Herman Melville
Bartleby
Herman Melville

Herman Melville

Kikeriki

oder

Das Krähen des edlen Hahnes Beneventano

In allen Teilen der Erde haben jüngst kühne Aufstände von schurkischem Despotismus eins auf den Kopf bekommen; ebenso haben furchtbare Unfälle, von Lokomotiven oder Dampfern verursacht, Hunderten von kühnen Reisenden eins auf den Kopf gegeben (bei einem davon habe ich einen lieben Freund verloren). Und meine eigenen, privaten Angelegenheiten waren auch voll von Despotismus, Unfällen und Schlägen auf den Kopf, als ich mich an einem Frühlingsmorgen frühzeitig, zu niedergeschlagen, um schlafen zu können, auf den Weg zu meiner Wiese auf dem Hügel machte.

Es war kühl, neblig, feucht. Unangenehme Luft. Die Gegend sah aus, als sei sie noch nicht fertig, überall drangen die rohen Säfte hervor. Indem ich meinen dünnen, vorn übereinandergehenden Gehrock – mein Mantel hatte so lange Schöße, daß ich ihn nur im Wagen trug – fest zuknöpfte, verwahrte ich mich, so gut ich konnte, gegen die scharfe Luft, und grimmig meinen Holzapfelstock in die nasse Erde stoßend, beugte ich meine blaugekleidete Gestalt, um den steilen Aufstieg des Hügels zu erklimmen. In dieser mühsamen Haltung senkte ich den Kopf so tief, als sei ich im Begriff, mit ihm gegen die Welt anzurennen. Ich merkte das, grinste aber nur darüber.

Überall um mich her waren Zeichen geteilter Herrschaft. Das alte Gras und das junge Gras kämpften miteinander. In den niedrigen, feuchten Mulden lugte lebhaftes Grün hervor; drüben auf den Bergen lagen helle Schneeflecken, die sich merkwürdig von den rostbraunen Wänden abhoben. Wie scheckige, zitternde Kühe sahen die höckerigen Hügel aus. Die Wälder lagen voll trockener, toter, von den unbändigen Märzwinden abgebrochener Zweige, während die jungen Bäume, die die Wälder säumten, eben anfingen, die ersten gelben Triebe ihres knospenden Laubes zu zeigen.

Einen Augenblick setzte ich mich auf einen großen, faulenden Baumstamm nah bei dem Gipfel des Hügels, mit dem Rücken gegen ein dichtes Gehölz, vor mir eine weit ausladende Bergkette, die eine wellige, abwechselungsreiche Landschaft umschloß. Am Fuße der langen Hügelreihe lief ein träger, fieberschwangerer Fluß, und über ihm zog sich ein zweiter Strom, ein Doppelgänger, von tropfendem Nebel hin, der genau jeder Biegung seines Urhebers unter ihm folgte. In der Tiefe wanderten hier und dort lautlose Nebelfetzen durch die Luft wie verlassene oder steuerlose Völker oder Schiffe – oder sehr nasse Handtücher, die an gekreuzten Wäscheleinen zum Trocknen hängen. Über einem entfernten Dorf, das weit drüben in einer von den Bergen gebildeten Bucht der Ebene lag, ruhte eine große, flache Nebelschicht wie ein Bahrtuch. Es war der verdichtete Rauch der Kamine, vereint mit dem verdichteten, verbrauchten Atem der Dorfbewohner, zusammengehalten von den umklammernden Hügeln. Die Nebeldecke war zu schwer und leblos, sich von selbst zu heben, so hing sie also da, zwischen dem Dorf und dem Himmel, und verbarg ohne Zweifel viele trübselige Männer und viel schwächliche Kinder.

Meine Augen glitten über die weite, wellige Landschaft, über Berge und über das Dorf, hie und da über eine Farm und über Wälder, Gehölze, Flüsse, Felsen, kahle Hügel – und ich dachte bei mir, wie wenig der Mensch doch schließlich dieser unermeßlich großen Erde seinen Stempel aufdrückt. Doch die Erde zeichnet ihn. Was für ein entsetzliches Unglück war das auf dem Ohio, bei dem mein guter Freund und dreißig andere brave Männer in die Ewigkeit befördert wurden auf Befehl eines dickschädeligen Ingenieurs, der ein Ventil nicht von einer Kaminklappe unterscheiden konnte. Und der Eisenbahnzusammenstoß dort gegenüber in den Bergen, bei dem zwei besessene Züge holterdipolter ineinander rasten, übereinander kletterten und sich gegenseitig den Rücken kratzten; eine Lokomotive fand man förmlich wie in einem Ei, umschlossen von einem Personenwagen des feindlichen Zuges. Nahezu ein Dutzend edler Herzen, eine Braut mit ihrem Bräutigam, ein unschuldiges kleines Kind, alle wurden ohne Gepäck in die düstere Barke Charons eingeschifft, die sie zu einer oder der anderen überfüllten Hochofengegend übersetzte. Doch was nützen Klagen? Welcher Friedensrichter kann da Recht schaffen? Ja sogar, was nützt es, den Himmel selbst damit zu belästigen? Bestimmt der Himmel nicht selbst solche Dinge? Sonst könnten die ja nicht geschehen. Eine miserable Welt. Wer möchte in ihr die Mühe auf sich nehmen, ein Vermögen zu machen, wenn er nicht weiß, wie lange er es behalten kann wegen der tausend Schufte und Esel, die die Leitung von Eisenbahnen und Dampfbooten haben und von unzähligen andern lebenswichtigen Dingen in der Welt. Machte man mich für ein Weilchen zum Diktator von Nordamerika, würde ich sie aufknüpfen, sie hängen, ausweiden und vierteilen, sie braten, rösten und kochen, sie langsam kochen, langsam rösten und Ragout aus ihnen machen, wie von Truthahnkeulen, diese schurkischen Dummköpfe von Heizern. Den Tartarus würde ich sie heizen lassen, ja, das würde ich!

Großer Fortschritt der Zeit! Was! Sterben und Morden erleichtern, ein Fortschritt? Wer will denn so schnell reisen? Mein Großvater wollte es nicht, und er war kein Dummkopf. Horch – da kommt der alte Drachen wieder an, diese gigantische Viehbremse von einem Moloch, raucht, pufft, pfeift! Da kommt er schnurgerade durch diese Frühlingswälder wie die auf einem Kamel galoppierende Asiatische Cholera. Mach Platz, hier kommt er, der angestellte Mörder, der monopolisierte Tod! Richter, Geschworener und Henker – alles gleichzeitig – dessen Opfer sämtlich ohne geistlichen Beistand sterben. Zweihundertfünfzig Meilen weit zieht dieser eiserne Teufel brüllend durchs Land und schreit: »Mehr, mehr, mehr!«

Verschwüren sich doch fünfzig Berge, über ihm zusammenzustürzen! Und wenn sie gerade mal dabei wären, könnten sie auch den kleineren lästigen Teufel unter sich begraben, meinen Gläubiger, der mich mehr zu Tode ängstigt als irgend eine Lokomotive – ein hohlwangiger Schuft, der auch auf Schienen zu laufen scheint und mich sogar sonntags mahnt, auf dem Kirchwege hin und zurück, sich in denselben Kirchenstuhl wie ich setzt und mir, um höflich zu erscheinen, das Gesangbuch an der richtigen Stelle aufgeschlagen reicht, mitten in meiner Andacht seinen verdammten Schnabel unter meine Nase schiebt und so sich selbst zwischen mich und das Heil, denn wer könnte sich bei solchen Gelegenheiten beherrschen?

Bezahlen kann ich den schrecklichen Menschen nicht, und doch behauptet man, nie habe es so viel Geld gegeben – es sei gar nicht an den Mann zu bringen. Doch ich will verdammt sein, wenn ich nur etwas davon erwischen kann, und nie hat jemand gelebt, der diese besondere Medizin nötiger gehabt hätte. Gelogen ist es, es gibt nicht viel Geld – fühl einer bloß meine Tasche an. Ha, hier ist ein Pulver, das ich dem kranken Kindchen in der elenden Hütte dort drüben schicken wollte, wo der irische Tagelöhner wohnt. Das Kleine hat Scharlachfieber. Man sagt, auch die Masern grassieren in der Gegend und die Pocken und die Windpocken: das ist schlecht für zahnende Kinder. Ich glaube, daß schließlich viele von den armen Dingern, nachdem sie das alles durchgemacht haben, plötzlich abschnappen, und dann haben sie alles, Masern, Ziegenpeter, Krupp, Scharlachfieber, Windpocken, Durchfall, Cholera und wer weiß was umsonst gehabt! Au – da zwickt mich wieder der Rheumatismus in meiner rechten Schulter. Den habe ich mir eines Nachts auf dem North River geholt, als ich auf einem überfüllten Boot meine Kabine einer kranken Dame abgetreten hatte und bis zum Morgen bei Regenwetter an Deck war. Das hat man als Dank für seine Wohltaten! Zwicken! Weg mit dir, Rheumatismus! Du könntest mich nicht schlimmer quälen, wenn ich ein Schuft wäre und die Dame ermordet hätte, anstatt ihr zu helfen. Dyspepsie, jawohl – die habe ich auch noch.

Hallo – da kommen die Kälber, die zweijährigen, frisch aus dem Stall auf die Wiese nach sechs Monaten Stallfütterung. Eine traurig aussehende Gesellschaft, wahrhaftig! Das Ende eines harten Winters, gewiß. Spitze Knochen, die wie Ellenbogen herausstehen, alles gesteppt mit einem merkwürdigen Stoff, der an ihren Flanken wie Schichten von Pfannkuchen eingetrocknet ist. Stellenweise haben sie sich das Haar ganz abgescheuert, und wo es nicht gepfannkucht oder kahl ist, schaut es aus wie die abgeschabten Seiten alter, abgenützter Fellkoffer. Es sind wirklich nicht sechs Zweijährige, sondern sechs abscheuliche alte Fellkoffer, die hier auf der Wiese herumspazieren.

Horch! Beim Himmel, was ist das? Sieh! Die Fellkoffer spitzen die Ohren danach, stehen still und starren in die wellige Landschaft dort hinunter. Horch – wieder! Wie rein, wie musikalisch, wie lange! Welch triumphierende Danksagung in diesem Hahnenkrähen! »Ehre sei Gott in der Höhe!« Es drückt wirklich diese Worte so deutlich aus, wie es nur je ein Hahn in dieser Welt getan hat. Ei, ich fange an, mich etwas besser zu fühlen. Es ist eigentlich gar nicht so arg neblig. Die Sonne drüben fängt an, sich zu zeigen. Mir wird wärmer.

Horch! Schon wieder! Hat je ein so gesegnetes Hahnenkrähen über die Erde geklungen? Rein, durchdringend, voll Mut, voll Feuer, voll Humor, voll Freude. »Niemals verzweifeln!«, sagt es deutlich! Meine Freunde, es ist außerordentlich, nicht wahr?

Ich bemerkte, daß ich mich in meiner Begeisterung unwissentlich an die Zweijährigen – die Kälber – gewandt hatte, welches zeigt, daß unsere wahre Natur sich manchmal ganz unbewußt betrügt. Denn was für ein richtig zweijähriges und zwar Kalb war ich gewesen, noch dazu auf dem Gipfel eines Hügels in Melancholie zu verfallen, während ein Hahn drunten in der Niederung ohne vernünftigen Grund und ohne einen Pfennig in der Tasche, jeden Augenblick von Seiten seines hungrigen Besitzers dem Tode ausgesetzt, ein Geschrei erhebt, ganz wie ein lorbeergekrönter Dichter, der den glorreichen Sieg von New Orleans feiert.

Horch! Da ist es wieder. Meine Freunde, das muß ein Brahmaputrahahn sein; kein gewöhnlicher Haushahn könnte in so überaus frohlockenden Tönen krähen. Gewiß, meine Freunde, ein Brahmaputrahahn aus der Zucht des Kaisers von China.

Doch meine Freunde, die Fellkoffer, ganz erschrocken über so lautklingende Siegestöne, rannten nun davon, mit ihren Schwänzen in der Luft fuchtelnd und mit so steifen Beinen springend, daß es ganz deutlich war: seit sechs Monaten hatten sie sich nicht frei bewegt.

Horch, schon wieder! Wer kann sich in dieser Gegend einen so außerordentlichen Brahmaputrahahn leisten? Wahrhaftig – es läßt das Blut kreisen – ich werde wild. Wie? Soll ich auf diesen alten, verfaulten Stamm hier springen, mit den Ellbogen schlagen und auch krähen? Eben noch war ich ganz niedergeschmettert. Und all das wegen eines einfachen Hahnenkrähens. Wunderbarer Hahn! Aber sachte – jetzt kräht der Bursche ganz herzhaft, doch es ist früh am Morgen, sehen wir, wie er mittags krähen wird und gegen Abend. Es fällt mir ein, daß Hähne vor allem bei Tagesanbruch krähen. Ihr Mut hält nicht an. Ja, ja, selbst Hähne müssen dem Leid der Welt unterliegen, anfangs jubelnd und zum Schluß kleinmütig.

... An schönen Morgenden,
Gar lustig krähen wir, wir schönen, starken Hähne;
Doch kommt der Abend, krähen wir nicht mehr so viel,
Denn dann kommt Trauer über uns und Wahn.

Als der Dichter das schrieb, hatte er diesen echten Brahmaputrahahn im Sinn. Aber halt. Dort kräht er wieder, zehnmal reicher, voller, länger, unbändiger, jauchzender als vorher. Ei, es ist, als höre man die große Glocke von St. Paul zu einer Krönung läuten! Man sollte wirklich jene Glocke herunternehmen und statt ihrer diesen Brahmaputrahahn hinsetzen. So ein Krähen würde ganz London erheitern, von Mile End (das kein Ende ist) bis zum Primelhügel (wo es keine Primeln gibt) und den Nebel verscheuchen.

Nun schön, heute habe ich Appetit auf mein Frühstück, wie die ganze Woche nicht. Bloß Tee und Toast hatte ich haben wollen, aber jetzt will ich Kaffee und Eier – nein, dunkeln Stout und ein Beefsteak. Etwas Herzhaftes will ich. Ah, da kommt der Zug nach der Stadt: weiße Wagen, die wie eine Silberader durch die Bäume blitzen. Wie vergnügt die Dampfpfeife klingt! Wie lustig die Passagiere sind. Dort weht ein Taschentuch – auf dem Wege zur Stadt, Austern zu essen, Freunde zu sehen und gelegentlich in den Cirkus zu schauen. Und der Nebel dort drüben; weiche Locken und wogende Linien um die Hügel, in die die Sonne ihre Strahlen webt. Und der azurne Rauch über dem Dorf, wie der blaue Betthimmel über einem Brautlager. Wie strahlend die Landschaft dort aussieht, wo der Fluß die Wiesen überflutet hat. Das alte Gras muß dem jungen weichen. Ja, der Spaziergang ist mir gut bekommen. Jetzt heim und ordentlich in das Beefsteak eingehauen und einer Flasche dunkeln Stout den Hals gebrochen. Wenn ich das Viertel Stout trinke, werde ich mich so stark fühlen wie Simson. Jetzt, wo ich es mir überlege, fällt mir ein, daß jener Gläubiger mich vielleicht doch aufsucht. Gleich will ich in den Wald gehen und mir einen Stecken schneiden. Beim Himmel, ich will ihn verprügeln, wenn er mich heute mahnt.

Horch, da kräht der Brahmaputrahahn wieder. Der Brahmaputrahahn sagt: »Bravo!« »Verhau ihn!« sagt der Brahmaputrahahn.

Braver Hahn!

Den ganzen Morgen war ich sehr guter Laune. Um elf kam der Gläubiger. »Schick ihn herauf«, sagte ich zu Jake. Ich las gerade Tristran Shandy und konnte unter diesen Umständen nicht hinuntergehen. Der hagere Schuft (ein hagerer Farmer – stell dir vor!) trat ein und fand mich in meinem Armsessel sitzen, die Füße auf dem Tisch, die zweite Flasche Stout neben mir und das Buch vor der Nase.

»Nehmen Sie Platz«, sagte ich, »ich will dies Kapitel zu Ende lesen, dann stehe ich zu Ihrer Verfügung. Schöner Morgen. Ha ha! Das ist ein guter Spaß mit meinem Onkel Toby und der Witwe Wadman! Ha ha ha! Ich werde es Ihnen vorlesen.«

»Dazu habe ich keine Zeit. Ich habe meine Mittagsarbeiten zu machen.«

»Zum Henker mit Ihren Arbeiten!« sagte ich. »Streuen Sie hier nicht Ihren alten Tabak herum, sonst werfe ich Sie hinaus.«

»Sir!«

»Ich will Ihnen das von der Witwe Wadman vorlesen. Sagt die Witwe Wadman –«

»Hier ist meine Rechnung, Sir.«

»Sehr schön. Falten Sie sie, bitte, zusammen. Jetzt ist meine Rauchzeit. Bitte geben Sie mir eine Kohle aus dem Kamin dort.«

»Meine Rechnung, Sir«, sagte der Schuft und wurde bleich vor Wut und Entsetzen über mein ungewohntes Auftreten (bisher war ich ihm immer mit blassem Gesicht ausgewichen). Doch war er zu vorsichtig, die ganze Größe seiner Bestürzung zu verraten. »Meine Rechnung, Sir«, und er hielt sie mir steif entgegen.

»Lieber Freund«, antwortete ich, »was für ein schöner Morgen! Wie lieblich die Landschaft aussieht! Bitte, haben Sie heute Morgen das außerordentliche Hahnenkrähen gehört? Nehmen Sie sich ein Glas von meinem Stout.«

»Von Ihrem? Bezahlen Sie erst Ihre Schulden, ehe Sie Leuten Ihren Stout anbieten!«

»Sie meinen also, daß ich, genau genommen, keinen Stout habe«, erwiderte ich, langsam aufstehend. »Ich will Sie eines besseren belehren. Ich will Ihnen einen Stout zeigen, der besser ist als der von Barclay und Perkins.«

Ohne viel Federlesens packte ich den unverschämten Gläubiger bei den Rockschößen (und da er ein magerer Hering war, gab es genug zu packen) – ich ergriff ihn also, machte einen Seemannsknoten aus ihm, steckte ihm seine Rechnung zwischen die Zähne und ließ ihn Bekanntschaft mit der freien Landschaft machen, die meinen Wohnsitz umgab.

»Jake«, rief ich, »in der Scheune findest du einen Sack mit blaunasigen Kartoffeln. Schleif ihn her und schmeiß damit nach diesem Armenhäusler, der mich um ein paar Pfennige angebettelt hat. Ich weiß, er kann arbeiten, er ist nur faul. Schmeiß ordentlich nach ihm, Jake!«

Herr des Himmels, was für ein Krähen! Der Brahmaputrahahn gab einen so vollendeten Lobgesang, ein solches laudamus von sich, einen so triumphierenden Trompetenstoß, daß meine Seele hell auflachte. Gläubiger! Gegen eine ganze Armee davon hätte ich kämpfen können! Offenbar war der Brahmaputrahahn der Meinung, daß Gläubiger nur dazu auf die Welt kommen, getreten, gehängt, blau und braun geschlagen, verprügelt, erstickt, verdroschen, gehämmert, ertränkt, geknüppelt zu werden!

Als ich wieder ins Haus gegangen war und sich mein Frohlocken über den besiegten Gläubiger einigermaßen gelegt hatte, verfiel ich in Nachdenken über den geheimnisvollen Brahmaputrahahn. Keine Ahnung hatte ich gehabt, daß ich ihn so nah bei meinem Hause hören würde. Ich rätselte, auf welchem reichen Herrenhof er wohl krähe. Auch hatte er mit seinem Krähen nicht so bald aufgehört, wie ich gedacht hatte. Wenigstens bis Mittag krähte der Brahmaputrahahn also: Würde er den ganzen Tag krähen? Ich beschloß, das festzustellen. Wieder bestieg ich den Hügel. Die ganze Gegend lag nun in beglückendem Sonnenschein gebadet da. Überall um mich her brach das warme Grün hervor. Auf den Feldern gingen Gespanne vor dem Pflug. Eben aus Süden angekommene Vögel sangen fröhlich in der Luft. Sogar die Krähen krächzten mit einer gewissen Wonne und schienen eine Schattierung weniger schwarz zu sein als gewöhnlich.

Horch! Da ist der Hahn wieder! Wie soll ich das Krähen des Brahmaputrahahns zur Mittagszeit beschreiben? Sein Sonnenaufgangskrähen war ein Geflüster dagegen. Es war das lauteste, längste und seltsam musikalischste Krähen, das je einen Sterblichen erstaunt hat. Schon früher hatte ich viele Hähne krähen hören und darunter sehr gute. Aber dieses Krähen! So weich und flötenartig in all seiner Kraft, so selbstbeherrscht in seiner ganzen jauchzenden Wonne, so steigend, schwellend, gen Himmel dringend, wie mit zurückgeworfenem Kopf aus goldener Kehle gespritzt. Es klang auch nicht wie das närrische, selbstherrliche Krähen eines jungen, noch nicht ausgelernten Hahns, der die Welt nicht kennt und das Leben in kecker Fröhlichkeit beginnt, weil er sich in elender Unwissenheit darüber befindet, was kommen kann. Es war das Krähen eines Hahns, der nicht ohne Wissen krähte, das Krähen eines Hahns, der mit allen Wassern gewaschen war, das Krähen eines Hahns, der die Welt herausgefordert und besiegt hatte und nun entschlossen war, zu krähen, wenn auch Himmel und Erde vergehen sollten. Es war ein wissendes Krähen, ein unbesiegliches Krähen, ein philosophisches Krähen, es war das Krähen an sich.

Wiederum kehrte ich gestärkten Geistes, mit einem Gefühl von Unbesiegbarkeit heim. Ich dachte über meine Schulden und andere Unannehmlichkeiten nach, über die unglücklichen Erhebungen armer, unterdrückter Völker im Ausland, über die Eisenbahn- und Dampfschiffunfälle, sogar über den Verlust meines teuren Freundes, und das mit einer gutmütig herausfordernden Begeisterung, die mich selbst überraschte. Ich hatte das Gefühl, ich könne dem Tod begegnen, ihn zum Mittagessen einladen und mit ihm auf die Katakomben anstoßen aus einem Übermaß von Selbstvertrauen und dem Gefühl allgemeiner Sicherheit. Gegen Abend ging ich noch einmal auf den Hügel, um festzustellen, ob dieser herrliche Hahn sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang bewähre. Nicht zu reden von Vesper und Feierabend – das Abendkrähen des Hahns drang aus seiner machtvollen Kehle und nahm das ganze Land in Besitz, wie Xerxes vom Osten mit seinem doppelflügeligen Heer. Es grenzte ans Wunderbare. Mein Himmel, was für ein Krähen! Verlaß dich darauf, in unverminderter Verfassung bestieg der Hahn heute abend die Hühnerleiter, als Sieger des Tages und das Echo seines tausendmaligen Krähens der Nacht vermachend.

Nach einem ungewohnt gesunden, erfrischenden Schlaf stand ich frühmorgens auf, fühlte mich wie eine Wagenfeder, leicht, elliptisch, luftig, oben schwimmend wie eine Störnase und sprang gleich einem Fußball den Berg hinan. Horch, der Brahmaputrahahn war früher da als ich. Der Vogel Morgenstunde hat Gold im Munde krähte wie ein Signalhorn mit eingebauter Maschine – kräftig, laut, ganz Jubel. Von den verstreuten Farmhäusern krähten viele andere Hähne und antworteten sich gegenseitig. Doch sie wirkten wie Piccoloflöten neben einer Posaune. Der Brahmaputrahahn fuhr plötzlich dazwischen und überwältigte all ihr Gekrähe mit seiner einen beherrschenden Stimme. Mit den anderen schien er nichts zu tun zu haben, antwortete auf kein Krähen, sondern krähte einzig allein für sich selbst, für eigene Rechnung, in einsamer Verachtung und Unabhängigkeit.

Oh prachtvoller Hahn! Oh edler Brahmaputrahahn! Oh Vogel, mit Recht von dem unüberwindlichen Sokrates zum Zeugnis seines endgültigen Sieges über das Leben geopfert.

Da ich lebe, dachte ich, will ich an diesem gesegneten Tage ausziehen, den Brahmaputrahahn aufsuchen und ihn kaufen, sollte ich auch eine zweite Hypothek auf meinen Besitz aufnehmen müssen.

Um die Richtung ausfindig zu machen, aus der das Krähen kam, lauschte ich aufmerksam. Doch es durchdrang und erfüllte und bereicherte die Luft so, machte sie so überquellend, daß es unmöglich war, zu sagen, von welcher Stelle der Jubel komme. Alles, was ich feststellen konnte, war: das Krähen kam von Westen und nicht von Osten. Dann überlegte ich mir, wie weit ein Krähen wohl zu hören sei. In dieser stillen, noch dazu von Bergen eingeschlossenen Landschaft sind Töne auf weite Entfernung vernehmbar. Daneben brachte die Welligkeit des Landes, die Nähe der Berge über dem Auf und Ab der Hügel und Täler manch seltsames Echo, manchen Widerhall, Vervielfachungen und Anhäufungen der Resonanz hervor, daß es sehr merkwürdig zu hören war und sehr verwirrend darüber nachzudenken. Wo versteckte sich dieser tapfere Brahmaputrahahn – dieser Vogel des heiteren Sokrates – die griechische Kampfhenne, die unerschrocken starb? Wo versteckte er sich? Oh edler Hahn, wo bist du? Krähe noch einmal, mein Hähnchen, mein fürstlicher, mein kaiserlicher Brahmaputrahahn! Mein Vogel des Kaisers von China! Bruder der Sonne! Vetter des großen Jupiter! Wo bist du? Krähe noch einmal und nenne mir dein Versteck!

Horch, wie ein volles Orchester der Hähne aller Völker brach das Krähen los. Doch woher? Es war da, aber wo? Nur, daß es von Osten kam, war zu hören.

Nach dem Frühstück nahm ich meinen Stock und ging die Straße hinunter. Viele Herrensitze zierten die Nachbarschaft, und ich zweifelte nicht daran, einer dieser verschwenderischen Herren habe einen Hundertdollarschein in einem königlichen Brahmaputrahahn investiert, den die Brigg »Passatwind« oder »Sturmbö« oder »Beherrscherin der Meere« jüngst importiert hätte, denn es mußte unbedingt ein schönes Schiff mit einem schönen Namen sein, dem das Schicksal eines so herrlichen Hahns anvertraut worden war. Ich beschloß, die ganze Gegend zu durchstreifen, um diesen edlen Ausländer aufzufinden, hielt es jedoch für angebracht, unterwegs in den niedrigsten Hütten anzufragen, ob nicht zufällig jemand etwas von einem jüngst eingeführten Brahmaputrahahn wüßte, der einem der Gutsherren aus der Stadt gehörte. Es war ja klar, daß kein armer Farmer, kein armer Mann überhaupt eine solche orientalische Trophäe besten konnte, eine solche Große Glocke von St. Paul in einer Hahnenkehle.

Ich traf einen alten Mann, der auf einem Feld dicht bei der Einfriedigung an der Landstraße pflügte.

»Lieber Freund, haben Sie neuerdings ein außerordentliches Hahnenkrähen gehört?«

»Ja, ja«, antwortete er langsam, »ich weiß nicht – die Witwe Crowfoot hat einen Hahn und der Gutsbesitzer Squaretoes hat einen Hahn – und ich habe einen Hahn, und krähen tun die alle. Aber ich weiß von keinem, der besonders kräht.«

»Guten Morgen«, sagte ich kurz, »es ist klar, daß Sie den Hahn des Kaisers von China nicht haben krähen hören.«

Bald darauf begegnete ich einem andern alten Mann, der einen baufälligen Holzzaun ausbesserte. Die Querhölzer waren verfault, und bei jeder Handbewegung des Alten zerkrümelten sie zu gelbem Ocker. Viel besser hätte er ihn in Frieden gelassen oder neue Querhölzer gemacht. Und hier muß ich eines sagen: die traurige Tatsache, daß Idiotie bei Landleuten verbreiteter ist als in irgend einer ändern Bevölkerungsschicht, beruht darauf, daß sie immer bei warmem, erschlaffendem Frühlingswetter verfaulte Zäune ausbessern wollen. Es ist ein hoffnungsloses Unternehmen. Auch ein mühsames. Auch ein nutzloses. Ein herzbrechendes Unternehmen ist es. Unermeßliche Mühe verschwendet an nichts und wieder nichts. Denn wie könnte es einer fertig bringen, daß verfaulte Holzzäune auf verfaulten Pfählen stehen bleiben? Durch welchen Zauber konnte man Balken frische Kraft zuführen, die sechzig Winter und Sommer hintereinander durchgefroren und ausgedörrt sind? Das ist es, das unselige Bestreben, verfaulte Holzzaune mit ihren eigenen verfaulten Querbalken auszubessern, was viele Farmer ins Irrenhaus bringt.

Aus dem Gesicht des in Rede stehenden alten Mannes sprach deutlich die beginnende Verblödung. Denn vor ihm dehnte sich etwa sechzig Ruten lang einer der elendesten, trostlosesten Holzzäune aus, die ich in meinem Leben in Virginia gesehen habe. Auf einem Felde dahinter lief eine Herde junger Ochsen umher, die wie vom Teufel besessen unaufhörlich gegen diesen jämmerlichen alten Zaun anrannten, hier und da durchbrachen und den alten Mann veranlaßten, seine Arbeit liegen zu lassen und sie in ihre Schranken zurückzujagen. Er tat das mit einem Stück Zaunpfahl, so riesig wie Goliaths Keule, aber leicht wie Kork. Beim ersten Herumfuchteln zerkrümelte er zu Pulver.

»Mein Freund«, fragte ich den jammervollen Sterblichen, »haben Sie in letzter Zeit ein außerordentliches Hahnenkrähen gehört?«

Ebensogut hätte ich ihn fragen können, ob er den Totenwurm gehört habe. Mit einem langen, verwirrten, unbeschreiblich traurigen Blick starrte er mich an und wandte sich, ohne zu antworten, wieder zu seiner unseligen Arbeit.

Wie dumm von mir, dachte ich, eine so trübselige und unerfreuliche Kreatur nach einem so fröhlichen Hahn zu fragen.

Ich ging weiter. Von der Höhe, auf der auch mein Haus stand, war ich jetzt in eine niedriger liegende Gegend gekommen, wo ich das Krähen des Brahmaputrahahnes nicht hören konnte, weil es über mich wegging. Vielleicht lunchte er auch gerade Mais und Hafer oder hielt ein Schläfchen und hatte deswegen sein Jubilieren ein Weilchen unterbrochen. Endlich begegnete ich auf der Landstraße einem Reiter, einem stattlichen Herrn – nein, einem aufgeblasenen – einem sehr reichen Mann, der kürzlich einige herrliche Äcker erworben und sich ein herrliches Herrenhaus gebaut hatte, mit einem beträchtlichen Hühnerhaus dabei, von dem man in der ganzen Gegend sprach. Das, dachte ich, wird der Besitzer des Brahmaputrahahns sein.

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte ich, »ich wohne hier in der Nachbarschaft und möchte gern fragen, ob Sie einen Brahmaputrahahn besitzen.«

»Oh ja, ich habe zehn Brahmaputras.«

»Zehn!« rief ich verwundert aus. »Und krähen sie alle?«

»Sehr kräftig. Jeder von ihnen. Ich möchte keinen Hahn haben, der nicht kräht.«

»Würden Sie wohl umkehren und mir die Brahmaputrahähne zeigen?«

»Mit Vergnügen. Ich bin stolz auf sie. Sie kosten mich rund sechshundert Dollar.«

Während ich neben seinem Pferde herging, dachte ich darüber nach, ob es möglich sei, daß ich das harmonisch zusammengestimmte Gekrähe zehn versammelter Brahmaputrahähne für das übernatürliche Krähen eines einzigen Brahmaputrahahns allein gehalten hätte.

»Sir«, sagte ich, »übertrifft von Ihren Brahmaputrahähnen einer alle ändern, indem er weit kräftiger, musikalischer und begeisternder kräht als sie?«

»Sie krähen alle ganz gleich, glaube ich«, antwortete er höflich. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich ihr Krähen unterscheiden könnte.« Allmählich begann ich daran zu zweifeln, ob mein edler Hahn wirklich im Besitz dieses reichen Herrn sei. Indessen kamen wir zu seinem Hühnerhof, und ich sah seine Brahmaputrahähne. Ich muß gestehen, daß mir bisher noch nie einer dieser importierten Vögel zu Gesicht gekommen war. Was für enorme Preise für sie bezahlt wurden, hatte ich gehört, auch daß sie ganz besonders groß seien, und mir daraufhin eingebildet, ihre Schönheit und Pracht entspreche sowohl ihrer Größe als auch ihrem Preis. Wie erstaunte ich daher, als ich zehn mohrrübenfarbene Ungeheuer erblickte, die nicht den geringsten Anspruch auf den Glanz eines Federkleids machten. Sofort stellte ich fest, daß mein königlicher Hahn nicht unter ihnen und möglicherweise überhaupt kein Brahmaputrahahn sei, wenn diese gigantischen Galgenvögelhühner wirklich Muster von echten Brahmaputrahähnen waren. Den ganzen Tag lief ich umher, aß in einer Farm und ruhte mich dort aus, besah mehrere Geflügelhöfe, fragte viele Hühnerhofbesitzer, horchte auf verschiedenes Krähen, konnte aber den geheimnisvollen Edelhahn nicht entdecken. Auf meiner langen Wanderung war ich so weit abgekommen, daß ich ihn nicht mehr hören konnte. Ich begann zu argwöhnen, dieser Hahn sei in der Geigend nur zu Gast gewesen, mit dem Elfuhrzug von Süden weiter gereist und krähe und jubele jetzt irgendwo auf den grünenden Höhen von Long Island Sound.

Am nächsten Morgen hörte ich aber wieder das begeisternde Schmettern, fühlte wieder mein Blut hüpfen, fühlte mich wieder allen Übeln des Lebens überlegen und so, als werfe ich meinen Gläubiger aus der Tür. Unzufrieden mit dem Empfang, den ich ihm bei seinem letzten Besuch bereitet hatte, war der Gläubiger jedoch weggeblieben. Gewiß war er empört. Einfältiger Bursche, einen harmlosen Scherz ernst zu nehmen.

Mehrere Tage verstrichen, in denen ich verschiedene ziellose Ausflüge in die Umgegend machte, aber meine Suche nach dem Hahn blieb vergeblich. Vom Hügel hörte ich ihn noch, manchmal auch vom Hause und hin und wieder in der Stille der Nacht. Zuweilen, wenn ich im Begriff war, wieder in meine schwermütige Stimmung zu verfallen, wollte meine Seele beim Klang des begeisternden, trotzigen Krähens sofort sich selbst in einen Hahn verwandeln, mit zurückgeworfener Kehle die Flügel schlagen und der ganzen elenden Welt eine fröhliche Herausforderung ins Gesicht schleudern.

Schließlich fand ich mich einige Wochen darauf genötigt, auf meinen Besitz eine zweite Hypothek aufzunehmen, um gewisse Schulden zu bezahlen, unter andern die an den Gläubiger, der mich vor kurzem verklagt hatte. Die gerichtliche Vorladung wurde mir auf eine höchst kränkende Weise zugestellt. In einem Privatzimmer des Dorfwirtshauses hatte ich mich an einer Flasche Philadelphia Porter, etwas Herkimerkäse und einer Semmel gelabt, und nachdem ich den Wirt, einen Freund von mir, davon in Kenntnis gesetzt hatte, daß ich ihn bezahlen würde, sobald ich Geld geschickt bekäme, ging ich zu dem Haken, an dem ich im Gastzimmer meinen Hut aufgehängt hatte, um eine erlesene Cigarre zu holen, die ich im Hutfutter gelassen, als ich, siehe da, wohl meine Cigarre fand, aber eingewickelt in die Vorladung. Beim Ausrollen der Cigarre entrollte ich die Vorladung. »Nehmen Sie Kenntnis«, brummte der dabeistehende Polizist schwerfällig und flüsterte dann: »Stecken Sie es in die Pfeife und rauchen Sie es.«

Ich drehte mich kurz zu den Herren um, die sofort im Gastzimmer waren. »Meine Herren«, sagte ich, »ist das eine anständige – nein, ist das eine gesetzliche Art und Weise, einen gerichtlich vorzuladen? Sehen Sie!«

Alle waren der Meinung, es sei höchst geschmacklos von dem Konstabel, den Umstand, daß ein Herr Käse und Porter frühstückte, dazu auszunützen, unfeiner Weise eine Gerichtsvorladung in seinen Hut zu mogeln. Es war nicht edelmütig von ihm. Es war grausam. Denn so unmittelbar nach dein Frühstück konnte einem vor Schreck über diese Sache der Käse im Magen liegen bleiben, da Käse bekanntlich nicht so leicht au verdauen ist wie Blancmanger.

Daheim angekommen, las ich die Vorladung, und die Melancholie gab mir einen Stich ins Herz. Hart ist die Welt! Hart! Hier sitze ich, ein so guter Kerl wie nur je einer gelebt hat – gastfrei – offenherzig – freigiebig bis zum Übermaß, und das Schicksal gönnt mir nicht den Reichtum, der durch meine Güte der ganzen Gegend zum Segen gereichen würde. Nein, während sich manch elender Geizhals in eitlem Golde wälzt, bekommt ein edles Herz wie ich Gerichtsvorladungen zugestellt! Ich beugte mein Haupt und kam mir verlassen vor – ungerecht behandelt – mißhandelt – mißachtet – kurzum miserabel.

Horch! Wie eine Trompete! Wahrlich wie ein fröhlicher Donnerkeil mit Glockengeläute – erklang das allherrliche, herausfordernde Krähen! Ihr Götter, wie mich das aufrichtete! Ich stand gerade auf meinen Beinen! Ja, wahrlich auf Stelzen!

Oh, edler Hahn!

So deutlich, wie ein Hahn nur sprechen kann, sagte er: »Laß die Welt und alles darin zum Teufel gehen. Sei vergnügt und gib nie auf. Was ist die Welt im Vergleich mit dir? Was ist sie überhaupt anders als ein Lehmklumpen? Sei du vergnügt!«

Oh, edler Hahn!

»Aber mein lieber, herrlicher Hahn«, grübelte ich bei näherem Überlegen, »so einfach kann man die Welt nicht zum Teufel schicken, so einfach ist es nicht, vergnügt zu sein, wenn man eine gerichtliche Vorladung im Hut oder in der Hand hat.«

Horch! Er kräht wieder. So deutlich wie ein Hahn nur sprechen kann, sagte er: »Häng die Vorladung an den Nagel und den Burschen, der sie geschickt hat, dazu! Hast du weder Grund und Boden noch Geld, so geh hin, verdrisch den Burschen und sag ihm, du dächtest gar nicht daran, ihn zu bezahlen. Sei vergnügt!«

So kam es also – durch die gebieterischen Weisungen des Hahns – dazu, daß ich auf meinen Besitz noch eine Hypothek knallte und alle meine Schulden bezahlte, indem ich sie in dieser einen weiteren Schuldverschreibung und Hypothek verschmolz. Nachdem ich das in Ordnung gebracht hatte, fing ich an, wieder nach dem edlen Hahn zu suchen. Jedoch vergebens, obwohl ich ihn jeden Tag hörte. Ich begann zu argwöhnen, hinter dieser geheimnisvollen Angelegenheit stecke irgend ein Betrug: ein ausgezeichneter Bauchredner treibe sich bei meinen Scheunen oder im Keller oder auf meinem Dach herum und sei voll fröhlicher Bosheit. Doch nein – welcher Bauchredner könnte wohl so krähen, so heroisch und himmlisch krähen?

Schließlich kam eines Morgens ein gewisser sonderbarer Mann zu mir, der im März mein Holz gesägt und gespalten hatte – etwa fünfunddreißig Klafter – und nun erschien, um sein Geld zu holen. Wie gesagt, er war ein sonderbarer Mann. Groß und mager war er und hatte ein langes betrübtes Gesicht, aber irgendwie einen verschmitzt lustigen Blick, der im merkwürdigsten Gegensatz dazu stand. Er machte einen gesetzten, jedoch keinen gedrückten Eindruck. Zu seinem langen, grauen, schäbigen Rock trug er einen großen, zerbeulten Hut. Dieser Mann hatte mein Holz für so und so viel den Klafter gesägt. Den ganzen Tag lang konnte er in einem jagenden Schneesturm dastehen und sägen, ohne mit der Wimper zu zucken. Redete man ihn nicht an, sprach er kein Wort. Er sägte bloß. Sägen, Sägen, Sägen – Schnee, Schnee, Schnee. Das Sägen und der Schnee paßten zusammen wie zwei natürliche Dinge. Als dieser Mann zum erstenmal kam, brachte er sein Mittagessen mit und machte sich daran, es auf seinem Bock sitzend im Schneesturm zu verzehren. So erblickte ich ihn von meinem Fenster aus, an dem ich Burtons Anatomy of Melancholy las. Barhaupt stürzte ich aus der Tür. »Gott im Himmel«, rief ich, »was machen Sie da? Kommen Sie herein. Soll das Ihr Mittagessen sein?«

Er hatte ein dickes Stück altbackenes Brot und ein großes, in nasses Zeitungspapier gewickeltes Stück Pökelfleisch und spülte seine Bissen mit einer Handvoll frischem Schnee hinunter, den er im Munde schmelzen ließ. Ich führte den voreiligen Mann ins Haus, setzte ihn neben das Feuer und tischte ihm warmes Schweinefleisch mit Bohnen und einen Becher Cider auf.

»Schleppen Sie jetzt nicht mehr Ihr nasses Essen her«, sagte ich. »Sie tun Ihre Arbeit, gewiß, aber das Mittagessen gebe ich Ihnen.« Er gab seiner Anerkennung auf ruhige, stolze, aber nicht unangenehme Art Ausdruck und wurde mit dem Essen rasch zu seiner und meiner Zufriedenheit fertig. Freude machte es mir, zu sehen, wie er seinen Becher Cider männlich hinuntergoß. Ich behandelte ihn ehrenvoll. Wenn ich ihn wegen der Arbeit an seinem Bock ansprach, tat ich es auf eine behutsam respektvolle, ehrerbietige Weise. Sein sonderbares Aussehen interessierte mich, und verblüfft von der bewundernswürdig intensiven Hingabe an seine Sägearbeit – für die meisten eine sehr ermüdende und unangenehme Beschäftigung – gedachte ich oft, von ihm herauszubekommen, wer er war, was für ein Leben er führte, wo er geboren und so weiter. Doch er war stumm. Er kam, um mein Holz zu sägen und mein Essen zu verzehren – wenn ich es für gut fand, ihm eins anzubieten – aber nicht zum Schwatzen. Zuerst nahm ich unter diesen Umständen sein mürrisches Schweigen etwas übel. Doch bei näherer Überlegung achtete ich ihn dafür nur um so höher, und das vermehrte meinen Respekt und die Ehrerbietung meines Benehmens ihm gegenüber. Ich stellte stillschweigend fest, dieser Mann müsse schwere Zeiten durchgemacht und viel böse Widerwärtigkeiten überwunden haben, ferner sei er erhabenen Gemüts und vom Geist Salomos, lebe still, anständig, nüchtern und, obwohl in Armut, nichtsdestoweniger als höchst achtbarer Mann. Manchmal bildete ich mir ein, er sei vielleicht sogar Kirchenältester oder Diakon irgend einer kleinen Landgemeinde. Am Ende, dachte ich, wäre es keine schlechte Idee, diesen ausgezeichneten Mann zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zu machen. Er würde ein großer Reformator werden und alle Mißbräuche abschaffen.

Sein Name war Merrymusk. Was für ein fröhlicher Name für einen so wenig fröhlichen Gesellen, hatte ich oft gedacht. Ich fragte Leute, ob sie Merrymusk kennten, doch es dauerte eine Weile, bis ich viel über ihn erfuhr. Wie es schien, war er geborener Marylander und hatte lange in der Gegend hier herum gelebt. Ein unsteter Mann. Bis vor etwa zehn Jahren ein Tunichtgut, aber keineswegs Verbrecher. Ein Mann, der mit überraschender Nüchternheit einen Monat lang schwer arbeiten und dann seinen ganzen Lohn in einer wilden Nacht verschleudern konnte. In seiner Jugend war er Seemann gewesen und war von seinem Schiff in Batavia weggelaufen, wo er das Fieber bekommen hatte und beinahe gestorben wäre. Doch er erholte sich, ging wieder zur See, kam heim, fand all seine Freunde tot und zog in das nördliche Binnenland, wo er sich seitdem aufhielt. Seit neun Jahren war er verheiratet und hatte jetzt vier Kinder. Seine Frau war unheilbarem Siechtum verfallen, ein Kind hatte Mundfäule, die andern waren rachitisch. Er und seine Familie lebten an einem einsamen, unfruchtbaren Fleck in der Nähe der Eisenbahnlinie, wo die Bahn dicht am Fuß eines Berges vorüberfuhr. Er hatte sich eine schöne Kuh gekauft, um für seine Kinder viel nahrhafte Milch zu haben, aber die Kuh war beim Kalben gestorben, und er konnte es sich nicht leisten, wieder eine zu kaufen. Hunger hatte seine Familie noch nie gelitten. Er arbeitete schwer und ernährte sie.

Also, wie gesagt, dieser Merrymusk hatte vor einiger Zeit mein Holz gesägt und kam nun, um sich sein Geld zu holen.

»Lieber Freund«, sagte ich, »kennen Sie hier in der Gegend einen Herren, der einen ganz besonderen Hahn besitzt?«

Ein deutliches Zwinkern blitzte in seinen Augen.

»Ich weiß von keinem Herrn«, entgegnete er, »der so etwas hätte, was man einen ganz besonderen Hahn nennen könnte.«

Oh, dachte ich, dieser Merrymusk ist nicht der Mann, mich aufzuklären. Ich fürchte, diesen außerordentlichen Hahn werde ich niemals entdecken.

Da ich nicht genug Kleingeld hatte, Merrymusk zu bezahlen, gab ich ihm, so viel ich konnte, und sagte ihm, in ein oder zwei Tagen würde ich einen Spaziergang zu ihm hinaus machen und ihm den Rest bringen. Dementsprechend machte ich mich eines schönen Morgens zu ihm auf. Den nächsten Weg zu der Blockhütte zu finden, machte viel Mühe. Genau schien niemand zu wissen, wo sie eigentlich sei. Sie lag in einem sehr einsamen Teil der Gegend; auf der einen Seite war ein dicht bewaldeter Berg (den ich Oktoberberg nannte, weil er in diesem Monat so festlich geschmückt aussah), auf der andern ein dicker Sumpf, den die Bahn durchschnitt. Schnurgerade ging die Bahn durch ihn hin und quälte täglich mehrmals die elende Hütte mit dem Anblick aller Schönheit, dem Anblick von Stand, Vornehmheit, Gesundheit, Koffern, Silber und Gold, Kurzwaren und Spezereien, Bräuten und Bräutigamen, glücklichen Frauen mit ihren Männern. So flogen die Züge an der einsamen Tür vorbei – keine Zeit anzuhalten – rasch wie der Blitz, hier sind sie und schon vorüber, gänzlich verschwunden – als sei dieser Teil der Welt nur dazu da, daran vorüberzufliegen und nicht dazu, sich niederzulassen. Das war alles, was die Hütte von dem erblickte, was die Leute »Leben« nennen.

Obwohl etwas verwirrt, wußte ich jetzt doch ungefähr, wo die Blockhütte lag, und wanderte los. Während ich ging, überraschte es mich, den geheimnisvollen Hahn immer deutlicher krähen zu hören. Ist es möglich, dachte ich, daß ein Herr, der einen Brahmaputrahahn besitzt, in einer so verlassenen, trostlosen Gegend wohnt? Lauter und lauter, näher und näher erklang die herrliche, herausfordernde Trompete. Wenn ich auch irgendwie von dem Wege zu meinem Holzhacker abkomme, sagte ich mir, scheine ich doch Gott sei Dank auf dem Wege zu meinem außerordentlichen Hahn zu sein. Dieser günstige Zufall entzückte mich. Ich wanderte weiter, während von Zeit zu Zeit immer wieder das Krähen ertönte, lockend, fröhlich und stolz und jedesmal näher. Aus einem dichten Holundergebüsch auftauchend, erblickte ich schließlich gerade vor mir das prächtigste Geschöpf, das je eines Menschen Auge beglückt hat.

Ein Hahn, eigentlich mehr ein goldener Adler, als ein Hahn. Ein Hahn, eher einem Feldmarschall ähnelnd als einem Hahn. Ein Hahn, mehr ein Lord Nelson im ganzen Glanz seines Waffenschmucks auf dem Achterdeck der Vanguard stehend und in die Schlacht ziehend als ein Hahn. Ein Hahn, eher wie Karl der Große in seinem kaiserlichen Ornat zu Aachen anzuschauen, als wie ein Hahn.

Solch ein Hahn!

Er war von stolzer Gestalt, stand stolz auf seinen stolzen Beinen. Rot, Gold und Weiß waren seine Farben. Rot war nur der Kamm, ein mächtiger, ebenmäßiger Kamin, ähnlich wie auf Hectors Helm, der auf antiken Schildern abgebildet ist. Sein Federkleid war schneeweiß, mit goldener Zeichnung. Wie ein Mitglied des Oberhauses ging er vor der Tür auf und ab, mit erhobenem Kamm, herausgereckter Brust, und ließ seinen bunten Staat im Lichte blitzen. Wundervoll war sein Gang. Wie ein vornehmer Fremder sah er aus. Wie ein orientalischer König in einer pomphaften italienischen Oper.

Merrymusk trat aus der Tür.

»Bitte, ist das nicht Signor Beneventano?«

»Sir!«

»Das ist der Hahn«, sagte ich etwas verlegen. Die Wahrheit war, daß meine Begeisterung mich zu einem etwas albernen Versehen verleitet hatte. Einem ungelehrten Mann gegenüber hatte ich eine sozusagen gelehrte Anspielung gemacht. Infolgedessen kam ich mir auf sein ehrliches Anstarren hin dumm vor. Doch ich hatte mich mit der Erklärung, daß dies der Hahn sei, herausgezogen.

Vergangenen Herbst war ich nämlich in der Stadt gewesen und hatte zufällig eine Vorstellung der Italienischen Oper gehört. In dieser Oper trat eine königliche Figur auf, ein gewisser Signor Beneventano – eine große, imposante Erscheinung, in einer Gewandung, reich wie ein Federkleid, und mit einem sehr bemerkenswerten, majestätischen, verächtlichen Gang dahinschreitend. Dieser Signor Beneventano schien immer im Begriff, hintenüber zu fallen vor übertriebenem Hochmut. Und der stolze Schritt des Hahns ähnelte bis aufs Kleinste dem Bühnenschritt des Signor Beneventano.

Horch! Plötzlich blieb der Hahn stehen, hob den Kopf noch höher, sträubte sein Gefieder, schien begeistert und gab ein herzhaftes Krähen von sich. Der Oktoberberg gab ein Echo, andere Berge warfen es zurück, noch, andere hallten wider, so machte es die Runde durch die Gegend. Jetzt begriff ich vollständig, wie ich den erfreulichen Ton auf meinem entfernten Hügel hatte hören können.

»Gott im Himmel! Gehört der Hahn Ihnen? Ist das Ihr Hahn?«

»Es ist mein Hahn«, antwortete Merrymusk mit einem verschnürten Schmunzeln in einem Winkel seines langen, feierlichen Gesichts.

»Woher haben Sie ihn?«

»Er ist hier ausgekrochen. Ich habe ihn aufgezogen.«

»Sie?«

Horch! Wieder ein Krähen, das die Geister sämtlicher Kiefern und Schierlingstannen hätte wecken können, die je in dieser Gegend gefällt worden sind. Wunderbarer Hahn! Nachdem er gekräht hatte, schritt er weiter, umgeben von einem Harem bewundernder Hennen.

»Was wollen Sie für Signor Beneventano haben?«

»Sir?«

»Dieser Zauberhahn! Wieviel wollen Sie für ihn haben?«

»Ich mag ihn nicht verkaufen.«

»Ich gebe Ihnen fünfzig Dollar.«

»Pah!«

»Einhundert!«

»Fft –«

»Fünfhundert!«

»Pah!«

»Und Sie sollen ein armer Mann sein?«

»Nein. Gehört der Hahn nicht mir und habe ich nicht fünfhundert Dollar für ihn ausgeschlagen?«

»Stimmt«, sagte ich in tiefen Gedanken. »Das ist Tatsache. Sie wollen ihn also nicht verkaufen?«

»Nein.«

»Wollen Sie ihn verschenken?«

»Nein.«

»Sie wollen ihn also behalten?« rief ich wütend.

»Ja.«

Eine Weile stand ich da und bewunderte den Hahn und wunderte mich über den Mann. Schließlich fühlte ich doppelte Bewunderung für den einen und doppelte Achtung vor dem andern.

»Wollen Sie nicht hereinkommen?« fragte Merrymusk.

»Könnte man den Hahn vielleicht veranlassen, mitzukommen?« meinte ich.

»Ja. Trompeter! Hierher, Junge, hierher!«

Der Hahn drehte sich um und schritt auf Merrymusk zu.

»Komm!«

Der Hahn folgte uns in die Hütte.

»Krähe!«

Das Dach zitterte.

Oh, edler Hahn!

Schweigend wandte ich mich zu meinem Wirt. Da saß er auf einer alten zerbrochenen Truhe in seinem alten, zerrissenen, grauen Rock mit Flicken auf den Knien und an den Ellbogen und einem traurig verbeulten Hut. Ich blickte mich im Zimmer um. Oben kahle Balken, von denen aber solide Stücke getrocknetes Rindfleisch herunterhingen. Auf dem Fußboden aus gestampfter Erde lag in einer Ecke ein Haufen Kartoffeln, in der andern ein Sack Mais. Am Ende des Zimmers war quer durch den Raum eine Wolldecke gespannt, hinter der man die leidende Stimme einer Frau und die Stimmen kränklicher Kinder hörte. Aber irgendwie schienen diese leidenden Stimmen nicht zu klagen.

»Frau Merrymusk und die Kleinen?«

»Ja.«

Ich blickte auf den Hahn. Majestätisch stand er mitten im Zimmer. Er wirkte wie ein von einem Regenschauer überraschter spanischer Grande, der sich in eine Bauernscheune geflüchtet hat. In seinem Anblick war etwas Seltsames, übernatürlich Widerspruchsvolles. Glanz verbreitete er in der Hütte, überglänzte die Armseligkeit. Er überglänzte die zerbrochene Truhe, den zerrissenen grauen Rock und, den zerbeulten Hut. So überglänzte er sogar die leidenden Töne der Stimmen, die hinter dem Vorhang hervorkamen. »Ach, Vater«, rief eine kränkliche Stimme, »laß den Trompeter wieder krähen.«

»Krähe«, sagte Merrymusk.

Der Hahn warf sich in Positur.

Das Dach zitterte.

»Stört das Frau Merrymusk und die kranken Kinder nicht?«

»Krähe noch einmal, Trompeter.«

Das Dach zitterte.

»Es stört sie also nicht?«

»Haben Sie sie nicht darum bitten hören?«

»Wie kommt es, daß Ihre kranke Familie dies Krähen liebt?« fragte ich. »Es ist ein großartiger Hahn mit einer großartigen Stimme, aber nicht gerade das Richtige für ein Krankenzimmer, sollte man meinen. Mögen sie es wirklich gern?«

»Lieben Sie es nicht? Tut es Ihnen nicht gut? Begeistert es nicht? Macht es nicht Mut? Schützt es nicht vor Verzweiflung?«

»Alles wahr«, sagte ich, in tiefer Demut den Hut vor dem unerschrockenen Geist ziehend, der sich in dem bescheidenen Gewand verbarg.

»Aber doch«, sagte ich, immer noch etwas bedenklich, »so laut, so wundervoll, so schmetternd wie das Krähen ist, dünkt es mich für Kranke nicht bekömmlich und ihrer Genesung hinderlich.«

»Krähe so schön du kannst, Trompeter!«

Ich sprang von meinem Stuhl auf. Der Hahn erschreckte mich wie einer der überwältigenden Engel in der Apokalypse. Er schien über den Fall des sündhaften Babylon zu krähen oder über den Triumph des gerechten Josua im Tale von Askalon. Als ich meine Ruhe etwas zurückgewonnen hatte, kam mir ein wißbegieriger Gedanke. Ich beschloß, ihn zu befriedigen.

»Merrymusk, wollen Sie mich mit Ihrer Frau und Ihren Kindern bekannt machen?«

»Ja. Frau, der Herr möchte gern hineinkommen.«

»Er ist willkommen«, antwortete eine schwache Stimme.

Als ich hinter den Vorhang trat, lag dort ein abgemagertes, aber seltsam frohes Gesicht, und das war so ziemlich alles. Der von einer Bettdecke und einem alten Rock bedeckte Körper schien so eingeschrumpft zu sein, daß er sich nicht mehr durch die Hüllen abzeichnete. Am Bette saß ein blasses Mädchen, das die Kranke pflegte. In einem andern Bett lagen nebeneinander drei Kinder: noch drei blasse Gesichter. »Ach, Vater, wir mögen den Herrn schon, aber laß uns auch den Trompeter sehen.«

Auf ein Wort kam der Hahn hinter den Vorhang und sprang auf das Kinderbett. All die eingefallenen Augen starrten ihn mit wildem, überirdischem Entzücken an. Sie schienen sich in dem strahlenden Gefieder des Hahns zu sonnen.

»Besser als ein Apotheker, wie?« meinte Merrymusk. »Dr. Hahn in eigener Person.«

Wir zogen uns von den Kranken zurück, und in Gedanken über diesen merkwürdigen Haushalt versunken, setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl.

»Sie scheinen ein Bursche mit großartigem Selbstvertrauen zu sein«, sagte ich.

»Und ich halte Sie für keinen Narren und habe es nie getan. Sir, Sie sind ein Prachtkerl.«

»Besteht irgend eine Hoffnung, daß Ihre Frau wieder gesund wird?« fragte ich, indem ich bescheiden versuchte, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

»Nicht die geringste.«

»Und für die Kinder?«

»Sehr wenig.«

»Dann muß es für alle Betroffenen ein trauriges Leben sein. Die Einsamkeit und Verlassenheit – diese Blockhütte – harte Arbeit – schwere Zeiten.«

»Habe ich nicht den Trompeter? Der heitert auf. Durch dick und dünn kräht er, kräht, wenn es noch so dunkel ist. Ehre sei Gott in der Höhe! Das kräht er immerzu.«

»Genau so habe ich sein Krähen auch verständen, Merrymusk, als ich es zum erstenmal von meinem Hügel aus hörte. Da hat irgend ein reicher Nabob einen kostbaren Brahmaputrahahn, dachte ich. Daß ein armer Mann wie Sie diesen kräftigen Hahn von einheimischer Zucht hätte, habe ich mir nicht träumen lassen.«

»Armer Mann wie ich? Warum mich arm nennen? Verherrlicht der Hahn, der mir gehört, nicht dies im übrigen obskure, magere, hungerleidende Land? Hat Sie nicht mein Hahn ermutigt? Und diesen ganzen Segen gebe ich umsonst. Ein großer Menschenfreund bin ich, ein reicher Mann, ein sehr reicher Mann – und dazu ein sehr glücklicher. Krähe, Trompeter!« Das Dach zitterte.

Grübelnd kehrte ich heim. Obwohl ich Merrymusk sehr bewunderte, war ich übrigens über die Gesundheit seiner Anschauungen nicht ganz beruhigt. Noch vor meiner Haustür dachte ich darüber nach, als ich den Hahn wieder krähen hörte. Genug. Merrymusk hat recht.

Oh, edler Hahn! Oh, edler Mann!

Hierauf sah ich Merrymusk einige Wochen nicht, aber da ich das herrliche und erfreuende Krähen hörte, nahm ich an, alles sei dort beim alten. Meine Laune blieb gut. Der Hahn begeisterte mich noch immer. Ich sah kommen, daß ich meine Plantage noch mit einer weiteren Hypothek belasten würde, kaufte aber bloß ein Dutzend Flaschen Stout und ein Dutzend-Dutzend Philadelphia Porter. Einer meiner Verwandten starb. Trauer trug ich nicht, trank aber drei Tage lang mehr Stout als Porter, weil Stout dunkler ist. Im Augenblick, wo ich die unwillkommene Nachricht empfing, hörte ich den Hahn krähen.

»Auf deine Gesundheit in diesem Stout, o edler Hahn!«

Da ich nun eine Zeitlang nichts von Merrymusk gesehen oder gehört hatte, entschloß ich mich, ihn wieder zu besuchen. Als ich mich der Blockhütte näherte, rührte sich nichts, und ich fühlte eine merkwürdige Beklemmung. Doch ich hörte den Hahn drinnen krähen, und das Vorgefühl verschwand. Ich klopfte an die Tür. Eine schwache Stimme bat mich, einzutreten. Der Vorhang hing nicht mehr dort; jetzt war das ganze Haus ein Hospital. Auf einem Haufen alter Lumpen lag Merrymusk, Frau und Kinder waren in ihren Betten. Der Hahn saß in einem alten Faßreifen, der in der Mitte der Hütte vom Firstbalken niederhing.

»Sie sind krank, Merrymusk«, sagte ich bekümmert.

»Nein, es geht mir gut«, antwortete er schwach. »Krähe, Trompeter.«

Ich zuckte zusammen. Die starke Seele in dem schwachen Körper erschreckte mich.

Aber der Hahn krähte.

Das Dach zitterte.

»Wie geht es Frau Merrymusk?«

»Gut.«

»Und den Kindern?«

»Gut. Allen gut.«

Die beiden legten Worte schrie er heraus in einer Art wilden ekstatischen Triumphs über das Elend. Es war zu viel. Sein Kopf sank zurück. Über sein Gesicht schien ein weißes Tuch zu fallen. Merrymusk war tot.

Eine schreckliche Angst ergriff mich.

Aber der Hahn krähte.

Als wäre jede Feder eine Fahne gewesen, so schüttelte der Hahn sein Gefieder. Er hing vom Dache der Hütte hernieder wie einst die trophäengeschmückten Fahnen vom Dom von St. Paul. Ich entsetzte mich über den Hahn und wunderte mich sehr.

Dann trat ich zu den Betten der Frau und der Kinder, die mein erschrecktes Aussehen bemerkten; sie wußten, was geschehen war.

»Mein guter Mann ist soeben gestorben«, hauchte die Frau leise. »Sagen Sie mir die Wahrheit?«

»Tot«, antwortete ich.

Der Hahn krähte.

Ohne einen Seufzer fiel sie zurück und war tot – ihre lange Liebe hatte sie dem Manne folgen lassen.

Der Hahn krähte.

Der Hahn schüttelte Funken aus seinem goldenen Gefieder. In einer Ekstase wohlwollenden Entzückens schien er zu sein. Er kam von dem Faßreifen herab, schritt majestätisch auf den Lumpenhaufen zu, wo der Holzhacker lag, und stellte sich wie ein Wappenhalter neben ihm auf. Dann erhob er ein langes, triumphierendes Schlußkrähen mit zurückgeworfener Kehle, als hätte er die Seele des Holzhackers mit seinem Trompeten in den siebenten Himmel emportragen wollen. Mit königlichen Schritten ging er an das Bett der Frau. Ein zweites aufwärtsgewandtes und frohlockendes Krähen, dem vorigen ebenbürtig.

Die Blässe der Kinder hatte sich in ein Strahlen verwandelt. Himmlisch leuchteten ihre Gesichter durch Staub und Schmutz. Wie verkleidete Kinder von Kaisern und Königen sahen sie aus. Der Hahn sprang auf ihr Bett, schüttelte sich und krähte, krähte wieder und noch einmal und noch einmal. Er schien entschlossen, die Seelen der Kinder aus ihren abgezehrten Körpern zu krähen. Er schien entschlossen, die ganze Familie augenblicklich in den oberen Lüften zu vereinigen. Die Kinder schienen seine Bemühungen zu unterstützen. Weite, tiefe, heftige Sehnsucht nach Erlösung verwandelte sie vor meinen Augen in Geister. Engel sah ich vor mir liegen.

Der Hahn schüttelte sein Gefieder über ihnen. Der Hahn krähte. Nun war es wie ein Bravo! Wie ein Hurrah, ein dreimaliges Hurrah! Hip, hip! Er schritt aus der Hütte. Ich folgte ihm. Er flog auf die Spitze der Behausung, spreizte seine Flügel weit aus, ließ einen übernatürlichen Ton erklingen und fiel vor meinen Füßen nieder.

Der Hahn war tot.

Wer jetzt diese hügelige Gegend besucht, wird in der Nähe der Bahnlinie, gerade unter dem Oktoberberg, auf der andern Seite des Sumpfes einen Grabstein sehen, nicht mit einem Schädel und gekreuzten Knochen darauf, sondern mit einem eingemeißelten kräftigen, krähenden Hahn und darunter die Worte:

Oh, Tod, wo ist dein Stachel?
Oh, Grab, wo ist dein Sieg?

An dieser Stelle liegen der Holzhacker und seine Familie mit Signor Beneventano. Ich habe sie begraben und ihnen den Stein gesetzt, den ich habe machen lassen. Nie wieder bin ich seitdem in jene klägliche Melancholie verfallen; aber unter allen Umständen krähe ich spät und früh unaufhörlich. Kikeriki-ii-ii-ii!