Georges Ohnet
Doktor Rameau – Erster Band
Georges Ohnet

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Erstes Kapitel.

Unter den hervorragenden Vertretern der medizinischen Wissenschaft von heute ist unstreitig Doktor Rameau von Ferrières, der in den weitesten Kreisen berühmte und am einstimmigsten anerkannte. Rameau, der für den ersten Chirurgen seiner Zeit gilt und an der medizinischen Fakultät als Lehrer der Anatomie wirkt, steht auch als innerer Arzt in allererster Reihe, und hat in der Heilkunde höchst bedeutsame Entdeckungen gemacht. Mit großer Schärfe und Sicherheit des Blickes vereinigt er eine Kühnheit ohnegleichen, und in verzweifelten Fällen scheut er vor den heroischsten Mitteln nicht zurück. Dabei ist er von einem beispiellosen Glück begünstigt, und es sind ihm Kuren gelungen, die ans Wunderbare grenzen.

Das unbedingte Vertrauen, welches er jedem einflößt, ist bei seinen Erfolgen jedenfalls ein sehr wesentlicher Faktor; Rameaus Anwesenheit am Krankenbette scheint dem Tod Einhalt zu gebieten, und der Patient fühlt sich schon gerettet, wenn er den großen Arzt eintreten sieht. Kein Fürst in Europa wurde je von einer ernstlichen Erkrankung befallen, ohne daß Rameau mit ungeheuren Kosten herbeigerufen worden wäre; als die Chirurgen von Innsbruck einem bei der Auerhahnjagd vom Felsen abgestürzten Erzherzog das Bein abnehmen wollten, war er es, der Mittel und Wege fand, dem Prinzen das Schicksal eines Krüppels zu ersparen. Das Honorar, das er dafür verlangte, belief sich auf hunderttausend Gulden; als er aber nach Caprera berufen ward, um Garibaldi von einer entzündlichen Geschwulst zu befreien, die seinem Leben Gefahr drohte, erbat er sich von dem großen Abenteurer nichts als eine Blume aus seinem Garten.

Rameau ist Demokrat und Freidenker; ersteres, weil er aus dem Volke hervorgegangen, sich dessen heißes Streben nach Gleichheit erhalten hat; letzteres, weil er bei seinen eindringlichen Untersuchungen und Studien immer nur die Materie unter dem Seziermesser hat, und weil sein Verstand sich sträubt, für möglich zu halten, was er nicht erklären kann. Er ist Anhänger der Entwickelungstheorie und hat über die Verbesserungsfähigkeit der Rassen Studien von bedeutender Tragweite gemacht.

Mit der ungeschwächten Kraft einer durch keine Ausschweifungen erschütterten Natur, hat er die Fünfzig erreicht; er ist ein hochgewachsener Mann mit einem durchfurchten Gesicht, das an vulkanisches Gestein gemahnt. Die ungeheure Stirn ist von dichtem, krausem, stark ergrauendem Haar eingerahmt, das an die Mähne eines alten Löwen erinnert; über den hellen grauen Augen, die so durchdringend und scharf sind, wie seine stählernen Instrumente, wölben sich schwarze, buschige Augenbrauen; das stark gerötete Gesicht deutet auf ein durch unermüdliche Thätigkeit erhitztes Blut. Der Mund mit den etwas wulstigen Lippen drückt durchaus Güte aus, und doch wirkt des Mannes Anblick schreckenerregend, sobald er verstimmt oder in Gedanken versunken, jene tiefe, senkrecht eingegrabene Falte zwischen den Augenbrauen hat, die allen wohlbekannt ist. »Rameau hat seine Falte«, heißt es im Spital wie im Hörsaal, und das Wort ist für Assistenten und Schüler ein Warnungszeichen; alles schweigt und drückt sich zur Seite, wenn die geistvolle Stirn des Gelehrten auf diese Weise durchfurcht ist, denn seine Zornesausbrüche sind fürchterlicher Art und durch nichts zu dämpfen.

Seine Grobheit ist nicht minder sprichwörtlich als seine Geschicklichkeit. Keine Frau kann mit größerer Zartheit und Leichtigkeit einen Verband anlegen oder eine Binde zurechtrücken, aber kein Fuhrman flucht greulicher über seine Mähren, als der Doktor über seine Gehilfen. Wenn sich die Donnerstimme des Chirurgen vernehmen läßt, wenn man ihn mit drohender Miene die scharfen Messer schwingen sieht, so verkriechen sich die in tiefster Seele erschrockenen Kranken in ihrem Bett und drücken den Kopf in die Kissen, um nicht zu sehen und nicht zu hören. Er bemächtigt sich ihrer einfach, und die Unglücklichen, welche mehr tot als lebendig sind, erkennen mit unendlicher Wonne, daß die Operation, vor der sie gezittert und die sie kaum angefangen glaubten, vollendet ist. Dann natürlich wird die ans Wunderbare grenzende Gewandtheit dieses menschenfreundlichen, wohlthätigen Henkers gepriesen, und jeder begreift, weshalb die Assistenzärzte und Studenten hinter seinem Rücken lächelnd sagen: »Doktor Rameau thut den Leuten nur mit Worten weh!«

Dieser seltene Mann hat die Stellung, welche er in der gelehrten Welt einnimmt, einzig seiner Willenskraft und seiner hohen Begabung zu danken, denn er ist sehr bescheidenen Ursprungs. Sein Vater war Bahnwärter an der Ostlinie und hatte da, wo die Bahn die Landstraße von Ferrières überschreitet, ein kleines Häuschen inne. Seine Mutter bewachte den Schlagbaum; in einem Wachstuchmantel, einen Lederhut auf dem Kopfe, eine kleine rote Fahne wie ein Gewehr geschultert, stand sie, so oft ein Zug vorübersauste, auf ihrem Posten.

Frei, ungebunden und sorglos wuchs Peter dort heran und kannte bis zu seinem vierzehnten Jahre keine andre Pflicht als die, seiner Mutter den schweren Schlagbaum zurückrollen zu helfen, wenn die Pächter, die vom Markte in Lagny zurückkehrten, durch Peitschengeknall ihr Verlangen, durchgelassen zu werden, kund thaten. Er hatte nichts vor Augen als den mit Kieseln beschütteten Bahndamm mit seinen hölzernen Schwellen und den vier blank glänzenden Schienensträngen, sowie die in leiser Schwingung befindlichen Telegraphendrähte, die in stürmischen Winternächten wie Harfensaiten ertönten, und seine einzige Unterhaltung war das Vorüberrasen der dampfspeienden Lokomotiven, die ihre Spur in einem Regen von glühenden Kohlenstückchen auf dem erschütterten Erdboden zurückließen.

Er lernte weder lesen noch schreiben und schien dazu bestimmt, ein schlichter, bescheidener Arbeiter zu werden. In keiner Weise machten sich besondre Naturanlagen bemerklich; weder zog er geometrische Linien in den Sand wie Pascal, noch knetete er aus der Thonerde der Böschung wunderliche Gebilde wie Canova. Ein Junge wie alle andern auch, war er stets zum Spielen aufgelegt, und zeichnete sich höchstens durch die Fertigkeit aus, mit der er Vögel mit Steinwürfen erlegte und in den Hecken, welche dem Bahndamm entlang liefen, den Hasen der benachbarten Jagdgebiete Schlingen legte. Kein prophetisches Zeichen verriet seine künftige Bedeutung, bis ein Zufall über seinen Beruf entschied.

Ein Güterzug, der nicht rasch genug auf sein Geleise übergegangen war, stieß mit einem Personenzug zusammen; einige Tote und eine große Zahl Verwundeter blieben auf dem Platze. Es war Abend und vollständige Dunkelheit herrschte; aus den zerschmetterten oder umgestürzten Wagen drangen herzzerreißendes Jammergeschrei und klägliche Hilferufe. Vom Schrecken verwirrt rannten die Bahnbediensteten zweck- und thatlos hin und her, und nur dem kleinen Peter Rameau kam es in den Sinn, nach Lagny zum Arzt zu laufen. Mit kurzen Worten unterrichtete er denselben von der Sachlage und kehrte dann mit ihm in seinem Wagen zur Unglücksstätte zurück. Ueberrascht über die Klarheit und Knappheit, mit welcher der Junge seine Angaben gemacht hatte, wagte der Doktor den Versuch, ihn als Gehilfen zu benützen. Ohne eine Miene zu verziehen oder zu erblassen, wusch er einem Heizer, dem der bis zur Schulter zerquetschte Arm abgenommen werden mußte, das Blut ab; mit einer Kaltblütigkeit, die fast den Eindruck der Gefühllosigkeit machte, legte der Knabe bei allen Operationen Hand an, verlor keinen Augenblick den Kopf, führte mit größter Genauigkeit aus, was ihm befohlen wurde, und zeigte eine ungewöhnliche Sicherheit und Geschicklichkeit der Hand.

»Donnerwetter!« sagte der Doktor, »der Schlingel hätte das Zeug zu einem großen Operateur, wenn man ihn studieren lassen würde! Was treibst du denn eigentlich, mein Junge?«

»Nichts.«

»Das ist nicht viel – etwas zu wenig für dein Alter sogar. Was willst du denn werden?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hast du Vater und Mutter?«

»Ja; dort wohnen sie.«

Und er wies mit dem Finger auf das kleine Häuschen, dessen erleuchtete Fenster durch die Nacht schimmerten.

»Ach so! Du bist der kleine Rameau. Deine Eltern sind wackere Leute; ich werde mit ihnen reden – weißt du, wie ich heiße?«

»Jawohl; Sie sind der Herr Doktor Servant aus Lagny.«

»Gut! Komm morgen früh vor acht Uhr zu mir. Wir wollen sehen, ob sich etwas aus dir machen läßt.«

In erster Linie schickte der Doktor ihn zur Schule, wo sich der in freier Luft und steter Bewegung aufgewachsene Wildling nur mit großer Schwierigkeit angewöhnte. Am Fleiß fehlte es nicht; vom ersten Augenblick an hatte ihn ein wahrer Heißhunger nach Wissen ergriffen, aber sein unruhiges Blut stieg ihm unaufhörlich derart zu Kopfe, daß er blaurot wurde und an heftigen Kopfschmerzen litt. Sein Beschützer und väterlicher Freund wurde sehr besorgt, als er diesen Aufruhr und Widerstand der Natur des Knaben beobachtete, aber Peter klagte nie und lernte mit eiserner Ausdauer. Von Tag zu Tag machte er bedeutende Fortschritte, und nach Verlauf des ersten Jahres war er zur freudigen Ueberraschung und größten Genugthuung des Dorfschullehrers im stande, sich um eine Freistelle im Gymnasium von Meaux zu bewerben, die ihm auch wirklich zu teil ward.

Von diesem Augenblick an ging es mit Riesenschritten vorwärts. In jeder Hinsicht durch den Doktor gefördert, begünstigt von der Kreisregierung, die den Ausnahmemenschen in ihm ahnen mochte, bestand er seine ersten Prüfungen, und mit zwanzig Jahren stand ihm der Eintritt ins Polytechnikum, wie in die Ecole normale offen; allein trotz des dringenden Zuredens von Seiten des Präfekten, trotz der Bitten seiner Lehrer, entschied er sich weder für das eine, noch das andre. Der einzige, auf dessen Stimme er hörte, war der, welcher ihn zuerst aus dem Dunkel der Unwissenheit gezogen, und der jetzt dem zum Manne gereiften Knaben sagte: »Werde Arzt. Was ich an dir gethan, das lohne du deinen Mitgeschöpfen: stelle deine unleugbare Begabung in den Dienst der Menschheit.«

Sobald er seinen Doktor gemacht, wurde er in dem »bureau central«, welches Aufnahme und Verteilung der Kranken in die Spitäler zu beurteilen hat, beschäftigt und bereitete sich gleichzeitig zur Habilitierung an der Fakultät vor, denn die Lehrthätigkeit zog ihn mit unwiderstehlichem Zauber an. Ein streitbarer Geist, ungestüm vorwärts drängend, griff er immer nach dem Entfernten, suchte Unbekanntes zu erforschen. Mit Leidenschaft versenkte er sich in das Studium der Chemie, ja er studierte selbst die Alchimisten, van Helmont, Valentinus und Paracelsus. Mit unendlicher Leichtigkeit wußte er aus ihren Arbeiten das Brauchbare herauszugreifen und die kabbalistische Geheimniskrämerei auszuscheiden. In der bescheidenen Behausung, welche er in einem fünften Stockwerke der Rue de la Harpe inne hatte, schuf er sich die kleine Küche zum Laboratorium um, und auf dem geschickt hergerichteten Kochherde stellte er seine Versuche an. In mancher Nacht bemerkten die guten Nachbarn hinter den kleinen Fensterscheiben phantastisch hin und her züngelnde Flammen verschiedener Färbung, und mit großer Scheu und einem Gefühl des Unbehagens gingen die wackeren Bürgersleute dem jungen Manne in seinem langen, engen schwarzen Rock, mit dem zerzausten Haar unter dem abgetragenen Hute aus dem Wege, wenn er ihnen auf der Treppe begegnete – er hatte wirklich einige Aehnlichkeit mit dem »Doktor Wunder« eines I. A. Hoffmann.

Bei Gelegenheit seiner Habilitierung an der Universität zeigte sich seine streitbare Natur zum erstenmal in ihrer herrischen Heftigkeit. Die Kühnheit seiner Ziele und die Neuheit seiner Anschauungen verblüfften die Herren Examinatoren; dieser junge Mann wagte es, vor seinen Lehrern Theorieen zu entwickeln, welche auf die Verneinung aller bisher gültigen Systeme hinausliefen, und er vertrat seine Ansichten mit einer schneidigen, rücksichtslosen Beredsamkeit, welche die hohen Würdenträger baß verwunderte und bei den Zuhörern begeisterten Beifall hervorrief.

Das Reformatorische im Wesen des Doktor Rameau mißfiel gründlich; man sah in ihm den Revolutionär. Allgemein schilderte man ihn als einen unruhigen Kopf voll Ehrgeiz, der, sobald die Fakultät ihn zuließe, alles Bestehende umzustürzen versuchen würde. Im Innersten verletzt und gereizt durch das Gefühl seiner Ueberlegenheit, strichen ihn seine Richter aus ihrer Liste; zweimal wurde er abgewiesen, und aller Gerechtigkeit zum Hohn zog man ihm Altersgenossen, deren Mittelmäßigkeit allerdings niemand beunruhigte, vor. Rameau knirschte vor Wut. Jetzt brach der Kampf zwischen ihm und den Zünftigen offen aus: »Wir lassen ihn nicht herein,« sagten sie; »Ich werde der Welt beweisen, daß sie Esel sind,« sagte er.

In solch gereizter Stimmung veröffentlichte er, ohne seine Vorbereitungen für ein abermaliges Examen hintanzusetzen, verschiedene Arbeiten, welche die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt auf ihn lenkten. In ganz Europa wurden sie besprochen und übersetzt; ein berühmter Professor in Leipzig schrieb einen Aufsatz, in welchem er sich ganz auf Seite des jungen französischen Forschers stellte. Der Widerstand gegen Rameau nahm den Charakter eines Schisma an; er fand leidenschaftliche Anhänger, die in ihrem Feuereifer so weit übers Ziel hinausschoßen, daß er sich genötigt sah, dagegen einzuschreiten und seine eigenen Neuerungen einzudämmen. Als man sah, wie er die Fanatiker und Ordnungsstörer im Zaume zu halten wußte, fing man an ihn doch für einen vernünftigen Menschen zu halten, und überdies ward seinen Widersachern und Verleumdern angesichts des Lärms, welchen sein Name erregte, etwas bänglich zu Mute. Die Fachzeitungen hatten sich der durch ihn angeregten Streitfragen bemächtigt, und bald bezeichnete man alle, welche Rameaus Theorieen bekämpften, als Reaktionäre. Sprach man von ihm, so war es jetzt guter Ton, bedenklich die Achseln zu zucken und zu bemerken: »Ein bedeutender Kopf; etwas allzu feurig, aber das gibt sich mit den Jahren. Jedenfalls ein Mann, mit dem man rechnen muß.« Eine republikanische und freidenkerische Bewegung hatte sich um Rameau gruppiert, und wenn fromme Seelen seinen Namen nannten, flüsterten sie sich leise zu: »Er ist ein Revolutionär und ein Atheist.«

Er war ein Revolutionär, aber nur in seinem Fache; für alles, was Geschäfte hieß, und wären es auch die Angelegenheiten des eignen Landes, hatte er eine vornehme Verachtung. Ein Führer der freisinnigen Richtung, welcher Beziehungen zu ihm hatte und die Popularität des jungen Mannes gern zu gunsten seiner Partei ausgebeutet hätte, fragte ihn, weshalb er mit seinem großen Verstand sich nicht mit Politik befasse. Rameau sah ihn von oben herab an und warf kurz hin: »Weil dazu nicht viel gehört!«

Atheist war er in der That, aber kein fehdelustiger. Was sein Nebenmensch über diesen Punkt dachte, war ihm sehr gleichgültig: er hatte seine Ueberzeugung, aber nicht das geringste Bedürfnis, andre für dieselbe zu gewinnen. Er machte kein Hehl daraus, daß er der geoffenbarten Religion völlig fremd gegenüberstand, und wenn er des Sonntags in dem kleinen Häuschen in Lagny bei seinem Wohlthäter zu Tische war, so ließ er sich von dem alten Doktor, der wie alle, die draußen auf dem Lande leben, wo der Frieden und die Harmonie der Natur allgewaltig die Seele beherrschen, ein Gläubiger war, willig ausschelten. Er stritt nie, sondern hörte gelassen und lächelnd die heftigen Ausfälle des wackeren Mannes mit an, und nur wenn ein solcher Angriff allzu spitzig wurde, schüttelte er die breiten Achseln wie ein Löwe, den eine Fliege belästigt, erhob sein Glas und rief fröhlich: »Auf Ihre Gesundheit, Doktor! Wenn ich die Freude erlebe, Sie hundert Jahre alt werden zu sehen, so glaube ich an Ihren Gott!«

Die Vorsehung verschmäht es offenbar, sich Anhänger zu werben, denn der treffliche Doktor Servant starb zu Rameaus aufrichtigem Schmerz schon mit siebzig Jahren. Er hinterließ einen Sohn, der Artilleriehauptmann war.

Der einzige, vor dem Rameau sich keinen Zwang anthat, in dessen Gegenwart er laut dachte, war sein Freund Talvanne, ein Mediziner gleich ihm und Sohn des berühmten Irrenarztes. Zum dereinstigen Nachfolger seines Vaters in der Leitung der Irrenanstalt zu Vincennes bestimmt, hatte er seine Studien mit großer Gründlichkeit betrieben und sich mit wahrhaft leidenschaftlichem Eifer der Anthropologie gewidmet. Die Freude an Schädelmessungen wurde bei ihm fast zur fixen Idee; fand irgend eine Studentenvereinigung statt, so geschah es nicht selten, daß er plötzlich aufstand, seinen Winkelmesser, eine Art von Zirkel mit verlängerten Schenkeln und einer Gradeinteilung, aus der Tasche zog, sich des Kopfes irgend eines Kameraden bemächtigte, den Vorsprung der Backenknochen und die Ausbiegung der Schläfen maß, um dann ernsthaft zu erklären: »Winkel gleich null; Brachykephalie in Verbindung mit sehr schwacher Ausladung der Backenknochen und der Bogen des Jochbeins.... Ein richtiger Auvergnatenschädel, mein Bester!«

»Hört! Hört! Bravo! Der große Anthropologe!« rief und brüllte es dann unter wieherndem Gelächter durcheinander.

In seiner Behausung hatte Talvanne eine ansehnliche Schädelsammlung zusammengetragen, und er betrieb die zur Feststellung der Geistesfähigkeit verschiedener Rassen dienenden Eichversuche mit großem Fleiße. Nach Saumarez', Vitreys und Treadwells Methode füllte er den einen Schädel mit Wasser, einen andren nach Broca mit Quecksilber, andre mit Sand wie Hamilton, mit Hirse wie Mantegazza, mit weißen Senfkörnern wie Philipps und endlich mit Schrot wie Morton. Trat man in das geräumige Arbeitszimmer, welches er im Erdgeschoß des väterlichen Hauses inne hatte, so entdeckte man an jedem möglichen und unmöglichen Platze Schädel;, auf Tischen, Stühlen, dem Kaminsims, der Wanduhr, überall grinste einem einer entgegen, und sogar der Tabak wurde in keinem andren Gehäuse aufbewahrt. Alles was irgendwie mit der Schädelmessung zusammenhing, hatte für Talvanne Wert; er sammelte sogar die Papierstreifen, vermittelst welcher die Hutmacher das Maß der Kopfweite ihrer Kunden nahmen, und behauptete dadurch zu den wertvollsten Beobachtungen zu gelangen.

Stets innerhalb der Familie, und zwar einer solid bürgerlichen, in der fortschrittliche Ideen keinen Eingang finden, lebend, und überdies von einer wahrhaft frommen Mutter erzogen, hatte sich Talvanne im innersten Herzen religiöse Ueberzeugungen bewahrt, welche durch seine wissenschaftlichen Studien in keiner Weise erschüttert worden waren. Er war ein begeisterter Anhänger der Entwickelungstheorie, aber er war ein Gottbekenner, und wenn Rameau sich hier und da hinreißen ließ, das Vorhandensein eines persönlichen Gottes in Abrede zu ziehen, so erhoben sich leidenschaftliche Erörterungen, die von Talvannes Seite mit um so größerer Heftigkeit geführt wurden, als er sich einer gewissen Halbheit unklar bewußt war, denn während sein Bürgersinn und die anerzogene Pietät sich gegen die Anschauung des Materialismus auflehnten, drängte ihn seine eigne Wissenschaft zu derselben hin. Immer aber blieb der Mensch mächtiger als der Gelehrte, und je mehr seine Sicherheit und Ruhe erschüttert waren, desto eher konnte er geradezu beleidigend gegen den Freund werden. Der Anfang dieser Unterredungen war immer ein vollkommen friedlicher.

»Das Charakteristische am Menschen,« konnte Talvanne bemerken, »ist das Bedürfnis nach Religion. Im Gefühl der eignen Schwachheit empfindet der Mensch es als Naturnotwendigkeit, an eine höhere Macht zu glauben, die ihm freilich unerforschlich bleibt und deren Wesen ihm nicht geoffenbart ist.«

»Wenn sie ihm nicht geoffenbart ist, woher weiß er, daß sie vorhanden?«

»Dafür spricht jenes allen menschlichen Wesen, ob weiß-, schwarz-, rot- oder gelbfarbig, innewohnende Sehnen, welches sie zur Anbetung treibt, einerlei, wen oder was sie anbeten, einen Gott, das Feuer, die Sonne, eine Schlange oder einen Stein.«

»Das ist Aberglaube, reine Geistesschwachheit!«

»Ohne Religion läßt sich der Mensch nicht leiten, nicht beherrschen!«

»Davon bin ich vollkommen überzeugt! Die drei großen Triebfedern jeder Religionsform sind Furcht, Bewunderung und Dankbarkeit, darum führt der Pfaffe die Hülle im Munde, um zu erschrecken, die Wunder, um Erstaunen zu wecken, und die göttliche Barmherzigkeit, um anzulocken ... auf Unwissenheit und Verzagtheit des Menschen wird klug gerechnet, und des Pudels Kern ist – Schwindel!«

Das war der Punkt, an dem Talvanne jedesmal seine Kaltblütigkeit einbüßte, und von wo ab er mit erhobener Stimme zu sprechen pflegte: »Wenn du auch noch so blind und verstockt bist und sein willst, das wirst du doch nicht leugnen, daß eine schöpferische Kraft vorhanden ...«

»Gewiß nicht, aber ich spüre dieser schöpferischen Kraft nach und ich finde sie in latentem Zustand in der Materie selbst. Jede organische Form geht mit Hilfe fast unmerklicher Wandlungen aus einer andern hervor.«

»Darin liegt aber ein bestimmtes Gesetz,« wandte Talvanne ein. »Alles muß doch seine ursprüngliche Ursache haben. ... Die ganze Natur ist planmäßig für den Gebrauch des Menschen eingerichtet und zwar von einem göttlichen Werkmeister.«

Rameau stand auf, ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und schüttelte die krause Mähne.

»Wenn alles für den Gebrauch des Menschen bestimmt und hergerichtet sein soll, wozu dann die schädlichen Tiere, wozu die giftigen Pflanzen, wozu die Ueberschwemmungen, Erdbeben und so weiter? Wozu vor allem die Krankheit? Ach natürlich, nun kommst du mit der göttlichen Pädagogik, mit der über den Menschen verhängten Strafe und bringst mir den ganzen theologischen Wust vom Sündenfall und von Adam und Eva! Die Krankheit ist ebenso alt wie das Leben, das zeigt dir die Paläontologie. ... Nun kommst du mit der Zweckmäßigkeit sämtlicher Organe, aber die vergleichende Anatomie zeigt uns eine ganze Reihe von Organen, die im Keim stehen geblieben sind, bei einer Spezies Zwecke erfüllen, bei einer andern völlig zwecklos sind, zum Beispiel die Brustwarzen beim Mann, die Zähne beim Walfisch? Und der Hermaphroditismus, wo bringst du den unter? Wozu die Ungeheuer? Es gibt vollständig ausgebildete Geschöpfe, die ohne Kopf zur Welt kommen und also nicht lebensfähig sind – wozu sie schaffen? Die Wahrheit ist, daß die der Materie innewohnenden Kräfte in ihrem zufälligen Aufeinandertreffen zahllose Formen erzeugen, und daß von all diesen Formen nur diejenigen am Leben bleiben, die sich auf irgend eine Weise den Verhältnissen, in die sie gestellt sind, anzupassen vermögen, nur die, deren Widerstandsfähigkeit sich kräftig genug erweist, sich entwickeln und umgestalten ...«

»O, was das betrifft, da sind wir einig!« fiel ihm Talvanne eifrig ins Wort. »Die Entwickelungstheorie ist mir oberstes Gesetz, aber sie schließt den Begriff eines persönlichen Schöpfers keineswegs aus ...«

»Aber, Schafskopf, wozu brauchst du denn einen Schöpfer, wenn du die Notwendigkeit, die Zweckmäßigkeit eines solchen nicht beweisen kannst? Du kannst dich also nicht entschließen, auf den Gottvater mit dem großen Bart und dem Blitzstrahl in der Hand zu verzichten? Was für eine Anbetungswut steckt denn nur in dir? O, über diese abgeschmackte menschliche Schwachheit, die sich, wie der Ertrinkende an seine Planke, an eine höhere Macht anklammern zu müssen glaubt! Eine wahre Sucht, sich beherrschen zu lassen, vor allem aber, die eigne Verantwortlichkeit von sich abzuwälzen. Wenn dieser Gott nicht vorhanden wäre, so würdet ihr ihn erfinden, nicht wahr? Nun wohl, und ich sage dir nur das eine: wenn dein Gott existiert, so ist er ein Ungeheuer, der uns zum Unglück geschaffen hat und sich am Anblick unsres Elends ergötzt, und weil ich eine so furchtbare Anklage gegen ihn nicht erheben will, ziehe ich es vor, an die Leben erzeugende Kraft der Materie zu glauben!«

Mit ätzender Schärfe und einer formlosen, aber im höchsten Grade wirksamen Beredsamkeit entwickelte Rameau seine Gedanken, berührte die neuesten Richtungen, die in der Philosophie bahnbrechend geworden, und beschnitt mit der kalten Sicherheit, mit der er sein Messer zu handhaben pflegte, dem Freunde die Flügel zum idealistischen Aufschwung, und nächtelang saß Talvanne beim Schein der bescheidenen Arbeitslampe am Kamin und hörte dem Freund zu, der ihn im Innersten verletzte und an dem er doch mit immer neuem Staunen die Tiefe des Blicks bewundern mußte, und dessen hohem Geist, der auf jedem Gebiet, auf das äußere Umstände ihn hingelenkt haben würden, Großes geleistet hätte, er seine Huldigung nicht versagen konnte.

Zu dieser innigen, auf Gemeinsamkeit der Interessen beruhenden Verbindung der beiden jungen Männer hatte sich ein dritter gesellt. Auf demselben Flur mit Rameau in der Rue de la Harpe wohnte ein junger Deutscher namens Franz Münzel. Er war Maler und von Stuttgart nach Paris gekommen, um in der Ecole des Beaux-Arts seine Studien zu vollenden; ein schweigsamer Mensch, der jedenfalls fleißig an der Arbeit saß, und den man des Abends regelmäßig Haydn oder Mozart spielen hörte, offenbar eine weiche, schüchterne Natur. Die beiden Zimmernachbarn hatten nie ein Wort miteinander gewechselt, nur weil er ihm mit seinem Malgerät auf der Straße begegnet war, wußte Rameau, welchem Beruf der junge Mensch angehörte. Trafen sie auf der Treppe zusammen, so zog jeder schweigend den Hut; keiner kannte den Namen des andern, und wenn zufällig auf Münzels Klavierspiel die Rede kam, so sprach Rameau von »dem Maler nebenan«.

Eines Tages kehrte der junge Deutsche sehr blaß von der Schule zurück und des Abends vernahm man keine seiner geliebten Sonaten. Er hatte sich mit heftigem Fieber gelegt und am nächsten Morgen war eine sehr schwere Halsentzündung ausgebrochen. Seine Kameraden in der Malschule hatten ihn, um seine Karikatur zu zeichnen, vollständig entkleidet und tättowiert an den Modelltisch angebunden und bei strenger Kälte einen ganzen Vormittag in dieser Lage ausharren lassen. In den nächsten drei Tagen verschlimmerte sich der Zustand derart, daß ein tödlicher Ausgang zu befürchten stand und daß der Arzt des Stadtviertels dem Portier erklärte, es sei keine Hoffnung mehr und eine Operation unmöglich. Dieser, welcher sich gar nicht mehr zu helfen wußte, kam nun auf den Einfall, an Rameaus Thür zu klopfen.

Ohne Feuer im Kamin, die Bettdecke um die Beine gewickelt, saß der Doktor an der Arbeit; er schickte sich an, abermals mit einer seiner neuen Theorieen, die ihm so viel Schimpf und Verfolgung eintrugen, vor die Öffentlichkeit zu treten. Schweigend erhob er sich, und da er den unglücklichen Franz in seinem dunkeln Zimmer röcheln hörte, nahm er seine Lampe mit und trat an das Bett. Das Gesicht dunkel gerötet, mit aufgetriebenem Hals, eingesunkenen Augen lag der arme Teufel, dem Ersticken nahe, vor ihm.

»Das kann keine Stunde mehr dauern,« äußerte Rameau nach der ersten flüchtigen Untersuchung. »Die Membranen haben sich schon bis in die Nasenkanäle ausgebreitet. Doch will ich es noch mit dem Luftröhrenschnitt versuchen.«

Er ging in sein Zimmer zurück, kam sofort mit einem Instrument wieder, machte mit fester Hand den Einschnitt, führte die Kanüle in den Hals des Sterbenden ein, aspirierte, ohne sich um die Gefahr einer Ansteckung im geringsten zu bekümmern, heftig, so daß eine Masse blutigen Schleims herausquoll und die Luft belebend und wohlthätig in die Lunge des Kranken einströmte.

»Man sollte jetzt die Familie in Kenntnis setzen.«

»Er hat keine. Er ist ein Ausländer, der allein in Paris lebt.«

Rameau warf einen Blick auf die blasse, von blonden Locken umrahmte Stirn des Kranken, trat von neuem an sein Bett und betastete den Schädel desselben mit Sorgfalt.

»Nach Kamper hätten wir es hier mit einem Brachykephalen zu thun! Ist Ihr Mietsmann ein Deutscher?«

»Ja, Herr Rameau, aber er spricht ganz gut französisch,« erwiderte der Portier, ohne den Sinn der von dem Gelehrten gestellten Frage zu verstehen.

»Gut, sehr gut, Brachykephale und Deutscher,« sagte Rameau mit einem halben Lächeln vor sich hin, »da wird sich Talvanne freuen.«

Während des ferneren Verlaufs der Krankheit wich Rameau nicht mehr von des jungen Künstlers Seite, dessen Arzt und Wärter er in einer Person war. Tagsüber arbeitete er an Münzels Tisch, und nachts las er beim schwachen Licht eines Nachtlämpchens, machte sich Notizen und lauschte mit Vergnügen den tiefen Atemzügen seines Patienten.

»Hörst du?« sagte er freudig zu Talvanne, der gekommen war, um nachzusehen, was aus seinem Freund geworden, »heute früh atmet er schon viel besser!«

So lange Franz das Bett hütete und Rameaus Sorgfalt für ihn nicht über den Charakter einer ärztlichen Behandlung hinausging, zeigte auch Talvanne warmen und aufrichtigen Anteil an dem Kranken. Er löste den Doktor des öfteren ab, wachte sogar bei Münzel, ohne seinen Schädel zu untersuchen oder seinen Gesichtswinkel zu messen, und opferte sich aus reiner Menschlichkeit, ohne nach Ausbeute für seine Wissenschaft zu trachten. Sobald aber der junge Mann wiederhergestellt war, und es deutlich zu Tag trat, daß Rameau sich ihm freundschaftlich zuneigte, wurde Talvanne völlig abgekühlt und fing an den Maler mit scheelen Augen zu betrachten. Die Zuneigung, welche der angehende Irrenarzt für den Freund, in dem er eine zukünftige Leuchte der Wissenschaft erblickte, im Herzen trug, war zu feuriger Art, um frei von Eifersucht zu sein, und es bedurfte der Aufbietung allen Einflusses, welchen Rameau über Talvanne besaß, um ihn zu einem freundlichen Entgegenkommen für Franz zu bewegen, und das Leben zu dreien, welches nun begann, war ein an Stürmen und Gewittern reiches.

Der träumerische Deutsche trug ein neues Element in die geistige Gemeinschaft der beiden Mediziner hinein. Er war ein Mystiker, das geheimnisvolle Helldunkel der hohen Kathedralen seines Landes lag noch wie ein leiser Nebel über seinem Denken, und in diesem trauten Dämmerlicht leuchteten im warmen Goldton der gemalten Scheiben die Gestalten der Heiligen, die es nicht störte, daß die Feen des Rheins und die Nixen der Märchen an ihnen vorbeihuschten. Rameau lachte und sagte: »Münzel ist ein kirchlicher Heide,« aber er hatte für jeden Gedanken, den der junge Mann äußerte, eine Nachsicht und ein Wohlwollen, die Talvanne außer sich brachten. Erhob sich ein Streit über einen religiösen Gegenstand und waren Rameau und der Maler verschiedener Meinung, so dämpfte jener seine Stimme, wickelte seine Sätze ordentlich in Baumwolle und nahm ihnen alle Ecken und Härten, nur um den Freund nicht zu verletzen.

»Du streitest nicht mit ihm,« brummte dann Talvanne wütend vor sich hin, »du flehst ihn an, du legst dich ihm zu Füßen. Wozu diese weichliche Schonung? Er ist kein Kranker mehr.«

Rameau stellte sich taub für solche Bemerkungen, und Talvanne nahm dann selbst den Kampf auf und verfocht die träumerisch hingeworfene Behauptung des Künstlers mit der ganzen Gewalt seiner messerscharfen Dialektik. Sofort war Rameau wieder der alte, und der sich zum Schutz des Wehrlosen aufgeworfen, wurde wie ein Verbrecher behandelt und hatte die Kriegskosten samt den Wunden zu tragen. Der Doktor donnerte drauf los, schleuderte seine vermessenen, alles niederreißenden Sätze wie Bomben hinein, riß die Kreuze vom Altar, verwandelte die Kirchen in Getreidespeicher und steckte die Pfaffen in den Soldatenrock, damit sie ihr Weihwasser im Kanonendampf kochen. Sobald aber Franz mit seiner ernsten, weichen Stimme sich ins Mittel legte, wurde er ruhig, schämte sich seiner Heftigkeit, und aus lauter Angst, sich die Seele des Jünglings entfremdet zu haben, entschuldigte er sich sogar.

»Dieser Dummkopf, der Talvanne ist an allem schuldig.«

»Ich? Ich habe ja einfach wiederholt, was Münzel gesagt hatte,« versicherte der Psychiater mit geheuchelter Unschuldsmiene.

»Laß gut sein, du verdirbst mir die Laune. Ein Glas Bier, Franz ... und dann spielst du uns ein Mendelssohnsches Lied!«

So endete der Abend, und auf den Sturm folgte tiefer Frieden. Die Augen nach oben gerichtet, ließ der Deutsche die Melodieen erklingen, die seine Kindheit umgaukelt hatten, und die Freunde hatten das Gefühl, daß im Mittelpunkte der Bilder, welche die Musik vor seiner Seele heraufbeschwor, ein blondes Mädchen mit blauen Augen stehe, das er in der Heimat zurückgelassen.

Daß er einer fernen Braut die Treue bewahre, nahm Rameau schon deshalb an, weil er nie irgend eine Beziehung zu einem weiblichen Wesen bei dem jungen Mann bemerkte, der übrigens nur widerstrebend von seinen Familienangelegenheiten sprach und nie ein Wort über Herzensgeschichten fallen ließ. Jedes Jahr ging er im Juli ein paar Wochen nach Stuttgart zu seinem Vater, der Musiklehrer und Erfinder einer neuen Solfeggiermethode war, und er kam von diesem Ferienaufenthalte immer gedrückt und abgemagert zurück, als ob er in einem kärglichen Haushalte, wo der Hungrigen zu viele und der Bissen zu wenig, gefastet hätte. Ohne Leidenschaft, ohne zündendes Feuer, aber mit unabänderlicher Regelmäßigkeit und einem Riesenfleiße war er an der Arbeit; auch als Schüler Flandrins klebte ihm noch eine gewisse Trockenheit der Behandlung an, die nach der Düsseldorfer Schule schmeckte: aber er verstand zu komponieren und auch zu malen; für das Porträt zeigte er entschiedene Anlage und er fing bald an Geld zu verdienen, was jedoch keinerlei Veränderung in seinen Lebensgewohnheiten zur Folge hatte. Er behielt seine bescheidene Stube in der Rue de la Harve nach wie vor bei, und wenn er sich in der Nähe des Luxemburgpalastes ein großes Atelier mietete, so geschah dies nur, um sich in den Augen seiner Auftraggeber nicht bloßzustellen. Trotzdem er sich gar nicht schlecht bezahlen ließ, schien er nie einen roten Heller in der Tasche zu haben, versagte sich jegliches Vergnügen und lebte so pedantisch regelmäßig und sparsam wie eine alte Jungfer.

»Der Junge muß ein Geheimnis haben,« sagte Rameau, »offenbar hat er ein Versenkloch, durch das sein Geld verschwindet ...«

»Laß mich doch mit deinen Mutmaßungen zufrieden,« erwiderte Talvanne bitter, »er ist einfach geizig. Das geheimnisvolle Versenkloch ist seine Sparbüchse.«

Nach sechs Jahren erst löste sich den Freunden dies Rätsel. Als Rameau eines Tages in einer deutschen Zeitung einen fachlichen Aufsatz las, fiel ihm der Name Münzel in die Augen. Er nahm das Blatt noch einmal zur Hand und fand unter der Rubrik »Aus dem Gerichtssaal« die Entscheidungsgründe eines Urteils, laut welchem des besagten Otto Münzels Anspruch auf die Erfindung des neuen Solfeggiensystems ungültig war, und er auf Antrag der Gebrüder Pfeiffer, deren Erfinderrechte er verletzt, zu Zahlung der Gerichtskosten sowie Erlegung von zehntausend Franken Schadensersatz verurteilt war, und überdies die Pflicht hatte, dieses Urteil in sechs von den Klägern bezeichneten Zeitungen zum Abdruck zu bringen u. s. w.

Seit zwei Tagen hatte sich Franz nicht bei Rameau blicken lassen, und vergebens hatte dieser an seine Thür gepocht, dieselbe war immer verschlossen gewesen. Von Besorgnis ergriffen, begab sich der Doktor nach seinem Atelier, trat ohne anzuklopfen ein und fand den jungen Mann mit weitgeöffneten, träumerischen Augen auf dem Sofa ausgestreckt. Ein angefangenes Bild, dessen trockene, eingeschlagene Farbe zur Genüge verriet, daß seit langem kein Pinselstrich daran gemacht worden, stand auf der Staffelei. Franz rührte sich nicht, als er den Doktor eintreten sah; er wandte nur den Kopf ein wenig, und ein schwaches, mühsames Lächeln spielte um seine Lippen. Ohne ein Wort zu sprechen, trat Rameau näher, zog das Zeitungsblatt aus der Tasche und hielt es ihm vor die Augen – Franz las ein paar Zeilen, erbleichte, stieß einen Schrei aus, richtete sich auf und sank schluchzend in die Arme des Freundes.

Hier lag also die Ursache des geheimen Kummers, dahin flossen die Einnahmen und Ersparnisse des Malers. Seit zehn Jahren schon schleppte sich dieser Prozeß zwischen Münzel und den Gebrüdern Pfeiffer von einer Instanz zur andern, und die Kosten desselben zehrten den letzten Heller der unglücklichen Familie auf. Man aß jahraus, jahrein Kartoffeln, und ein Braten war auf dem Tisch des alten Musiklehrers eine unbekannte Erscheinung, und jeder sparte sich den Bissen am Mund ab, nur um den Prozeß weiterführen zu können, an dessen glücklichen Ausgang alle unverbrüchlich glaubten. »Wenn ich zu meinem Recht gekommen sein werde, sollst du schon sehen, wie mir meine Methode Geld und Ruhm einträgt,« pflegte der alte Münzel Frau und Kinder zu vertrösten, und rannte dann zwischen zwei Klavierstunden atemlos zu seinem Anwalt, um ihm das Material zu einer neuen Klagschrift, auf ein Blatt Notenpapier hingekritzelt, zu bringen.

Der endgültige, unwiderrufliche Verlust des Prozesses war der Todesstreich für die Familie. Um die zehntausend Franken zu erschwingen, mußte der armselige Hausrat, das Instrument, die Noten, alles und alles verkauft werden, und seit zwei Tagen war Franz, der den ganzen Jammer der Seinen mittrug und mitfühlte, völlig vernichtet und gebrochen von diesem Schlag, Er hatte fünfhundert Franken, welche der Farbenhändler ihm vorgestreckt, in seinem Schreibtisch, aber keine Studie, keine Skizze, die verkäuflich gewesen wäre; er machte seit langer Zeit alles zu Geld, und in seinem Atelier war nirgends eine bemalte Leinwand zu sehen – kaum war ein Bild trocken, so verkaufte er es zu Schleuderpreisen an Händler, welche von seiner Geldnot Witterung hatten und sich dieselbe zu nutze machten. Was thun? Er konnte die Eltern und Geschwister nicht aufs Straßenpflaster setzen lassen, das hätte seinem wackern Vater den Todesstoß gegeben; Hilfe mußte geschafft werden, aber wie? Seit achtundvierzig Stunden lag er schlaflos da, schmiedete Pläne und verwarf sie wieder und sann und sann auf einen Ausweg, ohne ihn zu finden.

Rameau legte dem Freund die Hand auf die Schulter und schüttelte bedächtig den Kopf mit der borstigen Mähne.

»Deshalb also kasteist du dich und gönnst dir keine Freude, mein Junge? Kopf hoch und quäle dich nicht! Dir soll geholfen werden; drei- oder viertausend Franken habe ich zu Hause in einem Schubfach – den Rest zu beschaffen, laß meine Sorge sein!«

Wer diesen Rest gab, war Talvanne. Sehr verdrießlich über die phrenologische Täuschung, die er in bezug auf des Württembergers Schädel erlebt, streckte er mit saurer Miene, aber offener Hand Rameau zehntausend Franken vor.

»Wenn die Protuberanzen an Münzels Schädel nicht die des Geizes sind,« bemerkte er dabei, »so sind sie dafür die der Undankbarkeit. Sieh dir doch nur den Kopf an, er ist ja ein Typus dieser Gattung. Wenn man diesen Schädel untersucht hat, sollte man dem Besitzer lieber die Thür vor der Nase zumachen, statt ihm sein Herz aufzuthun.«

»Du wirst mir wirklich unausstehlich mit deiner Schädellehre,« versetzte Rameau barsch. »Mit deiner fixen Idee, jede individuelle Bildung auf einen bestimmten Typus zurückzuführen, gerätst du ganz auf Abwege und wirst zuguterletzt so verrückt werden wie deine Kranken.«

Talvanne war nicht von seiner Meinung abzubringen.

»Gut! gut! Wir werden ja sehen; die Zukunft wird dir in bezug auf den Jungen noch ein Licht aufstecken...«

Trotz dieser bestimmten Prophezeiungen flossen die Jahre dahin, ohne daß der vertrauliche Verkehr der Freunde eine Störung erlitten hätte. Jeder that seine Arbeit: Talvanne übernahm die Stellung seines Vaters und wurde der hervorragende Irrenarzt, dessen einzige Schrulle es ist, alle Verbrecher unzurechnungsfähig zu finden; Münzel wurde dank Rameaus zahllosen und einflußreichen Verbindungen ein vielbeschäftigter und -genannter Maler, und alle drei waren auf dem besten Weg zu Berühmtheit und Reichtum.

Rameau war jetzt Professor der Anatomie und seit kurzem Mitglied der medizinischen Akademie. In der gesamten gelehrten Welt war niemand, der ihm die Wagschale gehalten hätte, und man bewunderte ihn ebenso sehr, als man ihn fürchtete. Jedes Hindernis, das sich ihm in den Weg gestellt, hatte er mit einer Kraft ohnegleichen beseitigt, und seinen Gegnern war er ein Schrecken. Er besaß die Verwegenheit, die sich alles zu unternehmen erkühnt, und das Talent, das alles zu Ende führt. Kein Gelehrter, der nicht die Tatze des Löwen gefühlt hätte, keiner, den er nicht geschüttelt und zerzaust hätte, so unantastbar sich die Herren auch dünken mochten, und keiner, dem er nicht den Meister gezeigt. Weichheit und Sanftmut hatte er nur für die Schwachen und Demütigen; alle, die sich ihres Wissens rühmten und sich aufblähten, zerriß und schmähte er mit einer gewissen finstern Lust.

Er ging wenig in Gesellschaft, seine ungeschlachte Ehrlichkeit paßte nicht recht in die Zierlichkeit der Salons und seine Ausdruckweise hatte die landläufige Glätte, wie man sie zu den gewisperten und geflüsterten Unterhaltungen braucht, nicht. Er fühlte sich wenig zu Hause in der eleganten Welt, war wortkarg und linkisch, oder, geschah es, daß sich jemand fand, der ihn zum Sprechen zu bringen wußte, ihn in den Vordergrund stellen wollte, so konnte er in Zug kommen und mit einer glühenden Beredsamkeit, die stets Verwunderung, häufig Entrüstung erregte, drauf los reden. Rasch hatte sich das Urteil festgestellt, Rameau sei ein Original, und es hieß: »Er ist nicht ganz richtig im Kopf, hat Schrullen, wie sie beim Genie häufig genug sind. Aber ein wunderbarer Chirurg und ein bewundernswerter Arzt! Er rettet alle seine Patienten!«

Sonntags aß er bei Münzel, Donnerstags bei Talvanne – das waren seine Freudentage. Bei seinen beiden Freunden ging ihm das Herz auf und er erholte sich von den Anstrengungen eines ausschließlich der Arbeit gewidmeten Lebens, seine Stirn glättete sich, er ließ seiner Laune die Zügel schießen und sein an Rabelais gemahnender Witz spielte in tausend Farben. Talvanne zu quälen, war sein besondres Vergnügen, und er war unermüdlich, die tollsten Paradoxen aufzustellen, gegen welche der Psychiater zu seinem ungeheuren Ergötzen mit schwerem Geschütz und größtem Ernst zu Feld zog, Münzel hörte gemütsruhig lächelnd zu, und erst wenn der Streit hitzig ward, wenn Rameau, sich mehr und mehr erwärmend, zu donnern anfing und, die breiten Schultern wiegend, im Zimmer auf und ab stürzte, legte er sich ins Mittel, und sobald seine weiche Stimme erklang, ward das Gespräch wieder ruhig und friedlich.

Talvanne hatte unter dem Titel: »Von den Rassen und der Abstammung« eine Arbeit veröffentlicht, in welcher er eine ganze Reihe von Beobachtungen und Studien über Schädelmessung verwertete, mit Hilfe welcher er ganz bestimmte Normen aufstellen zu können glaubte. Das Kind eines solches Vaters aus der und der Rasse und einer solchen Mutter aus jener Rasse mußte seiner Theorie nach eine ganz bestimmte Schädelbildung haben, und es müßte bei einer Untersuchung seines Kopfes ein leichtes sein, anzugeben, welchen Ursprungs er war. Diese mit viel Geist und Scharfsinn zur Darstellung gebrachte Methode hatte Aufsehen erregt; die »Anthropologische Rundschau« hat sich derselben bemächtigt und sie des langen und des breiten beleuchtet und besprochen, zwischen Rameau und Talvanne aber bildete sie den Zankapfel, und der große Chirurg kannte kaum ein höheres Vergnügen, als diese Frage aufs Tapet zu bringen und seinem Freund Fallen zu stellen. Fiel dieser hinein, so konnte er sich darüber vergnügen wie ein Schuljunge.

»Da kommt ein Kind zur Welt,« sagte Rameau, »mit sehr stark entwickeltem Hinterkopf, das heißt mit dem Typus der spanischen Rasse, die Wärterin aber, welcher der Arzt den kleinen Balg in die Schürze geworfen hat, findet diesen Schädelbau tadelnswert und modelliert den wachsweichen Kopf mit ihren Fingern, bis er glücklich die normannische Rundung hat. Was wird in solchem Fall aus deiner Theorie? Wo findest du jetzt noch die Spuren der Abstammung? Du untersuchst den Kopf des kleinen Schlingels, wenn er ausgewachsen ist, und erklärst mit hochfeierlicher Miene, der Bengel sei in Ivetot zur Welt gekommen.«

»Du bist einfach abgeschmackt,« brummte Talvanne ärgerlich.

»Das ist leicht gesagt. Deine Methode ist nicht zuverlässig, die Schlüsse, zu denen sie berechtigt, sind sehr verschiedener Art: es ist so, kann aber auch anders sein! Kurz und gut, deine Beobachtungen sind unterhaltend, aber von keiner Tragweite.«

»Unterhaltend! Sie sind von einer pedantischen, gar nicht zu widerlegenden Genauigkeit, selbstverständlich in bezug auf die Allgemeinheit. Ausnahmen finden, ist kein Kunststück, die gibt es auf jedem Gebiet und, wie die Grammatik sagt, sie bestätigen die Regel ...«

Trotz dieser Neckereien war es Rameau, welcher Talvannes Bewerbung um einen Sitz in der medizinischen Akademie warm unterstützte, und wenn es ihm Spaß machte, den wissenschaftlichen Wert der Theorieen seines Freundes unter vier Augen in Abrede zu ziehen, so betonte er dessen Verdienste in der Oeffentlichkeit um so stärker. Er hatte zu Talvannes »Abhandlung über Geisteskrankheiten« ein herrliches Vorwort geschrieben, in welchem er die Frage von der Vererblichkeit des Wahnsinns mit unvergleichlicher Sicherheit erörterte. Dank dieser Studie von erschreckender Klarheit hatte das Buch einen bedeutenden Erfolg, und so folterte Rameau, im Herzensgrund gut, aber immer unausstehlich in der Form wie von jeher, den armen Talvanne auf der einen Seite, während er auf der andern für dessen Ruhm thätig war.

In Rameaus Laufbahn war dies die glanzvollste Periode, und sein philosophischer Geist offenbarte sich in wunderbarer Kraft und Hoheit. Seiner selbst gewiß, wagte er es, seine materialistischen Anschauungen mit der herben Glut und Schärfe eines Calvin der Welt zu verkündigen. Keiner konnte ihm mehr etwas entgegen halten, keiner gegen ihn aufkommen; wie eine lodernde Flamme verzehrte sein Genius alles, was sich seiner Entfaltung entgegenstellte, und die Ablegung seines Glaubensbekenntnisses war um so verblüffender, als sie inmitten einer offiziellen Umgebung, angesichts der regierenden Häupter geschah, welche vernichtet und bestürzt vor diesem Unerhörten standen.

Es war bei Gelegenheit der feierlichen Gründung einer Gesellschaft für zeitgenössische Philosophie, daß Rameau in Erwiderung auf die saft- und kraftlose Ansprache des Unterrichtsministers seine berühmte Rede über die Erschaffung des Menschen und das Wesen der Seele hielt. Er erörterte darin die Frage, wie sich die Physiologie nach dem Stand ihrer neuesten Ergebnisse zu der Annahme einer vom Körper losgelösten, für sich bestehenden Seele verhalte, und nachdem er jeden einzelnen Punkt mit fabelhafter Klarheit nach allen Seiten beleuchtet hatte, gelangte er zu dem Schluß, daß er für sein Teil sich in keiner Weise zu der Annahme einer solchen zu bekennen vermöge. Mit Donnerstimme, die Löwenmähne wild schüttelnd und die Lehne seines Fauteuils fast zwischen den Fingern abknickend, richtete er ein furchtbares Schlußwort an die Theologie und krönte dasselbe mit einer vollständigen Verneinung der Gottheit sowie der Versicherung, daß er sich's zum höchsten Ruhme anrechne, unter den Zweiflern der äußerste zu sein.

Kaum daß er zu sprechen aufgehört, war eine große Leere um ihn her entstanden, sämtliche Beamte, welche auf dem Podium ihre Plätze gehabt, verschwanden mit einer ans Wunderbare grenzenden Behendigkeit und Rameau erblickte nur noch gestickte Frackschöße. Um den Minister, der leichenblaß dastand, hatte sich ein Kreis gebildet, in dem die Köpfe hastig zusammengesteckt wurden und die Arme in lebhafter Gestikulation erhoben, als ob man den Himmel zum Zeugen des Frevels anrufen wollte. »Wohin soll uns das führen, meine Herren? Welch entsetzlicher Skandal?« erklang es von den Lippen der tonangebenden Persönlichkeit und mit rührender Einstimmigkeit wiederholte der Chor regierungstreuer Gründlinge: »Ein entsetzlicher Skandal! Ein entsetzlicher Skandal! Wohin soll das führen?«

Gemieden wie ein Pestkranker, von den die Ehrenwache haltenden Nationalgardisten, die in ihrem engen Soldatengewissen erwogen, ob man den Mann nicht lieber auf der Stelle festnehmen sollte, mit scheelen Augen angesehen, verließ er den Saal und durchschritt den Hof, um zu seinem Wagen zu gelangen. Dort fand er Talvanne, der ihn in größter Erregung und Bestürzung erwartete und in die Worte ausbrach : »O mein Freund, welch unseligen Gebrauch machst du von deinen herrlichen Gaben! ... Was für Ungeheuerlichkeiten hast du uns nicht eben zugemutet, aber mit wie viel Geist, mit welcher Beredsamkeit! ... Teufelsjunge.«

Entsetzen und Bewunderung kämpften in seiner Seele, aber die Freundschaft siegte und Talvanne zog den Arm des großen Mannes in den seinigen, preßte ihn in überströmender Herzlichkeit an sich und verließ an seiner Seite unter dem Druck größter Mißbilligung von oben herab schweigend das Gebäude.

Am nächsten Morgen empfing Rameau die Nachricht, daß er seines Lehramtes enthoben sei. Er versuchte keine Einsprache, er war nur auf dem Gebiet des abstrakten Denkens ein Fehdelustiger. Unter den Studierenden, wo seine Rede den ungeheuersten Widerhall gefunden hatte, rief seine Entlassung einen Sturm hervor. Man veranstaltete sofort öffentliche Kundgebungen und brachte dem verehrten Lehrer eine laute Huldigung dar, bei welcher sich an den benachbarten Fenstern lauter ängstliche und besorgte Köpfe zeigten. Der mit so donnerndem Vivat Herbeigerufene aber blieb unsichtbar; er hatte sich in Münzels Atelier geflüchtet und lauschte auf dem Sofa ausgestreckt dessen Spiel auf einer Orgel, welche den ganzen Hintergrund des weiten Raumes einnahm und deren feierlicher Klang weich und träumerisch zu der hohen Wölbung emporschwebte.

Vom Katheder vertrieben, begann Rameau zu praktizieren, und der Atheist, den die vornehme, fromme Welt gern ausgetrieben hätte wie Beelzebub, wurde nichtsdestoweniger mit Sehnsucht herbeigerufen, wo immer das Leben mit dem Tode rang. »Er hat einen Pakt mit dem Teufel,« hieß es, aber Genesung bleibt Genesung, selbst wenn sie einem aus der Hölle käme, und den Himmel konnte man ja hinterdrein mit ein paar Messen versöhnen.

Rameau nahm mit Leichtigkeit seine zweimalhunderttausend Franken im Jahre ein, aber den Reichtum, zu dem er nun plötzlich gelangte, auch zu genießen, das verstand er mit seinen bescheidenen Ansprüchen und einfachen Gewohnheiten nur in geringem Maße. Talvanne predigte ihm fortwährend, daß er etwas mehr Aufwand machen, seine Lebensweise ändern, vor allem eine andre Wohnung nehmen müsse. Rameau ging nicht darauf ein. Das Haus in der Rue de la Harpe wollte er nicht verlassen, aber er entschloß sich wenigstens, vom fünften in den ersten Stock zu ziehen, wo er eine Wohnung von fünf Zimmern fand, die ihm vollständig genügend erschien. Den Salon hatte er zu seinem Arbeitszimmer gemacht und zur Zeit der Sprechstunde gegen vier Uhr waren sämtliche Räume bis aufs Vorzimmer dicht besetzt, sein Diener gab jedem Ankommenden eine Nummer, nach der er vorgelassen wurde, und reich und arm, vornehm und gering wartete nebeneinander in gemeinsamer Hilfsbedürftigkeit, bis seine Stunde kam. Oft und viel hielt eine stattliche Reihe von Herrschaftswagen vor dem Haus und die bis an die Nase in Pelz steckenden Kutscher blickten von ihrem erhabenen Sitz verächtlich auf das löcherige, schmutzige Pflaster und den trübfließenden Rinnstein der alten Straße herab, in welchem die Hufe der an sorgfältig gekehrtes, aristokratisches Asphaltpflaster gewöhnten Pferde versanken.


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