Adalbert Stifter
Ein Gang durch die Katakomben
Adalbert Stifter

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Adalbert Stifter

Ein Gang durch die Katakomben

Wir sind so gewohnt worden, unsere Voreltern als gute dumme Hanse zu betrachten, daß, wenn von was immer für geistiger Größe die Rede ist, wir sogleich mit den Fortschritten unsrer glorreichen Zeit da sind, worunter jeder die versteht, in der er gelebt hat, und daß, wenn von einer Dummheit die Rede ist, die dort oder da geschehen, wir sogleich schreien: »Dies ist doch unglaublich; so etwas geschieht in dem Jahre Eintausendachthundertzweiundvierzig!« Ich aber frage: »Warum sollte es denn nicht geschehen?« Was wir auch in gewissen Richtungen gewonnen haben, so blieb es doch meistens nur Eigentum einzelner oder weniger – was wir verloren haben, das verloren alle.

Ich will mich deutlicher erklären. Die Wissenschaft, die Industrie, in gewissen Zweigen auch die Kunst (aber weniger) haben erstaunliche Fortschritte gemacht – aber das Gute, ich meine das Menschlich-Gute, was diese Dinge brachten, wie vielen wurde es zuteil? Oder liegt nicht die Masse in eben den Banden des Rohen gefangen wie einst, nur sind diese Bande beweglicher und polierter – und von denen, die sich in den Besitz des menschlich Erworbenen setzten, der Wissenschaft, der Politik, der Kunst, bei wie vielen ist es zuletzt Sitte und Schmuck des Herzens geworden, als ein wirklich Menschliches (Humanes)? Oder tragen sie es nicht als toten Schatz, als bloßes Wissen oder Können in sich, es höchstens zu Nützlichem verwendend, nicht zum Guten?

Ja durch vervielfältigte geistige und leibliche Kommunikationsmittel sind wir feiner, glatter, geschmeidiger geworden, wie Kiesel, die sich aneinander abreiben: aber ist deshalb der Kiesel innerlich weniger hart? Mit Betrübnis und Entsetzen müssen wir erfahren, wenn heute diese Politur, diese, ach, so fälschliche »Bildung« getaufte Politur von der Leidenschaft durchbrochen wird, daß da Feuerflammen herausfahren, wie wir sie kaum in alter oder ältester Zeit gesehen haben – oder gibt an Gräßlichkeit und Ausschweifung die französische Revolution irgendeiner Tatsache der früheren Zeit etwas nach? Oder zeigt die pyrenäische Halbinsel Gewinn an rein Menschlichem? – Und dennoch gewannen wir; denn solche Szenen der Weltgeschichte, werden, gottlob, seltener – aber wann wird jene Zeit kommen, in der ein Krieg ebenso ein Unding der Vernunft sein wird, wie ein Trugschluß schon heute ein logisches Unding ist?

Es ist ein seltsam, furchtbar erhabenes Ding, der Mensch!! und schwindelnd für das Denken des einzelnen ist der Plan seiner Erziehung, die ihm Gott als Geschenk seiner moralischen Freiheit übertragen, daß er sie in Jahrtausenden, vielleicht in Jahrmillionen vollende! – Wie lange, wieviel Billionen Jahrtausende muß dann die Großjährigkeit dauern? Ich sagte oben, daß, was wir verloren haben, alle verloren. In der Glätte und Verflachung unserer Zeit ging alle tiefe Gemütskraft und Glaubenstreue unserer Voreltern unter, was sie auch immer unter uns stellen mag an Wissen und Erfahrung: fromme Kraft stellt sie weit über uns, und diese war allen gemein, sie war Geist der Zeit; denn nur der bringt das Bleibende hervor, was er durch Individuen zwar wirkt, aber er erzeugt selbst die Individuen. Darum baute dieser Sinn einst jene rührend erhabenen Kathedralen und malte jene Bilder, die wir heute bloß bewundern können, aber trotz aller Trefflichkeit unsrer technischen Mittel nicht mehr nachmachen, indes unser Zeitgeist auf das sogenannte Praktische geht, worunter sie meistens nur das Materiell-Nützliche, oft sogar nur das Sinnlich-Wollüstige verstehen; daher wir Eisenbahnen und Fabriken bauen, während sie Dome und Altäre, und wenn es ja heutzutage eine Kirche werden soll, so wird sie wieder sehr nützlich gebaut, oder sie sähe, wie ich es leider in meinem Vaterlande schon erfahren, wenn sie keinen Turm hätte, einem Zinshause ähnlich.

Ja oft nicht einmal, bewundern mehr kann die Zeit jene kräftig schönen Werke der Vorzeit; denn wieviel tausend Wiener werden täglich über den Platz von St. Stephan gehen, ohne von dem Dome desselben etwas anderes zu wissen, als daß er sehr groß ist. Wenn mir jemand den Aberglauben unserer Voreltern einwenden will, so muß ich ihm leider entgegnen, daß er schaue, wie heute der religiöse Indifferentismus der sogenannten gebildeten Klassen furchtbar und widerwärtig neben demselben alten Aberglauben der Massen steht – und zuletzt ist Aberglaube schöner, heiliger, kräftiger als jene sieche Kraftlosigkeit des Indifferentismus, der bei den Worten: Gott, Unsterblichkeit, Ewigkeit nichts denkt und sie nur als Redeformen in dem Munde führt, die er überkommen hat wie andere Worte, bei denen er auch nichts denkt.

Dies ist neben dem so vielen Nützlichen der Buchdruckerei eine Schattenseite derselben, daß, seit sie die Bücher so vervielfältigen, tausend und tausend Menschen aus der Welt gehen, ohne darin einen einzigen Gedanken gehabt zu haben; denn sie lesen sich einen gewissen Vorstellungskreis, eine Art Natur zusammen und sagen ihn so lange sich selber und andern vor, bis sie sterben, und wissen nicht, daß sie selber in der Welt gar nichts gedacht haben; darum hat sogar auch unsere Literatur etwas so Wässeriges und Familienähnliches, während die der Alten so frisch und so unmittelbar ist, trotz der Einfalt und Naivität, die wir heute belächeln.

Solche und ähnliche schwermütige Gedanken hatte ich, als ich eines Tages aus den Katakomben des Stephansturmes wieder an das Licht des Tages trat und schnell durch das frivole Treiben der Gasse nach Hause ging.

In diese Katakomben nun will ich den freundlichen Leser begleiten, daß er ein ernstes Stück Vergangenheit unserer Stadt vor sich sehe, und daß er, wäre er in obigem Indifferentismus befangen, etwa anfange, über Gott, über Weltgeschichte, Ewigkeit, Vergeltung usw. nachzudenken und vielleicht ein anderer zu werden.

Wer immer über die Spinnerin am Kreuz (ein schöner Getreidehügel, über den die Triester Straße führt) oder über einen der Westberge Wiens gegen die Stadt kömmt, der wird die alte ernste große Stephanskirche mitten in dem Häusermeere wie einen Schwerpunkt ruhen sehen und sich dieser Symmetrie erfreuen; aber dies war nicht immer so, sondern bei ihrem Entstehen lag die Kirche sogar außerhalb der Stadt, und wie es eine rührende Sitte unserer Ahnen war, um den Ort, an dem sie sich im Leben Trost und Zuversicht holten, nämlich um die Kirche, auch im Tode zu schlummern, welchen Platz sie mit dem schönen Namen Friedhof belegten: so war es auch um diese Kirche, und manche alten Leute Wiens sagen noch immer statt Stephansplatz Stephansfriedhof, aber es ist kein Friedhof mehr; denn diese Sitte der Altväter ist ebenfalls aus sehr nützlichen Sanitätsrücksichten abgeschafft worden, und heute ragt jede Kirche geradewegs aus dem lustigen Getümmel des Alltagslebens empor und ist fast ein gewöhnliches Haus geworden, so wie sie einst aus den Monumenten des Todes emporstieg und selbst von seinen Schauern umweht war. Oft, wenn ich über diesen Umstand traurig war, dachte ich: wenn sie nur tief genug grüben, so könnten schon die Toten an ihrer Kirche ruhen, und wie wäre es religiös feierlich, wenn jede Kirche, selbst in den Städten, mit einem großen Garten der Toten umgeben wäre, der durch eine Mauer von der leichten Lust der Lebenden getrennt wäre, daß sie ein Gedanke der Ewigkeit anwandeln müßte, wenn sie durch das Gitter einträten.


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