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Leopold von Ranke

Zum Kriege 1870/71

Rede von 1870

Sie haben mir schon einmal erlaubt, nach dem Jahre des inneren Krieges die öffentlichen Zustände zu erwähnen: was in einer zweifelhaften Lage gestattet werden konnte, ist heute, wie es mir scheint, nachdem die großen Bedenken gehoben sind und aller Partikularismus hinter dem Gemeingefühl verschwindet, doppelt an seinem Platze. Bei den Jahresversammlungen der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften hielt Ranke die Eröffnungsrede. Der Sitte gemäß wurde dabei alljährlich der verstorbenen Mitglieder gedacht und ihre wissenschaftliche Leistung gewürdigt. Nur nach den Kriegen von 1866 und 1870 und 1871 ging Ranke auch auf die großen Gegenwartsereignisse ein. Wir teilen hier zwei Abschnitte aus den Eröffnungsreden von 1870 und 1871 mit. Doch will ich nicht als Historiker zu Geschichtsforschern reden – denn dazu sind die Dinge zu neu und die vorliegenden Notizen zu wenig gesichtet – sondern nur als einer von den Millionen, die an den Ereignissen Anteil genommen haben, des Eindrucks gedenken, den sie schrittweise in ihrer Entwicklung hervorbrachten.

Wir fürchteten alle den Krieg, aber wir besorgten ihn nicht. Das Furchtbare daran war der Kampf zwischen den beiden militärisch und vielleicht auch intellektuell am meisten entwickelten Nationen; dem östlichen und westlichen Reiche, die einst aus dem karolingischen hervorgegangen, nahe zusammenhängend, jedoch in verschiedenen Richtungen entwickelt, hauptsächlich als die Träger der okzidentalischen Kultur auf dem Kontinent erschienen. Wer von uns allen ist ohne Einfluß des französischen Geistes geblieben? Der Formen ihrer Literatur, ihrer politischen Theorien und Tendenzen, ihrer gesellschaftlichen Ausbildung? Wie viele von uns haben sich der Gastfreiheit zu rühmen gehabt, mit der sie von den französischen Gelehrten aufgenommen und zur Benutzung der wissenschaftlichen Schätze zugelassen worden sind! Nicht in exklusiver Abschließung bestand das Wesen der französischen Hauptstadt, sondern darin, daß sie vermöge ihrer zentralen Lage den Mittelpunkt für Italien, Spanien, England und Deutschland bildete, dem sich auch die osteuropäischen Nationen und die Amerikaner anschlossen. Keine Nation ist für sich allein. Es gibt ein Gemeinsames, das sie untereinander verbindet, welches doch wieder einer jeden angehört. Aber mit der Wiederherstellung des Kaisertums kam auch ein andrer Geist, der auf die Wiederherstellung des allgemeinen Übergewichts, wenn nicht der Herrschaft, welche Frankreich unter dem ersten besessen hatte, hinzielte; es ließ sich ein unerfreulicher Geist bemerken, der, wie er auch die innere Kultur weniger pflegte, so durch den falschen Begriff Gloire zu Feindseligkeiten nach allen Seiten geneigt wurde. Nachdem von den alten kontinentalen Gegnern die beiden von alters her wichtigsten, zwar nicht niedergeworfen, aber doch besiegt worden waren, ließ sich bemerken, daß auch der dritte, Preußen, in dem Maße, als es in Deutschland mächtiger wurde, Eifersucht erregte. Aber wir besorgten doch keine Explosion. Denn die französische Regierung konnte unmöglich ein Interesse dabei haben, einen Kampf hervorzurufen, der, wenn er nicht nach Wunsch ging, sie selber zuerst mit Vernichtung bedrohte. Wir Deutsche waren ganz vor kurzem in einer Streitsache, in der wir doch wohl ein gutes Recht hatten, einen Schritt zurückgetreten, um dem Gegner, dem wir sehr gewachsen, vielleicht in dem damaligen Zustand der Bewaffnung selbst überlegen waren, nicht zu jenem furchtbaren Kampfe Anlaß zu geben.

Da erscholl unerwartet, unmotiviert die Kunde von einer Herausforderung, die so gut wie eine Kriegserklärung war. Unleugbar ist, daß sie für Preußen und Deutschland mancherlei Gefahren in sich schloß. Alle Unzuständigkeiten, auf die man jenseits rechnete, traten auch diesseits ins Bewußtsein.

Die vornehmste war der nach den letzten Erschütterungen noch nicht wieder befestigte Zustand des deutschen Vaterlandes. Denn noch waren die zu einem größeren Ganzen geschlagenen Provinzen voll partikularer Gärungen. Der Norddeutsche Bund hatte erst seine Probe zu bestehen. Die Mainlinie schien die süddeutschen Mittelstaaten auf immer von demselben zu sondern, eine Annäherung an denselben sogar das eigne Selbst zu gefährden. Von Österreich setzte man voraus, daß es die Gelegenheit ergreifen werde, die zuletzt erlittenen Niederlagen durch offene Feindseligkeit zu vergelten. Der Feind rechnete darauf, durch eine Bedrohung der Seeküste unsere Streitkräfte zu teilen und in unserem Reiche die Erhebung besiegter oder beleidigter Nationalität zu entzünden. Von Verbündeten, die unsere Sache zu der ihren gemacht hätten, war nicht die Rede. Eben die schienen sich gegen uns zu erheben, um die wir uns das meiste Verdienst erworben hatten.

Wie gesagt, darauf rechnete der Feind. Er meinte wohl nicht, noch einmal das Deutschland vor sich zu haben, wie es zu den Zeiten Ludwigs XIV., der Revolution und der Weltherrschaft Napoleons bestand, oder vielmehr wie es der französische Historiker jener Epoche schildert, aber doch eine Analogie desselben, und war entschlossen, sie aufrechtzuerhalten. Bei allen Vorzügen der französischen Eigenart kann man sie doch von einer Selbstüberschätzung nicht freisprechen; die von der Literatur, auch der historischen gepflegt wird und das Gefühl einer großen Nationalität mit unwahrer Übertreibung versetzt. Sie kann kein Wort des Tadels ertragen und setzt eine Überlegenheit voraus, die in der Tat nicht stattfindet; denn dem, was anderwärts geschieht, hat man nur insofern Aufmerksamkeit gewidmet als es den eignen Gesichtspunkten entspricht. Was bei uns in Deutschland durch das Anwachsen des nationalen Gefühls, das sich mit Notwendigkeit aus ihren Angriffen und Gewaltsamkeiten entwickelt hatte, geschaffen wurde, wußten die Franzosen doch nicht zu würdigen. Sie hörten nur den Mißton des Widerstrebens und der Parteiung; der partikularistischen oder kommunistischen, oder ultramontanen; deren kleine Erfolge erschienen ihnen als die in Deutschland vorwaltenden Stimmungen. Trunken von dem Gefühl ihrer eignen Nationalität, hatten sie keine Vorstellung davon, wie tief und umfassend die deutsche sich rege.

Das erste, was wir nun erlebten, war die einmütige Beistimmung, welche die Zurückweisung der französischen Anmaßungen in dem ganzen Umfang des preußischen Staates fand. In Ortschaften, wo sich bei der letzten Anwesenheit des Königs keine Stimme für ihn geregt hatte, wurde er jetzt mit begeistertem Zuruf empfangen. Man war gleichsam glücklich, daß man durch eine große Angelegenheit in das Gemeingefühl des umgebildeten Staates gezogen wurde. Der deutsche Geist erstickte den antipreußischen. Die Hauptstadt empfing ihren zur Kriegsvorbereitung heimkehrenden Fürsten mit einer unbedingt würdigen und von aller Servilität freien Hingebung, welche in dem Monarchen den geheiligten Repräsentanten der Staatsgenossenschaft verehrt, und ihm ihre Dienste anbietet. Alle Parteien schwiegen, gleich als hätten sie sich das Wort dazu gegeben. Es war nur ein Gefühl, daß man sich mit äußerster Anstrengung zum Kriege rüsten und den Ausgang Gott befehlen müsse. Niemals waren die Kirchen so voll gewesen wie an dem Tage, welche diese Sache dem göttlichen Schutze befahl; die dem Staat durch den Norddeutschen Bund vereinigten Landschaften teilten diese Stimmung.

Nur eine Besorgnis konnte man hegen, daß die südlichen Mittelstaaten, die nicht zu demselben gehörten, der scheinbaren Unabhängigkeit eingedenk, die sie dem früheren Imperator verdankten, nach derselben zurückgreifen und sich dem neuen beigesellen, oder doch wenigstens eine neutrale Haltung einnehmen würden. Es läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, inwieweit die feindlichen Pläne darauf berechnet waren. Daß man aber keinen Zweifel hegte, man würde einen großen Feldzug in Deutschland zu führen haben, nimmt man aus der Vorsorge ab, mit welcher sich die Offiziere mit Landkarten des vermeintlichen Kriegstheaters, des deutschen Landes überhaupt versahen. Die französische Phantasie ist noch von den Feldzügen des ersten Napoleon erfüllt infolge der Darstellungen durch Poesie, bildende Kunst und selbst einseitige Historie, der die französische Armee als unüberwindlich in sich selbst erscheint, und welche die Niederlagen nur immer von zufälligen Umständen herleitete und auf die Bedingungen der Siege keine Rücksicht nahm.

Man glaubte, noch immer Deutschland vor sich zu haben, wie es die revolutionären Heere und der erste Kaiser vor sich hatten. Da war es nun ein entscheidendes Ereignis, daß der junge König, unter dessen Auspizien wir uns hier versammeln, Ludwig II. von Bayern. Die Jahresversammlungen fanden in München statt. ohne zu zögern, den Moment für gekommen erklärte, für welchen sein Bund mit Preußen geschlossen sei.

In Norddeutschland war man auf dem Lande bei aller Hingebung doch nicht ohne Sorge, als der Krieg erklärt wurde; alle Besorgnis schwand, als man vernahm, daß König Ludwig von Bayern den Casus foederis anerkannt habe.

Ich will nicht sagen, daß der Krieg nicht hätte geführt werden können, wenn Süddeutschland neutral geblieben wäre; aber er hätte niemals jenen nationaldeutschen Charakter angenommen und unendlich größere Schwierigkeiten dargeboten. Erst als die süddeutschen Waffen sich den preußischen zugesellten, wurde die deutsche Idee realisiert.

Der Feldzugsplan der Franzosen wurde auf eine für sie unerwartete Weise durchkreuzt; sie mußten erleben, daß Deutschland ohne die Hilfe andrer europäischer Mächte, ja selbst ohne Teilnahme von Österreich, das gewiß nicht wegen der Gesinnung der Bevölkerung, die für uns vielmehr nur die lebendigste Sympathie verriet, aber durch seine anderweite politische Beziehung veranlaßt, eine neutrale Stellung annahm – ihnen vollkommen gewachsen war.

Die stärkere Vermehrung der germanischen Rasse gegenüber der romanischen hatte die früheren Differenzen ausgeglichen. Alles aber bekam nun Leben durch die militärische Organisation, an welcher der preußische Staat fast in Voraussicht eines ähnlichen Falles in den letzten fünfzig Jahren fortwährend gearbeitet hatte, und der sich das übrige Deutschland anschloß. Wo Waffen und Idee einen Bund schließen, sind sie immer unwiderstehlich gewesen; hier waren es die preußisch-deutschen Waffen und die deutsche Idee. Die Gleichartigen bildeten nun aber eine Waffengenossenschaft, die von vornherein, sowie sie mit dem Feinde zusammenstieß, der gegenüberstehenden ebenbürtig erschien und sich ihr im Lauf des Kampfes überlegen erwiesen hat.

An allen großen Schlachttagen haben preußische, norddeutsche, süddeutsche Truppen zusammengewirkt.

Bei Weißenburg die Schlesier, die Posener, Thüringer, Franken, Pfälzer; bei Worth traten Württemberger und Badenser hinzu.

Bei Saarbrücken-Forbach: Westfalen, Hannoveraner, brandenburgische und niederrheinische Regimenter.

Bei Metz am 14. August: Ostpreußen, Westpreußen und Westfalen.

Am 16. August: Brandenburger, Hannoveraner, Braunschweiger, Oldenburger, Schleswig-Holsteiner, Hessen-Darmstädter. Am 18. August außer diesen Sachsen, Pommern, das Gardekorps. Am 31. August: Ostpreußen und Mecklenburger, Hanseaten.

Vor Sedan: Sachsen aus dem Königreich und aus der Provinz Sachsen, das IV., das Gardekorps und XII. Armeekorps: Altbayern, die großen Eifer bewiesen.

Wir sind alle erstaunt über die glänzende Siegeslaufbahn, welche im Lauf eines Monats durchmessen worden ist, voll Bewunderung über das Zusammenwirken der verschiedensten Kräfte nach einem vorausgefaßten und doch jeden Wechsel der Verhältnisse berücksichtigenden Plan; die Umsicht im großen, die unvergleichliche Tapferkeit im einzelnen. Ich will kein Wort weiter darüber sagen; der allgemeine Eindruck ist, daß damit zugleich einer der Wendepunkte der Weltentwicklung und politischen Gestaltung eingetreten ist, welche die Epochen scheiden. Wir sehen der neuen mit Freuden und Hoffnung entgegen, obgleich alte Männer, wie mehrere von uns, sie nicht erleben werden; doch ist es nicht unseres Amtes, in die Zukunft zu blicken oder Ratschläge für die Gegenwart zu geben, selbst nicht Ansprüche zu formulieren.

Wir bemerken nur, daß, indem sich eine neue Zukunft zu eröffnen scheint, unsere Vergangenheit Licht und neue Momente für ihre Würdigung empfängt.

Die Ereignisse, die unter der Rückwirkung des Deutsch-Französischen Krieges in Italien eingetreten sind und eintreten, kann man nicht ansehen, ohne des Zusammenhanges unseres alten Reichs mit dem Papsttum zu gedenken. Wir sahen einen Pontifex, der ohne alle Rücksicht auf die den Staaten innewohnenden Bedürfnisse und gerechten Ansprüche eine Prärogative formulierte, die in den früheren Jahrhunderten zwar erhoben, aber niemals durchgeführt worden war. In einer großen Versammlung kirchlicher Würdenträger aus aller Welt, aber im Widerspruch mit der Mehrzahl der westlichen, namentlich der deutschen Bischöfe, brachte er sie zur Anerkennung. Auf dem Vatikanischen Konzil wurde am 18. Juli 1870 das Unfehlbarkeitsdogma aufgestellt. Solange die deutschen Kaiser ihre Autorität aufrechterhielten, waren Dinge dieser Art nie gelungen; denn das deutsche Bistum stand dem Kaiser immer mit seiner geistlichen Befugnis zur Seite. Gleich darauf wird die weltliche Macht des Papsttums im offenen Kampf überwältigt, infolge der italienischen Idee, welche einst dem Papst selbst zu ergreifen nicht gelungen war. Alle die Ereignisse, welche die Jahrhunderte erfüllen, erhalten eine unmittelbare Bedeutung durch die Dinge, die vor unsern Augen vorgehen. Man sah, was ein Kaisertum wert war, welches, wenn auch im steten Kampfe, die höchste Gewalt in der Kirche mäßigte, aber ihre Autonomie erhielt.

Eine andre Erinnerung, noch stärker durch die Tendenz eines nationalen Moments, bilden die Verhältnisse des westlichen und östlichen Reiches. Die Teilungen des karolingischen Reiches, aus dem das ostfränkische, nachmals deutsche und das westfränkische, nachmals französische hervorgegangen, bekommen eine über die bloße territoriale Auseinandersetzung und die fürstlichen Erbansprüche hinausreichende Beziehung.

Etwa vor tausend Jahren, im Sommer 870, fand die Zusammenkunft an dem Vorsprung der Maas zu Mersen zwischen dem ostfränkischen König, Ludwig dem Deutschen, und dem westfränkischen, Karl dem Kahlen, statt, in welcher über ihre Begrenzung ein Entschluß gefaßt wurde, der an die soeben vorliegende Frage unmittelbar anknüpfte. Der Moselgau an beiden Ufern dieses Flusses, welcher Metz und Diedenhofen begriff, wurde zu dem östlichen Reiche geschlagen und Straßburg mit seiner kirchlichen Metropole Mainz wieder vereinigt.

Ich ziehe keine Folgerungen daraus, ich knüpfe keine Ansprüche daran; ich bezeichne nur die Tatsache, welch eine auf den heutigen Tag fortwirkende lebendige Beziehung in der Verabredung liegt, die vor tausend Jahren gepflogen wurde.

Das alte Reich war zur Behauptung seiner Sicherheit vortrefflich angelegt.

Mir liegt es fern, die Entwicklung des westlichen Reichs als in stetem Übergriff in die Rechte seiner Nachbarn, namentlich der Deutschen, zu betrachten.

Es war ihm gegeben, in einem Kampf, der doch etwas Unvermeidliches hatte, inwiefern er zugleich gegen das überwältigende Umsichgreifen des Plantagenetischen Vasallenverhältnisses gerichtet war, eine zentrale Macht von größerer Stärke zu entfalten, von der wir doch auch mannigfaltigen Vorteil empfangen haben, für Kultur und Gelehrsamkeit, sowie für den Staat.

Auch will ich nicht unbedingt auf unsere Entzweiung schelten, die zu jenen Übergriffen Anlaß gaben.

Metz, Toul und Verdun wurden infolge der Streitigkeit Frankreichs mit dem Hause Österreich-Burgund, welches die reichsoberhauptliche Gewalt ausübte, und zugleich durch innere religiöse Kämpfe, welche eine Wendung gegen dieses Haus nahmen, dem Reiche entfremdet. Um nicht dem in Aussicht stehenden Kaisertum Philipps II. zu verfallen und die Beschlüsse des Tridentinischen Konziliums annehmen zu müssen, haben die Protestanten unter Führung des geistvollen Kurfürsten Moritz von Sachsen es zugegeben, daß der König von Frankreich das Reichsvikariat in dieser Region in Besitz nahm.

Es war ein Preis seiner Unterstützung, gelang aber durch eine eifrig katholische Partei in der Stadt. Karl V. erschien mit all seiner Macht zur Belagerung von Metz. Aber allzu ungünstige Jahreszeit, und ein trefflicher Kriegsmann, der Herzog von Guise, der es verteidigte, gegenüber von Krankheit und Regenwetter nötigten ihn, im Jahre 1553 die Belagerung aufzuheben.

Denn jedes Jahrhundert hat nun einmal seine eignen Aufgaben und Machtbedingungen.

Aber man muß dessen gedenken, was im Laufe der Zeiten aus jenen Anfängen entsprungen ist.

Unsere Entzweiung überstieg alles Maß. Als den Moment der tiefsten Erniedrigung des Deutschen Reiches als eines Ganzen kann man die Überwältigung Straßburgs durch Ludwig XIV. betrachten; als eine der wichtigsten Reichsstädte, gegen den übermächtigen Nachbar allein gelassen, durch einen von demselben gewonnenen Magistrat im Gegensatz mit einer Bürgerschaft, die sich dennoch zu verteidigen wünschte, in die französische Hand geriet. Es ist ein großer historischer Augenblick, daß sie nach 189 Jahren ihrer Entfremdung fast an dem Jahrestage der ersten Eroberung Ludwigs XIV. wiedergewonnen ist.

Und daß nun aus unserer Entzweiung, welche in den erwähnten Zeiten so stark war, daß sie uns das Bewußtsein unserer Nationalität kostete, dieses wieder erwacht und zu einer großartigen Erscheinung gebracht ist, das ist eben das welthistorische Ereignis, welches eine neue Aera verkündigt.

Wir nehmen nichts voraus; aber der Augenschein zeigt, daß das welthistorische Verhältnis, welches die letzten beiden Jahrhunderte beherrscht hat, sich umgestaltet und das Übergewicht sich auf die Seite des östlichen Reiches neigt, dem es jedoch nicht beikommt, die Freiheit des westlichen zu beschränken und zu beherrschen.

Es kann nicht darauf ankommen, andre zu erdrücken, sondern nur uns selber zu behaupten, die errungenen Siege dahin zu entwickeln, daß wir uns vor niemand zu fürchten haben und die Einheit der Nation wiedergewinnen, die uns mangelt, ohne die Besonderheiten, die auch ihre historische Berechtigung haben, zu vernichten.

Diesen Eindruck macht auch das Zusammenwirken aller deutschen Stämme und Staaten an diesem großen Kampfe. Die gemeinschaftlich bestandene Gefahr und die gemeinschaftlich errungenen Erfolge müssen allem menschlichen Ansehen nach alle wieder aufs engste zusammenknüpfen. Das, was geschehen, ist aber schon ein historischer Moment, der es vielleicht verdient, auch hier zur Sprache gebracht zu werden; denn der Vergangenheit sind unsere Studien gewidmet, der Gegenwart unsere Sympathie, der Zukunft unsere durch beide berechtigten Hoffnungen und Wünsche.

Rede von 1871

Vergönnen Sie mir noch ein Wort über die allgemeinen Verhältnisse.

Als wir vor einem Jahr beisammen waren, hatten sich die Begebenheiten, die das Jahr 1870 ewig auszeichnen werden, bereits in der Hauptsache vollzogen: die Deutschen aus den verschiedenen, so lange getrennten Landschaften bekämpften den gemeinschaftlichen Feind mit wetteifernden Anstrengungen und einem diesen entsprechenden unvergleichlichen Erfolg. Wenn die Nation wieder enger vereinigt werden sollte, so konnte es nicht durch Beratungen bewirkt werden, die immer einen jeden an sein besonderes Interesse mahnen, sondern nur durch eine große Handlung, bei der das Gemeingefühl die Oberhand über die Besonderheit erhält, ohne diese jedoch zu vernichten. Wir begrüßten es als die ruhmwürdige Tat des jungen Fürsten, unter dessen Auspizien wir uns versammeln, daß er mit raschem Entschluß den Augenblick für gekommen erachtete, in welchem das schon früher, jedoch nicht ohne Vorbehalt, geschlossene Bündnis zu voller Ausführung gebracht werden müsse. Heute verdanken wir ihm noch eine andere Entschließung. Die im Sturme der drohenden und drängenden Ereignisse ins Leben getretene Verbindung mußte einen Namen haben. Es ging ein Gefühl durch die Nation, daß das Deutsche Reich und Kaisertum wieder hergestellt werden müsse. Man könnte ein Buch darüber schreiben, welche Wandlungen die Idee des Kaisertums in den verschiedenen Jahrhunderten erfahren hat. Es gab eine Zeit, wo das Kaisertum den Mittelpunkt, der abendländischen Nationen bildete: der Rang und das Emporkommen der deutschen Fürsten beruht darauf, daß sie es waren, die der gesamten Christenheit ein weltliches Oberhaupt gaben. In diesem Sinne ist jedoch das Kaisertum niemals vollkommen realisiert worden. Das römisch-deutsche Reich, wie es im zwölften und dreizehnten Jahrhundert erscheint, war viel zu großartig angelegt, um in dem ganzen Umfange seiner Grenzen als eine Einheit zur Geltung zu kommen; aber allmählich erhielt die ursprünglich universale Idee eine lediglich deutsche Bedeutung. Die Kaiser hörten auf in Rom gekrönt zu werden; aber die in Deutschland erwählten Könige behielten die Würde, auch ohne die Krönung. Bei allem Gegensatz der auseinanderstrebenden Territorialmächte wurde die Autorität des Kaisertums nicht aufgegeben, so lange bis das Reich unter Einwirkung eines fremden Eroberers in seinen Formen zertrümmert, bald darauf aber nach dessen Sturz in einen Bund unabhängiger Fürsten verwandelt wurde. Sollten nun diese, namentlich die gleichberechtigten Könige, einen Kaiser über sich erkennen? Darin lag doch die einzige Lösung der vorliegenden Frage. Der König von Bayern, der mächtigste unter ihnen, ergriff dabei die Initiative; denn, wie die alten Traditionen es mit sich brachten, von den Fürsten selbst mußte die Wiederherstellung des Kaisertums ausgehen. Daß dies geschehen, ist an und für sich von der größten historischen Wichtigkeit.

Die Tatsache an und für sich verknüpft die Jahrhunderte unserer Geschichte: sie ist der Ausdruck des Gemeingefühls der Nation, wie es von Urzeiten her gebildet die Gegenwart erfüllt. Und dadurch, daß die neue Würde erblich übertragen worden ist, bietet sie eine Gewähr der Einheit für die Zukunft, wie sie noch niemals vorhanden war.

Nur noch ein Moment war unerledigt. Einer der großen Stämme der Nation, durch den Lauf der Ereignisse auch von den letzten gemeinsamen Kämpfen und von der dadurch bedingten Gemeinschaft des neuen Reiches ausgeschlossen, schien sich sogar feindselig gegen dieselbe zu verhalten. Auch dieser Übelstand ist durch die jüngsten Ereignisse gehoben worden. Das Kaisertum Österreich und das deutsche Kaisertum sind in ein enges Verständnis miteinander getreten, das jede Feindseligkeit ausschließt. Am Tage liegt, daß Österreich und Preußen, bei dem Gegensatz, der sie voneinander trennt, zusammen nicht wohl Mitglieder des Reiches sein konnten, wenn dies zu innerer Gleichförmigkeit und wirksamer äußerer Aktion gelangen sollte. Unter der ausschließenden Führung Preußens hat sich eine Macht gebildet, welche auch ohne Teilnahme Österreichs den Feind bestanden hat, dem wir in früheren Zeiten eben infolge jener inneren Spaltungen mehr als einmal unterlegen waren. Deutschland hat auch in dieser Beschränkung seine Stellung gewaltig eingenommen. Österreich hat nun seinen Anspruch, auf das Innere mitzuwirken, fallen lassen; das neue Reich ist mit ihm in einen Bund getreten, wie es den Verhältnissen einzig angemessen. Das gesammelte Nationalgefühl kann der Zukunft ruhig entgegensehen.