Oskar Panizza
Stoßseufzer aus Bayreuth
Oskar Panizza

Oskar Panizza

Stoßseufzer aus Bayreuth

Sehr geehrter Herr Redakteur! Ich bin Lehrer. Voll zarter Anlagen, ist mein Gemüt sozusagen für die Musik prästabiliert worden. Schon mit acht Jahren spielte ich auf einem alten Klavezink kleine Etüden oder auf dem Harmonium meiner Mutter Choräle; und als einmal der Pfarrer im Städtchen krank, machte der Lehrer den Pfarrer und ich den Lehrer und durfte an der Orgel ein kleines Zwischenspiel, sorgfältig einstudiert, exekutieren, bis der Lehrer, vom Altar heraufgekommen, mich ablöste.

O ihr kleinen C-Dur-Dreiklänge, von eines Knaben Hand ausgelöst, in diesem kleinen protestantischen Kirchlein dahinwimmernd und vielleicht eines Mädchens Herz berührend, euch hör' ich nie mehr! –

Später, als ich älter wurde, kam ich von Hause fort, in die nächste Provinzialstadt, mußte lateinische Brocken und griechische Spinnen-Buchstaben schlucken; aber die Musik blieb meine Lieblings-Beschäftigung und meine Trösterin bei allem Heimweh und beim Tatzen-Schmerz, der jetzt über mich kam, als ich nicht einsehen wollte, daß es neben dem Aktivum und Passivum noch ein Medium geben solle und daß griechische Verba im Perfekt statt der Aspera die Tenuis annehmen.

O ihr reinen keuschen Sonaten von Haydn mit eurem süßen Geklimper, als strichen Mädchenhände die Locken an den Knabenschläfen zurück, und du, junger Mozart, mit deinem Gekicher und Gelächter, wie oft habt ihr mir die griechischen und lateinischen Tränen getrocknet sind mich wieder fröhlich gemacht. – Nie mehr! –

Später, als ich in das Alter kam, wo das Urteil flügge zu werden beginnt, kam ich in die bayrische Hauptstadt, nach München. Damals, Mitte der sechziger Jahre, hörte man auf allen Plätzen, bei allen Paraden, in allen Konzerten den sogenannten »Tannhäuser-Marsch« von einem gewissen Richard Wagner; und außerdem eine Art ungeordneter Aufeinanderfolge von A-Dur-Dreiklängen in hohen Violinlagen von demselben Komponisten. »Schwanenlied« genannt. Schon damals wurde von einigen Stimmführern behauptet, diese eigenartige Verwendung von Dur- und Moll-Dreiklängen in hohen Violinlagen sei der Ausdruck des »Mystischen« und das Ganze überhaupt das »Höchste in der Kunst«, als welches man damals eigentlich Beethoven anzusehen gewohnt war. – Ich war damals noch jung und beugte mich dem Urteile, wiederholte es und vertrat es. Heute, wo ich vor meinem musikalischen Ruin, ja vielleicht vor dem Selbstmord stehe, darf ich es offen sagen: Diese ungeordneten, rhythmenlosen A-Dur-Dreiklänge in hohen Violinlagen kamen mir langweilig, ledern, starr und nichtssagend vor. – Aber mit welcher Trunkenheit nahm mein Ohr damals die Klänge des »Tannhäuser-Marsches« in sich auf; sogar den Mittelsatz, wo wieder eine Reihe verlegener, zwar dem Marschtempo folgender Cis-Moll-Dreiklänge den Zuhörer in Verwirrung brachten, als fehle dort das Weiterspinnen der Melodie, fand ich Kraft, mir zu assimilieren; er rutschte sozusagen in dem gewaltigen Haupttempo mit durch.

Selbstredend ward der »Tannhäuser-Marsch« mit unter die Leistungen des »Höchsten in der Kunst« noch aufgenommen. – Damals bildete sich auch in mir die feste Überzeugung von der spezifischen Befähigung meiner Person zur Beurteilung von musikalischen Kunstwerken. Ich fand mein Urteil im Einklang mit demjenigen hervorragendsten Kenner damaliger Zeit, und voll Siegesgewißheit blickte ich in die Zukunft, in der Hoffnung, seinerzeit einer jener Gewaltigen zu werden, von deren dekretierenden Beschlüssen es abhängt, was das Publikum für schön zu halten hat und besonders, was zum »Höchsten in der Kunst« gehöre. Wir taten uns einige Freunde zusammen, stellten in geheimen Zusammenkünften unsere kritische Meinung in möglichst präziser, leicht zu behaltender Form zusammen und propagierten sie dann in alle Welt hinaus.

O welche Fluten umrauschten damals mein Ohr! Gounods pastöser »Soldatenchor« und himmelanstürmendes »Kerker-Finale«, Meyerbeers fanatische »Schwerterweihe«, Verdis herzbrechendes »Gebet«, Aubers hingehauchte »Schlummer-Arie«, Rossinis göttertrommelnde »Tell-Ouvertüre«, das war alles damals Primamusik, gehörte zum »Höchsten in der Kunst«. Ich war reich wie ein Kauffahrteifahrer auf dem großen Ozean der Musik. Ich hatte alles an Bord und vertrat es. Und doch, euch, ihr zarten Gespielen meiner Jugend, ihr süße Haydn-Sonaten, habe ich mitten in dem Trubel nie vergessen! –

Inzwischen ließ Ende der sechziger Jahre der obgemeld'te Richard Wagner eine Reihe neuer Opern erscheinen, die unter der Gunst eines begeisterten süddeutschen Fürsten auch aufgeführt wurden und worunter eine war mit dem Titel »Tristan und Isolde«. Selbe war ganz ausgespickt mit den oben charakterisierten verdächtigen Dreiklängen, nicht nur in hohen Violinlagen, sondern in allen möglichen Lagen; und dazu hatten fast ausschließlich die zwei Darsteller der Hauptrollen in höchst engbegrenztem Manual zu singen und unter ausdrücklicher Vermeidung irgendwelchen melodiöser Kadenz oder des Übergehens in die verwandten Tonarten der Ober- und Unterquint. – Herr Redakteur! Wie damals die Leute nach dem ersten Akte aus dem Theater stürzten, das weiß nur, wer es mit angesehn; einige mit rotem, zornglühendem Kopfe wegen der niederträchtigen, ihren Ohren zugefügten Beleidigung; andere mit gähnend aufgesperrtem Rachen eilten ins nächste Café; mit Kontremarken war der Platz vor dem Theater besät; Bekannte, die sich trafen, platzten vor Lachen heraus; man sprach von Mozart-sich-im-Grab'-Rumdrehen; meine Freunde und ich, wir drückten uns ernst und schweigend die Hand; wir wußten genug; wir wußten, daß das gesunde Gehör des deutschen Volkes diese schreckliche Versystematisierung von rat- und tatlosen Moll-Dreiklängen zu einer ganzen Oper abgelehnt hatte. – Damals erschienen von einem bekannten Physiologen interessante Untersuchungen über die Gehörsempfindung niederer Tiere und das dabei zum Ausdruck kommende Wohlbehagen. Man fand, daß kleine, gefällige Melodien Mozarts, die das Entzücken der Menschheit ausmachten, gewisse Tiere in Wut und Raserei brachten, besonders beim sogenannten Mittelsatz, der der Melodie eine Gegenmelodie in verwandter Tonstufe gegenüberstellt; während Cantus-firmus-Artiges, auf einem Grundbaß aufgesetztes, monotones Hin-und-Her-Vibrieren eines Soprans oder das beliebige lange Aushalten eines Moll-Dreiklanges in hohen Violinlagen mit höchstens einer Umkehrung nach zehn oder fünfzehn Minuten bei denselben unverkennbares Wohlbehagen mit pendelartigem Hin- und Herschwingen der Gliedmaßen hervorrief. – Es wurden damals unpassende Vergleiche bezüglich der Gehörs-Perzeption des Komponisten von »Tristan und Isolde« gemacht, die schicklicherweise besser unterblieben wären; aber in jedem Fall war die Angelegenheit bezüglich der neuen Oper endgültig erledigt. – Scheinbar! Es sollte ganz anders kommen. Bei gelegentlicher Wiederholung dieser oder jener ein- bis zweihundert Takte der Oper auf dem Klavier oder im Konzertsaal zeigte sich nämlich bei einzelnen der Anwesenden, besonders bei Damen, feierliche, gespannte Miene, glänzende Augen, Starrheit der Glieder, allerlei Anzeichen der Geistesabwesenheit; wie Frösche, die sich abends gegen das Licht kehren, saßen sie da, für alles abgestorben bis auf die eine Quelle, die sie fasziniert; erst nach Schluß des letzten Akkordes wich der merkwürdige Zustand; auf Befragen erklärten die Ertappten zitternd, sie empfänden ein eigentümliches Etwas, Unbeschreibbares, dem sie sich nicht entziehen könnten. Dieses Ereignis erweckte weit mehr Interesse als die Oper selbst. Die Ärzte waren bald einig, daß man hier einer neuen Krankheit gegenüberstehe, einer konstitutionellen Verkümmerung der Gehörs-Perzeption, einem Analogon der Farbenblindheit, welches sich im Mangel der Dreiklang-Müdigkeit äußerte und ein atavistisches Retourgehen auf die – man mußte die Sache beim Namen nennen – Tierstufe bedeutete. Die Damen hatten damals viel zu leiden. Dies hinderte nicht, daß man gelegentlich die seltsame Oper gab, die auch besucht wurde, mehr der Merkwürdigkeit halber und um die eigenen Sinnesorgane auf ihre Intaktheit zu prüfen.

Da hielt plötzlich ein Herr namens Wohlerzogen in einer größeren süddeutschen Stadt einen Vortrag, in welchem der Satz vorkam: Die Behandlung des Orchestralen in »Tristan und Isolde« sei »das Höchste in der Kunst«. Die Entrüstung, Herr Redakteur, die diese Behauptung in allen musikalischen Kreisen Deutschlands hervorrief, können Sie sich kaum vorstellen. Viele glaubten selbe mit Lächerlichkeit abgetan zu haben. Darin irrten sie sich. Die Sache wurde in Tagesblättern wie Fachzeitschriften aufs heftigste diskutiert. Aus der Hitze des Kampfes merkte man erst die Stärke des Gegners. Die gehörkranke Minderheit begann sich zu fühlen. Früher Parias und Ausgestoßene infolge einer geringfügigen, pathologischen Konstruktion ihrer Gehörschnecke, wurden sie jetzt »Auserwählte«, die die noch über dem mystischen Dreiklang im »Schwanenlied« liegende »transzendentale« Musik in »Tristan und Isolde« zu vernehmen verstanden. – Andere brachten vor, der Herr Wohlerzogen und Richard Wagner seien ein und dieselbe Persönlichkeit. Dies erwies sich als unrichtig: Herr Wohlerzogen wurde identifiziert. Anders war es mit der Behauptung, er habe eine der »gehörsepileptischen« Damen geheiratet. Dieser Ausdruck stammte von einem bekannten Pathologen und Irrenarzt, der in der neuen Krankheit einen dem epileptischen Schwindel analogen psychischen Status zu erkennen glaubte. Auch habe Herr Wohlerzogen vor dieser Ehe einige brave Sonaten und sogar eine »Suite«, also mit fest abgeschlossenen Cadres, wo man weiß, die Sache schließt in C-Dur oder G-Dur, komponiert. Dies war wirklich der Fall und konnte, geeignet verwertet, der neuen Richtung Schaden bringen – dem Umsichgreifen der Krankheit Einhalt tun, wie sich die Besonnenen ausdrückten. Aber im Taumel der damaligen Erregung wurde es nicht beachtet; andererseits war jeder im Publikum so sehr mit sich beschäftigt, mit seiner Gehörs-Perzeption, mit der Frage, ob er gesund oder krank, ob er »auserwählt« oder dem großen Plebs angehöre, daß die Antezedentien des Herrn Wohlerzogen rasch vergessen waren. Alles strömte nun in die fleißig gegebene Oper wie zu einer Generalimpfung beim Ausbruch einer schweren Volkskrankheit, um zu sehen, ob die Sache anschlägt oder nicht. Viele forderten die Kur und blieben zwei Akte. Der Wahrheit gemäß muß ich konstatieren, daß damals noch die meisten kopfschüttelnd herauskamen; die Armen, sie wußten nicht, daß das Gift zu seiner Wirkung ein Inkubationsstadium, oft von einem halben Jahr, nötig hatte. Andere begannen ihre Expektorationen in den Zwischenpausen mit Sätzen wie: »Eigentlich läßt sich nicht in Abrede stellen...« oder: »In der Tat, in der Szene im II. Akt, wo...«; bei diesen wußte man genug; sie waren geliefert.

Damals traten nun meine Freunde und ich zu wiederholten, ernstlichen Besprechungen zusammen. Wir wußten, wir waren alle gleichmäßig gut musikalisch veranlagte Leute, hatten uns seit unserer Jugend viel mit Musik abgegeben und waren namentlich in unseren Sinnesorganen zur Aufnahme und geistigen Verarbeitung von musikalischen Eindrücken von absoluter Intaktheit. Gleich von vornherein zeigte sich glücklicherweise, daß wir die alten geblieben waren, daß von einer Erweiterung des Umkreises dessen, was das »Höchste in der Kunst«, keine Rede sein könne; obwohl die Zustimmung eine gegen früher zögernde war und eine gewisse reservatio mentalis nicht verkannt werden konnte. Ich machte nur den einen Vorschlag, man solle nicht immer schlechtweg vom »Höchsten in der Kunst« reden, wo es sich doch um Musik handle und Plastik, Malerei, Dichtkunst gleichberechtigte Faktoren seien. Aber da kam ich schön an: ob ich nicht wisse, daß das Volk immer absolute, kräftige, ausschließende Urteile von entschiedenem Klang wolle, gar in so gefährlichen Zeiten, und dergleichen. – So wurden denn unsere Urteile mit den scharfumschriebenen Grenzen wie früher gezogen, bekräftigt und nach außen geltend gemacht.

Dies ging eine Zeitlang so. – Wer aber mit diesem Status der Dinge durchaus nicht zufrieden war, das war Herr Wilhelm Richard Wagner, der jetzt plötzlich aus der Dunkelheit verächtlichen Für-verrückt-Gehaltenwerdens herauskam und sich zu fühlen begann. Ihm genügte es keineswegs, einige hundert von ebenso pervers wie die seinen angelegten Ohren in seinem Gefolge zu wissen, während die übrige gesunde Menschheit unbehelligt von seinen verminderten Intervallen und endlosen Rezitativen die Opern Mozarts und Webers besuchte. Er wollte die Ohren seiner Zeitgenossen systematisch so lange bearbeiten, bis sie, den seinen gleich, nur mehr seine Kompositionen zu hören vermochten. – Die höchsten Gesellschaftskreise fingen an, sich für ihn zu interessieren. Durch einige reiche Partien, welche Damen aus dem Kreis der »epileptisch Gehörkranken« gefunden hatten, wurde das Entzücken an »Tristan und Isolde« ebenso Mode wie das Hinken am Hof einer bekannten englischen Königin oder die Verwendung von Schweinfurter Grün für allerlei Gebrauchsartikel im vergangenen Jahrzehnt. Obwohl maßgebende Kreise durch das Erscheinen neuer Kompositionen des W. R. Wagner, die an Eintönigkeit und durch viertelstundenlange Verwendung des As-Dur-Dreiklangs der Sahara glichen, erschreckt wurden und auf die Gefahr aufmerksam machten, griff die neue Gehörsmanie immer weiter um sich. Die Regierung des Landes suchte nach Gegenmaßregeln und berief die oberste Medizinalbehörde. Der obenerwähnte bekannte Pathologe, dem noch der berühmte französische Irrenarzt Moreau beigegeben wurde, hatte sich mit der Angelegenheit zu beschäftigen. Letzterer meinte: Die Richard-Wagner-Musik verhalte sich so wie eine Menge anderer spezifischer Gehirngifte, Alkohol, Morphium, Absinth u. a.; letzteres werde beispielsweise von allen Neulingen mit Heftigkeit zurückgewiesen; aber neun Zehntel kehrten zurück, um aufs neue die Probe zu bestehen, bis sie unterlägen und das liebgewonnene Gift allmählich ihren Körper zerstöre; so das Richard-Wagner-Gift, hundert bis zweihundert seiner Takte genügten, um den Organismus zu einer Wiederholung anzustacheln; zuletzt würden ganze Akte verschlungen; nur die Kräftigsten widerständen. Er rate, um die Seuche mit einem Schlage zu vertilgen, den Komponisten in eine Anstalt für Gemüts- oder Gehörkranke unterzubringen und dort zunächst für ein Dezennium zu überwachen, alle Wagner-Musik zu verbieten, Partituren und Klavier-Arrangements von »Tristan und Isolde« zu verbrennen. Den »Tannhäuser-Marsch« halte er für gesund (es sei denn, daß er, Moreau, selbst schon leicht angesteckt sei). – Diese ganze Theorie und die daran sich knüpfenden Schlußfolgerungen fanden viel Beifall. Aber vor der Ausführung schreckte man zurück. Man fand sie zu rigoros und zu bedenklich. So blieb die Sache beim alten. Aber der Umstand, daß sich die offizielle Behörde mit der Sache beschäftigt hatte, und die Behauptung, die Wagner-Musik sei ein Gift, welches das Gehirn eigentümlich verändere, brachte ihr immer neue Freunde. Jeden Tag kam Kunde von Neubekehrten. Die »Gehörkrankheit« griff um sich wie die »Tanzwut« im Mittelalter. Bestimmte Gesten und Gestikulationen kamen auf, die im Theater wie auch auf der Straße als Ausdruck bestimmter musikalischer Situationen und Empfindungen gebraucht wurden. Die deutsche Sprache mußte auf neue Wendungen sinnen, um den psychischen Status wiederzugeben. Wer diese Dinge nicht mitmachte, galt als Zurückgebliebener. Bald machte sich das Bedürfnis einer festen Gliederung der neuen Partei geltend. Ähnlich den »Tugendbünden« in den vierziger Jahren in Deutschland taten sich »Tristan-Klubs«, »Gralsritter«, »Dreiklangs-Schwärmer«, »Isolde-Kränzchen« auf. Gegenüber diesen Veranstaltungen waren die Konservativen, die Normalhörenden, bald auf die Defensive beschränkt. Die meisten schwiegen. Viele zogen sich furchterfüllt zurück. Meine Freunde und ich wagten kaum mehr, eine dissentierende Ansicht zu äußern. Einige gingen zur Gegenpartei über, angeblich überzeugt und bekehrt. Andere verheirateten sich, womit die Selbständigkeit des Urteils sowieso aufhörte. An eigentlichen Widerstand war kaum mehr zu denken. Nur selten kamen wir zusammen, um uns von der Intaktheit unserer Sinnesorgane zu überzeugen. Heimlich exekutierten wir auf einem alten Spinett die »Figaro-Ouvertüre«.

Leider machte sich gerade um jene unglückliche Zeit die Notwendigkeit einer Anstellung für mich geltend. Ohne Mitglied einer der obengenannten Vereinigungen zu sein, war es aussichtslos, einen Posten zu finden. Der betreffende Referent war »Gralsritter«, kneipte außerdem bei den »Fafner-Tötern«, seine Frau, Ministerial-Rätin X., war Patronesse der »Montsalvage-Nähschule«. So nötigten mich die Sorge um das tägliche Brot und außerdem Familienrücksichten – die Unterstützung einer verarmten Verwandten, früheren Koloratur-Sängerin – zu einem Schritt, den ich nimmer für möglich gehalten hätte: Ich trat den »Dreiklangs-Schwärmern« bei. Was ich dort gelitten, Herr Redakteur, wie ich mich mühte, die verzückten Gestikulationen, den mystischen Augenaufschlag, das neue Atmen nachzumachen, – wie ich auf meinem roten Parkettsitz wie auf feurigen Kohlen saß, um den richtigen Moment des Einsetzens mit der Geste der Verwunderung, der Mimik der Verzückung, der Träne der Rührung den anderen abzusehen, ohne zu spät zu kommen und mich zu verraten, davon können Sie sich kaum einen Begriff machen. – Trotzdem wurde ich entlarvt und mit Schimpf und Schande aus einem Verein ausgestoßen, dessen »subtile Gehörssphäre ich mit meinem rohen Empfindungsatem zu verunreinigen mich erkühnt hatte« – wie man sich ausdrückte. – Glücklicherweise hatte ich mein Anstellungsdekret schon in der Tasche. – Seit jener Zeit lebe ich zurückgezogen hier in Friedenhausen., einem kleinen Marktflecken, als Lehrer, nur von der Ferne die weiteren Ereignisse in der Hauptstadt verfolgend.

Was inzwischen geschehen, wissen Sie, Herr Redakteur. Sie wissen, daß jener W. R. Wagner in dem harmlosen Kreis-Städtchen Bayreuth, Bezirk Oberfranken, sich eine musikalische Inokulations-Anstalt à la Pasteur für ungeheure Kosten erbaut hat; daß die aus allen Gegenden der Welt dort zusammengeströmten Menschen zu Hunderten in einen großen, finsteren Kasten gesperrt werden, wo sie unter zur sicheren Einwirkung auf das Ohr raffiniertesten Bedingungen mit einer badewärtermäßig abgezirkelten Menge von Tonfluten übergossen werden, womit sie sich dem Wagnerschen traitement in bezug auf den Gehör-Nerv unterziehen. Wie es bei solchen gewaltsamen Impfungen geht, ein bestimmter Prozentsatz bleibt. Viele werden kataleptisch, wie eine starr gewordene Verzückung, aus dem Baderaum entfernt. Die Regierung sah sich genötigt, der wenige Schritte entfernt gelegenen Irren-Anstalt einen neuen Flügel anzubauen. Nur die kräftige, urwüchsige dortige Bevölkerung hält sich verhältnismäßig gut; sie gilt fast für immun und wird unbeschadet ihrer Gesundheit fleißig zu Bade- und Krankenwärter-Diensten herangezogen. – Das alles wissen Sie, Herr Redakteur, ebenso wie daß Hunderte von Vereinen in Deutschland, die den Namen des »Meisters« tragen, dafür sorgen, soviel wie möglich Gesunde nach der Kuranstalt Bayreuth zu schicken, wo sich alljährlich die schrecklichen Krankheits-Szenen vor aller Augen abspielen.

Dies alles könnte für mich, Herr Redakteur, keinen Grund abgeben, Sie zu belästigen. Wir leben in einem paritätischen Gemeinwesen. Im Rahmen des Gesetzes darf sich jeder der bestimmten Ausdrucksform seiner geistigen Inklination hingeben; wir haben Quäker, Convulsionaires, Spring-Prozessionen, Schopenhauerianer, Schuhplattl-Tänzer; jeder darf zittern, Krämpfe bekommen, Sacklaufen, den Willen im Nirwana ertöten oder Purzelbäume schlagen, um einer bestimmten Anschauungsweise auf künstlerischem, religiösem, ästhetischem, philosophischem oder choreographischem Gebiet äußerlich Ausdruck zu geben. Warum soll es keine musikalische Sekte geben, die an ihrem Versammlungsort nach Absolvierung ein oder mehrerer Chiliaden von eigentümlich komponierten Takten nach und nach in Gestikulation verfällt und ein verändertes Atmen einleitet? – Aber einem armen Lehrer das Brot entziehen, weil er mit der neuen Gehörsmanier sich nicht befreunden kann, weil er heimlich über Mendelssohn oder Balfe erwischt worden ist und der gefährlichen Inokulation sich nicht unterziehen will, den musikalischen Impfzwang, System Wagner, in Deutschland einzuführen und jeden Nicht-Geimpften als ein minderwertiges, gefährliches Individuum, als eine Art Menschen-Schlacke anzusehen, – das geht zu weit! Hören Sie folgenden Vorfall:

Wie mitgeteilt, lebe ich seit mehreren Jahren still und zurückgezogen in dem der großen Welt abgeschlossenen Friedenhausen. Ich bin der Lehrer der Gemeinde; meine schwachen Kräfte der Erziehung der Dorfjugend und dem musikalischen Privat-Unterricht widmend. In der Liebe meiner kleinen Untergebenen und der Achtung meiner Mitbürger sehe ich den reichsten Lohn für meine geringen Verdienste. Mein Abendgebet ist eine kleine Sonate von Haydn, meine Morgen-Andacht ein Präludium von Bach. – Dieses Frühjahr kam der Bürgermeister des Orts – es ist der Metzger – unerwartet in meine Wohnung und machte mir die Mitteilung, die Bildung eines Richard-Wagner-Vereins in der Gemeinde sei beschlossene Sache; das nahe Wettersheim habe schon seit dreiviertel Jahren seinen Richard-Wagner-Verein; Wettersheim habe weniger Einwohner als unsere Gemeinde; man dürfe nicht zurückbleiben; er bitte mich, außer den auswärtigen Richard-Wagner-Vereinen, denen ich zweifellos als Lehrer schon angehöre, auch dem neugebildeten beizutreten; gleichzeitig überreichte er mir die Liste der bereits eingezeichneten Mitglieder; ich bemerkte die Namen der wohlhabendsten Mitglieder des Orts, meist Bauern und Handwerker, außerdem den Schornsteinfeger und Polizeibüttel. Ich wollte dem Metzger begreiflich machen, daß die Wagner-Musik eine geistige Qualität sei, die den Menschen in seinem psychischen Gleichgewicht stark erschüttere; ich wollte Moreau anführen. Er schnitt mir aber jede weitere Erörterung mit den Worten ab: »Nach Wettersheim ist ein Rückschritt unmöglich! Bedenken Sie außerdem,« – fügte er begütigend hinzu – »welche Blöße würden Sie sich als Lehrer am hiesigen Ort geben!« – Währenddem ging er auf das Klavier zu. Auf dem Notenpult lagen aufgeschlagen einige Etüden von Moscheles. Mit zornglühendem Gesicht blickte der Fleischer zu mir herüber, und, auf das Notenblatt deutend, sagte er in abgehacktem Tone: »Was soll das?« – Ich bemerkte entschuldigend, es gelte dem Klavierunterricht eines Dorfmädchens. »Aber Herr Lehrer,« – fuhr der Bürgermeister in strenger Korrektur fort – »da hat man doch heutzutag' andere Dinge: ›Das Spinnerlied‹ – ›Chor der Friedensboten‹ aus ›Rienzi‹, ›Rheintöchter-Terzett‹ –!« Ich stand wie vernichtet. – Beim Weggehen machte mir der Bürgermeister in kordialem Tone begreiflich, ich möchte die Sache raschest ordnen, um nicht alle Unterrichtsstunden zu verlieren oder gar den Lehrerposten, den die Gemeinde zu vergeben habe. – Ich bat um mehrwöchige Bedenkzeit.

Zur ersten »Parsifal«-Vorstellung bin ich hierher gereist, um mich hier inokulieren zu lassen. Der für meine Verhältnisse sehr hohe Preis von Mk. 20 für jede Lymphe schreckte mich nicht ab; galt es doch meinen Lebensunterhalt. – Ich habe fürchterlich gelitten, Herr Redakteur! Und ich kann es nicht länger ertragen: Kaum sitze ich in dem schwarzen Kasten, und die giftträufelnden Flöten- und Hornbläser beginnen ihre diabolische Arbeit, wird mir's heiß vor der Stirn; meine Gedanken entweichen, und wie ein Gelähmter starre ich mit glasigen Augen in den schwarzen, unterirdischen Raum, wo die Orchestertiere schlummern. Um mich her beginnen die Verzückungsbewegungen, die mystischen Krämpfe und das sakkadierte Atmen; und ich hocke dort wie ein Mehlsack. – Was soll ich tun? Ich weiß jetzt, daß ich der Kranke bin; daß mein Gehörs- und Empfindungsvermögen auf einer niederen Stufe stehengeblieben, während das meiner Mitmenschen sich weiter entwickelt hat. Aber was soll ich tun? O ihr fürchterlichen Posaunen, – rief ich oft innerlich aus – haltet ein mit eurer Arbeit; aus euren Schallmündungen quillt gestocktes Blut, und ihr, giftträufelnde Klarinetten, o befleckt mein keusch erhaltenes Mozart-Herz nicht; ich bin eurem Ohren-Gift nicht gewachsen. – Aber, was soll ich tun? Die Kur schlägt bei mir nicht an! – Soll ich in den Richard-Wagner-Verein meines Marktfleckens eintreten und unter den sorgfältig aufpassenden Bauern verzückte Grimassen und mystische Konvulsionen imitieren, die bei der Schwere der Arbeit meinen ohnehin schwächlichen Körper vollends zugrunde richten werden? Oder soll ich, bis zum Äußersten gebracht, alles offen sagen, was ich empfinde? Soll ich wie Judas den »Meister« verraten und mich dann am höchsten Baum im »Wahnfried« aufknöpfen?

Helfen Sie mir, Herr Redakteur! Sie sollen ein warmes, empfindendes Herz haben! Sie sollen manchmal Mozart spielen! Helfen Sie einem Verzweifelnden.

Mit pflichtschuldiger Hochachtung

Gottlieb Freundlich,
Lehrer in Friedenhausen

Bayreuth, Ende Juli 1891