sie da gucken soll.

Er vergleicht den Wimpel mit den Wetterfahnen rings auf den Dächern. Es stimmt! Der Wind ist nach Süden umgeschlagen – und das Kreuzen unnötig geworden. In sieben Stunden kann der Kahn zu Hause sein.

Also 'rauf auf die Pferde! Die Indre wehrt sich wohl ein bißchen – eine Mutter von drei Kindern, wo schickt sich das? Aber in Tilsit kennt sie ja keiner. Also, fix, fix 'rauf auf die Pferde, sonst geht's am Ende noch los ohne sie beide.

Und sie reiten und fahren und reiten wieder, und dann fahren sie noch einmal und noch einmal, weil sie zum Reiten schon lange zu schwindlig sind. Die ganze Welt ist längst eine große Drehscheibe geworden, und der Himmel jagt rückwärts als ein feuriger Kreisel um sie herum. Aber sie fahren noch immer und singen dazu:

»Tilschen, mein Tilschen, wie schön bist du doch!
Ich liebe dich heute wie einst!
Die Sonne wär' nichts wie ein finsteres Loch,
Wenn du sie nicht manchmal bescheinst.«

Und die umstehenden Kinder, die schon dreimal Freifahrt gehabt haben, singen dankbar mit, obwohl sie Text und Weise nicht begreifen können.

Aber schließlich wird der Indre übel. Sie muß ein Ende machen, ob sie will oder nicht. Und nun stehen sie beide lachend und betäubt unter den johlenden Kindern und streuen in die ausgestreckten Hände die Krümel der Konditorkuchen, die sie aus Versehen längst plattgesessen haben.

Ja, so schön kann das Leben sein, wenn man sich liebt und Karussell dazu fährt!

Dann nehmen sie Abschied von den Kindern und den Kindermädchen, von denen etliche sie noch ein Ende begleiten. Um ihnen den Weg zu zeigen, sagen sie, aber in Wahrheit wollen sie bei Gelegenheit noch ein Stück Kuchen erraffen. Und sie hätten auch richtig was gekriegt, wenn sie bis zur Dekominschen Konditorei ausgehalten hätten. Aber die liegt ja, wie wir wissen, am andern Ende der Stadt.

Daselbst lassen sie beide sich noch einmal ein schönes Paket zurechtmachen, aber diesmal sucht die Indre aus. Der Ansas bestellt derweilen noch zwei Gläschen von dem klebrigen Rosenlikör und nimmt zur Sicherheit für vorkommende Fälle gleich die ganze Flasche mit.

Wie sie zu ihrem Kahn hinabsteigen, ist die Sonne längst untergegangen. Aber das macht nichts, denn der Südwind hält fest, und der Mond steht schon bereit, um ihnen zu leuchten.

Unter solchen Umständen ist ja die Fahrt ein Kinderspiel.

Ansas schöpft mit der Pilte das Wasser aus, damit die Bodenbretter hübsch trocken sind, wenn die Indre sich etwa langlegen will. Aber sie will nicht. Sie setzt sich auf ihren alten Platz vorn auf die Paragge, damit sie dem Ansas zusehen und sich im stillen an ihm freuen kann.

Und dann geht es los.

Die Ufer werden dunkler, und eine große Stille breitet sich aus. Sie muß immerzu daran denken, in welcher Angsthaftigkeit das Herz sie drückte, als sie vor acht Stunden desselben Weges fuhr, und wie leicht sie jetzt Atem holen kann.

Sie möchte am liebsten ein Dankgebet sprechen, aber sie will es nicht allein tun, denn er gehört ja wieder zu ihr... und nötig hat er es auch.

Aber er hat jetzt nur Blick für Segel und Steuer, denn die Brückenpfeiler sind da und viele Kähne, die auf beiden Seiten vor Anker liegen.

Manchmal nickt er ihr freundlich zu. Das ist alles.

Alsdann breitet sich der Strom, und der Mond fängt zu scheinen an. Die Wellchen sind ganz silbern in der Richtung auf ihn zu und setzen sich und fliegen auf wie kleine weiße Vögelchen.

Sie kann den Ansas gut erkennen, er sie aber nicht, denn der Mond steht hinter ihr. Darum sagt er auch plötzlich: »Warum sitzt du so weit von mir weg?«

»Ich sitze da, wo ich auf der Hinfahrt gesessen hab'«, sagt sie.

»Hinfahrt und Rückfahrt sind so verschieden wie Tag und Nacht«, sagt er.

Und sie denkt: »Bloß daß jetzt Tag ist und damals Nacht war.«

»Darum komm herüber und setz dich neben mich«, sagt er.

Ach, wie gerne sie das tut!

Aber als sie ihm näher kommt, da fällt ihr Blick auf die Sackleinwand, die zwischen seinen Füßen liegt und die sie bisher nicht bemerkt hat.

Wie sie die wiedersieht, wird ihr ganz schlecht. Sie sinkt auf die Mittelbank nieder und lehnt ihren Rücken gegen den Mast.

»Warum kommst du nicht?« fragt er fast unwirsch.

Nun weiß sie nicht, was sie tun soll. Soll sie ihn fragen, soll sie's mit Stillschweigen übergehen? Aber das weiß sie: Dorthin, wo prall und rund der Sack liegt, um dessen Inhalt er sie belügt, dorthin kann sie die Füße nicht setzen. Sie würde glauben, auf ein Nest von Schlangen zu treten.

Und da kommt ihr der Gedanke, Klarheit zu schaffen über das, was gewesen ist. Jetzt gleich im Augenblick. Denn später kommt sie vielleicht nie.

Sie faßt sich also ein Herz.

»Willst du mir nicht sagen, mein Ansaschen, was du in der Sackleinwand hast?«

Er fährt hoch, als hätte ihn eine aus dem Schlangennest in den Fuß gebissen, aber er schweigt und wendet den Kopf weg. Sie kann sehen, wie er zittert.

Da erhebt sie sich und legt die Hand auf seine Schulter, hütet sich aber, der Sackleinwand zu nahe zu kommen.

»Mein Ansaschen«, sagt sie, »es ist ja jetzt wieder ganz gut zwischen uns, aber ehe du nicht alles gestehst, geht die Erinnerung an das Böse nicht weg.«

Er bleibt ganz still, aber sie fühlt, wie es ihn schüttelt.

»Und dann, mein Ansaschen«, sagt sie weiter, »geht es auch wegen des lieben Gottes nicht anders. Ich hab' vorhin beten wollen, aber die Worte blieben mir im Halse. Denn du standest mir nicht bei. Darum sag es schon, und dann beten wir beide zusammen.«

Da fällt er vor ihr auf seine Knie, schlingt die Arme um ihre Knie und gesteht alles.

»Mein armes Ansaschen«, sagt sie, als er zu Ende ist, und streichelt seinen Kopf. »Da müssen wir aber tüchtig beten, damit der liebe Gott uns verzeiht.«

Und sie läßt sich neben ihm auf die Knie nieder, faltet ihre Hände mit den seinen zusammen, und so beten sie lange. Nur manchmal muß er nach dem Steuer sehen, und dann wartet sie, bis er fertig ist.

Zum Schluß segnet sie ihn, und er segnet sie, und dann stehen sie wieder auf und sind guter Dinge.

Nur was in der Sackleinwand ist, hat er vergessen zu sagen. Sie zeigt darauf hin und will es wissen.

Aber er wendet sich ab. Er schämt sich zu sehr.

Da sagt sie: »Ich werde selber öffnen.« Und er wehrt ihr nicht.

Und wie sie den Sack aufreißt, was findet sie da? Zwei Bündel grüne Binsen findet sie, mit Bindfaden aneinandergebunden. Weiter nichts.

Sie lacht und sagt: »Ist das die ganze Zauberei?«

Aber er schämt sich noch immer.

Da errät sie langsam, daß er damit nach dem Umschlagen des Kahnes hat davonschwimmen wollen, wie die Schuljungens tun, wenn sie im tiefen Wasser paddeln.

»Solch ein Lunterus bin ich geworden!« sagt er und schlägt sich mit den Fäusten vor die Brust.

Aber sie lächelt und sagt: »Pfui doch, Ansaschen, der Mensch soll sich nicht zu hart schimpfen, sonst macht er sich selber zum Hundsdreck.«

Und so hat sie ihm nicht nur verziehen, sondern richtet auch seine Seele wieder auf. – – –

Wie sie sich neben ihn setzt – denn er will sie nun ganz nahe haben –, da merkt sie, daß sie mit ihrem Leibe den Gang des Steuers behindert, darum breitet sie zu seinen Füßen das weiße Reisetuch aus, das sie im vorderen Abschlag verwahrt hat, und legt sich darauf – doch so, daß ihr Kopf auf seine Knie zu liegen kommt. Und nun ist es genauso wie damals in Ibenhorst, als die Elske noch unterwegs war.

Und so fahren sie dahin und wissen vor Glück nicht, was sie zueinander reden sollen.

Von den Uferwiesen her riecht das Schnittgras – man kann den Thymian unterscheiden und das Melissenkraut, auch den wilden Majoran und das Thimotheegras und was sonst noch starken Duft an sich hat. Der Stromdamm zieht vorüber wie ein grünblaues Seidenband. Wo zufällig der Rasen den Abhang hinuntergeglitten ist, da leuchtet er wie ein Schneeberg. Und der Mondnebel liegt auf dem Wasser, so daß man immer ein wenig aufpassen muß.

Außer den plumpsenden Fischchen, die nach den Mücken jagen, ist nicht viel zu hören. Nur die Nachtvögel sind immer noch wach. Kommt ein Gehölz oder ein Garten, dann ist auch die Nachtigall da und singt ihr: »Jurgut – jurgut – jurgut – wazok, wazok, wazok«... Und der Wachtelmann betet sein Liebesgebet: »Garbink Diewa«. Sogar ein Kiebitz läßt sich noch ab und zu hören, obgleich der doch längst schlafen müßte.

Und dann kommt mit einemmal Musik. Das sind die Dzimken, die ihre Triften während der Nacht am Ternpfahl festbinden müssen. Aber Gott weiß, wann die schlafen! Bei Tage rudern sie und singen, und bei Nacht singen sie auch.

Ihr Feuerchen brennt, und dann liegen sie ringsum. Einer spielt die Harmonika, und sie singen.

Da hört man auch schon das hübsche Liedchen »Meine Tochter Symonene«, das jeder kennt, in Preußen wie im Russischen drüben. Ja, ja, die Symonene! Die zu einem Knaben kam und wußte nicht wie! Das kann wohl mancher so gehen. Aber der Knabe ist schließlich ein Hetman geworden, wenigstens hat die Symonene es so geträumt.

»Der Willus muß ein Pfarrer werden«, bittet die Indre schmeichelnd zu Ansas empor.

»Der Willus wird ein Pfarrer werden«, sagt er ganz feierlich, und die Indre freut sich. Denn was in solcher Stunde versprochen wird, das erfüllt sich gleichsam von selber.

So fahren sie an dem Floß vorbei, und bald kommt ein nächstes. Darauf spielt einer gar die Geige. Und die andern singen:

»Unterm Ahorn rinnt die Quelle,
Wo die Gottessöhne tanzen
Nächtlich in der Mondenhelle
Mit den Gottestöchtern.«

Ansas und Indre singen mit. Die Dzimken erkennen die Frauenstimme und rufen ihnen ein »Labs wakars!« zu. Zum Dank für den Gutenachtgruß will Ansas ihnen was Freundliches antun und läßt sich die Mühe nicht verdrießen, das Segel einzuziehen und an dem Floß anzulegen.

Nun kommen sie alle heran – es sind ihrer fünfe –, und der Jude, dem die Trift gehört, kommt auch.

Ansas schenkt jedem etwas von dem Rosenlikör ein, und sie erklären, so was Schönes noch nie im Leben getrunken zu haben.

Und dann singen sie alle zusammen noch einmal das Lied von den Gottestöchtern, von dem Ring, der in die Tiefe fiel, und den zwei Schwänen, die das Wasser getrübt haben sollen.

Zum Abschied reicht Ansas allen die Hand, und die Indre auch. Und der Jude wünscht ihnen »noch hundert Johr«!

Wären's bloß hundert Stunden gewesen, der Ansas hätt' sie brauchen können.

Da die Flasche mit dem Rosenlikör nun einmal hervorgeholt ist, wäre es unklug gewesen, sie wieder zu verstauen. Sie trinken also ab und zu einen Tropfen und werden immer glücklicher.

Noch an mancher Trift kommen sie vorbei und singen mit, was sie nur singen können, aber halten tun sie nicht mehr. Dazu ist der Rosenlikör ihnen zu schade.

Manchmal will auch der Schlaf sie befallen, aber sie wehren sich tapfer. Denn sonst – weiß Gott, auf welcher Sandbank sie dann sitzen blieben!

Nur eins darf der Ansas sich gönnen – nämlich von dem Abschlag hernieder auf die Bodenbretter zu gleiten. So kann er die Indre in seinem linken Arm halten und mit dem rechten das Steuer versehen.

Und die Indre liegt mit dem Kopf auf seiner Brust und denkt selig: »Der Endrik – und die Elske – und der Willus – und nun sind wir alle fünfe wieder eins.«

Mit einemmal – sie wissen nicht wie – ist Ruß da. Sie erkennen es an dem Brionischker Schornstein, der wie ein warnender Finger zu ihnen sagt: »Paßt auf!«

Die Dzimken, die dort mit ihren Triften liegen, sind nun richtig schlafen gegangen. Auch ihr Kesselfeuer brennt nicht mehr. Aber ob die tausendmal stillschweigen, was macht es aus? Von Ruß gibt es ein hübsches Liedchen:

»Zwei Fischer waren,
Zwei schöne Knaben,
Aus Ruß gen Westen
Zum Haff gefahren.«

Das singen sie aus voller Kehle, und um hernach die Kehle anzufeuchten, wollen sie sich noch einen Schluck von dem Rosenlikör genehmigen, aber siehe da – die Flasche ist leer.

Sie lachen furchtbar, und der Ansas wird immer zärtlicher.

»Ach, liebes Ansaschen«, bittet die Indre, »gleich kommt der große Ellenbogen, und dann geht es westwärts, bis dahin muß du hübsch artig sein.«

Ansas hört noch einmal auf sie, und da ist auch schon der blanke Szieszefluß, da wo die Krümmung beginnt. Er holt die Segelleine mehr an und steuert nach links. Es geht zwar schwer, aber es geht doch immer.

Bis nach Windenburg hin, die anderthalb Meilen, läuft der Strom nun so schnurgerade, wie nur die Eisenbahn läuft. Kaum daß man hinter der Mündung der Mole ein wenig auszuweichen braucht.

Bei Windenburg freilich, wo die gefährliche Stelle ist, dort, wo gerade bei Südwind der Wellendrang aus dem breiten, tiefen Haff seitlich stark einsetzt, dort muß man die Sinne doppelt beisammen halten – aber bis dahin ist noch lange, lange – ach, wie lange Zeit!

»Indre, wenn du mir meine Sünden wirklich vergeben hast, dann mußt du's mir auch beweisen.«

»Ansaschen, du mußt aufpassen.«

»Ach was, aufpassen!« Wenn man so lange blind und verhext neben der Besten, der Schönsten, neben einer Gottestochter dahergegangen ist und die Augen sind wieder aufgetan, was heißt da aufpassen?

»Meine Indre!«

» Mein Ansaschen!« – – –

Und nun liegen sie in ruhiger Seligkeit nebeneinander. Der Kahn fährt dahin, als säße die Laime selber am Steuer.

»Ansaschen – aber nicht einschlafen!«

»Ach, wo werd' ich einschlafen.« – – –

»Ansaschen – wer einschläft, den muß der andere wecken.«

»Jawohl – den – muß – der andere wecken.« – – –

»Ansaschen, du schläfst!«

»Wer so was – sagen kann – der schläft – selber.«

»Ansaschen, wach auf!«

»Ich wach'. Wachst du?«

Und so schlafen sie ein.

 

Die Ane Doczys hat keine Ruh in ihrem Bett. Sie weckt also ihren Mann und sagt: »Doczys, steh auf, wir wollen aufs Haff hinausfahren.«

»Warum sollen wir aufs Haff hinausfahren?« fragt der Doczys, sich den Schlaf aus den Augen reibend. »Fischen tu' ich erst morgen.«

»Die Indre hat solche Reden geführt«, sagt die Doczene, »es ist besser, wir fahren ihnen entgegen.«

Da fügt er sich mit Seufzen, zieht sich an und setzt die Segel.

Wie sie aufs Haff hinausfahren, wird es schon Tag, und der Frühnebel liegt so dicht, daß sie keine Handbreit vorauf sehen können.

»Wohin soll ich fahren?« fragt der Doczys.

»Nach Windenburg zu«, bestimmt die Doczene.

Der Südwind wirft ihnen kurze, harte Wellen entgegen, und sie müssen kreuzen.

Da, mit einemmal horcht die Doczene hoch auf.

Eine Stimme ist hilferufend aus dem Nebel gedrungen – eine Frauenstimme.

»Gerade drauf zu!« schreit die Doczene. Aber er muß ja kreuzen.

Und sie kommen schließlich doch näher – ganz nahe kommen sie. Da finden sie die Indre auf dem Wasser liegen, wie die Wellen sie auf und nieder schaukeln.

Wie hat es zugehen können, daß sie nicht ertrunken ist?

Rechts und links von ihrer Brust ragen halb aus dem Wasser zwei Bündel von grünen Binsen, die sind mit einem Bindfaden auf dem Rücken zusammengebunden.

Sie ziehen sie in den Kahn, und sie schreit immerzu: »Rettet den Ansas! Rettet den Ansas!«

Ja – wo ist der Ansas?

Sie weiß von nichts. Zuletzt, als sie wieder hochgekommen ist, da hat sie seine Hände gefühlt, wie er wassertretend die Binsen an ihr befestigte. Und von da an weiß sie nichts mehr von ihm.

Sie rufen und suchen, aber sie finden ihn nicht. Nur den umgeschlagenen Kahn finden sie. An dem hätte er sich wohl halten können, aber er ist ihm sicher davongeschwommen, dieweil er die Binsen an Indres Leib befestigte.

Fünf Stunden lang suchen sie, und die Indre liegt auf den Knien und betet um ein Wunder.

Aber das Wunder ist nicht geschehen. Zwei Tage später lag er oberwärts friedlich am Strande.

 

Neun Monate nach dem Tode des Ansas gebar ihm die Indre einen Sohn. Er wurde nach ihrem Wunsch in der heiligen Taufe Galas, das heißt »Abschluß«, benannt. Doch weil der Name ungebräuchlich ist, hat man ihn meistens nach dem Vater gerufen. Und heute ist er ein ansehnlicher Mann.

Der Endrik hält die väterliche Wirtschaft in gutem Stande, die Elske hat einen wohlhabenden Besitzer geheiratet, und der Willus ist richtig ein Pfarrer geworden. Seine Gemeinde sieht in ihm einen Abgesandten des Herrn, und auch die Gebetsleute halten zu ihm.

Die Indre ist nun eine alte Frau und lebt im Ausgedinge bei dem ältesten Sohn. Wenn sie zur Kirche geht, neigen sich alle vor ihr. Sie weiß, daß sie nun bald im Himmel mit Ansas vereint sein wird, denn Gott ist den Sündern gnädig.

Und also gnädig sei er auch uns!