Arthur Schnitzler
Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg
Arthur Schnitzler

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Arthur Schnitzler

Das Schicksal des Freiherrn von Leisenbohg

An einem lauen Maiabend trat Kläre Hell als »Königin der Nacht« zum ersten Male wieder auf. Der Anlaß, der die Sängerin beinahe durch zwei Monate der Oper ferngehalten hatte, war allgemein bekannt. Fürst Richard Bedenbruck war am fünfzehnten März durch einen Sturz vom Pferde verunglückt und nach einem Krankenlager von wenigen Stunden, währenddessen Kläre nicht von seiner Seite gewichen war, in ihren Armen gestorben. Kläres Verzweiflung war so groß gewesen, daß man anfangs für ihr Leben, später für ihren Verstand und bis vor kurzem für ihre Stimme fürchtete. Diese letzte Befürchtung erwies sich so unbegründet als die früheren. Als sie vor dem Publikum erschien, wurde sie freundlich und zuwartend begrüßt; aber schon nach der ersten großen Arie konnten ihre vertrauteren Freunde die Glückwünsche der entfernteren Bekannten entgegennehmen. Auf der vierten Galerie strahlte das rote Kindergesicht des kleinen Fräulein Fanny Ringeiser vor Fröhlichkeit, und die Stammgäste der oberen Ränge lächelten ihrer Kameradin verständnisvoll zu. Sie wußten alle, daß Fanny, obzwar sie nichts weiter war als die Tochter eines Mariahilfer Posamentierers, zu dem engeren Kreise der beliebten Sängerin gehörte, daß sie manchmal bei ihr zur Jause geladen war und den verstorbenen Fürsten insgeheim geliebt hatte. Im Zwischenakte erzählte Fanny ihren Freundinnen und Freunden, daß Kläre durch den Freiherrn von Leisenbohg auf die Idee gebracht worden war, die »Königin der Nacht« zu ihrem ersten Auftreten zu wählen, – in der Erwägung, daß das dunkle Kostüm am ehesten ihrer Stimmung entsprechen würde.

Der Freiherr selbst nahm seinen Orchestersitz ein; Mittelgang, erste Reihe, Ecke, wie immer, und dankte den Bekannten, die ihn grüßten, mit einem liebenswürdigen, aber beinahe schmerzlichen Lächeln. Manche Erinnerungen gingen ihm heute durch den Sinn. Vor zehn Jahren hatte er Kläre kennen gelernt. Damals sorgte er für die künstlerische Ausbildung einer schlanken jungen Dame mit rotem Haar und wohnte einem Theaterabend in der Gesangsschule Eisenstein bei, an dem sein Schützling als Mignon zum ersten Male öffentlich auftrat. An demselben Abend sah und hörte er Kläre, die in der gleichen Szene die Philine sang. Er war damals fünfundzwanzig Jahre alt, unabhängig und rücksichtslos. Er kümmerte sich um Mignon nicht mehr, ließ sich nach der Vorstellung durch Frau Natalie Eisenstein Philinen vorstellen und erklärte ihr, daß er ihr sein Herz, sein Vermögen und seine Beziehungen zu der Intendanz zur Verfügung stelle. Kläre wohnte damals bei ihrer Mutter, der Witwe eines höheren Postbeamten, und war in einen jungen Studenten der Medizin verliebt, mit dem sie manchmal auf seinem Zimmer in der Alservorstadt Tee trank und plauderte. Sie lehnte die stürmischen Werbungen des Freiherrn ab, wurde aber, durch Leisenbohgs Huldigungen zu mildern Stimmungen geneigt, die Geliebte des Mediziners. Der Freiherr, dem sie kein Geheimnis daraus machte, wandte sich wieder seinem roten Schützling zu, pflegte aber die Bekanntschaft mit Kläre weiter. Zu allen Festtagen, die irgend einen Anlaß boten, sandte er ihr Blumen und Bonbons, und zuweilen erschien er zu einem Anstandsbesuch in dem Hause der Postbeamtenswitwe.

 

Im Herbst trat Kläre ihr erstes Engagement in Detmold an. Der Freiherr von Leisenbohg – damals noch Ministerialbeamter – benutzte den ersten Weihnachtsurlaub, um Kläre in ihrem neuen Aufenthaltsorte zu besuchen. Er wußte, daß der Mediziner Arzt geworden war und im September geheiratet hatte, und wiegte sich in neuer Hoffnung. Aber Kläre, aufrichtig wie immer, teilte dem Freiherrn gleich nach seinem Eintreffen mit, daß sie indessen zu dem Tenor des Hoftheaters zärtliche Beziehungen angeknüpft hätte, und so geschah es, daß Leisenbohg aus Detmold keine andere Erinnerung mitnehmen durfte als die an eine platonische Spazierfahrt durch das Stadtwäldchen und an ein Souper im Theaterrestaurant in Gesellschaft einiger Kollegen und Kolleginnen. Trotzdem wiederholte er die Reise nach Detmold einige Male, freute sich in kunstsinniger Anhänglichkeit an den beträchtlichen Fortschritten Klärens und hoffte im übrigen auf die nächste Saison, für die der Tenor bereits kontraktlich nach Hamburg verpflichtet war. Aber auch in diesem Jahre wurde er enttäuscht, da Kläre sich genötigt sah, den Werbungen eines Großkaufmanns holländischer Abstammung namens Louis Verhajen nachzugeben.

Als Kläre in der dritten Saison in eine Stellung an das Dresdner Hoftheater berufen wurde, gab der Freiherr trotz seiner Jugend eine vielversprechende Staatskarriere auf und übersiedelte nach Dresden. Nun verbrachte er jeden Abend mit Kläre und ihrer Mutter, die sich allen Verhältnissen ihrer Tochter gegenüber eine schöne Ahnungslosigkeit zu bewahren gewußt hatte, und hoffte von neuem. Leider hatte der Holländer die unangenehme Gewohnheit, in jedem Brief sein Kommen für den nächsten Tag anzukündigen, der Geliebten anzudeuten, daß sie von einem Heer von Spionen umgeben sei und ihr im übrigen äußerst schmerzhafte Todesarten anzudrohen für den Fall, daß sie ihm die Treue nicht bewahrt haben sollte. Da er aber nie kam und Kläre allmählich in einen Zustand höchster Nervosität geriet, beschloß Leisenbohg, der Sache um jeden Preis ein Ende zu machen, und reiste zum Zwecke persönlicher Verhandlungen nach Detmold ab. Zu seinem Erstaunen erklärte ihm der Holländer, daß er seine Liebes- und Drohbriefe an Kläre nur aus Ritterlichkeit geschrieben hätte und daß ihm eigentlich nichts willkommener wäre, als jeder weiteren Verpflichtung ledig zu sein. Glückselig reiste Leisenbohg nach Dresden zurück und teilte Kläre den angenehmen Ausgang der Unterredung mit. Sie dankte ihm herzlich, wehrte aber schon den ersten Versuch weiterer Zärtlichkeit mit einer Bestimmtheit ab, die den Freiherrn befremdete. Nach einigen kurzen und dringenden Fragen gestand sie ihm endlich, daß während seiner Abwesenheit kein Geringerer als Prinz Kajetan eine heftige Leidenschaft zu ihr gefaßt und geschworen hätte, sich ein Leids anzutun, wenn er nicht erhört würde. Es war nur natürlich, daß sie ihm schließlich hatte nachgeben müssen, um nicht das Herrscherhaus und das Land in namenlose Trauer zu versetzen.

Mit ziemlich gebrochenem Herzen verließ Leisenbohg die Stadt und kehrte nach Wien zurück. Hier begann er, seine Beziehungen spielen zu lassen, und nicht zum geringsten seinen unausgesetzten Bemühungen war es zu danken, daß Kläre schon für das nächste Jahr einen Antrag an die Wiener Oper erhielt. Nach einem erfolgreichen Gastspiel trat sie im Oktober ihr Engagement an, und der herrliche Blumenkorb des Freiherrn, den sie am Abend ihres ersten Auftretens in der Garderobe fand, schien Bitte und Hoffnung zugleich auszusprechen. Aber der begeisterte Spender, der sie nach der Vorstellung erwartete, mußte erfahren, daß er wieder zu spät gekommen war. Der blonde Korrepetitor – auch als Liederkomponist nicht ohne Bedeutung –, mit dem sie in den letzten Wochen studiert hatte, war von ihr in Rechte eingesetzt worden, die sie um nichts in der Welt hätte verletzen wollen.

Seither waren sieben Jahre verstrichen. Dem Korrepetitor war Herr Klemens von Rhodewyl gefolgt, der kühne Herrenreiter; Herrn von Rhodewyl der Kapellmeister Vincenz Klaudi, der manchmal die Opern, die er dirigierte, so laut mitsang, daß man die Sänger nicht hörte; dem Kapellmeister der Graf von Alban-Rattony, ein Mann, der im Kartenspiel seine ungarischen Güter verspielt und dafür später ein Schloß in Niederösterreich gewonnen hatte; dem Grafen Herr Edgar Wilhelm, Verfasser von Ballettexten, deren Komposition er hoch bezahlte, von Tragödien, für deren Aufführung er das Jantschtheater mietete, und von Gedichten, die im dümmsten Adelsblatt der Residenz mit den schönsten Lettern gedruckt wurden; Herrn Edgar Wilhelm ein Herr, namens Amandus Meier, der nichts war als neunzehn Jahre alt und sehr hübsch – und nichts besaß als einen Foxterrier, der auf dem Kopf stehen konnte; Herrn Meier der eleganteste Herr der Monarchie: der Fürst Richard Bedenbruck.

Kläre hatte ihre Beziehungen nie als Geheimnis behandelt. Sie führte jederzeit ein einfaches bürgerliches Haus, in dem nur die Hausherrn zuweilen wechselten. Ihre Beliebtheit im Publikum war außerordentlich. In höheren Kreisen berührte es angenehm, daß sie jeden Sonntag zur Messe ging, zweimal monatlich beichtete, ein vom Papst geweihtes Bildnis der Madonna als Amulett am Busen trug und sich niemals schlafen legte, ohne ihr Gebet zu verrichten. Selten gab es ein Wohltätigkeitsfest, bei dem sie nicht als Verkäuferin beteiligt war, und sowohl Aristokratinnen als Damen der jüdischen Finanzkreise fühlten sich beglückt, wenn sie unter dem gleichen Zelt wie Kläre ihre Waren ausbieten durften. Jugendliche Enthusiasten und Enthusiastinnen, die bei der Bühnentür ihrer harrten, grüßte sie mit einem berückenden Lächeln. Blumen, die ihr gespendet worden, verteilte sie unter die geduldige Schar, und einmal, als die Blumen in der Garderobe zurückgeblieben waren, sagte sie in dem erquickenden Wienerisch, das ihr so gut zu Gesicht stand: »Meiner Seel', jetzt hab' ich den Salat oben in meinem Kammerl vergessen! Kommt's halt morgen nachmittag zu mir, Kinder, wer noch was haben will.« Dann stieg sie in den Wagen, aus dem Fenster steckte sie den Kopf hervor, und im Davonfahren rief sie: »Kriegt's auch ein' Kaffee!«

 

Zu den wenigen, die den Mut gefunden hatten, dieser Einladung nachzukommen, hatte Fanny Ringeiser gehört. Kläre ließ sich mit ihr in eine scherzhafte Unterhaltung ein, erkundigte sich leutselig wie eine Erzherzogin nach ihren Familienverhältnissen und fand an dem Geplauder des frischen und begeisterten Mädchens soviel Gefallen, daß sie es aufforderte, bald wiederzukommen. Fanny folgte der Einladung, und bald gelang es ihr, im Hause der Künstlerin eine geachtete Stellung einzunehmen, die sie besonders dadurch zu erhalten wußte, daß sie bei allem Vertrauen, das ihr Kläre entgegenbrachte, sich ihr gegenüber nie eine wirkliche Vertraulichkeit erlaubte. Im Laufe der Jahre hatte Fanny eine ganze Reihe von Heiratsanträgen erhalten, meist aus den Kreisen der jungen Mariahilfer Fabrikantensöhne, mit denen sie auf Bällen zu tanzen pflegte. Aber sie wies alle zurück, da sie sich mit unwiderruflicher Regelmäßigkeit in den jeweiligen Liebhaber Klärens verliebte.

Den Fürsten Bedenbruck hatte Kläre durch mehr als drei Jahre ebenso treu, aber mit tieferer Leidenschaft geliebt als seine Vorgänger, und Leisenbohg, der trotz seiner zahlreichen Enttäuschungen die Hoffnung niemals aufgegeben, hatte ernstlich zu fürchten begonnen, daß ihm das seit zehn Jahren ersehnte Glück niemals blühen würde. Immer, wenn er einen in ihrer Gunst wanken sah, hatte er seiner Liebsten den Abschied gegeben, um für alle Fälle und in jedem Augenblick bereit zu sein. So hielt er es auch nach dem plötzlichen Tode des Fürsten Richard; aber zum ersten Male mehr aus Gewohnheit als aus Überzeugung. Denn der Schmerz Klärens schien so grenzenlos, daß jeder glauben mußte, sie hätte nun für alle Zeit mit den Freuden des Lebens abgeschlossen. Jeden Tag fuhr sie auf den Friedhof hinaus und legte Blumen auf das Grab des Dahingeschiedenen. Sie ließ ihre hellen Kleider auf den Boden schaffen und versperrte ihren Schmuck in der unzugänglichsten Lade ihres Schreibtisches. Es bedurfte ernstlichen Zuredens, um sie von der Idee abzubringen, die Bühne für immer zu verlassen.

Nach dem ersten Wiederauftreten, das so glänzend verlaufen war, nahm ihr Leben wenigstens äußerlich den gewohnten Gang. Der frühere Kreis entfernterer Freunde sammelte sich wieder. Der Musikkritiker Bernhard Feuerstein erschien, je nach dem Menü des vergangenen Mittags, mit Spinat- oder Paradeisflecken auf dem Jackett und schimpfte zu Klärens unverhohlenem Vergnügen über Kolleginnen, Kollegen und Direktor. Von den beiden Vettern des Fürsten Richard, den Bedenbrucks aus der anderen Linie, Lucius und Christian, ließ sie sich wie früher in der unverbindlichsten und hochachtungsvollsten Weise den Hof machen; ein Herr von der französischen Botschaft und ein junger tschechischer Klaviervirtuose wurden bei ihr eingeführt, und am zehnten Juni fuhr sie zum ersten Male wieder zum Rennen. Aber, wie sich Fürst Lucius ausdrückte, der nicht ohne poetische Begabung war: Nur ihre Seele war erwacht, ihr Herz blieb nach wie vor in Schlummer versunken. Ja, wenn einer von ihren jüngeren oder älteren Freunden die leiseste Andeutung wagte, als gäbe es irgend etwas wie Zärtlichkeit oder Leidenschaft auf der Welt, so schwand jedes Lächeln von ihrem Antlitz, ihre Augen blickten düster vor sich hin, und zuweilen erhob sie die Hand zu einer seltsam abwehrenden Bewegung, die hinsichtlich aller Menschen und auf ewige Zeiten zu gelten schien.

Da begab es sich in der zweiten Hälfte des Juni, daß ein Sänger aus dem Norden namens Sigurd Ölse in der Oper den Tristan sang. Seine Stimme war hell und kräftig, wenn auch nicht durchaus edel, seine Gestalt beinahe übermenschlich groß, doch mit einer Neigung zur Fülle, sein Antlitz entbehrte im Zustand der Ruhe wohl manchmal des besonderen Ausdrucks; aber sobald er sang, leuchteten seine stahlgrauen Augen wie von einer geheimnisvollen innern Glut, und durch Stimme und Blick schien er alle, besonders die Frauen, wie in einem Taumel zu sich hinzureißen.

Kläre saß mit ihren nicht beschäftigten Kollegen und Kolleginnen in der Theaterloge. Sie als einzige schien ungerührt zu bleiben. Am nächsten Vormittage wurde ihr Sigurd Ölse in der Direktionskanzlei vorgestellt. Sie sagte ihm einige freundliche, aber beinah kühle Worte über die gestrige Leistung. Am selben Nachmittag machte er ihr einen Besuch, ohne daß sie ihn dazu aufgefordert hätte. Baron Leisenbohg und Fanny Ringeiser waren anwesend. Sigurd trank mit ihnen Tee. Er sprach von seinen Eltern, die in einem kleinen norwegischen Städtchen als Fischerleute lebten; von der wunderbaren Entdeckung seines Gesangstalentes durch einen reisenden Engländer, der auf weißer Jacht in dem entlegenen Fjord gelandet war; von seiner Frau, einer Italienerin, die während der Hochzeitsreise auf dem Atlantischen Ozean gestorben und ins Meer gesenkt worden war. Nachdem er sich verabschiedet hatte, blieben die anderen lange in Schweigen versunken. Fanny sah angelegentlich in ihre leere Teetasse, Kläre hatte sich zum Klavier gesetzt und stützte die Arme auf den geschlossenen Deckel, der Freiherr versenkte sich stumm und angstvoll in die Frage, warum Kläre während der Erzählung von Sigurds Hochzeitsreise jene seltsame Handbewegung unterlassen, mit der sie seit dem Tode des Fürsten alle Andeutungen von der weiteren Existenz leidenschaftlicher oder zärtlicher Beziehungen auf Erden abgewehrt hatte.

Als fernere Gastspielrollen sang Sigurd Ölse den Siegfried und den Lohengrin. Jedesmal saß Kläre ungerührt in der Loge. Aber der Sänger, der sonst mit niemandem verkehrte als mit dem norwegischen Gesandten, fand sich jeden Nachmittag bei Kläre ein, selten ohne Fräulein Fanny Ringeiser, niemals ohne den Freiherrn von Leisenbohg dort anzutreffen.

Am siebenundzwanzigsten Juni trat er als Tristan zum letzten Male auf. Ungerührt saß Kläre in der Theaterloge. Am Morgen darauf fuhr sie mit Fanny auf den Friedhof und legte einen riesigen Kranz auf das Grab des Fürsten nieder. Am Abend dieses Tages gab sie ein Fest zu Ehren des Sängers, der tags darauf Wien verlassen sollte.

Der Freundeskreis war vollzählig versammelt. Keinem blieb die Leidenschaft verborgen, von der Sigurd für Kläre erfaßt war. Wie gewöhnlich sprach er ziemlich viel und erregt. Unter anderem erzählte er, daß ihm während der Herreise auf dem Schiff von einer an einen russischen Großfürsten verheirateten Araberin aus den Linien seiner Hand für die nächste Zeit die verhängnisvollste Epoche seines Lebens prophezeit worden war. Er glaubte fest an diese Prophezeiung, wie überhaupt der Aberglaube bei ihm mehr zu sein schien als eine Art, sich interessant zu machen. Er sprach auch von der übrigens allgemein bekannten Tatsache, daß er im vorigen Jahre gleich nach der Landung in New York, wo er ein Gastspiel absolvieren sollte, noch am selben Tag, ja in derselben Stunde trotz des hohen Pönales ein Schiff bestiegen, das ihn nach Europa zurückbrachte, nur weil ihm auf der Landungsbrücke eine schwarze Katze zwischen die Beine gelaufen war. Er hatte freilich allen Grund, an solche geheimnisvolle Beziehungen zwischen unbegreiflichen Zeichen und Menschenschicksalen zu glauben. Eines Abends im Coventgarden-Theater zu London, da er vor dem Auftreten versäumt hatte, eine gewisse, von seiner Großmutter überkommene Beschwörungsformel zu murmeln, hatte ihm plötzlich die Stimme versagt. Eines Nachts im Traum war ihm ein geflügelter Genius in Rosatrikots erschienen, der ihm den Tod seines Lieblingsraseurs verkündet hatte, und tatsächlich fand man den Bedauernswerten am Morgen darauf erhängt auf. Überdies trug er stets einen kurzen, aber inhaltsreichen Brief bei sich, der ihm in einer spiritistischen Sitzung in Brüssel von dem Geist der verstorbenen Sängerin Cornelia Lujan überreicht worden war und der in fließendem Portugiesisch die Weissagung enthielt, daß er bestimmt sei, der größte Sänger der alten und neuen Welt zu werden. Alle diese Dinge erzählte er heute; und als der spiritistische, auf Rosapapier der Firma Glienwood geschriebene Brief von Hand zu Hand ging, war die Bewegung in der Gesellschaft tief und allgemein. Kläre selbst aber verzog kaum eine Miene und nickte nur manchmal gleichgültig mit dem Kopf. Trotzdem erreichte die Unruhe Leisenbohgs einen hohen Grad. Für sein geschärftes Auge sprachen sich die Anzeichen der drohenden Gefahr immer deutlicher aus. Vor allem faßte Sigurd, wie alle früheren Liebhaber Klärens, während des Soupers eine auffallende Sympathie zu ihm, lud ihn auf seine Besitzung am Fjord zu Molde und trug ihm endlich das Du an. Ferner zitterte Fanny Ringeiser am ganzen Leibe, wenn Sigurd das Wort an sie richtete, wurde abwechselnd blaß und rot, wenn er sie mit seinen großen stahlgrauen Augen ansah, und als er von seiner bevorstehenden Abreise sprach, fing sie laut zu weinen an. Aber Kläre blieb auch jetzt ruhig und ernst. Sie erwiderte die sengenden Blicke Sigurds kaum, sie sprach zu ihm nicht lebhafter als zu den anderen, und als er ihr endlich die Hand küßte und dann zu ihr aufsah mit Augen, die zu bitten, zu versprechen, zu verzweifeln schienen, blieben die ihren verschleiert und ihre Züge regungslos. All das beobachtete Leisenbohg nur mit Mißtrauen und Angst. Aber als das Fest zu Ende ging und sich alle empfahlen, erlebte der Freiherr etwas Unerwartetes. Er als letzter reichte Kläre die Hand zum Abschied wie die anderen, und wollte sich entfernen. Sie aber hielt seine Hand fest und flüsterte ihm zu: »Kommen Sie wieder.« Er glaubte, nicht recht gehört zu haben. Doch noch einmal drückte sie seine Hand und, die Lippen ganz nah an seinem Ohr, wiederholte sie: »Kommen Sie wieder, in einer Stunde erwarte ich Sie.«

Taumelnd beinahe ging er mit den anderen fort. Mit Fanny begleitete er Sigurd zum Hotel, und wie aus weiter Ferne hörte er ihm zu von Kläre schwärmen. Dann führte er Fanny Ringeiser durch die stillen Straßen in der linden Nachtkühle nach Mariahilf, und wie hinter einem Nebel sah er über ihre roten Kinderwangen dumme Tränen rinnen. Dann setzte er sich in einen Wagen und fuhr vor Klärens Haus. Er sah Licht durch die Vorhänge ihres Schlafzimmers schimmern; er sah ihren Schatten vorübergleiten, ihr Kopf erschien in der Spalte neben dem Vorhang und nickte ihm zu. Er hatte nicht geträumt, sie wartete seiner.

 

Am nächsten Morgen machte Freiherr von Leisenbohg einen Spazierritt in den Prater. Er fühlte sich glücklich und jung. In der späten Erfüllung seiner Sehnsucht schien ihm ein tieferer Sinn zu liegen. Was er heute nacht erlebt hatte, war die wunderbarste Überraschung gewesen – und doch wieder nichts als Steigerung und notwendiger Abschluß seiner bisherigen Beziehungen zu Kläre. Er fühlte jetzt, daß es nicht anders hatte kommen können, und machte Pläne für die nächste und fernere Zukunft. »Wie lange wird sie noch bei der Bühne bleiben?« dachte er... »Vielleicht vier, fünf Jahre. Dann, aber auch nicht früher, werde ich mich mit ihr vermählen. Wir werden zusammen auf dem Lande wohnen, ganz nah von Wien; vielleicht in St. Veit oder in Lainz. Dort werde ich ein kleines Haus kaufen oder nach ihrem Geschmacke bauen lassen. Wir werden ziemlich zurückgezogen leben, aber oft große Reisen unternehmen... nach Spanien, Ägypten, Indien...« – So träumte er vor sich hin, während er sein Pferd über die Wiesen am Heustadl rascher laufen ließ. Dann trabte er wieder in die Hauptallee und beim Praterstern setzte er sich in seinen Wagen. Er ließ bei der Fossatti halten und sandte an Kläre ein Bukett von herrlichen dunklen Rosen. Er frühstückte in seiner Wohnung am Schwarzenbergplatz allein wie gewöhnlich, und nach Tisch legte er sich auf den Diwan. Er war von heftiger Sehnsucht nach Kläre erfüllt. Was hatten alle die anderen Frauen für ihn zu bedeuten gehabt?... Sie waren ihm Zerstreuung gewesen – nichts weiter. Und er ahnte den Tag voraus, da ihm auch Kläre sagen würde: Was waren mir alle anderen? – Du bist der einzige und erste, den ich je geliebt habe... Und während er auf dem Diwan lag, mit geschlossenen Augen, ließ er die ganze Reihe an sich vorübergleiten... Gewiß; sie hatte keinen geliebt vor ihm, und ihn vielleicht immer und in jedem!...

Der Freiherr kleidete sich an, und dann ging er langsam, wie um sich ein paar Sekunden länger auf das erste Wiedersehen freuen zu dürfen, den wohlbekannten Weg ihrem Hause zu. Es gab wohl viel Spaziergänger auf dem Ring, aber man konnte doch merken, daß die Saison zu Ende ging. Und Leisenbohg freute sich, daß der Sommer da war, daß er mit Kläre zusammen reisen, mit ihr das Meer oder die Berge sehen würde, und er mußte sich zusammennehmen, um nicht vor Entzücken laut aufzujubeln.

Er stand vor ihrem Hause und sah zu ihren Fenstern auf. Das Licht der Nachmittagssonne strahlte von ihnen wider und blendete ihn beinahe. Er schritt die zwei Treppen hinauf zu ihrer Haustüre und klingelte. Man öffnete nicht. Er klingelte noch einmal. Man öffnete nicht. Jetzt bemerkte Leisenbohg, daß ein Vorhängeschloß an der Türe angebracht war. – Was sollte das bedeuten? War er fehlgegangen?... Sie hatte zwar kein Täfelchen an der Türe, aber gegenüber las er wie gewöhnlich: »Oberstleutnant von Jeleskowits...« Kein Zweifel: er stand vor ihrer Wohnung, und ihre Wohnung war versperrt... Er eilte die Treppen hinunter, riß die Türe zur Hausmeisterwohnung auf. Die Hausmeisterin saß in dem halbdunklen Raum auf dem Bett, ein Kind guckte durch das kleine Souterrainfenster auf die Straße hinaus, das andere blies auf einem Kamm eine unbegreifliche Melodie. »Ist Fräulein Hell nicht zu Hause?« fragte der Freiherr. Die Frau stand auf »Nein, Herr Baron, das Fräulein Hell ist abgereist...«

»Wie?« schrie der Freiherr auf. – »Ja, richtig«, setzte er gleich hinzu... »um drei Uhr, nicht wahr?«

»Nein, Herr Baron, um acht in der Früh ist das Fräulein abgereist.«

»Und wohin?... Ich meine, ist sie direkt nach –« er sagte es aufs Geratewohl: »ist sie direkt nach Dresden gefahren?«

»Nein, Herr Baron; sie hat keine Adresse dagelassen. Sie hat g'sagt, sie wird schon schreiben, wo sie is.«

»So – ja... ja – so... natürlich... Danke sehr.« Er wandte sich fort und trat wieder auf die Straße. Unwillkürlich blickte er nach dem Haus zurück. Wie anders strahlte die Abendsonne von den Fenstern wider als vorher! Welche dumpfe, traurige Sommerabendschwüle lag über der Stadt. Kläre war fort?!... Warum?... Sie war vor ihm geflohen?... Was sollte das bedeuten?... Er dachte zuerst daran, in die Oper zu fahren. Aber es fiel ihm ein, daß die Ferien schon übermorgen anfingen und daß Kläre in den letzten zwei Tagen nicht mehr beschäftigt war.

Er fuhr also in die Mariahilferstraße sechsundsiebzig, wo die Ringeiser wohnten. Eine alte Köchin öffnete und betrachtete den eleganten Besucher mit einigem Mißtrauen. Er ließ Frau Ringeiser herausrufen. »Ist Fräulein Fanny zu Hause?« fragte er in einer Erregung, die er nicht mehr bemeistern konnte.

»Wie meinen?« fragte Frau Ringeiser scharf.

Der Herr stellte sich vor.

»Ah, so«, sagte Frau Ringeiser. »Wollen sich der Herr Baron nicht weiterbemühen?«

Er blieb im Vorzimmer stehen und fragte nochmals: »Ist Fräulein Fanny nicht zu Hause?«

»Spazieren der Herr Baron doch weiter.« Leisenbohg mußte ihr folgen und befand sich in einem niedern, halbdunkeln Zimmer mit blausamtenen Möbeln und gleichfarbigen Ripsvorhängen an den Fenstern. »Nein«, sagte Frau Ringeiser, »die Fanny ist nicht zu Haus. Fräulein Hell hat sie ja mit auf den Urlaub genommen.«

»Wohin?« fragte der Freiherr und starrte auf eine Photographie Klärens, die in einem schmalen Goldrahmen auf dem Klavier stand.

»Wohin – das weiß ich nicht«, sagte Frau Ringeiser. »Um acht in der Früh war das Fräulein Hell selber da und hat mich gebeten, daß ich ihr die Fanny mitgeb'. Na, und sie hat so schön gebeten – ich hab nicht nein sagen können.«

»Aber wohin... wohin?« fragte Leisenbohg dringend.

»Ja, das könnt' ich nicht sagen. Die Fanny telegraphiert mir, sobald das Fräulein Hell sich entschlossen hat, wo sie bleiben will. Vielleicht schon morgen oder übermorgen.«

»So«, sagte Leisenbohg und ließ sich auf einen kleinen Rohrsessel vor dem Klavier niedersinken. Er schwieg ein paar Sekunden, dann stand er plötzlich auf, reichte Frau Ringeiser die Hand, bat um Entschuldigung wegen der verursachten Störung und ging langsam die dunkle Treppe des alten Hauses hinunter.

Er schüttelte den Kopf. Sie war sehr vorsichtig gewesen – wahrhaftig!... Vorsichtiger als notwendig... Daß er nicht zudringlich war, hatte sie wohl wissen können.

»Wohin fahren wir denn, Herr Baron?« fragte der Kutscher, und Leisenbohg merkte, daß er schon eine Weile im offenen Wagen gesessen war und vor sich hingestarrt hatte. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, antwortete er: »Ins Hotel Bristol.«

Sigurd Ölse war noch nicht abgereist. Er ließ den Freiherrn auf sein Zimmer bitten, empfing ihn mit Begeisterung und bat ihn, den letzten Abend seines Wiener Aufenthaltes mit ihm zu verbringen. Leisenbohg war schon von dem Umstand ergriffen gewesen, daß Sigurd Ölse überhaupt noch in Wien war, seine Liebenswürdigkeit aber rührte ihn geradezu zu Tränen. Sigurd begann sofort, von Kläre zu sprechen. Er bat Leisenbohg, ihm von ihr zu erzählen, so viel er nur konnte, denn er wußte ja, daß in dem Freiherrn ihr ältester und treuester Freund vor ihm stand. Und Leisenbohg setzte sich auf den Koffer und sprach von Kläre. Es tat ihm wohl, von ihr reden zu können. – Er erzählte dem Sänger beinah alles – mit Ausnahme derjenigen Dinge, die er ihm als Kavalier verschweigen zu müssen glaubte. Sigurd lauschte und schien verzückt.

Beim Souper lud der Sänger seinen Freund ein, noch heute abend Wien mit ihm zu verlassen und ihn auf seine Besitzung nach Molde zu begleiten. Der Freiherr fühlte sich wunderbar beruhigt. Er lehnte für heute ab und versprach Ölse, ihn im Laufe des Sommers zu besuchen.

Sie fuhren zusammen zur Bahn. »Du wirst mich vielleicht für einen Narren halten«, sagte Sigurd, »aber ich will noch einmal an ihren Fenstern vorbei.« Leisenbohg sah ihn von der Seite an. War dies vielleicht ein Versuch, ihn hinters Licht zu führen? Oder war es der letzte Beweis für die Unverdächtigkeit des Sängers?... Vor Klärens Haus angelangt, warf Sigurd einen Kuß nach den verschlossenen Fenstern. Dann sagte er: »Grüße sie noch einmal von mir.«

Leisenbohg nickte: »Ich will es ihr bestellen, wenn sie wiederkommt.«

Sigurd sah ihn betroffen an.

»Sie ist nämlich schon fort«, setzte Leisenbohg hinzu. »Heute früh ist sie abgereist – ohne Abschied... wie es so ihre Art ist«, log er dazu.

»Abgereist«, wiederholte Sigurd und versank in Sinnen. Dann schwiegen sie beide.

Vor Abfahrt des Zuges umarmten sie sich wie alte Freunde.

Der Freiherr weinte nachts in seinem Bett, wie es ihm seit seinen Kinderjahren nicht mehr geschehen war. Die eine Stunde der Lust, die er mit Kläre verlebt hatte, schien ihm wie von dunkeln Schauern umweht. Es war ihm, als hätten ihre Augen in der gestrigen Nacht wie im Wahnsinn geglüht. Nun begriff er alles. Zu früh war er ihrem Ruf gefolgt. Noch hatte der Schatten des Fürsten Bedenbruck Gewalt über sie, und Leisenbohg fühlte, daß er Kläre nur besessen hatte, um sie auf immer zu verlieren.

 

Ein paar Tage trieb er sich in Wien herum, ohne zu wissen, was er mit den Tagen und Nächten anfangen sollte; alles, womit er früher seine Zeit hingebracht hatte – Zeitunglesen, Whistspielen, Spazierenreiten –, war ihm vollkommen gleichgültig. Er fühlte, wie sein ganzes Dasein nur von Kläre den Sinn erhalten, ja daß selbst seine Verhältnisse zu anderen Frauen nur von dem Abglanze seiner Leidenschaft für Kläre gelebt hatten. Über der Stadt lag es wie ein ewiger grauer Dunst; die Leute, mit denen er sprach, hatten verschleierte Stimmen und starrten ihn merkwürdig, ja verräterisch an. Eines Abends fuhr er zum Bahnhof und wie mechanisch nahm er sich eine Karte nach Ischl. Dort traf er Bekannte, die sich harmlos nach Kläre erkundigten, er antwortete gereizt und unhöflich und mußte sich mit einem Herrn schlagen, für den er sich nicht im geringsten interessierte. Er trat ohne Erregung an, hörte die Kugel an seinem Ohr vorbeipfeifen, schoß in die Luft und verließ Ischl eine halbe Stunde nach dem Duell. Er reiste nach Tirol, nach dem Engadin, nach dem Berner Oberland, nach dem Genfersee, ruderte, überschritt Pässe, bestieg Berge, schlief einmal in einer Sennhütte und wußte im übrigen an jedem Tag vom vorigen so wenig wie vom nächsten.

Eines Tages erhielt er von Wien aus ein Telegramm nachgesandt. Mit fiebernden Fingern öffnete er es. Er las: »Wenn du mein Freund bist, so halte dein Wort und eile zu mir; denn ich benötige eines Freundes. Sigurd Ölse.« Leisenbohg zweifelte keinen Augenblick, daß der Inhalt dieses Telegramms in irgendeinem Zusammenhang mit Kläre stehen müsse. Er packte so rasch als möglich ein und verließ Aix, wo er sich eben befand, mit der nächsten Gelegenheit. Ohne Unterbrechung reiste er über München nach Hamburg und nahm das Schiff, das ihn über Stavanger nach Molde führte, wo er an einem hellen Sommerabend ankam. Die Reise war ihm endlos erschienen. Von allen Reizen der Landschaft war seine Seele unberührt geblieben. Auch war es ihm in der letzten Zeit nicht mehr gelungen, sich an Klärens Gesang oder auch nur an ihre Züge zu erinnern. Jahrelang, jahrzehntelang glaubte er von Wien fort zu sein. Aber als er Sigurd in weißem Flanellanzug mit weißer Kappe am Ufer stehen sah, war ihm, als hätte er ihn gestern abend zum letzten Male gesehen. Und so zerwühlt er war, er erwiderte lächelnd vom Deck aus den Willkommgruß Sigurds und schritt in guter Haltung die Schiffstreppe hinab.

»Ich danke dir tausendmal, daß du meinem Ruf gefolgt bist«, sagte Sigurd. Und einfach setzte er hinzu: »Mit mir ist es aus.«

Der Freiherr betrachtete ihn. Sigurd sah sehr blaß aus, die Haare an seinen Schläfen waren auffallend grau geworden. Auf dem Arm trug er einen grünen mattglänzenden Plaid.

»Was gibt's? Was ist geschehen?« fragte Leisenbohg mit einem starren Lächeln.

»Du sollst alles erfahren«, sagte Sigurd Ölse. Dem Freiherrn fiel es auf, daß Sigurds Stimme weniger voll klang als früher. – Sie fuhren auf einem kleinen schmalen Wagen durch die liebliche Allee längs des blauen Meeres hin. Beide schwiegen. Leisenbohg wagte nicht zu fragen. Seine Blicke starrten aufs Wasser, das sich kaum bewegte. Er kam auf die sonderbare, aber wie sich herausstellte, undurchführbare Idee, die Wellen zu zählen; dann schaute er in die Luft, und ihm war, als tropften die Sterne langsam herunter. Endlich fiel ihm auch ein, daß eine Sängerin existierte, Kläre Hell mit Namen, die sich irgendwo in der weiten Welt umhertrieb, – aber grade das war ziemlich unwichtig. Nun kam ein Ruck, und der Wagen stand vor einem einfachen weißen Hause still, das ganz im Grünen lag. Auf einer Veranda mit dem Blick aufs Meer speisten sie zu Abend. Ein Diener, mit einem strengen und in den Momenten, da er den Wein einschenkte, geradezu drohenden Gesicht, bediente. Die helle Nordnacht ruhte über den Fernen.

»Nun?« fragte Leisenbohg, über den es mit einem Male wie eine Flut von Ungeduld hinstürzte.

»Ich bin ein verlorener Mensch«, sagte Sigurd Ölse und schaute vor sich hin.

»Wie meinst du das?« fragte Leisenbohg tonlos. »Und was kann ich für dich tun?« setzte er mechanisch hinzu.

»Nicht viel. Ich weiß noch nicht.« Und er blickte über Tischdecke, Geländer, Vorgarten, Gitter, Straße und Meer ins Weite.

Leisenbohg war innerlich starr... Allerlei Ideen zugleich durchzuckten ihn... Was mochte geschehen sein?... Kläre war tot – ? Sigurd hatte sie ermordet – ?... Ins Meer geworfen – ? Oder Sigurd war tot – ? Doch nein, das war unmöglich der saß ja da vor ihm. Warum aber sprach er nicht?... Und plötzlich, von einer ungeheuren Angst durchjagt, stieß Leisenbohg hervor: »Wo ist Kläre?«

Da wandte sich der Sänger langsam zu ihm. Sein etwas dickes Gesicht begann von innen zu glänzen, und schien zu lächeln, – wenn es nicht der Mondschein war, der über seinem Gesicht spielte. Jedenfalls fand Leisenbohg in diesem Augenblick, daß der Mann, der hier mit verschleiertem Blick zurückgelehnt neben ihm saß, beide Hände in den Hosentaschen, die Beine lang unter den Tisch hingestreckt, mit nichts auf der Welt mehr Ähnlichkeit hatte als mit einem Pierrot. Der grüne Plaid hing über dem Geländer der Terrasse und schien dem Baron in diesem Moment ein guter alter Bekannter... Aber was ging ihn dieser lächerliche Plaid an? Träumte er vielleicht?... Er war in Molde. Sonderbar genug... Wäre er vernünftig gewesen, so hätte er dem Sänger eigentlich aus Aix telegraphieren können: »Was gibt's? Was willst du von mir, Pierrot?« Und er wiederholte plötzlich seine Frage von früher, nur viel höflicher und ruhiger: »Wo ist Kläre?«

Jetzt nickte der Sänger mehrere Male. »Um die handelt es sich allerdings. – Bist du mein Freund?«

Leisenbohg nickte. Er spürte ein leises Frösteln. Ein lauer Wind kam vom Meere her. »Ich bin dein Freund. Was willst du von mir?«

»Erinnerst du dich des Abends, da wir von einander Abschied nahmen, Baron? An dem wir im Bristol miteinander soupierten und du mich auf die Bahn begleitetest?«

Leisenbohg nickte wieder.

»Du hast wohl nicht geahnt, daß im selben Zuge mit mir Kläre Hell von Wien abreiste.«

Leisenbohg ließ den Kopf schwer auf die Brust herabsinken...

»Ich habe es so wenig geahnt als du«, fuhr Sigurd fort. »Erst am nächsten Morgen auf der Frühstückstation hab' ich Kläre gesehen. Sie saß mit Fanny Ringeiser im Speisesaal und trank Kaffee. Ihr Benehmen ließ mich vermuten, daß ich diese Begegnung nur dem Zufall verdankte. Es war kein Zufall.«

»Weiter«, sagte der Baron und betrachtete den grünen Plaid, der sich leise bewegte.

»Später hat sie mir nämlich gestanden, daß es kein Zufall war. – Von diesem Morgen an blieben wir zusammen, Kläre, Fanny und ich. An einem eurer entzückenden kleinen östreichischen Seen ließen wir uns nieder. Wir bewohnten ein anmutiges Haus zwischen Wasser und Wald, fern von allen Menschen. Wir waren sehr glücklich.«

Er sprach so langsam, daß Leisenbohg toll zu werden glaubte.

Wozu hat er mich hierhergerufen? dachte er. Was will er von mir?... Hat sie ihm gestanden – ?... Was geht's ihn an?... Warum blickt er mir so starr ins Gesicht?... Weshalb sitz' ich hier in Molde auf einer Veranda mit einem Pierrot?... Ist es nicht am Ende doch ein Traum?... Ruh' ich vielleicht in Klärens Armen?... Ist es am Ende noch immer dieselbe Nacht?... – Und unwillkürlich riß er die Augen weit auf.

»Wirst du mich rächen?« fragte Sigurd plötzlich.

»Rächen?... Ja warum? Was ist denn geschehen?« fragte der Freiherr und hörte seine eigenen Worte wie von ferne her.

»Weil sie mich zugrunde gerichtet hat, weil ich verloren bin.«

»Erzähle mir endlich«, sagte Leisenbohg mit harter, trockener Stimme.

»Fanny Ringeiser war mit uns«, fuhr Sigurd fort. »Sie ist ein gutes Mädchen, nicht wahr?«

»Ja, sie ist ein gutes Mädchen«, erwiderte Leisenbohg und sah mit einem Male das halbdunkle Zimmer vor sich mit den blausamtenen Möbeln und den Ripsvorhängen, wo er vor mehreren hundert Jahren mit Fannys Mutter gesprochen hatte.

»Sie ist ein ziemlich dummes Mädchen, nicht wahr?«

»Ich glaube«, erwiderte der Freiherr.

»Ich weiß es«, sagte Sigurd. »Sie ahnte nicht, wie glücklich wir waren.« Und er schwieg lange.

»Weiter«, sagte Leisenbohg und wartete.

»Eines Morgens schlief Kläre noch«, begann Sigurd von neuem. »Sie schlief immer weit in den Morgen hinein. Ich aber ging im Walde spazieren. Da kam plötzlich Fanny hinter mir hergelaufen. ›Fliehen Sie, Herr Ölse, eh' es zu spät ist; reisen Sie ab, denn Sie befinden sich in höchster Gefahr!‹ Sonderbarerweise wollte sie mir anfangs durchaus nicht mehr sagen. Aber ich bestand darauf und erfuhr endlich, was für eine Gefahr mir ihrer Meinung nach drohte. Ah, sie glaubte, daß ich noch zu retten wäre, sonst hätte sie mir gewiß nichts gesagt!«

Der grüne Plaid auf dem Geländer blähte sich auf wie ein Segel, das Lampenlicht auf dem Tisch flackerte ein wenig.

»Was hat dir Fanny erzählt?« fragte Leisenbohg streng.

»Erinnerst du dich des Abends«, fragte Sigurd, »an dem wir alle in Klärens Haus zu Gaste waren? Am Morgen dieses Tages war Kläre mit Fanny auf den Friedhof hinausgefahren, und auf dem Grabe des Fürsten hatte sie ihrer Freundin das Grauenhafte anvertraut.«

»Das Grauenhafte –?« Der Freiherr erbebte.

»Ja. – Du weißt, wie der Fürst gestorben ist? Er ist vom Pferd gestürzt und hat noch eine Stunde gelebt.«

»Ich weiß es.«

»Niemand war bei ihm als Kläre.«

»Ich weiß.«

»Er wollte niemanden sehen als sie. Und auf dem Sterbebette tat er einen Fluch.«

»Einen Fluch?«

»Einen Fluch. – ›Kläre‹, sprach der Fürst, ›vergiß mich nicht. Ich hätte im Grabe keine Ruhe, wenn du mich vergäßest.‹ – ›Ich werde dich nie vergessen‹, erwiderte Kläre. – ›Schwörst du mir, daß du mich nie vergessen wirst?‹ – ›Ich schwöre es dir.‹ – ›Kläre, ich liebe dich und ich muß sterben!‹«...

»Wer spricht?« schrie der Freiherr.

»Ich spreche«, sagte Sigurd, »und ich lasse Fanny sprechen, und Fanny läßt Kläre sprechen, und Kläre läßt den Fürsten sprechen. Verstehst du mich nicht?«

Leisenbohg hörte angestrengt zu. Es war ihm, als hörte er die Stimme des toten Fürsten aus dreifach verschlossenem Sarge in die Nacht klingen.

»›Kläre, ich liebe dich, und ich muß sterben! Du bist so jung, und ich muß sterben... Und es wird ein anderer kommen nach mir... Ich weiß es, es wird so sein... Ein anderer wird dich in den Armen halten und mit dir glücklich sein... Er soll nicht – er darf nicht!... Ich fluche ihm. – Hörst du, Kläre? Ich fluche ihm!... Der erste, der diese Lippen küßt, diesen Leib umfängt nach mir, soll in die Hölle fahren!... Kläre, der Himmel hört den Fluch von Sterbenden... Hüte dich – hüte ihn... In die Hölle mit ihm! In Wahnsinn, Elend und Tod! Wehe! Wehe! Wehe!‹«

Sigurd, aus dessen Mund die Stimme des toten Fürsten tönte, hatte sich erhoben, groß und feist stand er in seinem weißen Flanellanzug da und blickte in die helle Nacht. Der grüne Plaid sank von dem Geländer in den Garten hinab. Den Freiherrn fror entsetzlich. Es war ihm, als wenn ihm der ganze Körper erstarren wollte. Eigentlich hätte er gern geschrieen, aber er sperrte nur den Mund weit auf... Er befand sich in diesem Augenblick in dem kleinen Saal der Gesangsprofessorin Eisenstein, wo er Kläre das erste Mal gesehen hatte. Auf der Bühne stand ein Pierrot und deklamierte: »Mit diesem Fluch auf den Lippen ist der Fürst Bedenbruck gestorben, und... höre... der Unglückselige, in dessen Armen sie lag, der Elende, an dem sich der Fluch erfüllen soll, bin ich!... Ich!... Ich!...«

Da stürzte die Bühne ein mit einem lauten Krach und versank vor Leisenbohgs Augen ins Meer. Er aber fiel lautlos mit dem Sessel nach rückwärts, wie eine Gliederpuppe.

Sigurd sprang auf, rief nach Hilfe. Zwei Diener kamen, hoben den Ohnmächtigen auf und betteten ihn auf einen Lehnsessel, der seitlich vom Tische stand; der eine lief nach einem Arzt, der andere brachte Wasser und Essig. Sigurd rieb die Stirn und die Schläfen des Freiherrn ein, aber der wollte sich nicht rühren. Dann kam der Arzt und nahm seine Untersuchung vor. Sie währte nicht lange. Am Schlusse sagte er: »Dieser Herr ist tot.«

Sigurd Ölse war sehr bewegt, bat den Arzt, die nötigen Anordnungen zu treffen, und verließ die Terrasse. Er durchschritt den Salon, ging ins obere Stockwerk, betrat sein Schlafzimmer, zündete ein Licht an und schrieb eilends folgende Worte nieder: »Kläre! Deine Depesche habe ich in Molde vorgefunden, wohin ich ohne Aufenthalt geflohen war. Ich will es Dir gestehen, ich habe Dir nicht geglaubt, ich dachte, Du wolltest mich durch eine Lüge beruhigen. Verzeih mir, – ich zweifle nicht mehr. Der Freiherr von Leisenbohg war bei mir. Ich habe ihn gerufen. Aber ich habe ihn um nichts gefragt; denn als Ehrenmann hätte er mich anlügen müssen. Ich hatte eine ingeniöse Idee. Ich habe ihm von dem Fluch des verstorbenen Fürsten Mitteilung gemacht. Die Wirkung war überraschend: der Freiherr fiel mit dem Sessel nach rückwärts und war auf der Stelle tot.«

Sigurd hielt inne, wurde sehr ernst und schien zu überlegen. Dann stellte er sich mitten ins Zimmer und erhob seine Stimme zum Gesang. Anfangs wie furchtsam und verschleiert, hellte sie sich allmählich auf und klang laut und prächtig durch die Nacht, endlich so gewaltig, als wenn sie von den Wellen widerhallte. – Ein beruhigtes Lächeln floß über Sigurds Züge. Er atmete tief auf Er begab sich wieder an den Schreibtisch und fügte seiner Depesche die folgenden Worte hinzu: »Liebste Kläre! Verzeih' mir – alles ist wieder gut. In drei Tagen bin ich bei dir...«