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Israel.

Goethe sagt: Das auserwählte unter den Völkern ist nicht das beste, sondern das andauerndste.

In diesem wunderbaren Ausspruch ist die ganze Geschichte des israelitischen Volkes enthalten, alle seine Schicksale, gute und böse, spiegeln sich in demselben. Ja, es war unter allen Völkern, die den Erdball bewohnen, das ausdauerndste und deßhalb hat es viel größere und mächtigere, als es selbst war, überlebt und sah den Ruhm, die lärmenden Thaten, den Glanz der Jahrhunderte, vorüberziehen, gleich Schemen. Es hat das üppige Babylon in den Staub sinken sehen, das Reich der Pharaonen und Rom, der Sturm der Völker brauste an ihm vorüber, Gothen, Vandalen und Hunnen, das römische Kaiserreich Karl's des Großen fiel in Trümmer, das geistliche Weltreich der Päpste, die Monarchie Karl's V., in der die Sonne nicht unterging. Holland, Schweden, Polen, traten vom Schauplatz ab, Spanien erntete die traurigen Folgen seiner Verfolgungswuth, der Thron der Bourbonen wurde umgestürzt, und der neue Cäsar fand in den Eiswüsten Rußlands sein Ende, doch Israel bestand noch immer. Es trotzte dem Mord, der Pest, dem Scheiterhaufen und ging durch den Wechsel der Zeiten, ergeben und geduldig, die heiligen Gesetzrollen um Arm.

Kein Volk ist so oft von Eroberern unterjocht, in die Sklaverei geschleppt, getheilt und zerstreut, keines so mit Feuer und Schwert verfolgt, unterdrückt, beraubt, geschmäht und gequält worden und es lebte immer und lebt noch heute, frisch und kräftig, wie einst in den gesegneten Thälern Kanaans.

Und doch ist heute wieder eine große Verfolgung gegen dasselbe im Zuge, ein Kampf, der durch alle Länder Europas geht, bedroht die schwer errungenen Rechte, die Bildung, das Eigenthum der Israeliten, ja ihre Existenz.

Woher in unserer Zeit, genau ein Jahrhundert nach der großen Revolution, nach der Proklamation der Menschenrechte, dieser Haß dieser Rassenkrieg. dieser religiöse Verfolgungswahn?

Mögen sich auch starke, egoistische, zumeist ökonomische Interessen unter der religiösen und nationalen Maske verbergen, es zeigt sich trotzdem in dieser ganzen Bewegung unleugbar eine Leidenschaft, welche nicht durch nüchterne Motive dieser Art erklärt werden kann.

Das jüdische Volk ist das älteste Kulturvolk Europas. Das ist der Grund. Andere Völker, welche eine gleich alte Kultur besitzen, sind ohne Einfluß auf uns geblieben, wie die Chinesen und Indier, oder vom Schauplatz verschwunden, wie die Egypter, Griechen, Römer. Hier ist aber ein Volk, mitten unter uns, das eine geordnete, musterhafte Staatsverfassung, das gute, vernünftige, humane Gesetze, einen reinen Gottesglauben, einen erhabenen Kultus, edle Sitten, die einzig richtige Moral und eine große, herrliche Literatur besaß, zu einer Zeit, wo unsere Voreltern noch in Höhlen oder Pfahlbauten wohnten, und im Kampfe mit wilden Thieren selbst ein halbthierisches Dasein führten. Und diese alte Kultur, dieser reine Glaube, diese herrliche Moral sind diesem Volke nicht zu einer Vergangenheit geworden, mit der spätere Schicksale und eine neue Civilisation jeden Zusammenhang zerrissen haben, sie sind keine interessanten Antiquitäten geworden, oft nur mit dem Reiz der Rarität, wie die Religion des Inkas, wie die altgermanische Götterwelt der Edda oder der Perun und die Lada der alten Slaven, nein, der Strom ihrer Bildung geht ununterbrochen, nur immer breiter und mächtiger durch die Jahrhunderte von Palästina an, durch die Blüthezeit griechischer Kunst und römischen Staatswesens, durch das finstere Mittelalter mit seinem großen Kampfe der Kaiser gegen die Päpste, durch die kirchliche Revolution Luther's und die Umwälzung von 1789 hindurch bis in unsere Tage.

Das Volk Israel ist aber nicht nur das älteste Kulturvolk, sondern auch heute in Europa mitten unter gebildeten Völkern, die eine hohe Stufe der Gesittung erreicht haben, das gebildetste, jenes, das die beste Moral, die mildesten Sitten besitzt und auf allen Gebieten menschlichen Wissens die regste Thätigkeit entwickelt.

Die alte Kultur ist nicht ohne Einfluß auf seine physische Natur geblieben. Durch Jahrtausende mit großen Ideen, erhabenen Empfindungen, edlen Gesinnungen und guten, menschlichen Sitten vertraut, hat es die thierischen Instinkte, die barbarischen Atavismen, weit mehr überwunden, als jedes andere und übertrifft alle an Humanität, das ist an Friedensliebe, Abscheu vor Gewaltthat und Blutvergießen, Sittlichkeit und Nächstenliebe.

Dies beweist die europäische Statistik und gegen die Sprache der Zahlen gibt es keine Einwendung. Der Haß anderer Völker gegen das Volk Israel ist also nichts anderes, als der Haß des Indianers gegen den Trapper, der Haß des Wilden gegen den civilisirten Menschen.

Nie hat ein wahrhaft gebildeter Geist, ein wahrhaft edles Herz, ein wahrhaft reiner Charakter die Juden gehaßt oder verfolgt, im Gegentheil, die erleuchteten Männer aller Zeiten, aller Nationen haben sie vertheidigt und beschützt.

Diese Auserwählten liebten und lieben die Juden aus verschiedenen Gründen.

Zuerst, weil in dem jüdischen Volke, wie in keinem anderen, der Familiensinn lebendig ist, welcher die wichtigste Grundlage einer gesunden, sittlichen, politischen und sozialen Entwickelung ist.

Daß das israelitische Volt, als das älteste Kulturvolk den Sinn für Ehe und Familie am kräftigsten bewahrt hat, daß Ehelose in demselben eine seltene Ausnahme bilden, daß es mit Kindern reicher gesegnet ist, als jedes andere, daß in ihm die Liebe zwischen den Gatten, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern und der Kinder zu ihren Eltern so lebendig ist, beweist, daß die Kultur, welche es besitzt, die geistigen Vorzüge nicht auf Kosten der physischen entwickelt hat, daß sie, statt den Verfall der jüdischen Rasse herbeizuführen, dieselbe in einem blühenden Zustand erhalten hat, somit, daß diese Kultur eine gesunde und naturgemäße ist.

Ein zweites Moment des jüdischen Wesens, das ihm die Herzen gewinnt, ist das Mitleid.

Schopenhauer, der Philosoph des Pessimismus, sieht im Mitleid die edelste, schönste Blüthe des Menschenthums, die Ueberwindung des Willens, der Selbstsucht.

Diese schönste Blüthe der Menschennatur, sie treibt nirgends so reich wie an dem jüdischen Stamm, in keinem Volke ist das höchste Moralgesetz, das Gesetz der Nächstenliebe so lebendig wie in dem israelitischen.

Als die Judenbill im englischen Oberhause diskutirt wurde, fragte ein Mitglied des Hauses den Erzbischof von Canterbury, den Primas der englischen Hofkirche: Ist es wahr, daß die Juden ein anderes Moral haben als die Christen?

Da erwiderte der erleuchtete Oberhirt: Die Juden haben diesselbe Moral wie wir, der Unterschied besteht nur darin, daß sie dieselben befolgen und wir nicht.

Kein Volk ist so mitleidig, so wohlthätig wie das jüdische, und es fragt nicht erst lange, ob der Unglückliche die Hülfe auch verdient, es fragt auch nicht, welchem Volke oder Glauben er angehört. Der Jude sieht in dem Hilfsbedürftigen einen Menschen, einen Bruder und hilft ihm, er kleidet den Bloßen, speißt den Hungrigen und pflegt den Kranken.

Eine weitere Tugend des jüdischen Stammes, welche derselbe aus seinen ältesten Wohnsitzen mitgebracht und unter allen Verhältnissen bewahrt hat, ist die Achtung vor dem Geiste und dem Wissen.

Mit dieser Achtung vor dem Geiste, vor dem Wissen geht Hand in Hand die Liebe zur Freiheit und zum Fortschritt. Diese große, jüdische Eigenschaft hat das Volk Israel zu einer ganz besonderen für die ganze Menschheit segensreichen Rolle berufen. Zerstreut über den ganzen Erdboden sind die Juden doch ein Volk, eine große Gemeinde geblieben, und so wurden sie gleichsam die elektrischen Drähte, auf denen die neuen Ideen und Tendenzen durch die Welt liefen, zugleich aber, erst unbewußt, dann mehr und mehr mit der edelsten Absicht die Träger der Kosmopolitismus.

Wenn die anderen Völker von ihren nationalen Interessen beherrscht und eingeengt wurden, blickte der Jude frei über die Grenzpfähle hinweg und fühlte sich vor allem als Mensch. Sein Gesichtskreis war jederzeit ein weiter, er umfaßte die ganze gebildete Welt, ja, darüber hinaus die Menschheit, und wenn die Anderen sich befehdeten, beraubten, mit Feuer und Schwert verfolgten, so erinnerte sie der Jude an jene höheren, größeren Ziele und Interessen, welche Allen gemeinsam sind und Allen Segen bringen, während das Schwert dem Sieger ebenso gut Wunden schlägt wie dem Besiegten.

Eine wahrhafte Geschichte der europäischen Zivilisation, nach den einzig richtigen Prinzipien eines Thomas Buckle ist noch nicht geschrieben; wenn wir sie eines Tages haben werden, wird sie zugleich eine ruhmreiche Geschichte des jüdischen Namens sein.

Und deßhalb ist es schon eine Pflicht der Dankbarkeit für uns, die wir den Juden so viel verdanken, dieselben nicht zu kränken und zu verfolgen, sondern ihnen mit Wohlwollen und Achtung entgegen zu kommen. Vor allem aber sie kennen zu lernen, ehe wir über sie urtheilen.

Zu dieser Kenntniß jüdischen Wesens sollen auch die folgenden Geschichten ein Weniges beitragen.

Lindheim in Oberhessen, Weihnachten 1892.

Dr. Leopold von Sacher-Masoch.


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