Rudolf Lindau
Ein ganzes Leben
Rudolf Lindau

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Rudolf Lindau

Ein ganzes Leben

In einem kleinen, niedrigen Zimmer saß ein junger Mann und schaute traurig und nachdenklich vor sich hin. Er hatte triftigen Grund dazu, denn er war von einem großen Unglück betroffen worden, und Geldsorgen, die er früher nicht gekannt hatte, lasteten schwer auf ihm. – Bis zu seinem siebenundzwanzigsten Jahre hatte er unter der Obhut seines Vaters, eines hohen Staatsbeamten, ein ruhiges, angenehmes Leben geführt; aber da war dieser nach kurzer Krankheit unerwartet gestorben, und bei der Regelung seines Nachlasses hatte sich herausgestellt, daß er seinem Sohne, außer einem ehrlichen Namen und einer guten Erziehung, nur sehr wenig, beinahe nichts hinterlassen hatte.

Heinrich Ambach hatte Philologie studiert, sein Ehrgeiz war gewesen, dereinst einmal Professor an einer großen Universität zu werden, und nach diesem Ziele strebend, hatte er sich, mit Eifer und Liebe zur Sache, ernsten, aber für absehbare Zeit noch brotlosen Arbeiten hingegeben. – Er war von Natur anspruchslos und bescheiden, und die schwierige Kunst, sich auf das äußerste einzuschränken, lernte er, da er auch besonnen und ehrenhaft war, verhältnismäßig schnell und leicht; aber bei aller Sparsamkeit, der er sich befleißigte, gingen seine geringen Geldmittel nach kurzer Zeit schon auf die Neige, und er sah, daß der Tag nicht mehr fern war, wo er gänzlich verarmt dastehen würde. Er konnte noch einige Möbel, Bilder und Bücher verkaufen, die er aus dem Nachlaß seines Vaters als kostbare Erinnerungen an den geliebten Toten zu bewahren gewünscht hätte, aber auch der Erlös aus einem solchen Verkaufe würde ihm nur kurze neue Frist gewährt haben. – Er mußte Geld verdienen, um weiter leben zu können; aber wie er das anfangen sollte, war ihm, vorläufig noch, gänzlich unklar. – Natürlich hatte er sich bereits vielfach nach Beschäftigung umgesehen, und unter den Freunden und Bekannten seines Vaters hatten ihm mehrere versprochen, sich in dieser Beziehung für ihn zu bemühen. Das hatte jedoch bis jetzt, wenn es überhaupt geschehen war, noch keinen Erfolg gehabt, – und die weit leichtere Kunst, als sich einzuschränken, die Kunst, Mitleiden zu erregen, Geld durch Güte anderer zu erlangen, sich Geld zu borgen –, die hatte Heinrich Ambach nicht gelernt, und er dachte gar nicht daran, sie lernen zu wollen.

Aber noch ehe die Not am höchsten war, kam Hilfe. Heinrich Ambach hatte sich auf der Universität mit Samuel Gower, einem vornehmen und reichen Engländer, befreundet, der Deutschland vor etwa fünf Jahren verlassen hatte und seitdem, wenn auch in entfernter, so doch in regelmäßiger brieflicher Verbindung mit Ambach geblieben war. Dieser hatte den Tod seines Vaters angezeigt, ohne jedoch der Trauerbotschaft irgend etwas über die große Veränderung in seinen Verhältnissen hinzuzufügen, und Gower hatte darauf sogleich mit einem herzlichen Beileidschreiben geantwortet. Drei Monate später schrieb er nun von neuem an Ambach, um zu fragen, ob er geneigt sei, Lord Fairbrook während einer längeren Reise zu begleiten, die dieser auf Wunsch seiner Mutter, der Lady Augusta, unternehmen sollte. Gower schilderte Arthur Fairbrook als einen gut gearteten, liebenswürdigen Jüngling, er war der Ansicht, daß die Reise, abgesehen von der damit verbundenen dankbaren Aufgabe, die Augen und das Herz eines unverdorbenen, für das Erhabene empfänglichen jungen Menschen dem Schönen und Großen in der Natur und Kunst zu öffnen, für Ambach viel Angenehmes und Nützliches mit sich bringen werde, und er empfahl diesem dringend an, das ihm gemachte Anerbieten nicht auszuschlagen. – Ambach nahm es mit ruhigem Danke an und erhielt darauf mit umgehender Post einen zweiten Brief von Gower, der den geschäftlichen Teil der Beziehungen, in die Ambach zu der reichen und vornehmen Familie Fairbrook treten sollte, in einer Weise löste, die alle Erwartungen Ambachs noch übertraf. – Darauf bereitete dieser das Nötige zu seiner Abreise nach England vor, gab seine Möbel, Bilder und Bücher in sicheren Verwahrsam, packte seine Garderobe und was er sonst noch zur Reise mitnehmen wollte, in zwei gute, lederne Koffer, nahm von seinen Freunden und Bekannten Abschied und verließ Berlin. – Er begab sich aber nicht gerades Weges nach England. Er wollte Deutschland nicht den Rücken kehren, ohne seine Vaterstadt Magdeburg vorher noch einmal wiedergesehen zu haben. – Er langte dort an einem schönen Septembermorgen an und stieg in einem, in der Nähe des Sudenburger Tores gelegenen alten Gasthof ab, »Grimmas Hotel« genannt.

Die Straßen Magdeburgs, obgleich er sie seit mehreren Jahren nicht wiedergesehen hatte, waren ihm so heimisch, als hätte er sie gestern verlassen, und er begrüßte sie wie alte liebe Freunde. – Vor einigen Häusern blieb er stehen: »Was mag aus Franz geworden sein, der hier wohnte . . . und was aus Adolf, den ich jeden Morgen abholte, um mit ihm zusammen den Weg bis zur Schule zu machen?« – Er wäre gern in die Häuser getreten, um sich nach seinen Jugendfreunden zu erkundigen – aber er wagte es nicht. – »Sie wohnen sicherlich nicht mehr hier. Vielleicht sind sie schon tot.« – Der Besuch auf dem Kirchhof, wo er neben dem Grabe seiner vor zehn Jahren verstorbenen Mutter Steine gesehen hatte, auf denen Namen standen, die ihm wohlbekannt waren, hatte ihn zu tiefer Wehmut gestimmt und seine Gedanken auf den Tod gelenkt.

Im Laufe des Nachmittags begab er sich nach der Schule, die er als Knabe besucht hatte. Der Pförtner, bei dem er sich nach den Lehrern erkundigte, konnte ihm noch einige nennen, deren Schüler er gewesen war. Er suchte einen von ihnen auf, der ihm besonders lieb gewesen war, und fand einen Mann mit mildem, ruhigem Antlitz, den er sofort wieder erkannte. Der Lehrer sah ihn lächelnd an, als er sich als ein ehemaliger Schüler meldete, aber er erinnerte sich seiner erst, nachdem Ambach ihm einige Einzelheiten ins Gedächtnis zurückgerufen hatte, die auf ihren früheren Umgang Bezug hatten. – Dann schüttelte ihm der Lehrer herzlich die Hand, und innige Freude verbreitete sich über sein stilles Gesicht: »Es ist hübsch von Ihnen, daß Sie Ihren alten Lehrer nicht vergessen haben«, sagte er. »Ich habe nur selten Beweise treuer Anhänglichkeit meiner Schüler, obgleich ich viele von ihnen lieb gehabt habe. – Die Jugend ist nicht dankbar, oder – ich will nicht hart sein – sie gibt sich nicht oft Mühe zu zeigen, daß sie es ist.«

Darauf erkundigte er sich mit großer Teilnahme nach Ambachs Schicksalen, und als dieser ihm erzählte, er stehe am Vorabend einer großen Reise und werde ferne, schöne Länder kennen lernen, da sagte der Lehrer: »Sie Glücklicher! Mir ist es nicht vergönnt gewesen, Italien und Griechenland zu sehen, – und wie habe ich mich Jahre lang darnach gesehnt! Aber es gibt auch bei uns viel des Bewundernswerten, und die unerreichbaren Kunstwerke, die unter einem schöneren Himmel geschaffen worden sind, können uns auch hier in gelungenen Wiedergaben erfreuen. – Ich beneide Sie nicht; aber ich sage, Sie Glücklicher! – ›Himmel allein, nicht Seele verändert, wer übers Meer zieht!‹ sagt Horaz. Aber er hat darin unrecht wie in so manchem anderen: Schönes macht den Klugen weiser, den Guten besser.«

Als es dunkel geworden war, ging Ambach auf den »Fürstenwall« und setzte sich dort auf eine Bank nieder. Er fühlte sich abgespannt. Der Besuch des Kirchhofs, das Laufen durch die Straßen, der Anblick seiner alten Schule und seines alten Lehrers, die stets wechselnden Erinnerungen, die während des ganzen Tages in ihm aufgetaucht, so daß sein Gehirn und sein Herz nicht einen Augenblick zur Ruhe gekommen waren, – alles das hatte ihn müde gemacht. Es war noch früh, aber fast wäre er eingeschlafen. Da erweckten ihn die Glocken des Magdeburger Doms. – Es gibt größere Glocken in der Welt, weit berühmtere – aber es gibt keine Glocken, die einen schöneren Klang haben als die des alten Doms. Die tiefen, reinen, wunderbaren Töne drangen in Ambachs Seele, die gerade an jenem Tage so empfindlich und erregbar war, und er fühlte sich davon tief ergriffen. Es war, als ob die vollen, ernsten Stimmen, die er so oft gehört, seine ganze Jugend und alles, was darin schön und traurig war, in ihm wachriefen.

Als die Glocken verstummt waren, erhob er sich, und in feierlicher Stimmung, als trete er aus der Kirche, wanderte er noch lange Zeit auf dem einsamen Fürstenwalle auf und ab, bis körperliche Müdigkeit ihn übermannte und ihn nach dem Gasthof trieb, in dem er abgestiegen war.

Am nächsten Morgen, als er noch im Halbschlaf lag, weckten ihn die Domglocken, und gleich darauf erscholl Militärmusik. Eines der Regimenter, die in Magdeburg stehen, zog mit klingendem Spiel durch das Sudenburger Tor. Er kannte den Marsch, der gespielt wurde, einen alten Marsch, bei dessen Klängen preußische Soldaten unter Friedrich dem Großen todesmutig in den Kampf gezogen waren. Ein schöner Marsch! Und die Glocken bildeten dazu eine feierliche Begleitung. Ambach schlug das Herz! Auch er zog jetzt in den Kampf – nicht um die Welt zu erobern – das war nicht seine Art – doch unverzagt. Er kleidete sich langsam an. Das Zimmer, in dem er sich befand, gefiel ihm. Es war kein modernes Gasthauszimmer. Alte Möbel, alte Kupferstiche zierten es. Er besah sich alles genau: das große Himmelbett, die altmodische Kommode, den schönen schweren Schrank, die Bilder. – Eins von diesen stellte den »alten Dessauer« dar, wie er, entblößten Hauptes, den Feldherrnstab in der Hand, heroischer Gebärde, den Einzug seiner Truppen in Turin nach der Erstürmung der Stadt überwacht.

Ambach nahm das Bild ab und trat damit ans Fenster, um es genauer zu betrachten und den Namen des Kupferstechers zu lesen, denn der Stich erschien ihm von großer Schönheit. Dabei erblickte er auf der grauen Rückseite des Bildes die Inschrift: »Johannes Zuckschwerdt stiftete dieses Bild seinem Freunde und Landsmann Eberhard Grimma, zur Erinnerung an gemeinsam verlebte schwere Kriegsjahre und endlichen Sieg. – Magdeburg am 15. März 1816.« Dicker Staub lag über diesen Zeilen. Das Bild war wohl seit vielen Jahren nicht von der Wand genommen worden. Ambach erinnerte sich, den alten Grimma, einen tapferen Kämpfer aus den Freiheitskriegen, den Vater des jetzigen Besitzers des Grimmaschen Hofes, gekannt zu haben. – Der war seitdem gestorben.

Die Erinnerungen aus der Schulzeit waren bei Ambach noch frisch. – »Ich will mich auch verewigen«, sagte er. – »Verewigen« nannte man auf der Schule in Magdeburg, seinen Namen an einem verborgenen Orte einschneiden oder niederschreiben. – Und in eine der Ecken des Bildes schrieb Ambach mit zierlicher, deutlicher Handschrift: »Vor dem Kampfe. Heinrich Ambach aus Magdeburg am 15. 9. 1845.«

Einige Tage später befand sich Ambach in einem alten, im Norden Englands gelegenen Schloß, dem Stammsitz der Familie Fairbrook. Der gediegene, große Reichtum, der ihn umgab, war nicht aufdringlicher in seiner schweren Pracht als die Herrlichkeit der hundertjährigen Baumriesen des großen Parkes und die Schönheit der von Efeu umrankten mittelalterlichen Mauern des ehrwürdigen Schlosses; doch lastete er zuerst auf ihm und benahm ihn seiner Unbefangenheit. Es nützte ihm in dem Augenblick nichts, aus den alten Philosophen gelernt zu haben, daß der Tugendhafte den Reichtum verachten darf. Es war eine Tatsache, daß dieser Reichtum, der ihm überall unverkennbar entgegentrat: in den alten Möbeln, dem schweren Silbergeschirr, den kostbaren Gemälden, der großen Bibliothek, den edlen Pferden, ja in den Livreen der feierlichen Diener – einen starken Eindruck auf ihn machte. Und es dauerte mehrere Tage, ehe sich dies verlor und Ambach sich in eine behaglichere Stimmung versetzt fand. Nach und nach siegte jedoch die herzliche Liebenswürdigkeit seiner Wirte über seine befangene Zurückhaltung. – Arthur Fairbrook hatte sich ihm sogleich wie einem älteren Verwandten angeschlossen. Es wäre Ambach schwer gewesen, der treuherzigen Freundlichkeit des jungen Mannes lange zu widerstehen. Die Mutter, Lady Augusta, der Ambach von Sam Gower als ein durchaus ehrenwerter, zuverlässiger Mann geschildert worden war, näherte sich dem neuen Mitglied der Familie – denn als ein solches wurde Ambach vom ersten Tage ab behandelt – mit ihren mütterlichen Sorgen um den geliebten einzigen Sohn, den sie dem Fremden anvertrauen wollte; und diese Sorgen ließen sie Ambach mit einem Vertrauen behandeln, durch das sich der junge Gelehrte mit Recht geehrt fühlte. – Lady Ellen endlich, die achtzehnjährige Schwester Lord Fairbrooks, war durch die Befangenheit Ambachs zunächst etwas verlegen in seiner Gesellschaft gewesen; aber in dem Maße, wie er sich ihrer Mutter und ihrem Bruder näherte, war auch ihre Scheu vor dem Fremden gewichen, und seitdem erblickte ihr junges Gemüt einen Freund des Hauses in ihm; sein Herz aber empfand ein jedes ihrer harmlosen Worte, einen jeden ihrer reinen Blicke gleich einer Liebkosung. Sie erschien ihm in ihrer jungfräulichen Schönheit wie eine Märchen-Prinzessin, und wie an eine solche dachte er an sie und betete sie in der geheimsten Tiefe seines Herzens an.

Ein Monat ging dahin. Ambach lebte während der Zeit wie in einem schönen Traume. Dann kam der Vorabend der Abreise und mit ihm nüchternes Erwachen. Ambach wanderte einsam im Parke umher, die Stellen suchend, wo er mit Ellen zusammengewesen, und es war ihm, als zöge er durch die verödeten Straßen einer Stadt, in der, was er so still und innig geliebt hatte, gestorben wäre.

Da stand Ellen plötzlich vor ihm, schön und unbefangen wie immer, aber ernst bis zur Traurigkeit, wie er sie zuvor nie gesehen hatte. – Ihm klopfte das Herz zum Zerspringen.

»Ich habe Sie gesucht«, sagte sie. – Wie sanft ihre Stimme war! »Ich wollte Sie noch um eine Gefälligkeit bitten.«

Er konnte sie nur fragend und dankbar anblicken.

»Mama hat mir gesagt,« fuhr sie fort, »daß Sie ihr während der ganzen Reise regelmäßig schreiben wollen, und da ich die Briefe zu lesen bekomme, so werde ich ja immer wissen, was Sie beide gesehen und erlebt haben, und wie es Ihnen geht. Aber« – eine kurze, kaum bemerkbare Pause – »wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe verursacht, so möchte ich Sie bitten, Ihren Briefen an meine Mutter von Zeit zu Zeit einige Zeilen für mich beizulegen. Es würde mir Freude machen, Briefe aus den fremden Ländern zu erhalten, die Sie besuchen werden. Arthur hat versprochen, mir zu schreiben, und wird es sicherlich auch tun; aber ich kenne seine Briefe. Sie sind nie länger als eine kleine Seite lang. – Ich möchte gern mehr erfahren, als er mir sagen wird. – Wollen Sie mir schreiben?«

»Das will ich mit Freuden tun.« Mehr konnte Ambach nicht über die Lippen bringen, obgleich sein Herz so voll war.

»Ich danke Ihnen«, sagte Ellen. Und darauf wandten sich beide dem Schloß wieder zu, das sie erreichten, ohne noch ein Wort gewechselt zu haben. – Vor der Freitreppe, die vom Park in das Schloß führte, blieb Ellen einen Augenblick stehen, und ohne Ambach anzublicken, reichte sie ihm die Hand und wiederholte, als hätte er soeben gesprochen: »Ich danke Ihnen.«

Am nächsten Abend saßen Mutter und Tochter allein in Lady Augustas Zimmer. Das große Schloß erschien ihnen vereinsamt, seitdem Arthur und Heinrich Ambach es verlassen hatten. Die Mutter dachte an ihren Sohn, ihren Liebling, den sie so lange nicht wiedersehen würde, und ihre Augen schimmerten in feuchtem Glanze, und Ellen, die trockenen Blickes in das flackernde Kaminfeuer starrte, an den Fremden, der mit ihm gezogen war, und der, ohne daß sie es wußte, ihr Herz mit sich genommen hatte.

Zwei Jahre waren dahingegangen. Heinrich hatte während der Zeit viel Schönes gesehen und sich daran erfreut – auch schöne Mädchen und Frauen; aber an diesen war er kalten Blickes vorübergegangen, denn wie ein Heiligenbild in verborgenem Schreine, so wohnte in dem Innersten seines Herzens ein unerreichbares Ideal des weiblich Schönen und Edlen, das Ellen Fairbrooks unvergeßliche Züge trug, und das seine Seele in stummer Verzückung anbetete. – Er hatte ihr in langen Zwischenräumen, doch so regelmäßig geschrieben, daß seine Briefe als eine Art Tagebuch gelten konnten. Von sich selbst hatte er darin nur wenig gesprochen und sich jeder, auch der entferntesten Anspielung auf ferne Gefühle für Ellen, sorgfältig enthalten. Er liebte sie von ganzem Herzen, liebte nur sie allein, doch war seine Liebe anspruchslos, weil er sie für hoffnungslos hielt. Sein strenges Pflichtgefühl, Stolz und Scham verboten ihm, seine Gefühle zur Schau zu tragen. Niemand sollte sie ahnen, und niemand ahnte sie – auch Ellen nicht. – Sie hatte ihm verschiedene Male geschrieben, um ihm für seine ausführlichen Mitteilungen zu danken. Ihre kurzen Briefe waren harmlos und erschienen vollständig unbefangen. – Daß sie der Schreiberin große Mühe gekostet hatten, daß jedes Wort darin ängstlich erwogen war, das erkannte Heinrich ebensowenig wie Ellen Heinrichs Liebe. Ihre Briefe waren herzlich und freundschaftlich. Sie redete darin Heinrich als »Lieber Herr Ambach« an und sie unterzeichnete »aufrichtig die Ihrige« – »yours sincerely«.

Ambach wußte sehr wohl, daß diese Formel in dem Briefe der jungen Engländerin nicht mehr bedeutete als »der gehorsamste Diener« in der Bittschrift eines Beamten an einen hochgestellten Vorgesetzten; doch konnte sein Blick minutenlang auf dem yours sincerely ruhen, und er bewahrte Ellens Briefe, die anscheinend so wenig sagten, gleich kostbaren Kleinodien. – Hätte jener Briefwechsel nicht bestanden, so wäre Ellens Bildnis wahrscheinlich mit der Zeit erblaßt; aber eine jede Zeile von ihr weckte das Andenken an sie, und die Erinnerung verschönerte und veredelte ihr Bild noch.

Lord Fairbrook hatte sich während der zwei Jahre, die er ohne Unterbrechung in Gesellschaft seines jungen Mentors verbracht hatte, in herzlicher, freundschaftlicher Liebe und Verehrung an ihn angeschlossen. Ambach erschien ihm wie ein unerschöpflicher Born alles Wissens, alles edlen und klugen Könnens, und er bewunderte seine körperliche Gewandtheit und Kraft, seine Ausdauer und seine beruhigende Ruhe, ja auch seine hohe Gestalt und seine ernste männliche Schönheit.

In Berlin, wohin die beiden Reisenden von den nordischen Königreichen gelangt waren, denen ihr letzter Besuch vor der Rückkehr Arthurs nach England gegolten hatte, fand Ambach unter anderen zwei Briefe vor: einen von Lady Augusta und den andern von Ellen. Lady Augusta sprach in warmen Worten ihren mütterlichen Dank aus für die Art, in der er die schwierige Aufgabe, Arthurs Freund und Lehrer zu sein, gelöst hätte. Sie bat Ambach, Schloß Fairbrook in Zukunft als eine zweite Heimat zu betrachten, in der er stets willkommen sein würde, und sie fügte hinzu, sie würde sich sehr freuen, ihn dort gleichzeitig mit ihrem Sohn, unmittelbar nach der Rückkehr von der großen Reise, begrüßen zu können; sie wolle jedoch nicht unberücksichtigt lassen, daß Ambach möglicherweise den Wunsch hege, nach langer Abwesenheit eigenen persönlichen Angelegenheiten in Deutschland nachzugehen, und das wolle sie ihm durch eine Bitte, sie jetzt zu besuchen, nicht erschweren. Sie lasse ihm also frei, ihren Sohn gleich nach Fairbrook zu begleiten, worüber sie sich sehr freuen, oder seinen lieben Besuch bis nach Erledigung seiner eigenen Geschäfte zu verschieben, was sie erklärlich und in der Ordnung finden würde.

Ellens Brief hatte folgenden Wortlaut:

»Lieber Herr Ambach!

Ich habe meiner Mutter Brief an Sie gelesen und möchte mich ihm anschließen, um Ihnen für alles Gute zu danken, das Sie Arthur erwiesen haben. Er hat in Ihnen den besten Freund gefunden, und Sie können seiner dankbaren Anhänglichkeit fürs Leben versichert sein, denn er ist gut und treu. – Ich hoffe, daß Ihre Freundschaft für ihn sich auf seine Mutter und seine Schwester ausdehnen wird, die Ihnen gleich ihm dankbar sind. Aber nicht nur für das, was Sie Arthur Gutes erwiesen haben, fühle ich mich Ihre Schuldnerin. Ein jeder Ihrer Briefe hat mir Freude gemacht, die ich Ihnen vergelten möchte; aber ich fühle mich arm und ohnmächtig, denn ich kann nichts tun, als Ihnen dafür Dank sagen. Mein Wunsch ist, solcher Dank möchte Ihnen ähnliche Freude machen, wie Ihre Briefe mir bereitet haben; doch ich fühle wohl, daß ich wenig gebe für das Viele, das ich von Ihnen empfangen habe.

Meine Mutter rechnet darauf, daß Sie uns bald und auf recht lange Zeit besuchen werden. Sie dürfen es nicht als höfliche Worte von ihr betrachten, wenn sie Ihnen schreibt, Sie möchten Fairbrook in Zukunft als eine zweite Heimat betrachten. Ich bürge Ihnen dafür, daß ihr die Worte von Herzen kommen, und ich wiederhole sie in meinem und sicherlich auch in Arthurs Namen mit denselben Gefühlen, die sie ihr eingegeben haben. Deshalb sage ich Ihnen also heute: auf baldiges Wiedersehen!

Dankbar und aufrichtig die Ihrige
Ellen Fairbrook.«          

»Dankbar und aufrichtig die Ihrige« – »Thankfully and sincerely yours« – Ambach las die Worte immer und immer wieder – aber sie füllten sein Herz nur mit hoffnungslosem Sehnen. Sein Verstand war so klar, wie sein Herz ehrlich, und die Stimme seines Herzens, so stürmisch sie auch erklang, konnte die Sprache der Vernunft bei ihm nicht übertönen. – Er sagte sich, daß, wenn er nach Fairbrook zurückkehren, wenn er Ellen wiedersehen sollte, so würde er dem Liebreiz des jungen, schönen, edlen Mädchens nicht widerstehen können – würde sich einfach in sie verlieben. – Und was dann? – Sollte er den Versuch machen, ihr Herz zu gewinnen? – Gelänge es, so konnten Lady Augusta, Arthur und Sam Gower, die drei Personen, an deren Achtung und Freundschaft ihm so viel gelegen war, ihn als einen Eindringling betrachten, der das große Vertrauen, mit dem sie ihn aufgenommen und behandelt hatten, gemißbraucht hätte, um das unbewachte Herz eines unerfahrenen Mädchens zu betören. – Sie würden ihn verachten! Ihm schauderte bei dem Gedanken. Nichts – auch nicht Liebesglück – hätte die Kränkung mildern, erträglich machen können, die die Verachtung edler Menschen ihm zugefügt haben würde.

Aber noch schrecklicher als der Verlust seiner Würde in den Augen Lady Augustas, Arthurs und Gowers wäre der Verlust der Freundschaft Ellens. – Wie, wenn sie sich erstaunt und entrüstet von seinem Liebeswerben abgewandt hätte? – Das wäre unerträglich gewesen! – Der Weg nach Fairbrook konnte zu nichts Gutem führen. Am Ende desselben lag schreckliches, übermenschlich schweres Entsagen oder die Verachtung der nächsten Verwandten der Geliebten, wenn nicht Verachtung der Geliebten selbst. – »Führe uns nicht in Versuchung!« sagte er leise vor sich hin. »Was recht und gut ist, ist nie allzu schwer.« – Es wurde ihm sehr schwer, recht zu tun und gut zu bleiben – aber er blieb fest.

Mit großer Sorgfalt, jedes Wort wägend, schrieb er an Lady Augusta und an Ellen. Aber die wohlerwogenen Briefe waren beide ganz kurz. Er mußte schreiben, so hatte er sich klar gemacht, als stände Ellen seinem Herzen nicht näher als Lady Augusta, Arthur und Gower. Seine Briefe, wennschon sie jedem andern als ihm selbst, und besonders auch Ellen herzlich und warm erscheinen sollten, waren wie von »freundschaftlicher Kühle« durchweht. – Er dankte für die Einladung nach Fairbrook, wie nach Hause zu kommen, sie rühre ihn tief, schrieb er, aber er mache von Lady Augustas Erlaubnis Gebrauch, zunächst seine eigenen Angelegenheiten in Deutschland abzuwickeln. Später hoffe er, die Freude zu haben, diejenigen wiederzusehen, die seinem Herzen so nahe getreten seien, in denen er Freunde für sein ganzes Leben erblicken dürfe. – Dann nahm er herzlichen Abschied von Arthur, den es drängte, seine Mutter, seine Schwester und England wiederzusehen – und dann war er allein, allein mit seinen Gedanken an Ellen, mit seiner Liebe, die er niemals gestehen, niemals jemandem anvertrauen würde, unbeschreiblich traurig und hoffnungslos, aber stark und mutig in dem Gefühle, seine Pflicht getan zu haben. – »Nil mortalibus arduum est! – Ich werde das Schwere ertragen.«

Heinrich Ambach war, bald nachdem er sich von Arthur Fairbrook getrennt hatte, nach einer kleinen Universitätsstadt gezogen und von dort, nachdem seine segensreiche Tätigkeit als Lehrer in weitere Kreise gedrungen und er sich durch die Veröffentlichung seines ersten gelehrten Werkes einen von allen Fachmännern mit Achtung genannten Namen erworben hatte, an eine alte Universität Süddeutschlands berufen worden. Dort waltete er nun seit vielen Jahren seines Amtes als ordentlicher öffentlicher Professor und lag ernsten Studien ob, deren Ergebnis in langsam, aber stetig erscheinenden Arbeiten zutage trat, die von unermüdlichem Fleiß, scharfem und gesundem Geiste und rastloser Tätigkeit zeugten. Die Belohnung dafür blieb nicht aus: er wurde mit Ehrenbezeugungen, wie sie seinem Amte entsprachen, überhäuft, und er hatte somit in vollstem Maße das Ziel seines Lebens, das er sich als Jüngling bereits vorgesetzt, erreicht. – Er war unverheiratet geblieben und führte in einem stillen, alten, im einsamsten Teile der Stadt gelegenen Hause das Leben des deutschen Denkers und Forschers, dem Arbeit die größte Freude, wissenschaftliche Erfolge die einzige Belohnung sind, die er seines Strebens für würdig erachtet, und die er wahrhaft schätzt. Seine zahlreichen Schüler, die aus allen Teilen Deutschlands herbeieilten, um ihn zu hören, verehrten ihn wie keinen andern ihrer Lehrer, und auch seine Kollegen waren ihm ehrerbietig und neidlos zugetan. Er war nämlich ein milder, bescheidener Mann, dem man nicht übelwollen konnte, von Ehrfurcht gebietendem Äußern; auch Fremde, denen er von einem Einheimischen mit Stolz genannt wurde, zogen den Hut vor ihm, wenn er ernst und stattlich, mit einem von Reinheit und Güte wie verklärten Antlitz, still an ihnen vorüberschritt.

Ambachs Beziehungen zu den Bewohnern von Fairbrook waren nicht ganz abgebrochen worden: er erinnerte sich ihrer als der teuersten Freunde, die er im Leben besessen hatte, und sie ihrerseits hatten ihn nicht vergessen und bedauerten, ihn nie wiedergesehen zu haben; – aber der Briefwechsel zwischen den beiden war mit der Zeit träge geworden und nun, seit vielen Jahren schon, eingeschlafen. Lady Augusta und Lord Fairbrook hatten ihm zuerst häufig geschrieben und ihre Einladung, er möchte sie besuchen, dringend wiederholt; aber als niemals die erwünschte Antwort auf diese Briefe kam, sondern immer nur Entschuldigungen, der Einladung nicht folgen zu können, und unsichere Versprechen zukünftigen Besuches, da hatten sie angenommen, sie hätten seine Freundschaft wohl überschätzt, oder er habe irgendeinen, ihnen unbekannten Grund, nicht nach England kommen zu wollen, und hatten aufgehört, ihm ohne besondere Veranlassung zu schreiben. Aber sie erfreuten sich seiner großen wissenschaftlichen Erfolge, sie waren stolz darauf, daß er einer der Ihrigen gewesen war, und gedachten seiner in warmer, freundschaftlicher Teilnahme, wie eines, der auf kurze Zeit, als etwas Freudiges und Erhebendes in ihrem Leben erschienen und dann wieder daraus verschwunden war.

Fünf Jahre, nachdem sich die Trennung zwischen Ambach und den Bewohnern von Fairbrook vollzogen hatte, zeigte Lord Fairbrook seinen ehemaligen Genossen seine Vermählung an und bald darauf auch die seiner Schwester Ellen mit Lord Robert Bradford, dem zweiten Sohne des Herzogs von Campton. – Ambach wurde durch diese Nachricht tief bewegt, aber sie brachte ihm keinen neuen Schmerz. Lady Ellen war nun in den Kreis eingetreten, in den sie gehörte: Herzöge und Fürstinnen waren ihre Vettern und Basen; als Frau eines deutschen Professors wäre sie nicht an dem Platze gewesen, den ihre Geburt ihr anwies. – Wie ein schöner Stern, durch unerreichbare Fernen von ihm getrennt, war sie am Himmel seines Lebens aufgestiegen, sein Herz und sein Auge hatten sich an dem wunderbaren Glanze gelabt – nun war der Stern wieder erloschen. Aber seine Trauer darüber war eine stolze. Niemand – das wußte er – konnte die Art seines Schmerzes ahnen, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit der Befriedigung, die die Erfüllung einer schweren Pflicht gibt. – Von Ellen erhielt er kein Lebenszeichen wieder. Er war wohl für sie gestorben, wenn er jemals für sie gelebt hatte, sowie sie für ihn.

Weitere zwanzig Jahre später, zur Zeit, da sein Ruhm als Gelehrter bereits in der ganzen wissenschaftlichen Welt verbreitet war, wurde ihm die Anzeige von dem Ableben Lady Augustas, der ihre Tochter, Lady Bradford, im kaum vollendeten dreiundvierzigsten Lebensjahre, nach wenigen Tagen ins Grab gefolgt war. Beide waren in Fairbrook, wo Lady Augusta gewohnt und wohin Lady Bradford sich zur Pflege ihrer erkrankten Mutter begeben hatte, an einem bösartigen Fieber gestorben. – Der Tod der beiden Frauen war für Ambach kein neuer Verlust: für ihn waren sie seit vielen Jahren unwiederbringlich verloren gewesen. Doch erfüllte ihn die Nachricht von ihrem Ableben mit tiefer Wehmut. – Er würde sie also nie, niemals wiedersehen, die er am meisten, ja die er allein geliebt, die sein Leben so gestaltet hatte, wie es geworden war: zu einem erfolgreichen und einem freudelosen, weil einem hoffnungslosen. Es hatte ihn vielleicht geistig größer gemacht, daß die Erinnerung an Ellen die gewöhnlichen kleinen Sorgen und Wünsche des Lebens von ihm ferngehalten hatte; aber es würde für sein Glück wohl besser gewesen sein, er hätte sie nie gekannt: denn der Vergleich, den er unwillkürlich bei jeder Gelegenheit zwischen ihr und anderen weiblichen Wesen angestellt, war es gewesen, der ihn während seiner Jugend an andern Frauen wunschlos hatte vorübergehen lassen. – Nun war er ein alter Mann, und die Saiten seines Herzens, die früher unter Fraueneinfluß hätten erzittern können, waren vertrocknet und erstarrt. – Bis tief in die stille Nacht hinein saß er an jenem Abend in seinem einsamen Arbeitszimmer, ohne die Bücher zu öffnen, die seit Jahren seine Beschäftigung und zugleich seine Erholung waren.

Am nächsten Tage schrieb er einen herzlichen Beileidsbrief an Arthur Fairbrook, und mit umgehender Post erhielt er eine kurze Antwort von diesem, die mit den Worten schloß: »Es würde mich freuen, wenn Sie mich besuchen wollten. Meine Frau ist, wie Sie wissen, vor drei Jahren gestorben, und nachdem jetzt auch meine Mutter und meine Schwester von mir gegangen sind, lebt außer meinen Kindern niemand, den ich in meiner Trauer lieber in meiner Nähe sähe als Sie.«

Die Ferien standen vor der Tür, und sobald sie begonnen hatten, reiste Ambach nach England ab.

Fünfundzwanzig Jahre waren verflossen, seitdem er seinen ehemaligen Zögling nicht wiedergesehen hatte, aber dieser begrüßte ihn mit der ruhigen Freundlichkeit, als wären ihre Beziehungen nie unterbrochen worden, wennschon mit dem tiefen Ernste, der eine natürliche Folge der traurigen Veranlassung war, die Ambach nach England geführt hatte.

In Fairbrook war wenig verändert. An den hundertjährigen Mauern des Schlosses und den alten Bäumen des Parkes war das Vierteljahrhundert ohne erkennbare Spuren vorübergezogen. – Wie tief der Eindruck gewesen sein mußte, den der einstige, verhältnismäßig kurze Aufenthalt in Fairbrook auf Ambach gemacht hatte, das zeigte sich auch daran, daß er jetzt, nach so langen Jahren, vieles im Schloß und im Park wiedererkannte, was er als junger Mann dort gesehen hatte.

Ambach blieb vier Wochen bei seinem wiedergefundenen alten Freunde, und bei der Gelegenheit lernte er auch Johanna Bradford, Ellens älteste Tochter kennen, die nach dem Tode ihrer Mutter in Fairbrook geblieben war, während ihren trauernden Vater wichtige Staatsgeschäfte, die seiner Leitung anvertraut waren, nach London gerufen hatten.

Die achtzehnjährige Johanna glich ihrer Mutter von Antlitz und von Wesen, namentlich aber erinnerte ihre wohltönende, weiche Stimme an die der Verstorbenen. Ambachs Augen ruhten mit Rührung und Wohlgefallen auf der schlanken, hohen Gestalt des schönen Mädchens, und dieses fühlte sich vertrauensvoll hingezogen zu dem stillen alten Mann, den sie sogleich bei seiner Ankunft wie einen Freund begrüßt hatte. Oftmals konnte man die zwei im Park spazieren wandeln sehen. Dann lauschte Johanna aufmerksam auf Ambachs Erzählungen von dem Leben der Lehrer und Schüler auf den deutschen Universitäten, oder Johanna sprach von ihrer verstorbenen Mutter, wie edel und schön sie gewesen sei, wie sie stets nur Gutes gewollt und getan habe, und wie alle, die sie gekannt, sie geliebt und verehrt hätten.

Eines Tages, kurz vor Ambachs Abreise, als er sich wieder einmal mit Johanna im Park befand, blieb er plötzlich in einer kleinen Lichtung, in der Nähe des Schlosses stehen und sagte leise:

»An dieser Stelle habe ich vor siebenundzwanzig Jahren von Ihrer Mutter Abschied genommen.«

Da entgegnete Johanna kaum hörbar und sanft, als wolle sie dem andern ein Liebesgeständnis entlocken: »Sie haben wohl meine Mutter sehr lieb gehabt?«

»Ich habe Ihre verstorbene Frau Mutter innig verehrt. Ihr Bild hat mir stets vorgeschwebt als das der edelsten Frau, die mir im Leben begegnet ist.«

Nach einer kurzen Pause sagte darauf Johanna, noch leiser, gleichsam als gälte es nun, daß sie selbst ein Geständnis mache: »Meine Mutter hat Sie auch stets für ihren besten Freund gehalten. Oftmals haben wir beide in den Briefen gelesen, die Sie ihr und der Großmama zur Zeit Ihrer Reise mit Onkel Arthur geschrieben hatten. Sie sprach von Ihnen wie von einem lieben Bruder, wie gut und treu Sie gewesen seien, jedermann sogleich Vertrauen einflößend und des vollsten Vertrauens würdig. Darum konnte ich Ihnen auch sogleich wie einem Freunde entgegenkommen. Ich kannte Sie, lange ehe ich Sie gesehen hatte.«

Ambach schwieg.

Nach einer längeren Pause fuhr Johanna fort: »Erfahren Sie gern, wie meine Mutter von Ihnen dachte und zu mir sprach?«

»Es tut mir unbeschreiblich wohl, es zu hören«, antwortete Ambach.

»Sie hätte Sie gern einmal wiedergesehen, sie meinte, Sie würden wohl nach England gekommen sein, wenn sie Sie darum gebeten hätte; aber das wollte sie nicht tun. Sie sagte, wenn Sie vorzögen, nicht zu kommen, so würde das wohl das Richtige sein, und sie wollte daran nichts zu ändern versuchen. – Noch wenige Tage vor ihrem Tode sprach sie mit mir und mit Papa von Ihnen und trug uns beiden auf, Sie von ihr zu grüßen, wenn wir Sie sehen sollten. Sie rechnete darauf, daß Sie Onkel Arthur nach ihrem Tode besuchen würden. – Sie hat sich nicht getäuscht. Es scheint, daß sie Sie gut kannte.«

Am Vorabend seiner Abreise von Fairbrook suchte Ambach noch einmal die Stellen im Park auf, wo er im Zusammensein mit Ellen das anspruchslose Glück gefunden, an dem er sein Leben lang gezehrt hatte. – Wer nicht als alter, einsamer Mann die Plätze wiedergesehen hat, wo er in seiner Jugend, in Gesellschaft der verlorenen Geliebten, verweilt, der kann nicht verstehen, mit welcher Wehmut das Herz Ambachs sich während dieses letzten Spazierganges im Park von Fairbrook füllte. – Es läßt sich nicht beschreiben.

Am nächsten Tage nahm der Professor Abschied von seinen Freunden, und bald darauf war er wieder zu Hause in seinem stillen Studierzimmer; aber es dauerte einige Tage, ehe er seine alte Arbeitskraft und Lust an der Arbeit wiedergefunden hatte. Er war entmutigt. Sein Leben erschien ihm als ein verfehltes: es war kein unglückliches gewesen, aber das, was es zu einem glücklichen hätte machen können, hatte ihm von dem Augenblick an, wo er es zu erkennen geglaubt, nur in unerreichbaren Fernen vorgeschwebt. Wunschlos war er seitdem durch das Leben gegangen. – Aber Gewohnheit und Pflichtgefühl lenkten seine Tätigkeit bald wieder in das alte Geleise.

 

Wieder zogen viele Jahre dahin. Ambach war zum Greise geworden; – aber seine geistige Kraft erschien noch ungeschwächt, wennschon er mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten jetzt nur noch in langen Zwischenräumen vor die Öffentlichkeit trat. Seine großartigsten Leistungen lagen hinter ihm, er konnte sie nicht mehr übertreffen, aber er behauptete sich noch würdig auf der Höhe seines verdienten Ruhmes.

Da erhielt er eines Tages eine amtliche Einladung, einer Gelehrtenversammlung beizuwohnen, die in Berlin abgehalten werden sollte. Er beschloß, der Aufforderung zu folgen. Er wünschte, vor seinem Tode mit den Genossen zusammenzutreffen, die auf demselben Felde wie er gearbeitet hatten, und von denen er nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl persönlich kannte; denn er hatte sein Leben lang in großer Zurückgezogenheit gelebt.

Die Berliner Gelehrtenversammlung ernannte Ambach zu ihrem Präsidenten, und in dieser Eigenschaft begab sich der alte Professor am Tage nach der ersten Sitzung zum Unterrichtsminister, um diesem, als seinem Vorgesetzten, seine Aufwartung zu machen. Er wurde mit Auszeichnung empfangen und erhielt noch an demselben Tage eine Einladung zu einem großen Hoffeste, das am nächsten Abend im königlichen Schlosse stattfinden sollte.

Ambach fühlte sich ermüdet von den ungewohnten Anstrengungen der Reise, von den zahlreichen Unterhaltungen mit neuen Bekannten und auch von den Huldigungen, die man ihm dargebracht hatte, aber er hielt es für seine Pflicht, der an ihn ergangenen Einladung zu folgen, und begab sich zur bestimmten Stunde in das Schloß. Dort wurde ihm die Ehre zuteil, dem greisen Monarchen vorgestellt zu werden, der sich einige Minuten lang leutselig mit dem Professor als einer Zierde der deutschen Gelehrsamkeit unterhielt; – und dann war Ambach sich selbst überlassen, allein in einem Gewühl strahlender Uniformen und glänzender Toiletten.

Eine Weile lang durchwanderte er langsam die prachtvollen Säle. – Dann überkam ihn Ermüdung, und er beschloß, seine Wohnung aufzusuchen. Er hatte seiner Pflicht genügt, es war ihm die Freude geworden, den großen Kaiser, den er innig verehrte, von Angesicht zu Angesicht zu schauen, mit ihm zu sprechen – nun konnte ihm das Fest nichts mehr bieten: Vergnügen hatte er dort nicht gesucht. Als er eines der entlegeneren Gemächer durchschritt, in dem es verhältnismäßig öde war, so daß er den ganzen Saal überblicken konnte, sah er plötzlich, daß ihm von der andern Seite des Raumes ein Kollege entgegenkam, ein Universitätsprofessor, wie er selbst im Talar gekleidet, das weiße Haupt mit dem Barett bedeckt. Es war die erste bekannte Figur, die er erblickte – wohl die eines Mitgliedes der Gelehrtenversammlung, in der er den Vorsitz führte.

Ambach schritt dem Eintretenden entgegen, um ihn zu begrüßen, falls er ihn kennen sollte, und er betrachtete ihn deshalb aufmerksam: einen alten, würdevollen Herrn, hoher, durch die Jahre etwas gebeugter Gestalt, bleich von Angesicht, schneeweißen Haares, dessen, durch eine scharfe Brille noch vergrößerte große Augen, milde und ernst auf ihm ruhten. Die ganze Persönlichkeit hatte für Ambach etwas seltsam Bekanntes. – Und plötzlich blieb er wie erschreckt stehen. Er hatte in der Erscheinung sein eigenes Spiegelbild erkannt und sich einen Augenblick als einen andern betrachtet. – So also sah er für andere aus, wie er sich soeben gesehen hatte. – Es wurde ihm klarer als je zuvor, daß er ein alter Mann geworden sei.

Er stieg die breite Wendeltreppe hinunter und wurde am Fuße derselben von dem aufmerksamen Lohndiener empfangen, den er dorthin bestellt hatte, und der ihn, nachdem er ihm den schweren Mantel umgehängt hatte, – denn die Winternacht war kalt und unfreundlich – nach seinem Wagen geleitete. Auf dem Wege nach dem Gasthofe kam Ambach mit dem Gedanken an sein Alter der Wunsch, seine Vaterstadt Magdeburg wiederzusehen. Er brauchte auf der Ferienreise nur einen kleinen Umweg zu machen, um sie zu berühren. – »Wer weiß,« sagte er sich, »ob ich ihr noch einmal im Leben so nahe komme.« – Und er malte sich im Geiste die alte Stadt aus, in der er jung gewesen war, mit ihren ehrwürdigen Kirchen, dem Dom an der Spitze, ihren schönen Straßen – dem »Breiten Weg«, dem »Fürstenwall« – und der »Klosterschule«, auf der er seine Schuljahre verbrachte hatte. Alles stand noch klar und deutlich in seiner Erinnerung: es überkam ihn eine förmliche Sehnsucht nach der Heimat, die er seit mehr denn vierzig Jahren nicht wiedergesehen und an die er, inmitten seiner rastlosen Tätigkeit, nur noch selten gedacht hatte.

Die Gelehrtenversammlung hielt ihn noch einige Tage in Berlin fest. – Am Morgen, nachdem die letzte Sitzung stattgefunden hatte, reiste er nach Magdeburg ab. Am Bahnhof wurde er mit den Rufen Bediensteter der großen Gasthöfe empfangen. »Stadt London!«– »Stadt Braunschweig!« – »Erzherzog Stephan!« – »Grimmas Hotel!« Der letzte Name schlug als etwas besonders Bekanntes an Ambachs Ohr. – »Grimmas Hotel!« War das nicht das Gasthaus, in dem er während seiner letzten Anwesenheit in Magdeburg, unmittelbar vor seiner Abreise nach England, abgestiegen war? – Ja, sicher! Jetzt erinnerte er sich deutlich daran. – Er winkte dem Manne, auf dessen Mütze in goldenen Buchstaben »Grimmas Hotel« zu lesen war, übergab ihm seinen Gepäckschein und was er an leichtem Handgepäck bei sich führte und sagte ihm, er solle ein gutes, warmes Zimmer für ihn nehmen. – Dann machte er sich auf den Weg, um noch so viel wie möglich von Magdeburg zu sehen, ehe der kurze Wintertag zu Ende gegangen sein würde.

Ambach durchschritt neue Stadtteile, die ihm unbekannt waren, und die ihn nicht mehr kümmerten, als wenn er in Chicago gewesen wäre. – Das Neue, wenn es nicht zu seinem Beruf gehörte, hatte längst aufgehört, seine Aufmerksamkeit fesseln zu können. Daß er Magdeburg sehr vergrößert finden würde, hatte er vorausgewußt. Als er es zum letzten Male besucht, hatte die alte Stadt fünfzigtausend Einwohner gehabt, jetzt zählte sie das Vierfache. – Sie könnte noch zehnmal größer gewesen sein, ohne daß dieser Umstand ihn berührt haben würde. Ihm verlangte nur danach, das alte Magdeburg, sein Magdeburg, wiederzusehen. Und bald darauf befand er sich in dessen Mittelpunkt: auf dem »Alten Markt« mit dem steinernen Bildnis Kaiser Ottos, bei der Ratswage, der Katharinenkirche, auf dem Breiten Weg – vor der Klosterschule. Dort blieb er eine Weile stehen. Dann trat er ein.

Der erfahrene Pförtner erkannte in dem stattlichen alten Herrn sofort einen Gelehrten, wahrscheinlich einen Professor, möglicherweise einen Freund des gestrengen Herrn Direktors. Er erkundigte sich höflich nach den Wünschen des Besuchers und geleitete ihn nach der im Kloster gelegenen Wohnung des Direktors, als Ambach gefragt hatte, wo er diesen finden könnte. – Vor der Wohnung des Direktors angelangt, übergab er dem Pförtner seine Karte, die dieser mit ehrerbietiger Verbeugung hineintrug. – Gleich daraus öffnete sich eine Tür und ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, mit dem etwas herrischen Zuge im ernsten Gesichte, der dem ausübenden, sich seiner Macht bewußten Lehrer eigen ist, trat Ambach, die Hände ausgestreckt, entgegen.

»Sie erweisen mir eine große Ehre, Herr Professor«, sagte er mit tiefer, wohltönender Stimme. »Bitte, treten Sie näher!«

Er führte darauf Ambach in ein behagliches, warmes Zimmer, dessen Wände beinah vollständig mit Büchern bedeckt waren, nötigte Ambach, sich in einen bequemen Sessel zu setzen, und noch vor ihm stehend, sagte er:

»Was verschafft mir die unerwartete Ehre Ihres Besuches? Womit Herr Professor, kann ich Ihnen dienen?«

»Ich bin ein alter Klosterschüler, Herr Kollege«, begann Ambach.

»Das wissen wir alle – und sind stolz darauf«, unterbrach ihn der Direktor.

»Und da ist mir plötzlich der Wunsch gekommen, das Kloster ›Unserer lieben Frauen‹ wiederzusehen. – Deshalb befinde ich mich hier. – Wollen Sie mir gestatten, durch den Kreuzgang und die andern alten Gänge, so wie durch die Säle und über den Spielhof zu gehen?«

Der Direktor sah nach der Uhr: »Ich gehe sogleich mit Ihnen,« sagte er, »in der Hoffnung, Sie nachher hier wiederzusehen; aber ich möchte Sie gerade jetzt nicht länger in diesem Zimmer festhalten. In wenigen Minuten wird nämlich eine Lehrstunde beendet sein, und ich denke mir, es wird Ihnen Freude machen, die Schüler während der freien zehn Minuten bis zur nächsten Stunde auf dem Hofe beobachten zu können.«

Er schritt, sichtlich aufgeregt, voran, und Ambach folgte ihm.

Bald, nachdem die beiden auf der Freitreppe angelangt waren, die von den Klassensälen nach dem Spielhof hinunterführt, öffneten sich in dem Gange, den sie durchschritten hatten, mehrere Türen, und aus ihnen traten die Lehrer hervor, denen die Schüler auf den Fersen folgten. Diese gingen, ehrerbietig grüßend, an dem Direktor und Ambach vorüber und liefen dann die Treppe hinunter auf den Hof, der sich schnell mit der frischen, gesunden Jugend füllte. – Ambach blickte auf das Gewühl blonder und brauner Köpfe zu seinen Füßen. Er sprach kein Wort, und auch der Direktor schwieg, denn er wollte die Erinnerungen und Gedanken nicht stören, die in dem Augenblick wohl durch Ambachs Seele ziehen mochten.

Als die Schüler wieder in die Klassen getreten waren, fragte der Direktor seinen Gast, ob es ihm recht sein würde, die Knaben während des Unterrichts zu sehen, und als Ambach dies bejaht hatte, führte er den Professor zuerst in die Prima und dann in die Sexta. Als er dem noch jungen Lehrer der Prima den Namen des vornehmen Besuches nannte, errötete der Lehrer und verbeugte sich ehrerbietig. – Ambachs Blick schweifte aufmerksam über die dichtbesetzten Schulbänke; dann entfernte er sich, nachdem er dem Lehrer die Hand gereicht hatte, mit freundlichem Neigen des greisen Hauptes. Als er gegangen war, sagte der Lehrer zu seinen Schülern: »Das war ein ehemaliger Klosterschüler: Professor Ambach. Erinnern Sie sich des Tages, da Sie ihn gesehen haben, denn es wird Ihnen nicht oft im Leben beschieden werden, einem so guten Mann zu begegnen.«

Die Schüler flüsterten untereinander und sahen sich verständnisvoll an, und der Lehrer gestattete es, denn er wußte, daß einer dem andern zuraunte, was er von Ambach wußte.

Bald darauf befanden sich die beiden alten Herren wieder im Zimmer des Direktors.

»Ich bin ebenfalls ein Schüler des Klosters«, sagte der Direktor; »um einige Semester jünger als Sie, Herr Professor, doch haben wir zum großen Teile noch dieselben Lehrer gehabt, denn ich war in der Quinta, da Sie als Primus der Prima glänzten. – Ich erinnere mich, wie oft ich Sie auf dem Hofe bewundert habe; Sie sahen mich Knirps natürlich nicht. – Welch unüberbrückbare Kluft trennt nicht während der Schuljahre den Quintaner vom Primaner! Später gleicht sich das wieder aus; alle werden mit den Jahren gewissermaßen eines Alters. – Und deshalb möge es mir vergönnt sein, Ihnen als Kommilitone und langjähriger Verehrer, eine Bitte vorzutragen. – Ich bin seit vielen Jahren Witwer, meine Töchter sind verheiratet, und von meinen beiden Söhnen ist der eine Pastor auf einem kleinen Dorfe in der Altmark, der andere Offizier in einem Artillerieregimente, das in den Rheinprovinzen steht. – So führe ich denn ein Junggesellenleben, und da frage ich nun, wollen Sie mir die Ehre erweisen und die große Freude machen, heute abend mit mir zu speisen? Wir können von alten Zeiten sprechen, die Ihnen durch Ihren heutigen Besuch des Klosters wohl wieder näher gerückt sind – und auch mir. Denn als ich Sie so ernst neben mir stehen und auf die Knaben blicken sah, die sich lustig im Schulhof tummelten, da sagte ich mir, Sie müßten wohl in dem Augenblick an die Zeiten denken, da Sie als Kind wie jene unten gespielt hatten – und dieselben Gedanken kamen mir. – Wollen wir heute abend von den alten Tagen sprechen? Sagen Sie ja und erfreuen Sie mich.«

Der Professor nahm die Einladung bereitwillig an, und einige Stunden später saßen sich die beiden alten Herren an einem mit guten Sachen bedeckten kleinen Tische gesprächig gegenüber. Der Wein hatte die des Wortes gewandten Zungen der zwei gelöst, und Rede und Widerrede folgten sich ohne Mühe und ohne Unterbrechung. Da wurde von den alten Lehrern gesprochen, vom Probst Zerenner, vom Direktor Müller, von Immermann, dem Bruder Karls, den man »den Wüsten« nannte, von Hasse und Merckel, den tüchtigen Hellenisten, von Heil, dem Mathematiker, Teetzmann und Pareidt, den Philologen, Banse, dem Rechenlehrer, Hildebrand und Ehrlich, von dem der eine Unterricht im Zeichnen, der andere in der Musik erteilte. – Und von jedem dieser alten, längstverstorbenen Lehrer wurden Geschichten aufgetischt, die beide, der Professor und der Direktor, seit einem halben Jahrhundert kannten, und an denen sie sich heute wieder erfreuten. – Auch Schülergeschichten aus den dreißiger Jahren wurden zum Besten gegeben, darunter einige, an denen sie selbst Teil genommen hatten: »Quorum pars...«

Und sie fingen an lateinisch und griechisch zu zitieren und bald darauf in gewählter Rede lateinisch zu sprechen, bis Ambach, geröteten Antlitzes, leuchtenden Auges lachend ausrief:

»Lieber Kollege! Was haben Sie angerichtet! Sie wissen, was es bedeutet, wenn zwei beim Wein lateinisch reden!«

Der Direktor, ebenso freudig erregt wie sein Gast, rief zurück: »Ich bin stolz darauf, daß es mir gelungen ist, die goldene Jugend in Ihrer Erinnerung heraufzubeschwören – obgleich«, fuhr er ernster fort, »Sie ja nie alt geworden sind. Wer so schafft, wie Sie noch heute schaffen, der ist ewig jung, für den gibt es kein Alter. – Oh, Sie Beneidenswerter, von mir neidlos Bewunderter! Wie schön Ihr Leben gewesen ist: ein langes Leben, voll edlen Schaffens, voll großer Erfolge! Kann es etwas Vollkommeneres geben? Mit welchem Stolz müssen Sie darauf zurückblicken!«

»Ja, mein Leben ist ein volles und erfolgreiches gewesen«, sagte der Professor nachdenklich; – aber er wollte den heitern Abend heiter beschließen, und da es inzwischen spät geworden war, so sprach er in zierlichen lateinischen Versen seinen Dank aus für die Gastfreundschaft, die ihm zuteil geworden war, versicherte, daß der Abend, den er mit dem alten Schulkameraden verbrachte, ihm unvergeßlich bleiben würde und stieß, zum letzten Male, auf baldiges, frohes Wiedersehen mit diesem an. Dann trennten sich die beiden mit herzlichem Händedruck.

Sobald der Professor in seinem Zimmer in »Grimmas Hotel« angelangt war, begab er sich zur Ruhe. Der lange Tag, voll ungewohnter Anstrengungen, hatte ihn ermüdet, und er schlief schnell ein. Am nächsten Morgen erwachte er zu früher Stunde, kleidete sich sogleich, wie dies seine Gewohnheit war, vollständig an und ließ dann den Morgenkaffee auf sein Zimmer bringen, den er, am Fenster sitzend, den »Breiten Weg« zu seinen Füßen, zu sich nahm. Da hörte er Militärmusik erschallen, und bald darauf zog das 27. Infanterieregiment klingenden Spieles an seinem Fenster vorüber. Der alte Fridericianische Marsch, den er hörte, war ihm bekannt, und er sang ihn, mit den Knöcheln der einen Hand den Takt schlagend, leise mit. – Als aber plötzlich die Domglocken wie feierliche Begleitung zu der schmetternden Musik erklangen, da fuhr er zusammen. – Was war das? – Eine Sekunde unwillkürlicher Rückerinnerung – und dann stand die ferne Vergangenheit deutlich vor ihm! – Das war der Marsch, den er mit derselben Begleitung vor mehr als vierzig Jahren an derselben Stelle gehört hatte! Es kam ihm wie ein Traum vor, wie eine Fortsetzung der Jugendgeschichten, die er am Abend vorher gehört und erzählt hatte, und träumerisch sinnend blickte er um sich. – Hatte er nicht diese alte Kommode, diesen schönen Schrank, das hohe Himmelbett schon einmal gesehen? Und jenen Kupferstich, den »alten Dessauer« darstellend! Welche Bewandtnis hatte es doch damit? – Sinnend legte er die Hand auf die Stirn, dann erhob er sich, nahm das Bild von der Wand und trat damit ans Fenster. Und wie er es drehte und wandte, vergeblich bemüht, den Zusammenhang zwischen dem Bilde und seiner Vergangenheit wiederzufinden, da entdeckte er auf der Rückseite unter einer dichten Staubschicht seinen Namen: »Vor dem Kampfe, Heinrich Ambach aus Magdeburg am 15. 9. 1845.«

Er stellte das Bild sorgfältig auf den Boden; dann ließ er sich auf einen Sessel fallen und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

»Vor dem Kampfe. 1845.« – Nun hatte er den Kampf des Lebens, bis zum Ende beinah, ausgekämpft – siegreich! Und doch fühlte er sich geschlagen. – Sein ganzes Leben zog in einer kurzen Minute vor seinem Geiste vorüber: sein ganzes, sein volles Leben! – Und wie kurz erschien es ihm! – Die Arme gegen den Körper gelegt, bewegte er die zitternden Hände, die Handflächen in geringer Entfernung gegeneinander gekehrt, auf und nieder und sagte leise: »So klein war mein Leben – so klein!«

Seine Gedanken wanderten zurück, noch weit hinter den Tag, an dem er die Worte: »Vor dem Kampfe« geschrieben hatte. – Er erinnerte sich seiner frühesten Kindheit, und er sah seine Mutter, wie sie auf einem schönen Bildnis dastand, das aus dem Nachlaß seines Vaters vor mehr als vierzig Jahren in seinen Besitz übergegangen war: eine schlanke, junge Frau, bleich von Angesicht, aschblonden Haares, mit großen, traurigen blauen Augen. »Komm zu Bett, Heinz«, hörte er ihre weiche, süße Stimme. Er aber riß die Augen auf. Er wollte eine Erzählung des Vaters, von der er nichts verstand, zu Ende hören – »Ich bin noch nicht müde, Mama. Bitte, laß mich noch ein bißchen aufbleiben . . . bitte, laß mich!« – »Nein, komm, mein Kind! Die Augen fallen dir ja zu. Schnell! Der Sandmann kommt.« Er fühlte sich sanft emporgehoben, sein Kopf lag an dem Halse der Mutter. »Ich bin noch gar nicht müde«, murmelte er, schon im Halbschlaf.

Wie lange war das her? – Oh, über sechzig Jahre!

»So klein war mein Leben . . .so klein,« wiederholte er mit derselben Bewegung der zitternden alten Hände . . . »so klein!« – Er fühlte sich unbeschreiblich müde.

»Nun, der Sandmann wird ja bald kommen«, sagte er leise.