Max Nordau
Auf Abbruch ...
Max Nordau

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Es war in Cadiz, an einem wunderschönen Maitage, in später Nachmittagsstunde, als die Seebrise kühl zu wehen begann. Ich saß im Freien vor dem Café del Correo und las eine Ortszeitung. Da erregte auf dem schmalen Balkon des Hauses gegenüber eine weibliche Gestalt meine Aufmerksamkeit. Sie saß hinter dem halb herabgelassenen Rollvorhang aus grünen Holzstäbchen, der ihren Oberleib verbarg. Ich konnte nur hören, wie sie mit hohen Kopftönen eine Copla sang, deren Worte deutlich über die Straße zu mir herüberflogen:

»Me casé con un viejo
por su moneda
La moneda se acaba,
Y el viejo queda...«

»Einen Alten freit ich, ach!
Seinem Geld zu lieb –
Von dem Geld ist nichts mehr da,
Doch der Alte blieb.«

War sie schön oder häßlich, jung oder alt? Das sah ich nicht. Ihre Stimme klang reif und sie betonte ihre wilde arabische Weise mit einer Bitterkeit, die in die Seele schnitt. Das war nicht der gewohnheitsmäßige Singsang einer Frau aus dem Volke, die zu ihrer Kurzweil bei der Arbeit gedankenlos ein Lied vor sich hin trällert, das war persönliches Wehklagen. Das war der Jammerschrei einer gequälten Kreatur. Und plötzlich erwachte in mir die Erinnerung an die schwermütigen Schicksale einiger heimgesuchten Menschen, die ich in meiner Jugend persönlich gekannt habe.

* * *

Die Siefferts waren eigenartige Leute, von denen die Nachbarschaft viele Schnurren erzählte. Vater Sieffert war von Beruf Flickschneider, doch trat er an Sonn- und Feiertagen die Blasbälge der Orgel in der evangelischen Pfarrkirche und wartete außerdem in einigen reichen Bürgerhäusern zu besonderen Gelegenheiten bei Tische auf. Mutter Sieffert arbeitete als Waschfrau, so oft ihr die eigene Wirtschaft und ihre Stelle als Pförtnerin einer großen Mietkaserne einen halbwegs freien Augenblick ließen. Das Ehepaar hatte vierzehn lebende Kinder, elf Mädchen und drei Jungen, und einige waren zum großen Schmerze der Mutter gestorben, die der Überfluß an lebenden Nachkommen niemals für die fehlenden trösten konnte. Die gesegnete Familie bewohnte zwei Räume, von denen der eine mit als Küche diente. Der ganze Hausrat und auch manches Stück, das man kaum so bezeichnen konnte, wurde nachts als Bettstätte verwendet. Man schlief in einer herausgezogenen Kommodenschublade, auf der von den Beinen abgehobenen Tischplatte, im großen Wäschekorb, auf Gurten-Feldbetten, die tagsüber zusammengeklappt waren. Vater Sieffert verließ jeden Morgen vor Tagesanbruch, wenn die anderen noch schliefen, mit einer Schiebkarre das Haus und begab sich nach der Markthalle, wo er eine Last des billigsten Gemüses der Jahreszeit erstand, sie wohl auch von den gutmütigen Grünkrämerinnen halb oder ganz geschenkt bekam. Dann sprach er bei einer Bäckerfrau vor, die ihm die altbackenen Brotreste des vorigen Tages aufbewahrte und um den halben Preis überließ, fuhr seinen Einkauf heim, schüttete ihn auf ein zu diesem Zweck ausgebreitetes Laken und rief der Mutter Sieffert zu: »Guten Morgen, Mutter. Für den heutigen Tag hat Gott wieder gesorgt.«

Größern Kummer machte die Kleidung. Jeder Lappen, dem ein Kind entwuchs, ging auf das nächste über und glitt die ganze Stufenleiter bis zum jüngsten hinab, wenn er seine absteigende Laufbahn nicht unterwegs wegen vollständiger Aufgetragenheit vor ihrem natürlichen Ende beschließen mußte. Die Beschaffung des Schuhwerks bereitete unüberwindliche Schwierigkeiten. Vollzählig war der Bestand niemals zu erhalten. Welches von den Kindern notwendig ausgehen mußte, zog das seiner Größe ungefähr angemessene Paar Schuhe an, dessen theoretischer Eigentümer mittlerweile in Pantoffeln oder barfuß das Zimmer hüten mußte.

Einmal geschah es, daß der Zufall die Siefferts durch einen kleinen Gewinnst in der Lotterie begünstigte. Für das Geld wurde nach ganz kurzer Beratung – die Leute wußten genau, was sie wollten – zunächst sämtlichen Kindern je eine Portion Gefrorenes gekauft, wonach die älteren seit manchen Jahren eine aussichtslose Sehnsucht geäußert hatten, und dann wurden auf einen Ruck sechzehn Paar kräftig gebauter Schuhe angeschafft, was der ganzen Familie, zum erstenmal seit ihrem Bestand, die Möglichkeit gewährte, gleichzeitig einen Sonntagsspaziergang nach dem Stadtwäldchen zu unternehmen, ein Ereignis, das in allen Straßen, durch die der Zug sich lärmend wand, fröhliches Staunen erregte. Ein Restbetrag sollte nach Übereinkunft der Eltern in einem siebzehnten Paar Schuhe angelegt werden – sie wollten einmal im Leben das Hochgefühl des Überflusses kennen! – nur bestand Vater Sieffert darauf, daß es für die Mutter, und Mutter Sieffert, daß es für den Vater sei, woraus sich zwischen ihnen ein heftiger Streit entwickelte, der erste seit Menschengedenken in dieser sonst so einigen Familie, deren beide enge Wohnräume zu allen Stunden, kaum mit Ausnahme der Schlafzeit, von Gelächter und Gesang erfüllt waren.

Vater Sieffert war ein sehr ordentlicher Mensch und man konnte sich allerwegen auf ihn verlassen. Wenn er bei Herrschaften aufwartete, trank er während der Bedienung nie einen verstohlenen Tropfen. Erst wenn der Dienst zu Ende war, bezechte er sich rasch, aber so gründlich, wie es die Menge der Weinneigen gestattete, – denn eine unangebrochene Flasche um die Ecke zu bringen ging ihm gegen das Gewissen –, packte an Geflügelresten und besonders an Nachtisch in einen zu diesem Zwecke mitgebrachten Leinensack, was er irgend bekommen konnte, und torkelte mit seinem ehrlich erworbenen Affen und den Leckerbissen zu den Seinen heim, die ihm um der letzteren willen den erstem verziehen und ihn nachsichtig seinen Schwips ausschlafen ließen, indes sie dem Mitgebrachten Ehre erwiesen.

Vater Sieffert nahm, was gute wohlhabende Menschen ihm für seine Kinder geben wollten, aber er verlangte nie etwas. Er war immer zufrieden und behauptete bei Erkundigungen, er habe, was er brauche. Drückte jemand unzartes Bedauern über seine Kinderlast aus, so wurde er beinahe unwillig. Es sei keine Last, setzte er auseinander, sondern ein Segen. Wohl müsse er fleißig arbeiten, aber das sei gesund und verhindere das Stocken des Geblüts. Bargeld könne er freilich einstweilen nicht auf die hohe Kante legen, aber seine Kinder seien seine Sparkasse, und wenn erst alle großgezogen sein und zu verdienen anfangen würden, so würden sie gar nicht wissen, wohin mit dem vielen Gelde. Inzwischen habe er den Vorteil, wohlfeiler zu leben als jeder andere, denn er kaufe alles dutzendweis und da sei es erheblich billiger als einzeln. Dazu feixte er dann und rieb sich fröhlich die Hände.

Mutter Sieffert allerdings faßte das Leben weniger vergnügt auf als ihr leichtblütiger Gatte. Die Hauptbürde wuchtete eben auf ihren armen Schultern. Sie hatte die vierzehn größeren und kleineren Mäulchen zu füllen, sie die vierzehn Rücken zu bedecken, daß sie sich in der Schule und Werkstatt anständig sehen lassen konnten, sie die Kinder zu pflegen, wenn sie erkrankten, was nie einzeln, sondern stets gleich reihenweis geschah. Selbst in den Wochen und während sie stillte blieb sie die Triebkraft des Hauswesens, ihr Dasein war rastlose, fast übermenschliche Arbeit und als einzige Erholung sah sie die einsamen traurigen Gänge nach dem Kirchhof an, wo sie zwei- oder dreimal des Jahres die kleinen Grabhügel der verlorenen Kinder mit Blumen schmückte.

Die Sprößlinge in ihrer fast lückenlosen Orgelpfeifenordnung dankten der aufopfernden Pflege mit blühendem Aussehen. Sie waren alle rund und rotbackig wie Winteräpfel und erregten den Neid reicher Eltern, die mit auserlesener Nahrung und feiner Wartung nicht zuwege bringen konnten, was die Siefferts mit altbackenem Brot, Kartoffeln, Rüben und Kohl und mit spartanischer Behandlung erreichten.

Die Älteste, Lene, die seit ihrer Einsegnung bei einer Nähfrau arbeitete und vier Jahre später genug verdiente, um sich selbst und fünf kleinere Schwestern ganz flott zu kleiden, war mit achtzehn Jahren zu einer auffallenden Schönheit entfaltet: groß, voll, blond, blauäugig, ein edles längliches Gesicht von Milch und Blut und zwei Zahnreihen, wie man sie in der Stadt bei armen Leuten kaum noch antrifft. In der Werkstatt war sie die unbestrittene Königin der zwanzig Nähmädchen, die sie wegen ihrer frischen Reize ebenso bewunderten, wie sie sie wegen ihrer Gefälligkeit und unversiegbar sprudelnden Heiterkeit liebten. Auf den winterlichen Sonnabendkränzchen des evangelischen Jugendbundes, in dem Vater Sieffert das Ehrenamt eines Kassenboten bekleidete – die nicht sehr zahlreiche Gemeinde hielt in der weitaus überwiegend katholischen Stadt eng zusammen –, war sie die Zentralsonne der um sie kreisenden männlichen Jugend. Obschon eine kaum erschlossene Knospe, war sie bereits das Ziel eifriger Bewerbung, die sie mit unbekümmert leichtblütigem Frohmut, ihrem Vatererbe, aufnahm oder abwies, wie man es auffassen will. Nur ein Tänzer, der seit dem Winterbeginn nicht von ihrer Seite wegzuscheuchen war, sowie sie mit den Eltern und zwei oder drei größeren Geschwistern den Vereinssaal betrat, trieb ihr das Blut in die Wangen und machte ihren Lachmund ernst. Das war ein gewisser Niklas Brunner, ein junger Riemergeselle, der eben vom Militär heimgekommen war und sich wieder in sein Handwerk einzuarbeiten begonnen hatte. Sie hatte es ihm sichtlich angetan und er gab sich keine Mühe, es ihr zu verheimlichen. Sie lachte anfangs, wie es ihrem Wesen entsprach, wenn er mit ihr schön tat, als sie aber bemerkte, daß ihr Herz bei seinem Kurschneiden heftiger und etwas schmerzhaft klopfte, verbot sie ihm eines Abends in der Tanzpause das Süßholzraspeln. Daraus entspann sich zwischen den beiden ein schnippisches Wörteln.

»So darf man etwa ein schönes Mädchen nicht mehr lieb haben?«

»Das hebt man am besten für seine Braut auf.«

»Da seh mal einer das altkluge Ding! Zum Heiraten sind Sie doch noch zu jung!«

»Dann auch zum Liebhaben.«

»Aus dem einen kann das andere werden.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Lassen Sie sich's von der Kartenaufschlägerin erklären, Sie kleine Duckmäuserin.«

Sie wendete sich schmollend weg, da begann die Tanzmusik wieder, er faßte sie herzhaft und während er sie flink im Walzer drehte, flüsterte er, sein Auge dreist ins ihrige bohrend: »Ich hätte Sie schon gebeten, sich mir zu versprechen, in ein, zwei Jahren hoff' ich, eine Frau heimführen zu können, ich fürchte mich nur ein bischen vor Ihnen.«

Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Fürchten?«

»Nun ja,« gab er lachend zurück, »die vielen Kinder sollen erblich sein. Ich weiß nicht, ob ich's vertragen würde, vierzehn Nestlinge –«

Bei dieser Derbheit des ungewaschenen Burschen ließ sie ihn mit flammenden Wangen plötzlich los, eilte an den Tisch der Eltern und wollte an dem Abend von Niklas nichts mehr wissen.

Am folgenden Ostersonntag war es, da sah Mutter Sieffert durch das kleine Fenster ihrer Vorderstube, das auf den Hausflur ging, wie ihr Mann anscheinend in vertrautestem Gespräch mit Herrn Behr hereinkam und wie Herr Behr mit einem langen Händedruck von ihm Abschied nahm. Sie war bei diesem Anblick starr vor Staunen. Herr Karl Emil Behr war der Eigentümer des Hauses, worin sie als Pförtnerin waltete. Er galt für einen der reichsten Männer der Stadt, bekleidete in der Gemeinde hohe Kirchenämter, war Stadtverordneter und Geheimer Kommerzienrat. Wie kam dieser große Mann dazu, mit Sieffert Händedrücke auszutauschen?

Sie bestürmte ihren Mann bei seinem Eintritt mit Fragen, er aber lachte nur still vor sich hin, schüttelte von Zeit zu Zeit den Kopf und setzte sich wortlos an den gedeckten Tisch, denn er hatte an dem großen Feiertage bis lange nach beendetem Gottesdienst in der Kirche zu tun und es war reichlich mittag, als er nach Hause kam.

Das Staunen seiner Frau wuchs. Vater Sieffert besaß drei Röcke: den schwarzen Hochzeitsrock – er war in zwanzig Jahren noch nicht zu eng geworden – für die Kirche und die Kassenbotengänge, die graue Jägerjoppe mit grünen Aufschlägen und Hirschhornknöpfen für die Aushilfen bei Tische, den grauen Zwilchkittel für die Markthalle und das Haus. Hatte er der Pflicht halber die erste oder zweite Garnitur an, so war es, kaum daß er die Schwelle überschritten, seine erste Bewegung, den Rock oder die Joppe mit ehrerbietiger Sorgfalt wegzuräumen und den Kittel anzuziehen. Diesmal aber vergaß er diese unabänderliche Gewohnheit von Jahrzehnten und behielt den schwarzen Rock an, auf die Gefahr hin, ihm beim Essen einen Fleck beizubringen.

»Mann! Wo hast du deinen Kopf! Deinen Rock!« rief sie beinahe erschrocken. Er fuhr wie aus einem Traum auf, warf einen verwirrten Blick auf seine Ärmel und Schöße, sprang auf und holte den versäumten Kleiderwechsel nach.

»Was hat der Herr Geheimrat dir so eifrig zu erzählen gehabt?«

Er lachte nur hell auf, schüttelte wieder den Kopf und begann seine dicke Kartoffelsuppe mit Speckwürfeln zu löffeln.

»So rede doch, Mann! Was gibt es?«

»Später, später, Mutter. Du versäumst nichts. Laß mich jetzt essen.«

Er hatte aber das Festtagsgericht noch nicht aufgezehrt, da ging die Tür auf und vor den überrascht aufspringenden sechzehn Ansassen des Tisches – das Kleinste noch im Kinderstühlchen – zeigte sich der alte Diener des Geheimrats, der grinsend und blinzelnd einen schweren Picknickkorb mitten auf den Tisch stellte, der Frau Sieffert zunickte. »Vom Herrn Geheimrat! Wohl bekomm's!« sagte und unverweilt wieder verschwand.

Die Alten und die Kinder waren ganz verschüchtert. Lene überwand zuerst die Scheu, hob den Deckel auf und begann auszupacken. Sie brachte der Reihe nach einen ganzen gekochten Schinken, einen Napfkuchen, zwei Schachteln Mandeln und Rosinen und vier Flaschen Rotwein zum Vorschein. Die ganze Tafelrunde starrte auf diese Herrlichkeiten wie auf ein Blendwerk, an dessen Wirklichkeit trotz des Augenscheins niemand glauben mag. Diese Verblüffung verschwand jedoch sofort, als Vater Sieffert, der zuerst die Fassung wiederfand, behend eine Flasche entkorkte und sich und der Mutter einschenkte. Das kurze Mittagmahl hätte nach der Specksuppe mit etwas Schmorfleisch schließen sollen. Es wurde um den sofort tapfer angehauenen Schinken und den Napfkuchen verlängert und da auch noch der gänzlich ungewohnte Wein hinzukam, von dem die vorsorgliche Frau Sieffert vergebens zwei Flaschen für Krankheit oder künftige Feste zu retten suchte, steigerte die Stimmung sich rasch zu jauchzendem Übermut, der sogar das unverständige Jüngste zu lustigem Krähen, Händeklatschen und Strampeln anregte.

Frau Sieffert ließ nicht ab, die Frage zu wiederholen, was das alles bedeute. Vater Sieffert hörte nicht auf sie, sondern schmauste seelenvergnügt weiter, bis alles so pumpsatt war, daß es einmütig die vom Vater mit überlauter Stimme angebotenen Nachlieferungen zurückwies. Dann erst führte er sich ein letztes Glas zu Gemüte, wischte sich den Mund mit dem Kittelärmel, erhob sich, winkte seiner Frau, ihm zu folgen, und ging ihr in das zweite Zimmer voran. Er verriegelte die Tür hinter sich, ließ sich auf einen Strohsessel niederwuchten, daß die Beine krachten, und begann wieder kopfwackelnd vor sich hin zu lachen.

»Laß doch die dummen Faxen,« brummte Frau Sieffert ungeduldig, »wirst du mir endlich sagen ...?«

»Gleich, gleich, Mutter. Es ist zu komisch. Also weißt du, was es Neues gibt?«

»Nun?«

»Der Herr Geheimrat will Lene heiraten.«

»Unsere Lene?« schrie Frau Sieffert auf und ihre Wangen verfärbten sich.

»Wahrscheinlich.«

»Du bist verrückt!«

»Warum denn ich? Vielleicht der Herr Geheimrat.«

»Er hat dich darauf angeredet?«

»Das kannst du dir doch denken. Wie käm ich sonst darauf.«

»Und was hast du gesagt?«

»Daß ich es euch sagen werde.«

»Warum hast du ihm nicht gleich gesagt, was du denkst?«

»Ja, was denk ich denn?«

»Nun, doch wohl, daß es eine Sünde und Schande ist! Ein solcher Einfall! Wer hätte das für möglich gehalten! Tut so fromm und ehrbar – verdreht die roten Triefaugen – hat immer Gott den Herrn im Hängemaul – und schämt sich nicht, nach unserer Lene zu schielen, nach einem halben Kind –«

»Rege dich nicht auf, Mutter. Überlege dir's ruhig –«

»Was ist da zu überlegen –«

»Laß mich ausreden. Der Herr Geheimrat ist vielleicht der reichste Mann in der Stadt.«

»Willst du unsere Lene verkaufen?«

»Unsinn, verkaufen! Nein. Versorgen.«

»Mit einem Siebziger!«

»Einundsiebzig ist er alt. Zu Lichtmeß vor einem Jahr haben wir ihm mit den Kindern zu seinem siebzigsten Geburtstag gratuliert, erinnerst du dich nicht?«

»Einundsiebzig! Noch besser.«

»Ganz richtig; noch besser. Mann und Frau sollen im Alter nicht zu weit auseinander sein. Aber wenn der Unterschied mindestens fünfzig Jahre ausmacht, oder gar dreiundfünfzig wie hier, dann geht es wieder.«

»Auf den Tod eines Menschen spekulieren! Ist das rechtschaffen?«

»Mutter, sei nicht übertrieben. Kein Mensch kann ewig leben. Du weißt, wie es im schönen Psalm heißt: Des Menschen Leben ist siebenzig, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig. Seit einem Jahr ist dem Herrn Geheimrat eigentlich jeder Tag geschenkt. Laß ihn noch ein paar Jahre leben, dann ist Lene eine Zwanzigerin in der schönsten Blüte, und reich, und angesehen. Was hindert sie dann, sich wieder zu verheiraten, wie sie will, und glücklich zu leben wie eine Prinzessin in den Geschichten? Bist du denn sicher, daß sie bis dahin einen passenden Mann findet, wenn sie eine ledige arme Näherin bleibt? Ist es besser, in ihren jungen Jahren sich die Finger wund zu sticheln und die Augen matt zu gucken, als eine große Dame zu sein und in Hülle und Fülle zu leben?«

»Mit einem solchen Aas an der Seite!«

»Wirst du wohl schweigen! Der Alte wird sie nicht viel stören. Er wird schon zufrieden sein, wenn man ihn ruhig in seinem Lehnstuhl sitzen läßt und ihm von Zeit zu Zeit die Schlummerrolle zurechtrückt.«

Frau Sieffert erwiderte nichts und ihr Mann blieb auch eine Weile still. Aus dem Vorderzimmer tönte das Schreien, Lachen und Poltern der Kinder herein, die ein lärmendes Spiel begonnen hatten. Lene war die lauteste von allen.

Vater Sieffert folgte seinen Gedanken, die eine neue Richtung einschlugen. »Stellen wir uns meinetwegen vor, der Herr Geheimrat würde Lene für die paar Jahre, die ihm noch bleiben, als Krankenpflegerin zu sich nehmen wollen und ihr ein gutes Gehalt anbieten. Würdest du ihr raten, die Stelle auszuschlagen?«

»Du redest dummes Zeug. Das ist doch etwas anderes.«

»Kaum. Der Unterschied ist, daß Lene beim Geheimrat eine Oberkrankenpflegerin sein würde. Für die gröbere Arbeit würde sie Dienstboten haben. Sie wäre nur der Sonnenschein im Krankenzimmer, der tägliche Blumenstrauß auf dem Nachttisch.«

Im Geheimen bewunderte Mutter Sieffert die schöne Redekunst des Flickschneiders, aber sie wollte es nicht merken lassen. »Es ist eine Sünde und Schande. Dabei bleibe ich.«

»Eine Schande? Einen schweren Millionär, einen Geheimrat, einen Stadtverordneten, einen Kirchenältesten zu heiraten? Wie hoch willst du denn mit Lene hinaus? Sie soll wohl einen Prinzen bekommen? Und eine Sünde, wenn sie einem guten alten Menschen barmherzig den Lebensabend verschönt und zugleich das vierte Gebot fromm erfüllt?«

»Wie bringst du da das vierte Gebot herein?«

»Ehre Vater und Mutter, auf daß es dir wohlergehe auf Erden. Wenn Lene Frau Geheimrat Behr wird, so handelt sie als eine gute Tochter und Schwester, denn sie macht ihre Eltern und ihre ganze Familie glücklich. Der Geheimrat hat sich darüber weitläufig ausgelassen. Er würde es für seine Schuldigkeit halten, die Angehörigen seiner Frau schicklich zu versorgen. Mir sagt er das Amt eines Kassenboten der Gemeinde zu. Der alte Umbrecht soll nämlich nächstens in den Ruhestand treten. Das wäre etwas für mich. Denke, wenn der Mensch monatlich sein Gewisses hat! Da könnt' ich auch einmal im Leben in den hellen Tag hinein schlafen. Und dir würde es auch gut tun, wenn du das Waschen lassen könntest, ehe sich dir der Rheumatismus in die Knochen setzt. Und die Kinder, die nicht mehr barfuß laufen müßten und in der Schublade schlafen – was meinst du wohl, Alte?« Er versetzte ihr einen herzhaften Klaps mit der flachen Hand auf die Schulter und sah ihr lachend in die Augen.

»Mensch, ich begreife nicht, wie du lachen kannst,« murrte sie und zog sich unwillig zurück.

»Es ist doch zum Lachen, Mutter. Dieser Alte – wenn ich mir vorstelle, daß er auf Freiersfüßen geht und dem jungen Blut schön tut – in Ehren, versteht sich, in allen Ehren – da kann niemand ernst bleiben.«

»Du lachst und Lene wird sich die Augen ausweinen.«

»Warum denn? Sie wird auch lachen, wenn auch nicht dem Alten ins Gesicht. Es geschieht ihr doch nichts. Es ist eine Komödie. Sie dauert ein paar Jährchen und dann ist Lene ihr Leben lang glücklich.«

»Laß es darauf ankommen. Sag' es Lene. Du wirst ja sehen, ob sie lacht.«

Er bedachte sich keinen Augenblick. Der Riegel fuhr zurück, die Tür flog auf und Vater Sieffert rief in das Getümmel der Vorderstube: »Lene! Komm mal herein.«

Das junge Mädchen löste sich von einem Reigen los und kam wie ein Wirbelwind hereingesaust. »Was soll ich, Vater?«

Der Alte verschloß die Stube wieder, stellte sich vor seine Tochter hin, erfaßte ihre Hand und sagte ihr mit breitem Lächeln: »Nimm dich zusammen, Kind, es gibt einen Bums. Eins – zwei – drei – Man hält um dich an.«

»Der Brunner Niklas!« entfuhr es ihr. Brennende Röte überflog jäh ihre ohnehin erhitzten Wangen und ihr beschleunigter Atem stockte.

»Der Brunner Niklas?« fragte der Alte überrascht, während auch Frau Sieffert erstaunt aufblickte. »Ei ei, das ist ja ganz was Neues. Nein, Kind, das Bürschchen wirst du dir gefälligst aus dem Kopf schlagen. Gott sei Dank, wir haben es mit anderen Herrschaften zu tun. Na kurz, um dich nicht zappeln zu lassen: um dich wirbt der Geheimrat Behr!«

»Der Geheimrat Behr!« wiederholten ihre Lippen tonlos, Totenblässe löste auf ihren Wangen den Purpur ab und ihr entsetzter Blick flüchtete sich zur Mutter. Diese breitete die Arme aus und Lene warf sich ihr an die Brust. »Das kann doch nicht sein, Mutter, sage?«

»Es ist,« antwortete Frau Sieffert dumpf und streichelte ihr das wellige Blondhaar.

»Ich will nicht!« schrie sie leidenschaftlich auf. »Dieser Schneemann – lieber sitzen bleiben. Lieber einen grauen Zopf kriegen. Lieber ins Wasser gehen.«

»Rede dich nicht in eine dumme Aufregung hinein,« mahnte der Vater, zog die Widerstrebende mit sanfter Gewalt von der Mutter weg zu sich, drückte sie auf den Stuhl an seiner Seite und fuhr begütigend und einschmeichelnd fort: »Du bist ein Kind, dumm und unerfahren. Du weißt nichts. Höre auf verständige Leute. Du wirst eine steinreiche Dame –«

»Ich bin mit trockenem Brot zufrieden.«

»Das hast du lang genug gegessen und wir mit dir. Jetzt soll es besser kommen. Der Geheimrat will uns alle glücklich machen. Und dich am glücklichsten.«

Lene warf den Kopf empor und blickte den Vater mit flammenden Augen an.

»Und dich am glücklichsten, sag ich,« wiederholte er mit Nachdruck. »Du wirst wie eine Königin leben und in Sammt und Seide gehen und Brillanten tragen, daß den Leuten die Augen übergehen werden. Und du wirst für deine Brüder und Schwestern sorgen können und für deine Mutter, die sich dann nicht mehr zu rackern braucht. Von mir red' ich nicht. Ich verlange von niemand etwas. Ich habe mir immer mein Brot verdient, mir und den Meinen, und will es weiter so halten. Der Geheimrat wird dich auf Händen tragen. Und was will er denn von dir? Nichts anderes, als daß du um ihn bist. Du sollst seine Augenweide sein, sein Augentrost. Er will dir ein Vater sein –«

»Ich habe einen Vater,« unterbrach ihn Lene heftig.

»Doppelt genäht hält stärker, Kind, ich bin ein Schneidermeister und muß es wissen. Der neue Vater kann mehr für dich tun als leider der alte. Ja, wenn meinen Großvater nicht die Franzosenzeit ums Vermögen gebracht hätte –«

Wenn er auf den sagenhaften einstigen Glanz seiner Vorfahren zu sprechen kam, fand Sieffert kein Ende. Seine Frau, die das wußte, schnitt ihm rasch das Wort ab. »Lene, du weißt jetzt, wie es steht. Sag dem Vater, was du meinst.«

»Mutter, ihr wollt mich nicht opfern.«

»Opfern?« fiel Sieffert ein, »wo nimmst du das her? Ich bin nicht Abraham und du bist nicht Isaak, schon weil du ein Mädel bist –« er lachte sich selbst Beifall – »von einem Opfer ist keine Rede. Ich will dein Glück und es wird dein Glück sein.«

Als Lene stumm blieb, fuhr der Vater eindringlich fort: »Also entscheide dich, Kind –«

»Sie wird sich die Sache doch etwas überlegen dürfen,« sagte Frau Sieffert gereizt.

»Was ist da zu überlegen? Bis morgen oder übermorgen wird doch der Herr Geheimrat nicht jünger werden, sondern älter. Also rasch. Ich muß dem Herrn Geheimrat Bescheid sagen. Er wartet darauf. In seinem Alter ist Aufregung kein Spaß. Wenn die Freude seiner Gesundheit schaden sollte, so kann ich das vor meinem Gewissen verantworten. Aber wenn ihn vor Ungeduld der Schlag rührt, würde ich mir Vorwürfe machen müssen. Heraus mit der Sprache.«

»Also nein, Vater, nein, nein und nein!« rief Lene heftig, verbarg das Gesicht an der Brust der Mutter und brach in Schluchzen aus.

»Das macht vier nein,« bemerkte Sieffert kaltblütig; »drei zu viel. Schön. Ich gehe jetzt zum Herrn Geheimrat hinauf und melde ihm, daß sein Anliegen vorgebracht ist. Er kommt dann selbst und du kannst ihm dein »Nein!« ins Gesicht wiederholen, wenn du ein dummer Starrkopf sein willst.«

»Ich laufe weg!« rief Lene wild.

»Sehr wohl. Und wir können das Bündel schnüren.« Er zog seinen Kittel aus, fuhr wieder in den feierlichen Gottfried, langte sich den struppigen Zylinder und ging, Mutter und Tochter bestürzt und ratlos zurücklassend.

In der Tat, es dauerte keine zehn Minuten, da komplimentierte Vater Sieffert den geheimen Kommerzienrat Karl Emil Behr lächelnd und katzbuckelnd durch das Vorderzimmer, wo bei seinem Eintritt die erschrockenen Kinder plötzlich zu tollen aufhörten, in die zweite Stube und sagte: »So, Herr Geheimrat. Hier ist die Kleine. Ein bischen scheu – sie ist ja auch noch so jung. Nun, Sie werden sie schon kirre machen, wenn Sie sich mit ihr recht von Herzen aussprechen.« Dann winkte er seiner Frau gebieterisch mit Kopf und Blick, bis sie zögernd und verlegen hinausgegangen war, folgte ihr rasch und schloß die Tür hinter sich. Die Mutter setzte sich in eine Ecke des Vorderzimmers, faltete die Hände im Schoß und starrte vor sich hin. Vater Sieffert ließ sich am Tische nieder, aß einige übrig gebliebene Mandeln und lächelte von Zeit zu Zeit. Die Kinder, die eine dunkle Ahnung hatten, daß da drinnen etwas Außergewöhnliches vorging, drängten sich in Klumpen zusammen und flüsterten bang.

In der Stube hatte Lene sich erhoben und stand bleich, verwirrt, mit niedergeschlagenen Augen vor Herrn Behr. Dieser war ein mittelgroßer, schwerer Mann mit einem langen weißen Bart, einer etwas hängenden starken Unterlippe und schlaffen Wangen von der Farbe welker Blätter. Er ließ den Blick der blauen Triefaugen mit den Wassersäcken an den Unterlidern eine Weile schweigend auf dem schönen Mädchen ruhen, dann zog er aus einer Tasche ein Seidenpapierpäckchen hervor, wickelte es langsam auseinander und sagte mit tiefer, gedämpfter, in deutlicher Bewegung bebender Stimme: »Wollen Sie erlauben, liebe Lene?« Gleichzeitig ließ er ihr eine schön gearbeitete schwere Goldkette über den geneigten Kopf auf den weißen Nacken niedergleiten. Lene fuhr mit einem leisen Ausruf zurück. »Nicht doch, Herr Geheimrat – bitte –« und faßte nach dem Geschmeide.

Der alte Mann nahm ihre Hand und führte sie sanft von der Kette weg. »Machen Sie mir die Freude. Nehmen Sie die Kleinigkeit. Sie verpflichtet Sie zu nichts. Wie immer Ihre Antwort ausfällt, einige schöne Augenblicke haben Sie mir altem Manne schon jetzt geschenkt. Lassen Sie mich Ihnen dafür durch eine Gegengabe danken.«

Er sprach so gütig, so zärtlich, so demütig – es ging dem gutmütigen Mädchen zu Herzen. Ein alter Mann ist vielleicht doch nicht solch ein Scheusal, wie man sich vorstellt. Flüchtige Betrachtung ließ sie erkennen, daß der Schmuck prachtvoll war. Der Schieber, welcher die Kette zusammenhielt, stellte eine Schlange dar, deren Kopf ein großer Brillant und Rubin schmückten. An der Kette hing ein Ührlein mit brillanten- und rubinenbesetztem Deckel. Und diese Kostbarkeiten sollten ihr gehören!

»Sie nehmen an – nicht wahr?« fragte er eindringlich, ihre Hand immer noch in der seinen haltend.

»Ich weiß nicht – ob ich darf –« flüsterte sie stockend.

»Abgemacht. Ich bin glücklich, daß ich Sie schmücken durfte. Und nun setzen Sie sich und hören Sie mich freundlich an.«

Er ließ sich neben ihr nieder, sammelte sich ein wenig und hob dann langsam und innig zu sprechen an.

»Es mag sehr dreist scheinen, daß ein so alter Mann ein so junges Geschöpf heiraten will. Lächerlich werden Sie mich aber nicht finden, wenn Sie mich erst recht verstanden haben. Vor sieben Jahren habe ich meine Frau verloren, nach siebenunddreißigjähriger glücklichster Ehe. Vor fünf Jahren habe ich meine jüngste Tochter verheiratet. Seitdem bin ich allein. Ich habe immer lustiges Leben um mich gehabt. Ich kann mich an die Einsamkeit nicht gewöhnen. Sie gibt mir einen Vorgeschmack des Todes. Meine große Wohnung ist wie ein großes Grab, so still und leer. Mit Ihnen würde wieder Leben einziehen. Ich wäre ja schon zufrieden, wenn Sie als Gesellschaftsdame zu mir kämen, wenn Sie mir die Wirtschaft führen wollten, so daß ich Sie immer in meiner Nähe hätte. Aber das ist nicht möglich. Trotz meines Alters und Ihrer Jugend. Wegen der Welt. Ich kann mich Ihrer Nähe nur erfreuen, wenn Sie meine Frau werden.«

Sie hatte wiederholt schwache Versuche gemacht, ihre Hand zurückzuziehen. Er gab sie jedoch nicht frei.

»Lenchen, Sie sind in diesem Hause geboren. Sie sind unter meinen Augen aufgewachsen. Die erste Puppe, die meine Frau Ihnen beschert hat, habe ich für Sie eingekauft. So lang Sie klein waren, sind Sie mir immer zugelaufen und haben mir die Hand geküßt, wenn Sie mich auf dem Hofe erblickten, und ich habe Ihnen das blonde Köpfchen gestreichelt. Meine Frau hat Sie lieb gehabt. Und als ich Sie diesen Winter auf unseren Jugendbundkränzchen beobachtete und Sie zu einem so blühenden, schönen, lieben Mädchen herangewachsen sah, da fühlte ich deutlich, daß meine Frau im Himmel es Ihnen danken würde, wenn gerade Sie etwas Sonnenschein auf meinen traurigen Lebensabend werfen würden. Das hat mir den Mut gegeben, vor Sie und Ihre Eltern hinzutreten.«

Lene wurde ganz weich und überließ ihm die Hand, die er zärtlich drückte.

»Schenken Sie mir ein paar Jahre Ihres teuern Lebens. Ich weiß, ich verlange viel von Ihnen. Aber ich wage es. Denn Sie sind so lieb und gut, wie Sie schön sind. Wie lange dauert es denn? Ich bin nicht weit von achtzig. Bald begraben Sie mich und sollen dann nicht um mich trauern, das verlange ich nicht, das will ich gar nicht. Sondern Sie sollen an mich denken wie an den besten Freund, den Sie im Leben haben konnten, und Sie sollen sich bis an Ihre Sterbestunde darüber freuen, daß Sie an einem Menschen ein barmherziges Werk getan haben; an einem Menschen, der Ihre Güte vielleicht verdient, denn er hat auch immer gut zu sein getrachtet. Vor Ihnen brauche ich mich nicht zu rühmen. Sie kennen mich ja.«

Seine Stimme zitterte stärker, er beugte sich über ihre Hand, küßte sie und sie fühlte Tränen darauf tropfen. Das war zu viel für sie. Sie begann ebenfalls zu weinen und erwiderte leise den Druck seiner Hand.

»Also ja?« flehte er.

»Ja,« hauchte sie.

Er faßte ihren Kopf mit beiden Händen, drückte einen Kuß auf ihren Scheitel und auf ihre Stirn, erhob sich schwer, nahm sie an der Hand und führte sie langsam und feierlich in die Vorderstube.

Als die Tür sich öffnete, sprang Sieffert auf. Behr ging an ihm vorbei zur Frau Sieffert, reichte ihr die Hand und sagte: »Ich bin glücklich, Sie als meine künftige Schwiegermutter begrüßen zu dürfen.« Frau Sieffert erhob sich, bemerkte auf den ersten Blick die wunderbare Kette um den Hals ihrer Tochter und ging ihr sprachlos mit ausgebreiteten Armen entgegen. Sieffert rief laut: »Gratuliere! Gratuliere!« und machte Miene den alten Herrn zu umarmen, der sich betreten der handgreiflichen Vertraulichkeit erwehrte. Die Kinder waren starr und stumm und blickten mit ganzer Seele aus weit aufgerissenen Augen. Nur Betty, die dreiste Dreizehnjährige, brach in lautes Gelächter aus, was ihr im Nu eine schallende Ohrfeige von ihrem Vater zuzog. Sie heulte auf, von den Kindern war der Bann gelöst und in dem entstehenden Tumult machte der Geheimrat sich so schleunig, wie es seine Beweglichkeit gestattete, davon.


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