Eduard Mörike
Aus dem Gebiete der Seelenkunde
Eduard Mörike

Eduard Mörike

Aus dem Gebiete der Seelenkunde

1

Kurz vor den Christfeiertagen des Jahres 1833 träumte mir, ich befinde mich in einem kleinen, völlig leeren Zimmer; die Wände waren weiß getüncht und kahl; nur sah ich auf einer derselben einen Kalender in Form eines einfachen Folioblattes angebracht. Die Schrift war allenthalben wie in weißen Nebel aufgelöst und nichts zu unterscheiden bis auf eine Stelle, wo zwei aufeinanderfolgende Tage, der eine schwarz, der andere rot gedruckt, stark hervortraten. Der erstere war deutlich als der 24., ohne weitere Bezeichnung, der zweite weniger bestimmt angegeben, doch zeigte die Farbe offenbar einen Sonn- oder Feiertag an. Ich stand dicht vor dem Blatt und war im Hinsehen auf die schwarze Zahl sogleich von Schmerz ergriffen, denn alsbald wußte ich, daß mir jemand an diesem Tage sterben würde. Irgendeine bestimmte Person schwebte mir nicht entfernt dabei vor. Allein am 26. Dezember erhielt ich ein Schreiben aus Stuttgart mit der Nachricht, daß mein Oheim D. M. daselbst am Vorabend des Christfestes, den 24., auf der Straße von einem Hirnschlage getroffen und wenige Minuten darauf in einem fremden Haus gestorben sei.

2

Bei meinem mehrjährigen Aufenthalte zu M., den eine jüngere Schwester mit mir teilte, lebten wir mit der Familie S. als zufällige Hausgenossen auf freundschaftlichem Fuße; besonders aber hatte meine Schwester das innigste Verhältnis zu der Tochter. Mir war an dem täglichen Umgang der beiden vorerst nur ein sehr bescheidener Anteil vergönnt, und keines von uns dreien konnte ahnen, daß mir sechs Jahre später in dieser neuen Freundin eine Frau geschenkt sein sollte.

Sie, mit den Ihren, wohnte in dem zweiten, wir Geschwister im ersten Stockwerk. Einst in der Nacht – es mochte eilf Uhr sein, ich hatte schon einige Zeit, und zwar in vollkommener Ruhe geschlafen – erweckte mich ein plötzliches Gefühl, als wenn mir kalte, schwere Tropfen gewaltsam in das Gesicht gespritzt würden; ich glaubte ihren Fall zugleich auf dem Deckbett zu hören. Ich fühlte nach der Nässe auf der Haut, auf Kissen und Decke umher: da aber alles durchaus trocken war, beruhigte ich mich mit dem Gedanken, es müsse Einbildung gewesen sein, obwohl ich nie mit so viel Schein der Wirklichkeit geträumt zu haben glaubte.

Den andern Tag erzählte ich die Sache in Gegenwart der Freundin. Sie war sichtlich darüber bestürzt und nachdenklich. Wir drangen vergeblich in sie, ob ihr irgendeine fatale Bedeutung oder sonst eine Erklärung dieses Vorkommens beigehe. Erst späterhin bekannte sie der Schwester folgendes:

Sie hatte jene Nacht bei ihrem Vater, der an einer schmerzhaften Krankheit dem Tod entgegenging, zu wachen, verweilte aber zur gedachten Stunde noch allein auf ihrem Zimmer. In einer ungewöhnlich erhöhten Stimmung, begünstigt durch die Einsamkeit und die tiefe nächtliche Stille, verrichtete sie ihr Gebet, in welches sie nächst ihren Angehörigen auch uns einschloß. Zuletzt griff sie, als Katholikin, nach dem geweihten Wasser und sprengte, was sie sonst nie tat, für jedes einzelne besonders der Reihe nach und in der Richtung, wo die Lagerstätte eines jeden war, einige Tropfen in die Luft. Hiernach erklärte sich das Rätsel einfach aus einem momentanen Fernsehen der Seele im schlafenden, völlig gesunden Zustand. Die Seele bekam oder gab vielmehr sich selbst ihre Wahrnehmung sinnlich durch einen scheinbar äußeren Eindruck zu fühlen.