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Leopold von Ranke

Geschichte und PhilosophieIn Rankes Nachlaß findet sich eine Aufzeichnung, die nach der Handschrift zu urteilen in die dreißiger Jahre gehört. Hier stellt Ranke den Unterschied zwischen Geschichte und Philosophie dar, den er in seinen Werken und Briefen immer wieder bei den verschiedensten Anlässen und in den verschiedensten Formen betont. Alfred Dove hat dies Stück 1888 seiner Ausgabe von Rankes Werk »Über die Epochen der neueren Geschichte« vorangestellt, da Ranke gleich im ersten Vortrag vor König Maximilian II. sich mit dem Begriff des Fortschritts in der Geschichte besonders auseinandersetzt. In unserer Ausgabe soll dies Stück die Überleitung von Rankes Ausführungen über Geschichte und Politik zu den »Epochen« bilden.

1830

Es ist oft ein gewisser Widerstreit einer unreifen Philosophie mit der Historie bemerkt worden. Aus apriorischen Gedanken hat man auf das geschlossen, was da sein müsse. Ohne zu bemerken, daß jene Gedanken vielen Zweifeln ausgesetzt seien, ist man daran gegangen, sie in der Historie der Welt wiederzusuchen. Aus der unendlichen Menge der Tatsachen hat man alsdann diejenigen ausgewählt, welche jene zu beglaubigen schienen. Dies hat man wohl auch Philosophie der Geschichte genannt. Einer von den Gedanken, mit welchen die Philosophie der Historie als mit unabweislichen Forderungen immer wiederkehrt, ist, daß das Menschengeschlecht in einem ununterbrochenen Fortschritt, in einer stetigen Ausbildung zur Vollkommenheit begriffen sei. Fichte, Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Dargestellt in Vorlesungen gehalten zu Berlin 1804/05., einer der ersten Philosophen in diesem Fach, nimmt fünf Epochen an; wie er sagt, einen Weltplan: Vernunft durch Instinkt herrschend; Vernunft durch das Gesetz herrschend; Befreiung von der Autorität der Vernunft; Vernunftwissenschaft; Vernunftkunst – oder: Unschuld, anhebende Sünde, vollendete Sündhaftigkeit, anhebende, vollendete Rechtfertigung; Epochen, die in dem Leben eines einzelnen vorkommen können. Wäre dies oder ein ähnliches Schema einigermaßen wahr, so würde die allgemeine Geschichte den Fortschritt zu verfolgen haben, den das Menschengeschlecht in der bezeichneten Richtung von dem einen Zeitalter zum andern genommen; sie würde mit einer Entwicklung derartiger Begriffe in ihrer Erscheinung, in ihrer Darstellung auf der Welt ihr ganzes Gebiet erfüllen. Doch ist dem bei weitem nicht so. Einmal nämlich sind die Philosophen selbst über die Art und Auslese jener angeblich herrschenden Ideen außerordentlich verschiedener Meinung. Sodann aber fassen sie wohlweislich nur einige wenige Völker der Weltgeschichte ins Auge, während sie das Leben aller übrigen für ein Nichts, gleichsam eine bloße Zugabe erachten. Sonst könnte keinen Augenblick verborgen sein, daß die Völker der Welt von Anfang an bis auf den heutigen Tag in dem allerverschiedensten Zustande gewesen sind.

Menschliche Dinge kennenzulernen, gibt es eben zwei Wege: den der Erkenntnis des einzelnen und den der Abstraktion; der eine ist der Weg der Philosophie, der andere der der Geschichte. Einen anderen Weg gibt es nicht, und selbst die Offenbarung begreift beides in sich: abstrakte Sätze und Historie. Diese beiden Erkenntnisquellen sind also wohl zu scheiden. Demohnerachtet irren auch diejenigen Historiker, welche die ganze Historie lediglich als ein ungeheures Aggregat von Tatsachen ansehen, das man ins Gedächtnis zu fassen sich das Verdienst erwerben müsse; wodurch geschieht, daß einzelnes an einzelnes gehängt und nur durch eine allgemeine Moral zusammengehalten wird. Ich bin vielmehr der Meinung, daß die Geschichtswissenschaft in ihrer Vollendung an sich selbst dazu berufen und befähigt sei, sich von der Erforschung und Betrachtung des einzelnen auf ihrem eignen Wege zu einer allgemeinen Ansicht der Begebenheiten, zur Erkenntnis ihres objektiv vorhandenen Zusammenhanges zu erheben.

Um den wahren Historiker zu bilden, sind meines Bedünkens zwei Eigenschaften erforderlich: erstlich eine Teilnahme und Freude an dem einzelnen an und für sich. Hat man eine wirkliche Neigung zu dem Geschlecht dieser vielgestaltigen Geschöpfe, aus welchem wir selber sind, zu diesem Wesen, das immer das alte und immer wieder ein anderes, das so gut und so bös, so edelgeistig und so tierisch, so gebildet und so roh, so sehr auf das Ewige gerichtet und dem Augenblick unterworfen, das so glücklich und so unselig, mit wenigem befriedigt und voll Begier nach allem: hat man Neigung zu der lebendigen Erscheinung des Menschen schlechthin, so wird man ohne allen Bezug auf den Fortgang der Dinge sich daran erfreuen, wie er allezeit zu leben gesucht; man wird mit Aufmerksamkeit die Tugenden, denen er nachgetrachtet, die Mängel, die an ihm zu spüren, sein Glück und Unglück, die Entwicklung seiner Natur unter so mannigfaltigen Bedingungen, seine Institution und Sitten, und um alles zu fassen, auch die Könige, unter denen die Geschlechter gelebt, die Reihenfolge der Begebenheiten, die Entwicklung der Hauptunternehmungen zu verfolgen suchen – alles ohne weiteren Zweck, bloß aus Freude an dem einzelnen Leben; so wie man sich der Blumen erfreut, ohne daran zu denken, in welche Klasse des Linnäus, Carl Linné (1707–1778) schwedischer Naturforscher, der die lange Zeit allgemein gültigen Grundsätze für die Beschreibung, Benennung und Einteilung der Pflanzen aufstellte: das Linnésche System. oder zu welcher Ordnung und Sippe Okens Ludwig Oken (1779–1851) Naturforscher und romantischer Naturphilosoph, der ein alle Reiche der Natur umfassendes System schuf. sie gehören; genug: ohne daran zu denken, wie das Ganze in dem Einzelnen erscheint.

Indessen ist es damit nicht getan; es ist notwendig, daß der Historiker sein Auge für das Allgemeine offen habe. Er wird es sich nicht vorher ausdenken, wie der Philosoph; sondern während der Betrachtung des Einzelnen wird sich ihm der Gang zeigen, den die Entwicklung der Welt im allgemeinen genommen. Diese Entwicklung aber bezieht sich nicht auf allgemeine Begriffe, die in diesem oder jenem Zeitalter vorgeherrscht hätten, sondern auf ganz andere Dinge. Es ist auf der Erde kein Volk, das ohne Berührung mit andern geblieben wäre. Dieses Verhältnis, welches von der ihm eigentümlichen Natur abhängt, ist es, in welches es zur Weltgeschichte tritt, und welches in der allgemeinen Historie hervorgehoben werden muß. Nun sind einige Völker vor den anderen auf dem Erdboden mit Macht ausgerüstet gewesen; sie vor allen haben eine Wirkung auf die übrigen ausgeübt. Von diesen also werden vornehmlich die Umwandlungen herrühren, welche die Welt zum Guten oder zum Bösen erfahren hat. Nicht auf die Begriffe demnach, welche einigen geherrscht zu haben scheinen, sondern auf die Völker selbst, welche in der Historie tätig hervorgetreten sind, ist unser Augenmerk zu richten; auf den Einfluß, den sie aufeinander, auf die Kämpfe, die sie miteinander gehabt; auf die Entwicklung, welche sie inmitten dieser friedlichen oder kriegerischen Beziehungen genommen. Denn unendlich falsch wäre es, in den Kämpfen historischer Mächte nur das Wirken brutaler Kräfte zu suchen und somit einzig das Vergehende der Erscheinung zu erfassen: kein Staat hat jemals bestanden ohne eine geistige Grundlage und einen geistigen Inhalt. In der Macht an sich erscheint ein geistiges Wesen, ein ursprünglicher Genius, der sein eignes Leben hat, mehr oder minder eigentümliche Bedingungen erfüllt und sich einen Wirkungskreis bildet. Das Geschäft der Historie ist die Wahrnehmung dieses Lebens, welches sich nicht durch einen Gedanken, ein Wort bezeichnen läßt; der in der Welt erscheinende Geist ist nicht so begriffsgemäßer Natur: alle Grenzen seines Daseins füllt er aus mit seiner Gegenwart; nichts ist zufällig in ihm, seine Erscheinung ist in allem begründet.