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Erstes Kapitel

An einem klaren Oktobertage des Jahres 1880 saß ein junger Mann in elegantem Jagdkostüm am Saume eines der schönen Eichengehölze, die mit ihrem kühlen Schatten die vorderen Abhänge des Juragebirges bedecken. Ein großer brauner Wachtelhund, einige Schritte von seinem Herrn im Grase lagernd, sah denselben unverwandt an, als wollte er fragen, ob nicht bald aufgebrochen würde. Der Jäger schien indes nicht gesonnen, seinen Weg sobald fortsetzen zu wollen. Er hatte sein Gewehr an einen Baumast gelehnt, die leere Jagdtasche an den Rand des Weggrabens geworfen, und so, den Rücken der Sonne zugekehrt, das Kinn mit der Hand gestützt, ließ er seine Augen über das entzückende Panorama schweifen, das sich vor ihm entrollte.

Auf der andern Seite des Weges, an dessen Rand er Halt gemacht, breitete sich, dem Hochwalde entlang, eine zweijährige Schonung aus, deren dünngepflanzte Schößlinge wie grüne Inseln aus der Mitte von Farnkräutern und großen gelben Stauden hervorlugten.

Das waldige Terrain, welches gegen das Thal hin sich sanft abflachte, ließ in der Ebene den Marktflecken Pont-Avesnes erblicken, hinter dessen roten Häuserdächern der Schieferturm seiner alten Kirche löschhornförmig emporragte; rechts das Schloß, umgeben von breiten trockengelegten Grenzgräben, die mit Obstbäumen bepflanzt sind. Die Avesnes, ein stilles Bächlein, das die Einwohner anmaßend den »Fluß« nennen, glänzte wie ein silbernes Band zwischen dem zitternden Laubwerk verkrüppelter Weiden, die sich über seine Ufer neigen.

Weiterhin trieb der Wind sein Spiel mit dem dichten Qualm, der den feuerspeienden Schornsteinen eines Hüttenwerks entströmte, welches seine schwarzen Mauern am Fuße eines Hügels ausbreitete, dessen felsige Schichten behufs Gewinnung der Erze von großen Luken durchbohrt waren.

Oberhalb dieser Aushöhlungen grünten Weinstücke, die einen leichten Weißwein von erdigem Geschmack liefern, der gewöhnlich unter dem Namen »Moselwein« verkauft wird. Der blaßblaue Himmel war lichtüberflutet, ein leichter Nebel, durchsichtig wie ein Schleier, schwebte über den Höhen. Ein tiefer Friede ruhte auf dieser lachenden Natur, dazu war die Luft so rein, daß trotz der Entfernung vom Thale das dumpfe Geräusch der Hämmer aus den Werkstätten bis zum Walde heraufschallte.

Von der ihn umgebenden Ruhe in einen traumhaften Zustand versenkt, blieb der junge Jäger unbeweglich sitzen. Nach und nach hatte die Landschaft aufgehört, seine Blicke zu fesseln. Ein Gefühl stiller Befriedigung bemächtigte sich seiner, und lächelnd überließ er sich seinen Gedanken, die in den Weiten der Vergangenheit umhervagabundierten oder sich in köstliche Unbestimmtheit verloren. Die in ihrem Lauf sich wendende Sonne vergoldete die unter ihren Strahlen errötenden Gipfel der Eichen, eine drückende Hitze entquoll dem Boden und das Schweigen des Hochwaldes wurde noch intensiver.

Plötzlich wurde der junge Mann aus seinen Träumereien geweckt. Die kühle Schnauze seines Hundes hatte sich ihm auf die Kniee gelegt und zwei Augen mit menschlich verständigem Ausdrucke richteten eine stumme Bitte an ihn.

»Ei,« lachte der Jäger, »du langweilst dich, mein guter Alter. Geh doch, sei nicht ungeduldig, wir werden gleich heimkehren,« und mit einem leichten Seufzer sich erhebend, hing er die Jagdtasche um, warf die Flinte über die Achsel und, die Straße überschreitend, sprang er über einen schmalen Graben und trat in den Holzschlag ein.

Der Hund durchschnüffelte schon die Farnkräuter. Hinter einer Staude hielt er plötzlich still mit erhobener Pfote, gekrümmtem Halse, unbeweglich wie zu Stein verwandelt. Sein Schwanz bewegte sich leicht und mit den Augen nur schien er seinen Herrn zu rufen.

Kaum hatte dieser einige Schritte vorwärts gethan, als ein großer Hase aus seinem Lager aufsprang und, kaum gesehen, sogleich wie eine Kugel verschwand. Der junge Mann legte sofort an und gab rasch Feuer. Als der Rauch verflogen war, bemerkte der Schütze zwar ohne Erstaunen, aber doch mißvergnügt den Hasen, der sich im Hochwalde verlor. »Wieder einen gefehlt!« murmelte er, und sich zum Wachtelhund wendend, der ihn mit resignierter Miene erwartete, sagte er: »Welches Pech, nicht wahr? Du hattest ihn doch so schön gestellt!«

Im selben Momente krachte ein Schuß im Walde, ungefähr hundert Meter von dem jungen Schützen entfernt. Dann nach einer Weile Stillschweigens ließ sich ein Geräusch von Schritten hören, die Zweige wurden auseinander gebogen und ein großer robuster Mann in blauleinener Jagdbluse, hohen Stiefeln und großem Hute erschien am Rande des Waldes. Mit einer Hand trug er sein Gewehr, mit der andern hielt er den erlegten Hasen an den Hinterläufen hoch empor.

»Es scheint, daß Sie glücklicher waren als ich,« sagte lächelnd der junge Jäger, dem Neuangekommenen entgegentretend.

»Ah, Sie sind es, der geschossen hat, mein Herr?« fragte der Mann in der Bluse.

»Jawohl, und sehr ungeschickterweise, denn das Tier lief mir fast zwischen den Beinen hindurch, obgleich ich nur auf zwanzig Schritt Entfernung zielte.«

»In der That, das ist nicht sehr brillant,« bemerkte ironisch der Fremde. »Aber wie kommt es, daß Sie in diesem Teile des Waldes jagen?«

»Ich jage eben hier,« erwiderte der junge Mann mit leichtem Erstaunen, »weil ich das Recht dazu habe ...«

»Ich glaube kaum; dieser Teil des Waldes gehört Herrn Derblay, der niemand hier die Jagd gestattet.«

»Ah! So! Dem Hüttenbesitzer von Pont-Avesnes.« rief mit etwas hochmütigem Ausdrucke der junge Jäger; »wenn ich mich in seinem Revier befinde, so geschieht dies ohne mein Wissen, und ich bin ganz untröstlich darüber. Ich muß mich verirrt haben. Sie sind ohne Zweifel ein Wächter des Herrn Derblay?«

»Und Sie selbst, wer sind Sie?« fragte der Mann in der Bluse, ohne auf die an ihn gestellte Frage zu antworten.

»Ich bin der Marquis von Beaulieu und ich ersuche Sie, zu glauben, daß ich das Wildern nicht gewohnt bin.«

Bei diesen Worten errötete der Fremde, verneigte sich achtungsvoll und sagte:

»Verzeihung, Herr Marquis, hätte ich gewußt, mit wem ich zu thun habe, so würde ich mir nicht erlaubt haben, Sie anzuhalten und Erklärungen von Ihnen zu fordern. Setzen Sie Ihre Jagd fort, ich bitte darum ... an mir ist es, mich zurückzuziehen.«

Während der Fremde sprach, beobachtete ihn der junge Marquis aufmerksam. Trotz seines gewöhnlichen Anzuges hatte derselbe ein sehr edles Aussehen; sein Gesicht, umrahmt von einem schwarzen Barte, war schön und intelligent, die Hände fein und wohlgepflegt. Ueberdies trug er ein Gewehr von jener reichen Einfachheit, wie sie nur die englischen Waffenschmiede zu fertigen verstehen.

»Danke,« entgegnete kalt der Marquis, »ich habe nicht die Ehre, Herrn Derblay zu kennen, und weiß nur, daß er ein unbequemer Nachbar ist, zu dem wir in schlechten Beziehungen stehen. Es ist mir deshalb sehr daran gelegen, gerade auf seinen Besitzungen keinen Schuß weiter abzugeben. Ich weile erst seit gestern in Beaulieu und kenne das Terrain noch zu wenig ... mein Jagdeifer hat mich aus unsern Grenzen gelockt, aber ein zweites Mal soll dies nicht vorkommen.«

»Wie es Ihnen beliebt, Herr Marquis,« antwortete der Mann in der Bluse. »Herr Derblay würde indessen sehr glücklich gewesen sein, Ihnen bei dieser Gelegenheit beweisen zu können, daß er sicher gegen seinen Willen ein unbequemer Nachbar ist. Er hat ein Recht auf die Domäne von Beaulieu insofern sich angemaßt, daß er eine Grubenbahn dort vorbeiführte ... Aber seien Sie versichert, daß er es bereut und daß er bereit ist, Sie nach Ihrem Belieben zu entschädigen. Die Grenzen zwischen zwei Nachbarn sind oft sehr unbestimmt,« fügte er lächelnd hinzu; »Sie haben ja soeben selbst diese Erfahrung gemacht, Herr Marquis! ... Verurteilen Sie daher Herrn Derblay nicht, ohne ihn zu kennen. Sie würden später gewiß Ihre Strenge bereuen.«

»Sie sind sicherlich ein Freund von ihm,« bemerkte der Marquis, »vielleicht einer von seinen Beamten, denn Sie verteidigen ihn mit einer Wärme ...«

»Die ganz natürlich ist, glauben Sie, Herr Marquis!« Doch rasch zu etwas Anderem übergehend, fügte er verbindlich hinzu:

»Aber Sie scheinen heute nicht sehr glücklich gewesen zu sein, weder in Beaulieu, noch in Pont-Avesnes. Herr Derblay ist stolz auf seine Jagd und er würde es sehr beklagen, wenn Sie sein Gebiet verließen, ohne etwas mitzunehmen. Wollen Sie diesen Hasen behalten, den Sie mir freundlichst in den Schuß geschickt, und dürfte ich auch die vier Rebhühner hinzufügen?«

»Das kann ich nicht annehmen,« erwiderte lebhaft der Marquis. »Behalten Sie alles; Sie verletzen mich, wenn Sie weiter darauf bestehen.«

»Auf die Gefahr hin, Ihnen zu mißfallen, bestehe ich dennoch darauf,« antwortete der Mann in der Bluse. »Ich lege das Wildpret auf den Grabenrand, und es steht Ihnen frei, dasselbe hier liegen zu lassen ... desto besser für den Fuchs ... Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen, Herr Marquis.« Und mit einem Satze war er in dem nahen Walde, wo er mit langen Schritten verschwand.

»Mein Herr, mein Herr!« rief der Marquis, aber der Fremde war bereits seinen Blicken entschwunden.

»Ein seltsames Abenteuer,« murmelte der Marquis; »was ist da zu thun?«

Eine unerwartete Vermittelung machte bald seinem Zögern ein Ende. Der Wachtelhund war zum Graben gelaufen und, vorsichtig ein Rebhuhn mit den Zähnen erfassend, apportierte er es seinem Herrn. Dieser begann zu lachen und, den Hund liebkosend, sagte er:

»Du willst nicht, daß wir unverrichteter Sache heimkehren, scheint mir,« und indem er den Hasen samt den vier Rebhühnern in die Jagdtasche packte, entfernte er sich langsamen Schrittes und schlug den Weg nach Hause ein.

Schloß Beaulieu ist ein Gebäude im Stile Louis XIII. und besteht aus einer Hauptfassade mit zwei Seitenflügeln. Es ist aus weißen Steinen mit versetzten Ziegeln erbaut; die spitzen Dächer der Seitenflügel sind von hohen, mit kunstreichen Skulpturen verzierten Schornsteinen überragt. Eine breite, fünfhundert Meter lange Terrasse mit einer Balustrade aus rotem Sandstein erstreckt sich zu ebener Erde vor dem Schlosse. Man gelangt zu derselben über einen acht Stufen hohen Perron, unter welchem sich eine Grotte befindet, hinunter, an dessen schön gearbeitetem Eisengeländer Blumenguirlanden emporklettern, der Hand des Hinabsteigenden eine duftende Stütze bietend.

Diese gegen Süden gelegene Terrasse bildet im Spätherbst eine herrliche Promenade. Die Aussicht von hier ist reizend. Das Schloß, auf einem Hügel erbaut, der den Weinbergen und Steinbrüchen von Pont-Avesnes gegenüber liegt, ist von einem dreißig Hektar großen Park umgeben, welcher sanft in kleinen Abhängen gegen das Thal hinabläuft.

Das Hüttenwerk des Herrn Derblay hat die Schönheit der Landschaft wohl ein wenig beeinträchtigt, sowie die Stille des Landlebens unterbrochen; aber trotzdem gehört die Besitzung zu den schönsten.

Während langer Jahre blieb dieselbe jedoch vereinsamt. Der Marquis von Beaulieu, der Vater des jungen Jägers, im Jahre 1845 zwanzig Jahre alt und bereits Herr eines bedeutenden Vermögens, hatte in Paris ein Leben auf großem Fuße zu führen begonnen. Trotzdem kam er jährlich zur Jagdsaison auf drei Monate nach Beaulieu. Das war dann ein Fest für die Aristokratie der Umgegend, und die großartige Verschwendungssucht des Schloßherrn entschädigte alsdann das Land für die kargen Wintermonate.

Als im Jahre 1848 die Revolution ausbrach, setzten es sich die Winzer von Pont-Avesnes, elektrisiert von dem Wortschwalle einiger socialistischer Führer, in den Kopf, die generöse Unterstützung, die ihnen der Marquis stets gewährte, dadurch zu belohnen, daß sie sein Schloß plünderten.

Mit Flinten, Sensen und Heugabeln bewaffnet stürmten sie, die Marseillaise brüllend, hinter einer roten Fahne nach Beaulieu hinauf. Sie durchbrachen die Gitter, welche zu öffnen der Schloßkastellan hartnäckig verweigert hatte, und so, im Schlosse sich verteilend, machten sie sich ans Plündern, alles zertrümmernd, was sie nicht mitnehmen konnten. Der Geriebenste der Bande hatte den Kellereingang entdeckt und bald ging man vom Diebstahl zum Zechgelage über, wobei die auserlesenen Weine des Marquis von den Winzern als Kenner nach ihrem vollen Werte gewürdigt wurden. Mit der Trunkenheit kam auch ihre Roheit wieder und in die mit außerordentlicher Sorgfalt gepflegten Gewächshäuser eindringend, zerstampften diese Brutalen die schönsten Blumen und zerbrachen die kostbaren Vasen. Eine herrliche Flora von Pradier, auf einem Sockel im dichten Laubwerk stehend, zu deren Füßen eine Kaskade in einem Steinbassin plätscherte, war ihren Angriffen ausgesetzt. Einer der Wüteriche wollte eben mit Sensenhieben die wundervolle Statue zerstören, als der Betrunkenste unter ihnen, in einem plötzlichen Anfalle von Empfindsamkeit sich vor das Meisterwerk stellte und erklärte, daß er ein Freund der Künste sei und dem ersten, der die Figur berühre, seine Heugabel in den Bauch rennen würde. Die Flora war gerettet.

Dann aber, um sich zu entschädigen, beschlossen die guten Pont-Avesner, einen Freiheitsbaum aufzustellen. Sie entwurzelten im Parke eine junge Pappel, und nachdem sie dieselbe mit roten Lappen geschmückt hatten, pflanzten sie den Baum unter Jubelgeheul gerade in die Mitte der Terrasse. Hierauf stiegen sie wieder in den Marktflecken hinab, wo sie ihre revolutionäre Orgie bis in die Nacht fortsetzten. Am andern Morgen kam eine Gendarmeriebrigade nach Pont-Avesnes und die öffentliche Ordnung wurde ohne jede Schwierigkeit wiederhergestellt.

Als der Marquis von diesen tollen Streichen hörte, begann er herzlich zu lachen. Er fand es ganz natürlich, daß die braven Pont-Avesner die Wohlthaten, mit denen er sie überhäufte, mit Bösem vergalten.

Aber was ihn schier außer Fassung brachte, war die Erzählung von der Errichtung eines Freiheitsbaumes auf seiner Terrasse.

Das war zu arg! Der Spaß schien ihm alle Grenzen zu überschreiten. Er erteilte sofort seinem Gärtner den Auftrag, die Pappel in regelrechte Holzscheite zu zersägen und ihm dieselben zur Heizung seiner Zimmer nach Paris zu senden. Dem betrunkenen Freunde der Kunstwerke schickte er fünfhundert Franken und ließ den Pont-Avesnern sagen, daß er, um sich für diese revolutionäre Posse zu rächen, zeitlebens nicht wieder nach Beaulieu zurückkehren würde.

Der Marktflecken, für den dieses Verbannungsdekret einem Verluste von mindestens zwanzigtausend Franken jährlich gleichkam, machte durch seinen Maire alle möglichen Annäherungsversuche und überreichte schließlich sogar eine vom Gemeinderate unterzeichnete Bittschrift.

Alles vergebens! Der Marquis verzieh den Freiheitsbaum nicht und Schloß Beaulieu blieb unbewohnt.

In Wirklichkeit aber trugen die Reize des Pariser Lebens nicht wenig zu diesem Entschlusse bei. Der Klub, die Theater, der Sport und die Galanterieen hielten ihn viel sicherer von Beaulieu entfernt als der Groll gegen seine Bauern. Indes nach mehreren Jahren eines Lebens voll Aufregungen und Genüssen wurde er all dieser Tollheiten überdrüssig und, eine gute Stunde benützend, verheiratete er sich.

Seine junge Frau, eine Tochter des Herzogs von Bligny, besaß ein sanftes Gemüt und einen ruhigen Geist. Sie vergötterte den Marquis und wußte über seine Schwächen die Augen zuzudrücken. Er gehörte zu jenen liebenswürdigen Verschwendern, für welche das Vergnügen der Hauptzweck des Lebens ist und die Hand und Herz stets offen haben. Unfähig, einer Laune seiner Gemahlin zu widerstehen, konnte er sie doch vor Kummer vergehen lassen, um es nachher wieder bitter zu bereuen.

Wenn die Marquise am Morgen nach irgend einem gar zu tollen Streiche grollte, küßte er ihr die Hände und sagte mit Thränen in den Augen: »Du bist eine Heilige!« Und am nächsten Tage begann er von neuem.

Die Flitterwochen der jungen Gatten dauerten drei Jahre. Das war anständig genug für einen Mann von dem Schlage des Marquis. Ihrer Ehe entsprangen zwei Kinder: ein Sohn und eine Tochter. Octave und Claire wurden von ihrer Mutter erzogen; der künftige Erbe, ernst und strenge, um ein tüchtiger Mann zu werden, die Tochter fein und sorgfältig, um dereinst das Glück desjenigen zu werden, den sie lieben würde.

Seltsame Laune der Natur! Der Sohn war das leibhaftige Ebenbild der Mutter, sanft, ruhig und heiter; die Tochter hatte den stolzen, heftigen Charakter des Vaters geerbt. Erziehung vermag nun wohl die Natur zu mildern, verändern kann sie dieselbe niemals. Als sie heranwuchsen, wurde Octave der liebenswürdige junge Mann, der zu werden er versprochen, und Claire das stolze, hochfahrende Mädchen, welches schon ihre Kindheit prophezeit hatte.

Durch einen traurigen Unglücksfall erhielten sie bald noch einen Gefährten. Der Bruder der Marquise, der verwitwete Herzog von Bligny, kam auf die erbärmlichste Art auf dem Rennplatze ums Leben, indem ihm von seinem Pferde die Rippen eingedrückt wurden. Dieser Sprosse eines alten Heldengeschlechtes, der wie ein Jockey endete, hinterließ nur ein geringes Vermögen. Sein Sohn Gaston wurde nach den Trauerfeierlichkeiten zu seiner Tante, der Marquise, gebracht und verblieb bei ihr.

Geliebt wie ein drittes Kind, wuchs er neben Claire und Octave heran. Aelter als sie, verriet sein Wesen bereits die Eleganz und den Zauber einer veredelten Rasse. Er war von seinem Vater vernachlässigt worden, dessen Existenz als Lebemann mit der Erziehung und Ueberwachung eines Kindes wenig harmonierte. So, bald den Dienern überlassen, die ihn in ihre niedrigen Intriguen einweihten, bald von dem Herzog in seine Zirkel mitgeführt und von der ungesunden Kost des Restaurants überreizt, wurde die Unschuld dieses Kindes durch die Liederlichkeiten der Dienstboten und die Galanterieen seines Vaters harten Versuchungen ausgesetzt.

Als er zu seiner Tante kam, war er physisch und moralisch ein sieches Kind. Doch fand er in der reinen Luft des Familienlebens die Anmut und Frische der Jugend wieder. Mit neunzehn Jahren beendete er seine Studien und versprach ein liebenswürdiger Kavalier und ein vollendeter Edelmann zu werden. Um diese Zeit bemerkte er, daß seine Cousine Claire, die vier Jahre jünger war als er, nicht mehr das kleine Mädchen von ehedem sei.

Eine plötzliche Veränderung war mit ihr vorgegangen. Wie ein schöner Schmetterling sich aus seiner Larve entpuppt, war Claire zur glänzenden Pracht einer blonden Schönheit erblüht. Ihre schwarzen Augen glänzten in mildem Lichte und ihre bewunderungswürdig gebaute Gestalt war von unvergleichlicher Eleganz. Gaston betete sie an. Es war wie ein Blitzstrahl über ihn gekommen. Zwei Jahre lang verschloß er indes sein Geheimnis in sich.

Ein großer Unglücksfall war schuld, daß er es verriet; im Schmerze sind die Herzen mitteilsamer. Der Marquis von Beaulieu war plötzlich gestorben. Dieser Lebemann verschwand geheimnisvoll à l'anglaise aus dieser Welt. Er war nicht krank, er hörte bloß zu leben auf. Man fand ihn tot in seinem Arbeitskabinett, wo er in den Akten eines Prozesses blättern wollte, den er gegen Seitenverwandte in England führte. Diese ungewohnte Arbeit war ihm nicht gelungen.

Die Aerzte, welche alles präcis bestimmen und nicht zugeben wollen, daß man sich ihrem Ausspruch entziehe, selbst beim Sterben nicht, erklärten, daß der Marquis infolge von Berstung einer Pulsader verschieden sei.

Die Klubfreunde schüttelten den Kopf und meinten, daß der gute Beaulieu geendet habe wie Morny, verzehrt, verbrannt durch sein ausschweifendes Leben. Gewiß ist, daß man nicht ungestraft eine Existenz führt, wie es der Marquis seit fünfundzwanzig Jahren gethan. Besser Eingeweihte behaupteten, daß die ihm eines Tages von seinem Rechtsanwälte gemachte Entdeckung, daß sein Vermögen bis auf den letzten Sou verbraucht sei, den leichtsinnigen Verschwender ebenso sicher getötet habe, wie wenn ihn eine Kugel ins Herz getroffen hätte.

Die Familie des Marquis beschäftigte sich nicht mit der Ergründung der Ursachen dieses plötzlichen Todesfalles, sie dachte nur ans Weinen, denn Herr von Beaulieu wurde von den Seinen geliebt und geachtet, als wäre er das Muster eines Gatten und Vaters gewesen. Die Marquise kleidete ihr ganzes Haus in Trauergewänder und veranstaltete dem, den sie ungeachtet seiner Schwächen angebetet hatte und den sie nun bitter beweinte, ein fürstliches Leichenbegängnis. Octave, nunmehriger Marquis von Beaulieu, und der Herzog von Bligny, sein Adoptivbruder, schritten dem Trauerzuge voran, umgeben von dem ältesten Adel Frankreichs. Und als sie am Abend in das düstere, verödete Palais heimkehrten, erwarteten sie die Marquise und Claire, um sie zu trösten und ihnen für die schwere und schmerzliche Aufgabe zu danken, die sie eben erfüllt hatten. Hierauf begab sich die Marquise mit ihrem Sohn auf ihr Zimmer, um mit ihm über die Zukunft zu beraten. Gaston und Claire gingen in den Garten.

Unter den hohen Bäumen dunkelte es bereits. Es war ein schöner Sommerabend und die Luft von Blumenduft erfüllt. Das junge Paar ging langsam und schweigend um den großen Rasenplatz herum. Beide hingen ihren Gedanken nach. Nach einer Weile blieben sie gleichzeitig stehen und ließen sich auf eine Steinbank nieder, wo die eintönige Melodie einer Fontäne zu ihren Füßen sie in Träumereien einwiegte.

Plötzlich unterbrach Gaston das Schweigen und mit hastigen, sich überstürzenden Worten, wie jemand, der zu lange an sich gehalten, sprach er zu Claire von seinem tiefen Schmerze über den Verlust des ausgezeichneten Mannes, der Vaterstelle bei ihm vertreten hatte. Eine tiefe Rührung, die er nicht beherrschen konnte, erfaßte ihn. Seine Nerven waren tags über zu grausam angespannt gewesen, eine Schwäche bemächtigte sich seiner, und die schmerzliche Aufregung kam in dieser Stunde zum Ausbruch. Er vermochte nicht, seine Thränen zurückzuhalten und begann heftig zu schluchzen. Seinen heißen Kopf in die Hände Claires legend, rief er aus: »O, nie werde ich es den Deinen vergessen, was sie mir gewesen. Was auch das Leben bringen möge, du wirst mich stets an deiner Seite finden ... denn ich liebe dich ...« und zwischen seinem Schluchzen drangen immer die Worte hervor: »Ich liebe dich! Ich liebe dich!«

Ciaire hob sanft Gastons Kopf empor und errötend, wie beschämt über diese leidenschaftliche Hingebung, erwiderte sie mit mildem Lächeln:

»Auch ich liebe dich!«

Gaston, außer sich, rief:

»Claire!«

Das junge Mädchen legte ihm die Hände auf die Lippen und mit der Feierlichkeit eines bindenden Versprechens hauchte sie einen Kuß auf die Stirne des Herzogs. Dann erhoben sie sich langsam und setzten Arm in Arm ihren Spaziergang fort, schweigend, denn sie lauschten der Sprache ihrer Herzen.

Am nächsten Tage begann Octave von Beaulieu seine Rechtsstudien und Gaston trat in das Ministerium des Auswärtigen ein. Die republikanische Regierung suchte damals die hohen Namen der Aristokratie an sich zu fesseln, um Europa zu beruhigen, das mit besorgten Augen auf die triumphierende Demokratie blickte. Der junge Herzog wurde dem Kabinette des Herrn Decazes zugeteilt und schien einer glänzenden diplomatischen Laufbahn entgegenzugehen.

In den Salons der vornehmen Gesellschaft hatte er durch die Eleganz seiner Formen, die Schönheit seines Gesichtes und den Reiz seiner Unterhaltung großen Eindruck gemacht. Zumeist waren es die Mütter erwachsener Töchter, die sich ihm näherten, doch blieb er gleichgültig gegen jedes Entgegenkommen. Seine schönsten Abende waren diejenigen, die er im kleinen Salon seiner Tante verlebte, wo er seine Cousine ansehen durfte, die mit vorgebeugtem Kopf an einer Stickerei arbeitete. Ihre im Scheine des Lichtes glänzenden blonden Locken fielen auf ihren weißen runden Hals hernieder. Und Gaston blieb ruhig und ernst, mit den Augen die goldenen Haare verschlingend, die er anbetend hätte küssen mögen. Um zehn Uhr empfahl er sich von der Marquise, drückte brüderlich die Hand Claires und ging in seine Gesellschaft, um bis in den Morgen hinein zu tanzen.

Den Sommer verbrachte die ganze Familie in der Normandie auf einem Gute der Marquise, denn getreu dem Grolle ihres Gemahls, war sie noch kein einziges Mal in Beaulieu gewesen. Dort war Gaston vollkommen glücklich. Trunken von der reinen Landluft, durchstreifte er an Claires und Octaves Seite die Wälder, während die Marquise ihr Familienarchiv nach neuen Dokumenten durchstöberte, die ihr in dem Prozesse mit den englischen Verwandten etwa dienlich sein konnten.

Es handelte sich dabei um eine bedeutende Summe, die dem Marquis von Beaulieu testamentarisch vermacht war. Die Engländer bestritten das Legat und die Advokaten beider Parteien, die sich in den Rechtsstreit eingenistet hatten, wie Ratten in einem Käse, bereicherten sich, indem sie die Feindseligkeiten in die Länge zogen. Diesen Prozeß, den der Marquis aus Eigenliebe begonnen, mußte seine Witwe aus zwingenden Gründen weiterführen, denn das Vermögen des Herrn von Beaulieu war durch dessen unsinnige Verschwendung so zusammengeschmolzen, daß die bestrittene Erbschaft in England das eigentliche väterliche Erbe der beiden Kinder bildete. Das persönliche Vermögen der Marquise war schön und solid, reichte jedoch bloß zur Bestreitung eines standesgemäßen Haushaltes hin. Trotz ihrer Angst vor den Rechtskniffen war Frau von Beaulieu als Klägerin aufgetreten, um das Vermögen von Octave und Claire zu verteidigen, und, vertieft in das Studium vergilbter Akten, in lebhaftem Briefwechsel mit Rechtsgelehrten, erwarb sie sich ganz hübsche Kenntnisse auf dem Gebiete des Prozeßverfahrens. Sie hegte unbedingtes Vertrauen in den Ausgang des Prozesses. Die Ihrigen bestärkten sie in dieser Sicherheit und so wurde Claire allgemein für eine Partie von zwei Millionen Franken für denjenigen geschätzt, der einst das Glück haben würde, sie die Seine nennen zu dürfen. Bewerber von hoher Geburt und großem Vermögen hatten bereits um ihre Hand angehalten, doch wies sie alle Anträge zurück. Die Marquise, darüber beunruhigt, befragte Claire um den Grund, und diese teilte ihr ohne Zögern mit, daß sie sich dem Herzog von Bligny versprochen habe.

Frau von Beaulieu war von diesem Verlöbnisse nicht besonders befriedigt. Außerdem, daß sie über eine Ehe zwischen Cousins höchst mißbilligende Ansichten hatte, beurteilte sie auch Gaston mit einem gewissen Scharfblick. Sie erkannte ihn, wie er wirklich war, als flatterhaft, leidenschaftlich und unbeständig, wohl fähig, heiß zu lieben, doch unfähig, treu zu lieben. Indessen wollte sie ihre Tochter nicht beeinflussen. Sie kannte den seltsam festen Charakter Claires und wußte, daß nichts sie bewegen könnte, eine freiwillig eingegangene Verbindung zu lösen. Noch mehr, im Grunde ihrer Seele fühlte sich die Marquise von einer Verbindung geschmeichelt, welche den schönen Namen der Bligny, den sie bei ihrer eigenen Verheiratung abgelegt, wieder in ihre Familie zurückbrachte. Sie empfing daher ihren Neffen sehr gut, und da sie ihn nicht besser behandeln konnte, als sie es bis jetzt gethan, so fuhr sie fort, ihn wie ihren eigenen Sohn zu betrachten.

Ueber diesen Zwischenfällen wurde der Herzog zum Sekretär der Gesandtschaft in Petersburg ernannt. Einem gemeinsamen Beschlusse zufolge wurde die Vermählung auf den ersten Urlaub festgesetzt, den der junge Diplomat erhalten würde. Dieser erste Urlaub wurde nach sechs Monaten erteilt und Gaston kam nach Paris, jedoch nur für acht Tage. Er war mit einer geheimen Mission beauftragt, die der Botschafter einer Depesche nicht anvertrauen wollte.

Acht Tage! Konnte man sich während acht Tagen gewissenhaft verheiraten? Dieser kurze Zeitraum genügte ja kaum, um die Heirat ordnungsgemäß verkünden zu lassen. Der junge Herzog war zärtlich gegen Claire, aber mit einer Nuance von Leichtfertigkeit, die gegen seine frühere ehrfurchtsvolle Zärtlichkeit sehr kontrastierte.

Seit seiner Abreise hatte Gaston die russische Gesellschaft frequentiert, die verderbteste der Welt, und er kam mit ganz eigenen Ideen über die Liebe zurück. Selbst der Ausdruck seines Gesichtes war verändert, wie die Gefühle seines Herzens. Seine Züge waren markiert und hart geworden und seiner ehemals so reinen Stirn war der Stempel eines ausschweifenden Lebens aufgedrückt. Claire sah oder wollte diese Veränderung nicht sehen. Sie hatte dem Herzog eine unerschütterliche Neigung geweiht, und überdies hatte sie Vertrauen zu dem Edelmann und wartete. Die Briefe Gastons, die früher häufig und regelmäßig gewesen waren, wurden seltener. Sie enthielten noch immer leidenschaftliche Beteuerungen; er litt, wie er schrieb, grausam unter der Verzögerung seines Glückes, aber sprach nicht vom Wiederkommen, trotzdem zwei Jahre seit seiner Abreise verflossen waren.

Auf den Wunsch ihrer Tochter hielt Frau von Beaulieu während der letzten beiden Winter ihre Salons geschlossen. Die Verlobte wollte in Zurückgezogenheit leben, um dem Drangen der Bewerber, die sich nicht entmutigen ließen, zu entgehen. Octave setzte seine Rechtsstudien fort und die Marquise vertiefte sich mehr und mehr in die Aktenstöße ihres nicht endenwollenden Prozesses.

Als der Frühling kam, wünschte Claire in einer Anwandelung der ihr eigenen Launenhaftigkeit die Besitzung Beaulieu kennen zu lernen, welche ihr Vater bei Lebzeiten in Bann gelegt hatte. Die Marquise, die nicht imstande war, ihrer Tochter zu widerstehen und es für nützlich hielt, sie zu zerstreuen, willigte in diese Veränderung.

Und so kam es, daß an einem schönen Oktobertage der junge Marquis, der soeben sein Examen bestanden hatte, mit der Flinte über der Schulter und von seinem Wachtelhunde, begleitet, in den Wäldern des Herrn Derblay angetroffen wurde.


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