W. Korolenko
Sibirische Novellen
W. Korolenko

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Die Flüchtlinge von Sachalin.

1.

... Mein Zeltgenosse war verreist; ich mußte daher allein in meiner Jurte nächtigen.

Arbeiten wollte ich nicht, und auf meinem Bette liegend, im Halbdunkel, da ich kein Feuer anzünden wollte, überließ ich mich, ohne es selbst zu wollen, den schweren Empfindungen, welche die Stille und das Dunkel gewöhnlich erwecken, während der kurze Tag des Nordens ganz im kalten, sich hebenden Nebel versank. Die letzten schwachen Strahlen der Sonne schwanden durch die vereisten Fenster aus dem Zimmer; ein tiefes Dunkel schien aus den Winkeln hervorzuschleichen und umhüllte die schrägen Wände, die über meinem Kopfe immer mehr zusammenzutreten schienen. Kurze Zeit sah ich noch die Umrisse des in der Mitte der Jurte stehenden mächtigen Ofens, doch auch dieser plumpe Penat jakutischen Wohnsitzes begann der einbrechenden Finsternis seine Arme entgegenzustrecken, und bald verschwand auch er meinen Blicken ... Finsternis umgab mich. Nur an drei Stellen glänzte es noch etwas heller in schwachem, phosphoreszierendem Glanze – dort, wo der jakutische Frost durch die ganz vereisten Fenster ins Zimmer schaute.

Minuten, Stunden vergingen unbemerkt, und ich achtete kaum, wie das verhängnisvolle Gefühl der Trauer und der Sehnsucht mich überkam, wie »die Fremde« feindlich mich anwehte mit ihrer Kälte und Unfreundlichkeit; wie in meiner erregten Vorstellung jene unermesslichen, weiten Strecken – Berge, Wälder, unendliche Steppen – erstanden, die mich von allem trennten, das mir lieb und wert und – verloren war, und mich doch stets zu sich lockte.

Jetzt erstand es mir in kaum sichtbarer Ferne, matt nur leuchtend in fast verlöschendem Lichte der Hoffnung. Und das unterdrückte, doch nicht überwundene Leid, das tief versteckt lag in dem entferntesten Winkel des Herzens – nun kam es schleichend hervor, kühn sein Haupt erhebend, um mitten in der mich umgebenden Stille, im tiefsten Dunkel, deutlich die schrecklichen, verhängnisvollen Worte zu flüstern: »Auf immer bist du in diesem Grabe, bist lebendig begraben, auf immer!«

Ein leises Gewinsel, das zu mir vom flachen Dache durch das Rohr des Ofens herunter drang, weckte mich aus diesem schweren Sinnen. Mein kluger Freund war es, der treue Hund Cerberus, der auf seinem Posten vor Kälte zitternd verharrte und mich nun fragte, was mit mir sei und weshalb ich nicht Feuer anzünde.

Ich rüttelte mich auf, denn ich fühlte, daß ich in dem Kampfe mit der Dunkelheit und dem Schweigen unterliegen müßte, und entschloß mich, jenes Mittel zu ergreifen, das ich hier unter der Hand hatte. Dies Mittel – der Gott in jeder Jurte Sibiriens – ist das Feuer.

Die Jakuten unterbrechen den ganzen Winter hindurch nicht die Heizung im Zelte und haben daher auch keine Vorrichtung zum Schließen des Ofenrohres. Wir hatten es uns aber konstruiert; es wurde von außen geöffnet und mußte man daher jedesmal zu diesem Zwecke das flache Dach der Hütte erklettern.

Ich schritt die Stufen hinan, die ich in den Schnee, der die Hütte bis fast zum Dache umgab, gehauen hatte. Unsere Wohnung stand fast ganz am Ende des Fleckens, den man von unserem Dache ganz überblickte, wie er dalag im Thale, umgeben von Bergen, und von dem man sonst sehen konnte, wie die Lichter durch die Fenster der jakutischen Zelte durchschimmerten, in denen Nachkommen russischer Ansiedler und verschickte Tataren hausten. Heute war alles in tiefen grauen Nebel gehüllt, der kalt und schwer auf der Erde lastete und gar keinen Ausblick gewährte. Nur oben in weiter Ferne glänzte matt ein Stern, dem es gelungen war, diese kalte Hülle mit seinem Strahle zu durchbrechen.

Rund umher lautlose Stille ... Das bergige Ufer des Flusses, die ärmlichen Hütten des Fleckens, die kleine Kirche, die glatte Schneefläche der Felder, der dunkle Saum des Waldes – alles war versunken in diesem uferlosen Meere des Nebels. Das Dach meines Zeltes, auf dem ich stand, mit dem aus Lehm roh gearbeiteten Schornsteine – zu meinen Füßen geschmiegt der Hund – schien eine Insel im weiten, unendlichen, unübersehbaren Ozean. Rund umher kein Laut, alles kalt und unheimlich. – Die Nacht lag schweigend und furchtbar ausgebreitet über der Erde ...

Cerberus winselte leise. Dem armen Tiere war es offenbar auch unheimlich wegen des anbrechenden heftigen Frostes; es schmiegte sich an mich, seine spitze Schnauze ausstreckend und mit den Ohren lauschend, und blickte aufmerksam in die dunkle, graue Finsternis hinaus.

Da spitzte es die Ohren und knurrte. Ich horchte auf. Anfangs war alles still wie früher, dann klang ein Ton durch die Stille, leise – da, noch einer, wieder und wieder einer. Durch die kalte Luft hörte man schwach den Hufschlag eines Pferdes noch weit draußen im Felde.

An den einsamen Reiter denkend, der, dem schwachen Tone des Hufschlages nach, noch etwa zwei Werst von unserem Flecken entfernt sein mußte, eilte ich an der schrägen Mauer hinab in meine Hütte. Eine Minute mit freiem Antlitz bei diesem Froste drohte mit einer abgefrorenen Wange oder Nase. Cerberus folgte mir, aufheulend in die Richtung, aus der der Hufschlag kam.

Bald darauf loderte im Ofen ein angezündeter Kienspan auf. Ich näherte ihn den trockenen, im Ofen bereit liegenden Holzscheiten und gleich darauf veränderte sich das Innere meiner Wohnung bis zur Unkenntlichkeit. Die schweigsame Hütte war erfüllt von Geprassel, Geknatter; Hunderte von Feuerzungen schlichen zwischen den Holzstücken hin, umfingen sie, spielten, sprangen um sie, krachten, knisterten, prasselten. Etwas Lebendiges war in das Zimmer gestürzt, alle Winkel und Ecken durchstöbernd und sie mit Geräusch erfüllend. Von Zeit zu Zeit verstummte das prasselnde Feuer. Dann hörte ich, wie die brennenden Funken knisternd durch das Ofenrohr in die kalte Luft hinausflogen.

Gleich darauf begann das Spiel von neuem mit frischen Kräften und häufige Krache erfolgten in der Jurte, wie das Geknatter von Pistolenschüssen.

Jetzt fühlte ich mich nicht mehr so verlassen, wie früher. Alles um mich her schien zu leben, sich zu bewegen, zu tanzen. Die Fensterscheiben, die vor kurzem nur schwach den Frost von außen hineinblicken ließen, spielten jetzt in tausend Farben und spiegelten den Schein der Flamme wieder. Ich fand Gefallen an dem Gedanken, daß im Dunkel der Nacht meine alleinstehende Hütte weithin leuchte und, gleichsam ein kleiner Vulkan, Tausende von Funken hinauswerfe, die zitternd in der Luft tanzten und inmitten weißen Rauches erstürben.

Cerberus ließ sich gegenüber dem Ofen nieder und blickte angestrengt, bewegungslos wie ein weißes Gespenst in die Flamme; nur zuweilen wandte er seinen Kopf zu mir und in seinen klugen Augen las ich Dankbarkeit und Treue. Schwere Schritte wurden außen hörbar, doch Cerberus blieb ruhig – er wußte, daß es unsere Pferde waren, die bis jetzt irgendwo unter Dach standen, mit gesenktem Kopf und vor Frost zuweilen zusammenschauernd, und jetzt dem Feuer nachgingen, um an der Wand stehen zu bleiben, die lustig springenden Funken und das breite Band des weißen Rauches zu betrachten, der dem Schornsteine kerzengerade entstieg.

Doch jetzt wandte sich der Hund unzufrieden ab und knurrte, gleich darauf warf er sich auf die Thür. Ich ließ ihn hinaus und während er auf seinem Wachtplatze bellte, blickte ich hinaus in den Hof. Jener einsame Wanderer, dessen Annäherung ich vorhin durch die Stille der Nacht gehört hatte, ließ sich durch mein fröhliches Ofenfeuer verlocken. Er öffnete eben die Pforte, um sein gesatteltes und bepacktes Pferd hereinzulassen.

Ich erwartete keinen Bekannten. Ein Jakute wäre wohl schwerlich so spät in den Flecken gekommen, und selbst wenn er es gethan hätte, so wäre er bei einem Freunde eingekehrt und hätte sich nicht durch ein brennendes Feuer verlocken lassen, bei einem Fremden anzuhalten.

»So kann es denn nur ein Ansiedler sein« – überlegte ich bei mir. Zu anderer Zeit wäre ich über einen solchen Besuch weniger erfreut gewesen, jetzt war ein lebender Mensch mir sehr erwünscht. – Ich wußte, daß das lustige Feuer bald verlöschen, die Flämmchen nur träge von Holzscheit zu Holzscheit schleichen und dann nur noch ein Häufchen glühender Kohlen zurückbleiben würde, über die nur selten blaue Züngelchen huschen – immer seltener, langsamer ... Dann würde wieder in der Jurte die Stille und Dunkelheit anbrechen und in meinem Herzen sich wieder jene Sehnsucht erheben. Der Ofen würde nur sichtbar sein durch ein schwaches Glühen unter der Asche, dann endlich auch dieses verschwinden, ersterben. Wieder würde ich allein bleiben – allein eine ganze, tiefe, lange, sehnsuchterregende, unendliche Nacht lang.

Der Gedanke, daß ich vielleicht eine Nacht mit einem Menschen würde zubringen müssen, dessen Vergangenheit mit Blut besudelt sei, kam mir gar nicht in den Sinn. Sibirien lehrt uns, auch im Mörder den Menschen zu sehen, und wenn auch die nähere Bekanntschaft mit Solchen uns nicht gerade jene »Unglücklichen« idealisiert erscheinen läßt, die Schlösser aufbrechen, Pferde stehlen oder in dunkler Nacht ihrem Nächsten den Schädel einschlagen, so lehrt doch diese Bekanntschaft sich zurechtzufinden unter den so komplizierten Trieben und Beweggründen der Menschen. Man erkennt, wann und was man vom Menschen zu erwarten hat. Ein Mörder mordet ja nicht immer; er lebt noch und empfindet auch ebenso, wie alle anderen – darunter sicherlich auch Dankbarkeit zu demjenigen, der ihn in kalter Nacht in seiner Hütte aufnimmt und beherbergt. Wenn ich aber mit einem aus ihrer Mitte eine Bekanntschaft schloß und bei meinem neuen Bekannten sich ein frisches, gesatteltes Pferd und am Sattel noch verschiedene Säckchen und Päckchen vorfanden, dann blieb die Frage über den Besitzer des Pferdes noch zweifelhaft, und das Innere dieser Säckchen und Päckchen ließ ebenfalls mitunter Zweifel aufkommen betreffs dessen rechtmäßiger Erwerbung seitens des augenblicklichen Besitzers. Die schwere, mit Pferdehaut beschlagene Thür der Jurte wurde aufgehoben; vom Hofe herein schlug eine Dampfwolke und zum Ofen trat ein Fremder – ein Mann von hohem Wuchs, breitschultrig und stattlich. Auf den ersten Blick konnte man sehen, daß er kein Jakute sei, trotz der jukutischen Kleidung. An den Füßen trug er Stiefel aus blendend weißem Pferdefell. Die breiten Überwürfe des jakutischen Kaftans standen Falten werfend auf den Schultern, die Ohren bedeckend, Kopf und Hals waren umwickelt mit einem großen Shawl, dessen Enden um die Hüften gebunden waren. Der ganze Shawl, sowie überhaupt die Kleidung und die hohe Mütze waren mit Reif überzogen.

2.

Der Fremde hatte sich dem Ofen genähert und begann nun ungeschickt mit durchfrorenen, erstarrten Fingern den Knoten seines Shawls und dann den Riemen seiner Mütze zu lösen. Als er beides abgeworfen hatte, erblickte ich das jugendfrische, vom Frost stark gerötete Gesicht eines etwa dreißigjährigen Mannes; die groben, doch charaktervollen Züge hatten jenen eigentümlichen Ausdruck, wie ich solchen zuweilen auf den Gesichtern von Arrestantenaufsehern begegnet bin und überhaupt solcher Menschen, die gewöhnt sind, Achtung zu heischen und Furcht einzuflößen, und die doch selbst stets auf ihrer Hut sein müssen. Seine schwarzen, ausdrucksvollen Augen warfen kurze, durchdringende Blicke. Der untere Teil des Gesichts stand etwas hervor, eine leidenschaftliche Natur verratend, doch hatte der »Landstreicher« – denn daß er ein solcher war, hatte ich nach einigen charakteristischen, nicht wiederzugebenden Merkmalen sofort erkannt – offenbar gelernt, sie zu zügeln und zurückzuhalten. Nur ein leichtes Zittern der unteren Lippe und ein nervöses Spiel der Muskeln verriet zuweilen innere Unruhe und verborgenen Kampf.

Die Müdigkeit, die Kälte der Nacht, vielleicht auch das Sehnsuchtsgefühl, das der einsame Wanderer, der sich durch den undurchdringlichen Nebel hatte hindurchzwingen müssen, empfand, milderten einigermaßen die Schroffheit des Gesichtsausdrucks, gaben ihm einen Zug von Leid, was mit meiner Stimmung am heutigen Abend so sehr harmonierte und mir Sympathie zu meinem fremden Gaste einflößte, der indes, ohne sein Oberkleid abzulegen, den Arm auf den Ofen stützte und eine Pfeife aus der Tasche zog. –

»Guten Abend, Herr!« – sagte er, seine Pfeife ausklopfend und mich zugleich aufmerksam betrachtend. – »Guten Abend!« erwiederte ich, meinerseits die fremde Gestalt musternd.

»Sie müssen mich nun schon entschuldigen, daß ich so ungebeten bei Ihnen einkehre. Ich wollte mich nur etwas erwärmen und eine Pfeife rauchen – dann gehe ich weiter; ich habe etwa zwei Werst von hier Bekannte, die mich immer aufnehmen.«

In seiner Stimme sprach sich die Zurückhaltung eines Menschen aus, der nicht aufdringlich sein will. Indem er mit mir sprach, warf er einige kurze, aufmerksame Blicke auf mich, als wollte er meine Antwort abwarten, um danach sein ferneres Verhalten mir gegenüber einzurichten.

»Wie du mit mir, so werde ich mit dir sein« – schienen diese kalten, durchdringenden Blicke zu sagen. Jedenfalls fielen mir die Manieren meines Gastes auf, die einen angenehmen Kontrast zu der Aufdringlichkeit des jakutischen Ansiedlers bildeten, obgleich ich ja auch begriff, daß, wenn er nicht bei mir hätte nächtigen wollen, er sein Pferd nicht in den Stall geführt, sondern draußen angebunden hätte.

»Wer sind Sie? Wie heißen Sie?« fragte ich ihn.

»Ich? Ich heiße Bagilai – d. h. so nennt man mich hier – mein eigentlicher Name ist Wassili. Vielleicht hörten Sie – aus dem Bajagataischen Distrikt.«

»Vom Ural gebürtig? Ein Landstreicher?

Über das Gesicht des Fremden huschte ein kaum merkliches Lächeln der Zufriedenheit.

»Jawohl derselbe! So haben Sie also schon etwas von mir gehört?«

»Ja, von NN., Sie wohnten ja in der Nähe von ihm!«

»Ja, Herr NN. kennt mich.«

»Freut mich, bleiben Sie bei mir zur Nacht, machen Sie es sich bequem, bleiben Sie nur; zudem bin ich auch allein. Nehmen Sie ab, indes will ich Thee bereiten.«

Der Landstreicher kam der Aufforderung gern nach.

»Danke, Herr! Wenn Sie mich denn schon einladen, so werde ich bleiben. Ich muß nur noch die Mantelsäcke vom Sattel nehmen und einiges in die Hütte hereinholen. Zwar ist mein Pferd innen im Hofe, dennoch ist's aber so besser. Das Volk hier ist schlau, besonders die Tataren.«

Er trat hinaus und kam gleich darauf mit zwei Mantelsäcken wieder zurück, öffnete die Riemen und langte seine Vorräte heraus: ein Stück gefrorener Butter, gefrorene Milch, einige Dutzend Eier u. dgl. Einiges davon legte er auf die Wandbretter in der Hütte, den Rest trug er ins Vorhaus in die Kälte. Dann nahm er den Kaftan ab und den Pelz und blieb in seinem roten Hemde mit den üblichen Beinkleidern; er setzte sich mir gegenüber ans Feuer.

»Ja, Herr,« sagte er, und lächelte, »ich will Ihnen die Wahrheit sagen: da reite ich an Ihrer Pforte vorbei und denke dabei: wird er mich wirklich nicht bei sich nächtigen lassen? Ich weiß so recht wohl, daß von den Unsrigen mancher derartig ist, daß man ihn bei sich gar nicht behalten kann. Ich gehöre nicht zu solchen – das kann ich frei sagen. Sie sagten ja auch, Sie hätten von mir schon gehört.«

»Ja, ich hörte von Ihnen.«

»Nun, sehen Sie, ich kann, ohne zu prahlen, sagen: ich lebe ehrlich und recht; habe eine Kuh, einen Ochsen im Stall, ein Pferd; ich pflüge meinen Acker, mein Feld ...«

Er sprach das alles in einem so seltsamen Tone, nachdenklich auf einen Punkt blickend; bei den letzten Worten schien es mir, als denke er selbst: »Es ist ja auch wirklich so, wie ich sage!«

»Ja« – setzte er fort – »ich arbeite. So, wie es nach Gottes Gebot uns befohlen ist. Nun, ich glaube, das ist auch besser, als zu stehlen und zu morden. Nun, um gleich ein Beispiel anzuführen. Da fahre ich nachts vorbei bei Ihnen, sehe Feuer, trete ein und gleich werde ich freundlich und achtungsvoll empfangen; ich muß das zu würdigen wissen – nicht wahr?«

»Allerdings« – erwiderte ich, obgleich eigentlich der Landstreicher mehr zu sich selbst gesprochen hatte, um sich selbst von den Vorzügen seines jetzigen Lebens zu überzeugen.

Über Wassili hatte ich wirklich von Bekannten einiges gehört; er war einer von den Landstreicheransiedlern, lebte schon seit zwei Jahren in seinem Häuschen, mitten im Walde am See, in einem der größeren jakutischen Gemeinden. Unter den so vielen arbeitsunlustigen und verrotteten Kolonisten, die von Diebstahl und häufig von Mord lebten, war er einer der Wenigen, die es vorzogen, ein Leben voll Arbeit zu führen, wodurch man sich hier übrigens leicht eine gute Lebensstellung erwerben kann. Die Jakuten sind im allgemeinen ein sehr gutmütiger Volksstamm und in mancher Gemeinde ist es Sitte geworden, Neuangekommenen eine recht wesentliche Hilfe zu leisten. Allerdings müßte der Mensch, der durch das Schicksal in diese Gegenden verschlagen wird, ohne diese Hilfe entweder vor Hunger und Kälte sterben oder von Raub leben. Auch wird diese Hilfe häufig denjenigen geboten, die weiterwandern wollen, um sie weiterzuschaffen, und selten kommen solche zurück; aber auch solchen Menschen wird Unterstützung geboten, die sich ernstlich um eine Lebensstellung daselbst bemühen wollen.

Wassili bekam von der Gemeinde eine Hütte, einen Ochsen und im ersten Jahre sechs Pfund Roggen zur Saat. Die Ernte fiel gut aus; außerdem hatte er unter vorteilhaften Bedingungen übernommen, den Jakuten das Heu zu mähen, handelte mit Tabak, und nach zwei Jahren hatte er eine recht ansehnliche Wirtschaft. Die Jakuten behandelten ihn mit Achtung und nannten ihn, wenn er dabei war, stets Wassili Iwanowitsch, und nur in seiner Abwesenheit Wassjka. Die Priester kehrten auf dem Wege zum Vollziehen ihrer Amtshandlungen gern bei ihm ein und setzten ihn an ihren Tisch, wenn er zu ihnen kam. Auch zu uns hielt er sich, der Intelligenz, die das Schicksal in diese fernen Gegenden verschlagen hatte. Warum hätte er also seines Lebens nicht froh, warum nicht zufrieden sein sollen? Hätte er nur noch heiraten dürfen! Jedoch wäre hierbei noch die Schwierigkeit zu überwinden, daß Landstreicher dem Gesetze nach nicht getraut werden, doch hier, in dieser entlegenen Ecke, läßt sich für Geld und gute Worte auch das in Ordnung bringen.

Nichtsdestoweniger gewahrte ich an diesem energievollen Antlitze des jungen Landstreichers eine gewisse Seltsamkeit. Jetzt gefiel mir dieses Gesicht schon weniger als im Anfange, doch blieb es noch immer angenehm. Die dunkeln Augen blickten zuweilen nachdenklich und verständnisvoll, alle Züge drückten Energie aus, sein Benehmen war offen und aus dem Tone seiner Stimme hörte man das befriedigte Selbstbewußtsein einer stolzen Natur heraus.

Nur von Zeit zu Zeit zuckte der untere Theil des Gesichts und seine Augen wurden trübe. Augenscheinlich war es Bagilai nicht leicht, diesen gleichmäßigen Ton einzuhalten, den ein Etwas durchbrechen zu wollen schien – etwas Bitteres, Trauriges, Sehnsuchtsvolles, das nur durch einen starken Willen unterdrückt wurde.

Anfangs konnte ich mir nicht erklären, worin dieses Etwas bestand, jetzt weiß ich es: der gewohnte Landstreicher betrog sich selbst, indem er sich zu überreden versuchte, er wäre zufrieden mit seiner ruhigen, sorgenlosen Existenz, seinem Häuschen, seiner Kuh, seinem Ochsen und seinem Pferde im Stall und der ihm entgegengebrachten Achtung. In der Tiefe seiner Seele war er sich bewußt – und dieses Bewußtsein suchte er zu unterdrücken – daß dieses graue Leben, dieses Leben in der Fremde, ihn nicht befriedigte. Aus der Tiefe seiner Seele erhob sich schon damals die Sehnsucht nach dem Walde; aus der Alltäglichkeit seines einförmigen Lebens rief es ihn in die lockende, trügerische Ferne. So erklärte ich mir diesen Zug später; damals sah ich nur, daß, ungeachtet der äußeren Ruhe, ein Etwas am Herzen des Landstreichers nage und herauswolle aus dem Innern.

Während ich mit dem Zubereiten des Thees beschäftigt war, saß Wassili am Ofen und schaute nachdenklich ins Feuer. Ich rief ihn an, als alles fertig war.

»Danke Herr« – sagte er, sich erhebend – »Danke für das freundliche Wort. Ach Herr,« fuhr er leidenschaftlich erregt fort – »glaubst du es mir oder nicht: als ich Feuer in deiner Hütte erblickte, klopfte mir das Herz im Busen. Ich wußte es ja, daß hier ein Russe wohne. Ich ritt so durch Wald und Feld – Nebel, Finsternis überall, Frost. Zuweilen ritt ich an Zelten vorbei, wo der Rauch aus dem Schornstein stieg und mein Pferd wandte sich stets dahin; mich aber zog mein Herz fort. Was sollte ich da? Erwärmt hätte ich mich allerdings, auch Branntwein hätte ich da gefunden. Doch das wollte ich nicht! Als ich aber dein Feuer sah, beschloß ich zu dir einzukehren, wenn du mich nur aufnehmen würdest. Danke dafür, Herr! Solltest du zu uns in unsere Gemeinde einmal kommen, dann vergiß mich nicht und nimm dann vorlieb, es kommt aus vollem Herzen.«

3.

Als er seinen Thee getrunken hatte, setzte er sich wieder zum Feuer; noch konnte er sich nicht schlafen legen, er mußte erst abwarten, bis sein Pferd sich abgekühlt haben würde, um ihm dann Heu vorzulegen. Das jakutische Pferd ist nicht besonders kräftig, dafür aber ungemein anspruchslos; der Jakute führt auf ihm Butter und andere Vorräte zu den Gruben oder in den Wald zu den Tungusen, zum entfernten Utschur; Hunderte von Werst fährt er durch Gegenden, wo an Heu auch nicht zu denken ist.

Zur Nacht lagert er im dichten Walde, zündet einen Scheiterhaufen an und läßt das gekoppelte Pferd in den Wald traben; hier findet es sein Futter selbst: das alte Gras unter dem Schnee – und ist am Morgen wieder bereit zu ermüdender Fahrt. Doch hat es eine Eigentümlichkeit: man darf es nicht gleich nach dem Marsche füttern und ein sattes Pferd läßt man vor der Fahrt auch häufig erst einen ganzen Tag ohne Futter stehen.

Wassili mußte drei Stunden warten. Ich legte mich auch nicht hin, und so saßen wir beide, nur selten ein Wort miteinander wechselnd. Wassili – oder, wie er sich zu nennen liebte, »Bagilai« – legte ein Scheit nach dem anderen dem erlöschenden Feuer zu. Das war eine Gewohnheit, zu der man im Laufe langer jakutischer Winterabende kommt.

»Weit!« – sagte er plötzlich nach längerem Stillschweigen, als beantworte er sich selbst einen Gedanken.

»Was?« fragte ich.

»Weit entfernt liegt unser Land – Rußland. Hier ist alles anders – selbst das Pferd: dort, bei uns zu Hause, ist für das Pferd das erste Bedürfnis nach einem Ritt – Futter; füttert man aber dieses hier, so krepiert es. Ebenso die Menschen hier: im Walde leben sie, essen Pferdefleisch, essen es roh – selbst Aas essen sie – Gott verzeihe es ihnen! Pfui! Gar kein Schamgefühl haben sie. Zieht man bei ihnen in der Jurte seinen Tabaksbeutel nur hervor, gleich strecken sie die Hände darnach: Gieb nur!«

»Nun, das ist so Sitte bei ihnen,« sagte ich. »Sie selbst geben ja auch. So haben sie Ihnen ja auch geholfen, eine eigene Wirtschaft anzulegen.«

»Ja, das wohl ...«

»Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden?« fragte ich, ihn aufmerksam anblickend.

Er lächelte.

»Ja,« sagte er und schwieg, ein Holzscheit in den Ofen legend. Die Flamme beleuchtete sein Gesicht, seine Augen blickten trübe.

»Ach, Herr, wenn ich Ihnen erzählen würde! – Nichts Gutes habe ich in meinem Leben gesehen und sehe es auch jetzt nicht. Nur vielleicht noch bis zu meinem achtzehnten Jahre gab es Besseres für mich. Glücklich lebte ich, solange ich meinen Eltern gehorchte; als ich es nicht mehr that, war es auch mit meinem glücklichen Leben zu Ende. Seitdem rechne ich mich zu den Toten.«

Und bei diesen Worten zogen Schatten über sein Antlitz und seine Unterlippe zuckte wie bei einem Kinde – gleichsam als wäre er wieder ein Kind, das »seinen Eltern gehorcht«, nur daß dieses Kind bereit war, Thränen zu vergießen, zu weinen über sein verfehltes, verlorenes Leben.

Er merkte, daß ich ihn anschaute, faßte sich und schüttelte sein Haupt.

»Was soll's! ... Wollen Sie nicht lieber hören, wie ich von Sachalin flüchtete?«

Ich war bereit und lauschte den Geschichten des Landstreichers bis zum frühen Morgen.

 

In einer Sommernacht des Jahres 187. schwamm das Dampfboot »Nishni-Nowgorod« auf den Fluten der japanesischen Gewässer, in der Luft eine dunkle Rauchwolke hinter sich zurücklassend. Links trat schon das bergige Ufer vor in einem schmalen, bläulichen Strich am Horizonte, rechts gingen die Wellen der Meerenge La perouse fort in unübersehbare Weite. Das Dampfboot hielt seinen Kurs auf Sachalin, dessen felsige Ufer indessen noch nicht sichtbar waren.

Auf Deck war alles still. Vorn am Bug nur standen, vom Monde hell beleuchtet, die Gestalten der Lootsen und dejourierenden Offiziere. Durch die Luken schimmerte ein schwaches Licht und spiegelte sich auf der Oberfläche des ruhigen Oceans wieder.

Der »Nishni-Nowgorod« sollte Arrestanten an ihren Bestimmungsort Sachalin bringen. Die Gesetze der Marine sind im allgemeinen schon streng, auf einem Schiffe mit solcher Belastung sind sie aber noch strenger. Am Tage durften sich die Arrestanten abwechselnd auf dem Decke ergehen, von einer militärischen Kette umgeben. Die übrige Zeit verbrachten sie in ihren Kajüten unter Deck.

Ein großes Gemach war es, mit niedrig herabhängender Decke. Am Tage trat in diesen Raum das Licht durch die kleinen Luken hinein, die sich auf dem dunklen Fonds hervorthaten wie zwei Reihen glänzender Knöpfe, welche, immer kleiner und kleiner werdend, sich an den abgerundeten Seiten des Dampfschiffkörpers ganz verloren. Mitten hindurch führte ein Korridor, der durch eiserne Gitter und Pfähle von den Zellen der Arrestanten getrennt war. Hier standen, gestützt auf ihre Flinten, die Wachen. Abends brannten hier schwach flimmernde Laternen.

Das ganze Leben dieser Passagiere spielt sich unverhüllt im Angesichte der Wachen hinter jenem Gitter ab. Mag über dem Meere die tropische Sonne ihre heißen Strahlen versenden, oder mag der Wind heulen, mögen die Masten sich ächzend biegen und die Wellen sich mächtig an den Schiffsbalken brechen – hier lauschen dem Heulen und Wüten des Unwetters hunderte immer zusammen eingepferchter Menschen, die kein Interesse mehr daran haben, was oben über ihren Häuptern und jenseits dieser Wände vorgeht, denen es gleich bleibt, wohin sie dieser schwimmende Kerker führt.

Es sind viel mehr Arrestanten auf dem Schiffe als bewachende Soldaten; dafür ist aber einem jeden Schritt, einer jeden Bewegung dieser Gruppe Menschen mit starker Hand ein bestimmtes Maß angewiesen und das Schiff sichergestellt gegen jede etwa ausbrechende Meuterei.

Übrigens ist alles, selbst das Unwahrscheinlichste, ins Auge gefaßt: selbst wenn sich hier dieses wütendste, verzweifelnde Tier erheben und der größten Gefahr ins Auge sehen wollte, wenn die Schüsse durch das Gitter ihre Wirkung verfehlen sollten und dieses Tier sein eisernes Gitter zerbrechen wollte, auch dann noch bliebe dem Kommandeur ein gewaltiges Mittel. Er brauchte nur in den Maschinenraum die wenigen Worte zu rufen: »das Ventil ist zu öffnen!«

»Zu Befehl!« – und gleich nach diesen Worten würden sich in die Zellen der Arrestanten aus dem Maschinenraum Ströme heißen Dampfes ergießen, wie in eine Spalte mit Ungeziefer. Dieses eigenartige Mittel verhütet am sichersten jede Auflehnung dieses Häufchens Menschen dort unten im Raume.

Nichtsdestoweniger lebte auch unter dem Druck eines so strengen Regiments dies graue Völkchen hinter dem eisernen Gitter ein gewöhnliches, menschliches Leben. In derselben Nacht, wo das Dampfschiff keuchend durch die Wellen fuhr, hinter sich einen Funkenregen in der Dunkelheit zurücklassend, als die wachthabenden Soldaten, auf ihre Gewehre gestützt, im Korridor schlummerten und die Laternen schwach den Durchgang zwischen den Zellen und die Lagerstätten der Arrestanten erleuchteten – in dieser selben Nacht vollzog sich dort hinter jenem Gitter lautlos ein Drama. Die gefesselte Gemeinschaft bestrafte ihre Abtrünnigen.

Am andern Morgen erhoben sich beim Aufruf drei Arrestanten nicht mehr von ihrem Lager. Sie blieben liegen trotz des drohenden Zurufes ihrer Vorgesetzten. Als man hinter das Gitter trat und die Mäntel aufhob, mit denen sie bedeckt waren, sahen die Vorgesetzten, daß diese Drei auf ihren Aufruf nie antworten würden.

In der Arrestantengemeinschaft werden alle wichtigeren Geschehnisse von einem einflußreichen Centrum aus vollzogen. Für die Masse, jenen Haufen, der eine Individualität vorzustellen aufgehört hat, sind diese nächtlichen Ereignisse häufig etwas Unerwartetes, Unverhofftes. Erschreckt durch diese nächtliche Tragödie, herrschte im Raume ein düsteres Schweigen; nur das Plätschern der Meereswellen und das Keuchen der Maschine hallte durch den Schiffsraum wieder.

Doch bald begannen unter den Arrestanten Gespräche und Mutmaßungen über die Folgen dieses »Ereignisses«. Die Obrigkeit wollte offenbar nicht den Tod einem Zufall oder einer schnell verlaufenden tödlichen Krankheit zuschreiben. Die Anzeichen dafür, daß Gewalt angewandt worden war, lagen auf der Hand, und man stellte ein Verhör an. Die Antworten der Arrestanten waren übereinstimmend. Zu einer andern Zeit wäre es der Obrigkeit vielleicht auch gelungen, den einen oder anderen durch Drohungen oder Versprechungen von Erleichterungen zum Anzeigen seiner Kameraden zu bringen, doch jetzt war eines jeden Zunge gebunden – nicht nur durch das Gefühl der Kollegialität. Denn wie furchtbar die Obrigkeit auch war, wie schrecklich sie auch drohte, die »Gemeinschaft« war noch schrecklicher; in dieser Nacht, dort, auf jenen Brettern, im Angesichte der Wachthabenden hatte sie ihre Macht gezeigt. Zweifellos hatte mancher nicht geschlafen; manches Ohr mag das kurze Stöhnen oder den leisen Kampf unter der Bettdecke gehört haben, jenes Röcheln und Atmen, das so verschieden von dem Atmen ruhig Schlafender ist. – Niemand aber zeigte die Vollstrecker des schrecklichen Urteils an. Der Obrigkeit blieb nichts anderes übrig, als diejenigen Genossen zur Rechenschaft zu ziehen, die offiziell verantwortlich waren – den Ältesten und seinen Gehilfen. Noch am selben Tage waren sie in Fesseln geschlagen.

4.

Der Gehilfe des Ältesten war der Erzähler, Wassili, gewesen, der damals einen anderen Namen führte.

Noch zwei Tage vergingen, und die ganze Angelegenheit war von den Arrestanten überdacht worden. Auf den ersten Blick schienen die Spuren verwischt, die Schuldigen nicht auffindbar zu sein und den legitimen Repräsentanten der »Gemeinschaft« schien nur eine leichte Disciplinarstrafe zu drohen. Auf alle Fragen hatten die Sträflinge nur die eine Antwort: »wir schliefen.«

Bei näherem Betrachten hatte die Sache indessen doch Zweifel wachgerufen, die sich auf Wassili bezogen. In solchen Sachen handelt die Gemeinschaft allerdings immer so, daß die Unschuld der Ältesten vollkommen auf der Hand liegt, und auch diesmal konnte Wassili leicht beweisen, daß er in diesem Falle völlig unbeteiligt gewesen. Indes schüttelten die alten Arrestanten, die durch Feuer und Wasser schon gegangen waren, beim Besprechen dieser Angelegenheit die Köpfe.

»Höre mal,« sagte, zu Wassili tretend, ein alter, ergrauter Landstreicher, »wenn wir nach Sachalin kommen, bereite dich zur Flucht vor. Deine Sache steht schlimm.«

»Wie so?«

»Ja, so. Bist du das erste oder das zweite Mal unter Gericht?«

»Das zweite Mal.«

»Nun also. Weißt du noch, gegen wen der verstorbene Fedjka ausgesagt hat? Gegen dich. Seinetwegen gingst du ja einige Wochen in Handfesseln? Nicht wahr?«

»Ja.«

»Nun, und was hast du ihm damals gesagt? Die Soldaten haben's doch gehört. Wie denkst du darüber – war das nicht eine Drohung?«

Wassili und die anderen sahen ein, daß Grund zu solcher Betrachtung vorhanden war.

»Nun also überlege und sei auf den Tod durch Erschießen gefaßt.«

Unter den Leuten erhob sich ein Murren.

»Schweig' still, Buran!« rief man ihm unwillig zu.

»Unnützes Geplapper!«

»Altersschwäche ... 'ne Kleinigkeit! Erschießen! Der Alte ist verrückt geworden.«

»Ich bin nicht verrückt,« sagte der Alte ärgerlich und spie aus. »Nichts versteht ihr, dummes Volk! Ihr urteilt, wie es in Rußland, ich, wie es hier der Brauch ist. Ich kenne die hiesigen Sitten und sage dir, Wassili: bringt man deine Sache vor den Gouverneur des Amurgebietes, so mache dich auf das Erschießen gefaßt. Vielleicht aus Gnade wirst du zum »Bock«Ein »Bock« wird eine Bank genannt, auf die der Arrestant gebunden und dann gepeitscht wird. verurteilt – das ist noch schlimmer: da wirst du nicht aufstehen. Sieh es doch ein, mein Lieber, wir sind zu Schiff, wo das Gesetz doppelt so streng ist, wie zu Lande. – Übrigens« – fügte er hinzu – »mir kann's ja gleich sein, meinetwegen könnt ihr alle zum Teufel gehen« ...

Die erloschenen Augen des Alten, der ermattet war durch ein freudloses Leben und ein schweres Schicksal, blickten nur trübe und mit mürrischer Gleichgültigkeit. Er setzte sich beiseite.

Unter den Arrestanten begegnet man nicht selten Kennern des Rechts, und wenn solche nach aufmerksamem Überlegen einer Sache den wahrscheinlichen Urteilsspruch voraussagen, so trifft dieser gewöhnlich auch ein. Im vorliegenden Falle waren sie alle mit der Meinung Burans einverstanden und daher wurde beschlossen, Wassili zur Flucht zu verhelfen.

Da er durch die »Gemeinschaft« in eine Gefahr gekommen war, sah sich diese verpflichtet, ihm bei der Flucht Beistand zu leisten. Ein Vorrat von Zwieback, der durch allmähliches Absparen von der Ration seitens der Genossen zusammengebracht war, wurde ihm überlassen und Wassili begann Leute anzuwerben, die an der Flucht sich beteiligten.

Der alte Buran war schon zweimal von Sachalin geflohen und daher fiel die Wahl sofort auf ihn. Der Alte war bald dazu bereit.

»Mir hat das Schicksal wohl bestimmt« – sagte er – »im Walde zu sterben. Und so wird's wohl auch besser sein. Nur Eines: ich bin nicht mehr so stark wie früher –«

Der alte Landstreicher wurde ernster.

»Nun, wirb nur immer an. Zu zweien oder dreien hat es keinen Zweck zu fliehen. Die Flucht ist schwer. Kannst du etwa zehn Mann anwerben, so ist's gut. Ich werde schon mitgehen, so lange mich meine Füße tragen. Nur sterben möchte ich wo anders, als an diesem Orte.«

Buran wurde noch ernster und über die gefurchten Wangen des Alten flossen Thränen.

»Schwach geworden ist der Alte –« dachte Wassili und warb Genossen an.

Um das Vorgebirge biegend, näherte sich das Dampfschiff dem Hafen. Die Arrestanten standen in Gruppen an den Luken und blickten erregt und neugierig auf die bergigen, hohen Ufer der Insel, die immer deutlicher trotz der zunehmenden Dunkelheit des anbrechenden Abends hervortraten.

Nachts lief das Schiff in den Hafen ein. Die Ufer der Inseln bildeten schwarze, düstere, mächtige Felsen. Der Dampfer hielt, die Wache ordnete sich, man begann die Arrestanten ans Land zu transportieren.

Hie und da sah man am Ufer aus der herrschenden Dunkelheit schwache Flämmchen leuchten; das Meer schlug an den Sand, der Himmel hing schwer voller Wolken und die Seelen aller waren umfangen von tiefen, schwer auf ihnen lastenden Gedanken.

»Dieser Hafen,« sagte leise Buran, »heißt Dué. Hier werden wir für die erste Zeit in Kasernen wohnen.«

Nach einem Aufruf in Gegenwart der örtlichen Obrigkeit führte man eine Partie ans Ufer. Nach Monate langem Aufenthalt auf dem Schiff traten die Arrestanten zum erstenmal wieder auf festen Boden. Das Schiff, auf dem sie so lange Zeit zugebracht hatten, schaukelte leicht auf den Wellen und warf weiße Rauchwolken aus, die grell hervortraten aus der angebrochenen Dunkelheit.

Vorn flammten Lichter auf; man hörte Stimmen.

»Ein Arrestantentransport?«

»Ja.«

»Hierher, in die siebente Kaserne!«

Die Arrestanten näherten sich dem Feuer. Man ging nicht in Reih' und Glied, sondern schob sich in Unordnung vorwärts und alle waren darüber erstaunt, daß von den Seiten sie niemand mit dem Flintenkolben zurechtwies.

»Brüder« – sprachen manche erstaunt – »wir scheinen keine Wache bei uns zu haben?«

»Sei still!« – sagte mürrisch darauf Buran. »Wozu brauchst du hier eine Wache? Auch ohne Wache wirst du hier nicht weglaufen. Die Insel ist groß und wild. Überall kann man hier Hungers sterben. Rund um die Insel ist Meer – hörst du es nicht?«

Und wirklich! es hatte sich ein Wind erhoben, die Laternen flimmerten in ungleichem Lichte und das hohle Brausen des Meeres war vom Ufer aus hörbar, wie das Brüllen eines erwachenden Tieres.

»Hörst du es heulen?« wandte sich Buran zu Wassili. »Das ist Unglück und Elend – von Wasser von allen Seiten umgebenEin russisches Sprichwort. ... Über das Meer muß man unbedingt hinüber, doch bis zur Fähre muß man auf der Insel noch einen weiten Weg zurücklegen – an Wiesen und Wald und Kordons vorbei! ... Mir liegt es schwer auf dem Herzen; Unheil kündend ist die Sprache des Meeres. Nicht entgehen werde ich Sachalin ... Ich bin alt. Zweimal bin ich geflohen: einmal wurde ich in Blagoweschtschenski, das zweite Mal in Rußland gefangen – und wieder bin ich hier; das Schicksal hat's wohl so bestimmt, daß ich hier sterbe.«

»Vielleicht auch nicht,« ermutigte ihn Wassili.

»Du bist noch jung – ich bin schon alt und schwach. Höre nur, wie schrecklich und wie wehmütig das Meer braust!«

5.

Aus der siebenten Kaserne führte man die sie bis jetzt bewohnenden Arrestanten heraus und die Neuangekommenen hinein, für den Anfang am Ausgange eine Wache hinstellend. Gewöhnt an Bewachung und feste Fesseln, würden sie sich sonst sofort über die Insel zerstreut haben, wie Lämmer, die aus dem Stalle gelassen sind.

Diejenigen, welche schon länger auf der Insel gelebt hatten, schloß man nicht ein; nach einer näheren Prüfung der obwaltenden Verhältnisse mußten alle dort weilenden Sträflinge zur Überzeugung gelangen, daß eine Flucht von der Insel ein gewagtes Unternehmen, ja fast der sichere Tod sei, und daher nahmen an solchem Unternehmen nur ganz besonders entschlossene Naturen, und auch dann erst nach längerer Überlegung, teil. Und solche einzuschließen ist unnütz: sie entlaufen doch, wenn nicht aus der Kaserne, so von der Arbeit.

»Nun, Buran, jetzt rate« – wandte sich Wassili drei Tage nach ihrer Ankunft auf der Insel an denselben. »Du bist ja bei uns der Älteste, du mußt also vorangehen und die erforderlichen Befehle erteilen. Für einen Vorrat wird man doch wohl auch Sorge tragen müssen.«

»Was soll ich raten,« sagte matt Buran. »Schwer ist's; mein Alter ist nicht mehr danach. Sieh also selbst zu. Nach etwa drei Tagen wird man uns partienweise auf die Arbeit schicken, und auch so steht es uns ja frei, die Kaserne zu verlassen. Doch mit einem Sack wird man dich nicht hinauslassen. Da denk nun darüber nach, wie man es anfangen soll.«

»Denk du nach, überlege du, Buran; du mußt es ja besser wissen!«

Doch Buran ging umher teilnahmlos, mürrisch. Mit niemandem sprach er und murmelte nur etwas vor sich hin. Mit jedem Tage schien der alte Landstreicher, der sich zum drittenmale an diesem Orte sah, schwächer zu werden.

Indessen hatte Wassili noch zehn Burschen zur Flucht angeworben, von denen einer strammer als der andere war, und drang nun ein auf Buran, suchte ihn zu beleben und ihn für das Gelingen der bisher teilnahmlos von ihm besprochenen Flucht zu erwärmen. Bisweilen gelang es ihm; doch auch dann endigte der Alte immer damit, daß er die Schwierigkeit der Flucht und die schlimmen Vorbedeutungen hervorhob.

»Nicht entgehen werde ich dieser Insel!« – das waren stets die Worte, mit denen der alte Landstreicher seine Hoffnungslosigkeit ausdrückte. In lichteren Momenten konnte er sich doch noch begeistern durch die Erinnerungen an seine früheren Fluchten und dann erzählte er, auf seinem Lager liegend, Wassili des Abends gewöhnlich über die Lage und die Wege der Insel, die die Flüchtlinge würden einschlagen müssen.

Der Hafen Dué liegt auf der westlichen Seite der Insel, dem asiatischen Ufer zugewandt. Der Meerbusen ist hier dreihundert Werst breit; ihn in einem kleinen Boote zu durchschiffen ist unmöglich, und daher wenden sich etwaige Flüchtlinge gewöhnlich nach einer andern Seite. Die Flucht selbst ist auf der Insel nicht erschwert. »Man kann gehen, wohin man will,« sagte Buran, »wenn man sterben will: die Insel ist groß, besteht aus Feld und Wald. Selbst der Eingeborene kann nicht überall seinen Wohnsitz nehmen. Geht man rechts, so verirrt man sich in dem Gestein und wird von den hungrigen Tieren des Waldes überfallen oder kehrt aus freien Stücken zurück. Geht man südwärts, so kommt man ans Ende der Insel, wo das Meer ist. Zu Schiffe könnte man dort wohl hinüber. Nur ein Weg bleibt uns – der nach Norden, immer am Ufer entlang; das Meer wird uns Wegweiser sein. Dreihundert Werst etwa müssen wir zurücklegen und dann werden wir zu einem Meerbusen gelangen, der schmäler ist, da müssen wir hinüber, zu Boot.«

»Doch muß ich dir sagen« – fügte Buran seinen gewöhnlichen Schluß hinzu – »auch hier ist's schwer, da wir an Kordons vorbei müssen, in denen Soldaten liegen. Der erste Kordon heißt Warki, der vorletzte Pangi, der letzte Pógiba – wohl deshalb so benannt, weil er unseren Leuten am ehesten Verderben bringt. Und schlau haben sie ihre Kordons gebaut. Dort, wo ein Weg schroff um die Ecke biegt, liegen sie – man kann gehen und, ohne es zu ahnen, ihnen in die Arme laufen. Gott behüte uns davor!«

»Zweimal bist du ja aber schon gegangen und wirst jetzt doch wohl schon wissen, wo sie sich befinden!«

»Ja, wohl bin ich gegangen!« – und in seinen erloschenen Augen glühte es auf. »Hört also, was ich euch sagen werde, und thut darnach. Bald wird man zum Mühlenbau Leute aufrufen, meldet euch alle. Dann wird man Provision zusammen aufladen; ladet auch eure Zwiebackvorräte auf. In der Mühle ist Petruscha, auch einer von unsern jungen Leuten. Von dort wollen wir unseren Weg nehmen. Drei Tage lang wird man uns nicht vermissen – so ist hier einmal die Ordnung, daß man sich drei Tage beim Aufruf nicht zu melden braucht – das thut nichts! Der Doktor befreit von jeder Strafe, das Krankenhaus ist hier schlecht. Wird jemand durch Überanstrengung krank und kann sich nicht rühren, so legt er sich im Gebüsch dort im Walde nieder und erholt sich in freier Luft. Kommt man aber am vierten Tage auch nicht, dann sieht man ihn als Flüchtling an. Und kommt man später noch zurück, so kann man sich geraden Weges zum »Bock« wenden!«

»Wozu zum »Bock«, wir wollen mit Gottes Hilfe freiwillig nicht mehr zurückkehren!« sagte Wassili.

»Und kehrst du nicht zurück,« sagte Buran mürrisch, und seine Augen verloren wieder ihren Glanz, »so werden dich die wilden Tiere im Walde zerfleischen oder die Soldaten aus den Kordons niederschießen. Die machen nicht viel Federlesens mit Unsresgleichen; sie schicken uns nicht Hunderte von Werst zurück ... Dort, wo sie uns treffen, schießen sie uns auf dem Fleck nieder, und das Lied ist zu Ende!«

»Krächze nicht, Unglücksrabe! Morgen gehen wir. Sage du nur Bobrow, was wir brauchen. ›Die Gemeinschaft‹ wird es uns besorgen.

Der Alte brummte vor sich hin und ging mit gesenktem Kopf von dannen, während Wassili den Genossen mitteilte, sie sollten sich bereit halten. Das Amt des Gehilfen des Ältesten hatte er schon früher niedergelegt, und an seine Stelle war ein anderer gewählt und eingesetzt worden.

Die Flüchtlinge legten ihr Gepäck zusammen, tauschten sich eine bessere Kleidung und Beschuhung ein, und meldeten sich wirklich alle, als man Arbeiter zum Mühlenbau aufrief. Am nämlichen Tage gingen sie von der Mühle aus in den Wald. Nur Buran fehlte.

Die Genossen waren gut gewählt. Mit Wassili gingen sein Freund, ein Landstreicher, der den Namen Wolodjka führte; Makarow, ein Riese an Wuchs, kühn und gewandt, der aus den Bergwerken schon zweimal geflüchtet war, zwei Tscherkessen, entschlossen und treu zu ihren Genossen haltend; ein Tatare, der schlau und verräterisch zwar, aber im höchsten Grade verschlagen und daher von Nutzen war. Die übrigen waren auch Landstreicher, die ganz Sibirien schon durchstreift hatten.

Den ganzen Tag hatten sie im Walde zugebracht, nächtigten und warteten den nächsten Tag – Buran kam noch immer nicht. Man schickte den Tataren in die Kaserne. Vorsichtig schlich er sich hinein und ließ den alten Arrestanten Bobrow herausrufen, einen Freund Wassilis, der unter den Arrestanten Achtung und Einfluß genoß. Am nächsten Morgen kam Bobrow zu den Leuten in den Wald. »Nun, Freunde, womit kann ich euch nützen?«

»Schicke unbedingt Buran zu uns! Ohne ihn können wir nicht gehen. Und wenn er noch etwas an Vorräten verlangen sollte, so gebts ihm nur. Wir warten nur noch auf ihn.«

Bobrow kehrte zurück und sah, daß Buran noch gar keine Anstalten getroffen hatte. Er ging umher und brummte vor sich hin. »Was zögerst du denn, Buran?« rief ihn Bobrow an.

»Was?«

»Wie, was? weshalb bist du nicht bereit?«

»In die Grube zu steigen bin ich bereit!«

Bobrow wurde ärgerlich.

»Ja, was ist denn das! Den vierten Tag sitzen die Leute schon im Walde und warten nur auf dich. Deinetwegen werden sie jetzt wohl die Knute kosten müssen. Und du bist doch ein alter Landstreicher?!«

Der Alte weinte.

»Ja, meine Zeit ist um ... Nicht entgehen kann ich dieser Insel. Alt bin ich, zu alt fürs Leben! ...«

»Ob du zu alt bist oder nicht, das ist deine Sache. Wirst du nicht das Ende der Flucht erreichen, auf dem Wege sterben – kein Vorwurf kann dir dann gemacht werden; wenn du aber elf Leute fast unter die Knute gebracht hast, so mußt du gehen. Ich brauche ja nur der ›Gemeinschaft‹ davon mitzuteilen, so weißt du ja, was dir bevorsteht.«

»Ich weiß,« sagte ernst Buran, »und ich verdiene es. So möchte ich nicht sterben. Ich muß also wohl gehen, doch habe ich nichts vorbereitet.«

»Du sollst alles bekommen, und zwar sofort. Was brauchst du?«

»Erstens bring mir zwölf neue gute Kittel.«

»Die Leute haben ja welche?«

»Höre, was ich dir sage,« wiederholte eindringlich Buran. »Ich weiß, daß jeder von ihnen einen Kittel hat; jeder braucht aber zwei. Den Eingeborenen wird jeder für das Boot je einen Kittel geben müssen. Dann brauche ich zwölf gute Messer, zwei Beile und drei Kessel.«

Bobrow berief die Gemeinschaft und teilte mit, um was es sich handelte.

Wer überflüssige Kittel hatte, gab sie den Flüchtlingen hin. In jedem Arrestanten lebt das instinktive Gefühl der Sympathie für den kühnen Versuch, sich herauszureißen aus den dumpfen Kerkerwänden fort in die Freiheit. Kessel und Messer erhielt man teils umsonst, teils gegen geringe Bezahlung bei Ansiedlern.

6.

Seit der Ankunft auf der Insel waren dreizehn Tage vergangen.

Am nächsten Morgen führte Bobrow Buran in den Wald und brachte die erforderlichen Vorräte mit sich. – Die Flüchtlinge hielten ein Gebet ab, nahmen dann von Bobrow Abschied und traten ihre Flucht an.

 

»Nun, ward euch auch recht froh zu Mute, als ihr euren Weg angetreten hattet?« fragte ich, als ich sah, wie die Züge des Erzählers sich bei dieser Stelle seiner Schilderungen belebten und seine kräftige Stimme sich hob.

»Wie sollte dem nicht so sein! Sobald wir erst aus dem niedrigen Gehölz in den dichten Wald traten und sein Rauschen hörten – glauben Sie es, Herr, wie neugeboren fühlten wir uns. So froh wurden wir alle; nur Buran ging mit gesenktem Kopf vor uns her, Unverständliches vor sich hinmurmelnd. Nicht mit frohem Mute hatte er sich auf den Marsch gemacht. Sein Herz wird geahnt haben, daß er nicht weit würde zu gehen brauchen.

Gleich anfangs sahen wir, daß unser Führer nicht in allen Stücken den Anforderungen entsprach, die man an einen solchen zu stellen pflegt. Zwar war er ein gewohnter Landstreicher und war schon zweimal von dieser Insel aus geflüchtet, kannte offenbar auch den Weg, doch regten sich in mir und meinem Freunde Wolodjka bald Zweifel an der Tüchtigkeit unseres Führers.

»Sieh nur zu,« sagte mir Wolodjka, »daß uns mit Buran nur nicht ein Unglück passiere: es scheint mir nicht ganz richtig mit ihm zu sein.«

»Wieso?« fragte ich.

»Er scheint nicht ganz bei Sinnen zu sein, spricht mit sich selbst allerlei Zeug, schüttelt und winkt mit dem Kopfe, Befehle erteilt er auch nicht. Schon längst hätten wir eine Erholungspause machen sollen, er geht aber immer fort. Nicht richtig scheint es mir um ihn zu stehen.«

Auch mir schien es so. Wir traten zu Buran und riefen ihn an: »Väterchen, was bist du so in Eifer geraten? Sollten wir nicht Halt machen und ein wenig rasten?« Er kehrte sich um, blickte uns eine Weile an und ging dann weiter.

»Wartet,« sagte er, »was eilt ihr so mit dem Ausruhen? In Warki oder Pogiba wird man euch schon mit Kugeln niederlegen. Dann könnt ihr ruhen.«

Daß ihn ... ! Doch wir wollten nicht mit ihm streiten; dann sahen wir aber auch, daß wir Unrecht hatten: am ersten Tage mußten wir weiter eilen und durften nicht rasten.

Wir waren noch eine Strecke weiter gegangen, als Wolodjka mich wieder anstieß.

»Höre, Wassili, es ist doch nicht richtig.«

»Wieso?«

»Bis Warki, sagte man, seien zwanzig Werst. Nun, achtzehn haben wir sicher zurückgelegt. Daß wir nicht dem Kordon in die Hände laufen!«

»Buran, he Buran!« riefen wir.

»Was braucht ihr?«

»Bis Warki wird es wohl nicht mehr weit sein?«

»Nein, noch ist es weit,« antwortete er und schritt weiter.

Hier wäre uns auf ein Haar ein Unglück zugestoßen, doch zum Glück bemerkten wir ein Boot am Ufer. So wie wir es erblickten, blieben wir alle stehen. Makarow hielt Buran mit Gewalt zurück. »Wenn ein Boot da ist, so müssen auch Menschen in der Nähe sein, dachten wir. Still, Brüder, hinweg, tiefer ins Dickicht hinein!«

Wir gingen in den Wald, nachdem wir bis dahin am Flußufer entlang marschiert waren; zu beiden Seiten des Flusses war dichtbelaubter Wald. – Im Frühling liegt über Sachalin ein dichter Nebel, der auch an jenem Tage alles wie mit einem Schleier verdeckte.

Als wir den Berg erklettert hatten und nahezu auf den Gipfel desselben angelangt waren, erhob sich im Thale ein Wind und jagte den Nebel zum Meere hin. Da sahen wir denn den ganzen Kordon wie auf der Handfläche vor uns liegen, die Soldaten auf dem Hofe umhergehen, die Hunde schnüffeln, die Wache schlafen ... Alle atmeten wir auf: es hatte wahrlich nicht viel gefehlt, so wären wir dem Wolfe in den Rachen gelaufen.

»Wie ist es denn, Buran? Das ist ja ein Kordon!«

»Ja,« sagte er, »das ist Warki.«

»Nun, lieber Buran, ärgere dich nicht, du bist zwar unter uns der Älteste, aber doch werden wir für uns selbst sorgen müssen. Mit dir kann man sonst, weiß der Himmel wohin gelangen.«

»Brüder,« sagte er, »ich bin alt, vergebt mir! Seit vierzig Jahren streiche ich umher; ich kann nicht mehr. Zuweilen verläßt mich mein Gedächtnis: so manches lebt mir noch recht gut im Gedächtnis fort, manches aber habe ich ganz und gar vergessen. Vergebt mir! Jetzt müssen wir von hier forteilen, sonst trifft uns hier jemand zufällig aus dem Kordon oder ein Hund von dort unten bekommt Witterung von uns und dann – behüt uns Gott!«

Wir gingen weiter. Auf dem Wege berieten wir uns und beschlossen, Buran im Auge zu behalten. Mich wählten die Leute zum Führer; ich sollte also die Haltepunkte angeben und die Befehle erteilen; Buran aber sollte vorangehen, da er den Weg ja doch noch kenne. Die Füße sind bei uns Landstreichern kräftig, der ganze Körper mag hinsterben, die Füße halten aus. Bis zu seinem Tode marschierte der alte Buran.

Wir stiegen meist auf Bergen umher; zwar war das Gehen schwieriger, dafür aber mit weniger Gefahr verbunden: aus den Bergen rauscht nur der Wald, die Bäche plätschern und tanzen über Steine. Die Ansiedler und Eingeborenen wohnen in den Thälern, am Ufer der Flüsse und am Meere, wo sie sich meist von Fischen nähren, deren eine große Menge am Meeresufer gefangen wird. Wir selbst haben sie mit den Händen gefangen, so viele giebt es ihrer.

So ging es immer vorwärts, immer dem Meeresufer entlang. Wo es weniger gefährlich schien, näherten wir uns dem Meere, an dessen Ufer wir dann vorwärts schritten; sobald wir aber an der Gefahrlosigkeit ein wenig zu zweifeln anfingen, eilten wir auf den Bergrücken hinauf. Die Kordons umgingen wir vorsichtig; sie lagen aber sehr verschieden, bald zwanzig, bald fünfzig Werst von einander entfernt. Erraten ließ es sich nicht. Nun, Gott hat uns beschützt: alle umgingen wir, bis auf den letzten ...«

Der Erzähler stockte. Nach einiger Zeit erhob er sich.

»Nun, was war denn weiter?« fragte ich.

»Ich muß nach dem Pferde sehen ... Es wird wohl schon soweit sein. Man könnte es jetzt wohl von der Koppel lassen.«

Wir traten beide auf den Hof hinaus. Der Frost hatte etwas nachgelassen, der Nebel war gefallen. Der Landstreicher sah zum Himmel auf.

»Die Sterne stehen hoch,« sagte er, »Mitternacht wird wohl schon vorüber sein.«

Jetzt konnte man die Zelte des benachbarten Fleckens deutlich unterscheiden, da der Nebel den Ausblick auf größere Entfernungen nicht mehr verhinderte. Alles schlief. Weiße Rauchwolken stiegen langsam in die Luft, und nur zuweilen warf ein Schornstein Funken empor, die sprühend in der Kälte erloschen. Die Jakuten heizen ihre Öfen die ganze Nacht hindurch, doch die Wärme hält nicht lange vor, und daher legt der erste, der unter der Einwirkung der anbrechenden Kälte in der Nacht erwacht, Holzscheite zum erlöschenden Feuer.

Kurze Zeit stand der Landstreicher schweigend da, auf den Flecken schauend. Dann seufzte er.

»Da ist auch der Flecken ... Schon längst habe ich einen solchen nicht gesehen. Die Jakuten wohnen ja nicht zusammen, sondern immer einzeln. Sollte ich nicht hierher herüberziehen? Hier würde ich mich vielleicht einleben können.«

»Nun, und dort bei Ihnen können Sie sich nicht einleben? Sie haben dort doch Ihre Wirtschaft. Und doch sagten Sie vorhin, Sie seien mit Ihrem Lose zufrieden?«

Er antwortete nicht gleich.

»Ich kann nicht! Hätte ich diese Gegend doch nie gesehen!«

Er trat zum Pferde, sah nach ihm und streichelte es. Das kluge Tier blickte auf ihn und wieherte.

»Gut, gut!« – sagte Wassili, es liebkosend – »warte, gleich löse ich dich von der Koppel. Paß nur auf, Pferdchen, und laß mich morgen nicht im Stich! Morgen will ich es mit den tartarischen Pferden um die Wette laufen lassen. Das Pferd ist gut; ich habe es zugeritten. Es nimmt es jetzt mit jedem Renner auf. Ein Wirbelwind!« Er nahm die Halfter ab und ließ das Pferd zum Heu laufen. Wir kehrten ins Zelt zurück.

7.

Das Gesicht Wassilis hatte den mürrischen Ausdruck beibehalten. Er schien seine Erzählung vergessen zu haben oder sie nicht fortsetzen zu wollen. Ich erinnerte ihn, daß ich auf das Ende warte.

»Was soll ich noch erzählen,« sagte er verdrossen. »Ich weiß wirklich nicht ... Schlimmes haben wir durchgemacht! ... Nun, begonnen habe ich, da muß ich denn auch endigen ...

So gingen wir zwölf Tage lang und waren noch immer nicht ans Ende der Insel gelangt, obgleich wir eigentlich schon am achten Tage auf die andere Seite hätten übergesetzt sein können. Und das alles nur deshalb, weil wir auf unserer Hut sein mußten und keinen ordentlichen Führer hatten. Statt am Ufer auf ebener Fläche zu gehen, kletterten wir über Berge und Felsen, durch Thäler und Schluchten und Moräste. Auch unser Vorrat begann schon zur Neige zu gehen, da wir uns nur für zwölf Tage versorgt hatten. Zunächst begannen wir die Rationen zu verkleinern; Zwieback gaben wir wenig, jeder mochte zur Befriedigung seines Hungers suchen, was er brauchte und wollte, denn Beeren gab es im Walde genug. So kamen wir denn zu einem Meerbusen – dort »Liman« genannt. Das Wasser in ihm ist gewöhnlich salzig, nur zuweilen, wenn eine Strömung vom Amur dahin treibt, kommt trinkbares mit. Hier mußten wir uns ein Boot besorgen, um zum Amur hinüberzuschiffen.

Wir begannen zu überlegen und zu beraten, wo wir ein Boot bekommen könnten. Wir fragten den Buran, wie wir das wohl anfangen sollten. Er aber war ganz zusammengefallen; seine Augen blickten matt, er selbst war müde und schwach geworden. Einen Rat konnte er uns nicht geben.

»Bei den Eingeborenen,« sagte er, »kann man Boote bekommen.«

Wo diese Eingeborenen aber wären und wie man von ihnen ein Boot bekommen sollte, das konnte er nicht sagen.

Da sagten wir, Wolodjka, Makarow und ich: »Ihr Leute, wartet 'mal hier, wir wollen am Ufer entlang gehen, vielleicht treffen wir jemand von den Eingeborenen und kommen endlich auf irgend eine Weise zu einem oder mehreren Booten. Seid aber vorsichtig, da sich hier ja doch ein Kordon in der Nähe befinden könnte.« Sie blieben zurück, und wir gingen ans Ufer und kamen an einen Felsen, von wo aus wir auch einen Mann erblickten, der Takelwerk reparierte. Gott sandte uns ihn, den »Orkun«.

»Was ist denn das ›Orkun‹? Ist das sein Name?«

»Wer kann es wissen? Es kann sein, daß er so hieß, aber mich dünkt es wahrscheinlicher, daß Orkun die Bezeichnung des Häuptlings bei ihnen ist. Wir wußten es nicht, näherten uns ihm aber langsam und vorsichtig, damit er nicht etwa erschrecke und davonlaufe; endlich traten wir rasch auf ihn zu und als er uns nun erblickte, begann er auf sich zu zeigen und »Orkun!« zu rufen. Wir verstanden ihn nicht, begannen aber ihm auseinanderzusetzen, was wir brauchten. Wolodjka nahm einen Stock in die Hand und zeichnete ein Boot im Sande auf; es sollte bedeuten, daß wir ein solches brauchten. Der Mensch überlegte und begriff sofort, nickte und machte uns mit den Fingern Zeichen: bald zeigte er uns zwei, bald fünf, bald alle zehn. Lange konnten wir nicht darauf kommen, was er damit wollte, endlich erriet Makarow: »Brüder,« sagte er, »er will ja wissen, wie viel unsrer sind, um danach ein Boot zu besorgen.«

»Richtig!« sagten wir und zeigten nun dem Fragenden, daß wir unserer zwölf Mann waren. Er verstand.

Dann wollte er zu unseren anderen Genossen geführt werden. Wir zögerten zuerst, doch blieb nichts anderes übrig. Was sollten wir denn thun – zu Fuß konnten wir ja doch nicht übers Meer. Wir führten ihn also hin. Die Genossen murrten anfangs auch und fragten: »Wozu habt ihr ihn zu uns geführt? Etwa um ihm unseren Lagerplatz zu zeigen?« Indessen ließ es sich anders doch nicht machen. »Schweigt still, es ist so nötig!« sagten wir ihnen. Der Mensch ging aber ganz furchtlos zwischen uns und befühlte nur die Kittel.

Wir gaben ihm die überflüssigen Kittel ab, er nahm sie, warf sie sich über die Schulter und schritt hinab. Wir folgten ihm natürlich. Unten sahen wir die Zelte seiner Landsleute stehen, ein kleines Dorf.

»Was nun?« fragten zögernd unsere Leute. »Er ging ja ins Dorf und wird seine Landsleute zusammenrufen.«

»Was kann das uns schaden?« antworteten wir. »Das ganze Dorf besteht aus vier Zelten, wie viele können es ihrer da sein. Wir aber sind zwölf Mann, von denen ein jeder gute, dreiviertel Arschin lange Messer bei sich trägt ... Und wie können diese Leute sich mit uns Riesen an Kraft messen? Sie leben ja nur von Fisch, während der Russe sich von Fleisch nährt. Was können diese gegen uns?«

Und doch muß ich gestehen, ward es auch mir recht ängstlich zu Mute. Da waren wir am Ende der Insel; wird es uns aber vergönnt sein, dort auf der anderen Seite, am Amur aufzuatmen, dort, wo das Ufer wie ein bläulicher Streifen am Horizont hervorschimmert? Wie beneidete ich damals den Vogel um seine Flügel!

Nun gut! kurze Zeit hatten wir gewartet, als wir einen ganzen Haufen der Landbewohner, Orkun voran, auf uns zukommen sahen mit ihren Spießen in der Hand. »Seht,« sagten die unsrigen, »da kommen sie gegen uns. Lebendig ergeben wir uns aber nicht. Fällt jemand im Kampfe, so wird's ihm wohl schon so vom Schicksal bestimmt gewesen sein. Haltet aus, solange ihr könnt, und einer soll dem anderen nach Kräften beistehen. Rückt näher Brüder, tretet zusammen, fester!«

Indes hatten wir umsonst diese Leute in Verdacht gehabt. Als Orkun sah, daß wir ihnen mißtrauten, nahm er den Seinen die Spieße ab und gab sie einem Manne zu halten. Da sahen wir denn, daß sie kein Arges gegen uns im Schilde führten und gingen zum Platze, wo sie die Boote versteckt hatten. Sie zogen für uns zwei Boote ins Wasser, das eine, größere, für acht Mann, das andere, kleinere, für vier Mann.

Da hatten wir endlich auch Boote, hinüber konnten wir aber doch nicht. Es hatte sich ein Wind erhoben, der von jener Seite her blies; die Wellen gingen hoch, so daß es unmöglich war, bei solchem Wetter auf diesen kleinen Booten überzusetzen.

So mußten wir denn des Windes wegen noch zwei Tage hier zubringen. Inzwischen waren unsere Vorräte zu Ende gegangen und wir nährten uns nur von Beeren und Fischen, die uns Orkun gab. Ein guter, ehrlicher Mann war dieser Orkun. Gott vergelt's ihm! Noch jetzt denke ich seiner oft genug.

Der Tag war zu Ende und noch saßen wir auf der Insel. Wie sehr uns das verdroß, läßt sich gar nicht sagen. Die Nacht verging, es kam der dritte Tag und wieder hatten wir denselben Wind. Und jene Seite, nach der wir strebten, lockte uns jetzt, wo sie frei vor unseren Blicken dalag, noch mächtiger zu sich hinüber; der Wind hatte nämlich den Nebel, der auf der See lagerte, gänzlich vertrieben und so konnten wir die Küste erschauen.

Buran saß stundenlang auf dem Felsen, die Augen gerade dorthin gerichtet, und rührte sich nicht vom Fleck. Er stand nicht auf und pflückte sich auch keine Beeren; aus Mitleid brachte auch ihm einer oder der andere von den Unseren mitunter einige Beeren zur Erfrischung. – Das Landstreicherherz rührte sich im Busen des Alten! Vielleicht ahnte er auch den nahen Tod ...

Endlich ward das Warten allen zuviel, und da beschlossen wir, in der nächsten Nacht um jeden Preis aufzubrechen – komme, was da wolle. Am Tage ging es nicht, da man uns von einem Kordon hätte erblicken können; nachts war es weniger gefährlich, und Gott konnte uns ja behüten und nicht ertrinken lassen. Der Wind peitschte noch immer die Wellen und ließ sie mächtig ans Ufer schlagen; weißer Schaum bedeckte das Meer so weit man blicken konnte ...

»Kommt, Brüder, laßt uns ausruhen!« riet ich. »Der Mond wird um Mitternacht aufgehen; dann wollen wir uns auf den Weg machen. Dann werden wir nicht schlafen können, also wollen wir jetzt Kräfte sammeln.«

Die Leute hörten auf mich und legten sich nieder. Einen Platz hatten wir uns ausgesucht am hohen Ufer in der Nähe des Felsens; von unten herauf konnte man uns nicht erblicken, Bäume verdeckten uns. Nur Buran legte sich nicht nieder, sondern schaute unverwandt gen Westen aus. Als wir uns niederlegten, hatte sich die Sonne kaum erst zu senken begonnen; bis zum Abend war es noch weit. Ich bekreuzigte mich, lauschte, wie die Erde stöhnte, wie im Walde der Wind die Bäume wiegte, und schlief ein.

Wir ahnten nicht die uns drohende Gefahr.

Ich erwachte vom leisen Rufe Burans. Ich schüttelte den Schlaf ab und blickte um mich: Buran stand über mir; mit wildem Blick wies er ins Gebüsch: »Steh' auf, sie sind da, sie holen uns zurück!« Ich schaute ins Gebüsch: Soldaten! ...

Einer, der uns am nächsten war, zielte auf uns, ein zweiter kam auf uns zugeeilt, vom Berge stiegen noch etwa drei Mann herab und hoben ihre Gewehre. Im Nu war ich ganz wach und weckte mit lautem Rufe die Genossen. Schnell erhoben sie sich alle. Kaum hatte der erste Soldat geschossen, als wir auf ihn eindrangen.«

Aufregung ließ den Erzähler stocken. Er senkte den Kopf auf die Brust; im Zelte herrschte Halbdunkel, da der Landstreicher im Eifer der Erzählung unterlassen hatte, Holzscheite in den Ofen zu schieben.

»Wozu erzähle ich es denn!« sagte er in einem Tone, aus dem es wie Flehen klang.

»Nun, ganz gleich, endigen Sie doch nur, ich bitte! Was geschah weiter?«

»Weiter ... Nun, ihrer waren sechs Mann, wir waren unsrer zwölf. Uns wollten sie im Schlafe fangen, indes ließen wir sie kaum zur Besinnung kommen und sich ansammeln ... Wir hatten große Messer ... Sie schossen kaum einmal in der Eile und fehlten. Im Laufe vom Berge konnten sie nicht stehen bleiben und unten erwarteten wir sie ...«

»Ja,« sagte er wehmütig, den Blick zu mir erhebend, »sie konnten sich überhaupt kaum noch zur Wehr setzen. Mit ihren Bajonetten wehrten sie uns ab, die wir wie tolle Wölfe auf sie eindrangen ...

Einer der Soldaten stieß nach mir mit dem Bajonett und kratzte mich nur leicht am Fuß; ich stolperte, fiel – er auf mich. Über ihn stürzte Makarow her ... Da fühlte ich etwas Warmes über mein Gesicht rinnen: ich und Makarow erhoben uns, der Soldat nicht ...

Ich war aufgesprungen und schaute um mich: zwei der Unsrigen waren auf den Felsen gestiegen – vorn stand Saltanow, der Kommandant des Kordons. Weit im Lande war er bekannt und gefürchtet von allen, selbst von den Eingeborenen; von unseren Leuten hatte mancher von seiner Hand den Tod erlitten ... Jetzt sollte es so nicht kommen – er selbst war verloren.

Mit uns waren zwei Tscherkessen, tapfer und schlau und geschmeidig wie die Katzen. Einer warf sich Saltanow entgegen, mitten auf dem Felsen trafen sie aufeinander. Saltanow schoß auf ihn aus dem Revolver, der Tscherkesse bückte sich und beide fielen hin; der andere Tscherkesse glaubte nun sein Genosse wäre tot, und eilte wütend dorthin. Kaum hatten wir begriffen, was geschah, als er mit einem Ruck Saltanow den Kopf vom Rumpfe getrennt hatte ...

Er sprang auf, grinste: in seiner Hand hielt er das Haupt des gefürchteten Kommandanten ... Erstarrt standen wir da ... Laut rief er etwas in seiner Sprache, hell und gellend hallte der Ruf wieder. Er schwang das Haupt über seinem Kopfe und warf es im weitem Bogen hinaus ins Meer.

Still ward's bei uns, wir standen erstarrt und hörten, wie etwas ins Meer fiel – es war das Haupt Saltanows.

Auch der Letzte von den Soldaten auf dem Felsen stand still. Dann warf er sein Gewehr von sich, bedeckte sein Antlitz mit den Händen und floh davon. Wir verfolgten ihn nicht: »Gott mit dir, rette dich!« Er war der einzige von den Anwesenden im Kordon am Leben gebliebene, denn zwanzig machten die ganze Besatzung aus: dreizehn von ihnen waren, um sich mit Vorräten zu versorgen, auf jene Seite hinübergefahren und des Windes wegen noch nicht zurückgekehrt, sechs Mann hatten wir niedergemacht.

Alles war schon zu Ende, und doch konnten wir noch immer nicht zu uns kommen, sahen einander an und fragten furchtsam, zögernd, mutlos: »Was war das? War es Wirklichkeit oder Traum?« Plötzlich hörten wir hinter uns, dort, wo wir eben noch lagen, Buran stöhnen.

Der erste Schuß hatte ihn getroffen, tödlich getroffen. Noch kurze Zeit quälte er sich; als die Sonne untergegangen war, hatte auch ihn das Leben verlassen.

Wir traten zu ihm. Er saß unter einer Lärchentanne, die Hand auf die Brust gedrückt, in den Augen Thränen. Er rief mich zu sich: »Laß die Leute mir ein Grab graben. – Ihr könnt jetzt ja doch noch nicht fahren, sondern müßt die Nacht abwarten, damit ihr mit den anderen Soldaten auf dem Meer nicht zusammentrefft. Begrabt mich daher früher – um Gottes willen!«

»Was sprichst du da, lieber Buran,« sagte ich. »Kann man denn einem lebenden Menschen ein Grab graben? Wir nehmen dich auf jene Seite mit, und dann tragen wir dich auf den Händen weiter ... Was denkst du nur?«

»Nein, seinem Schicksal entgeht niemand,« erwiderte der Alte; »mir war es bestimmt, hier auf dieser Insel zu liegen – gut so – mein Herz ahnte es ... Mein ganzes Leben zog es mich fort aus Sibirien nach Rußland, ach, könnte ich jetzt wenigstens auf Sibiriens Erde sterben, nur nicht auf dieser Insel!«

Ich wunderte mich über Buran – ein anderer war er geworden. Er sprach verständig, bei voller Besinnung; seine Augen blickten klar, nur seine Stimme war schwach. Er rief uns alle zu sich, teilte uns seine letzten Bestimmungen mit und gab uns noch einige Ratschläge: »Hört, Freunde,« sagte er, »was ich euch sagen werde, und behaltet es im Gedächtnis: ihr werdet jetzt ohne mich durch Sibirien gehen und ich werde hier bleiben müssen. Um eure Sache steht es jetzt schlecht, sehr schlecht – schlechter deshalb, weil Saltanow ermordet ist. Das Gerücht davon wird sich schnell verbreiten – nicht nur nach Irkutsk, nein, bis nach Rußland sogar wird es eilen.

In Nikolajewsk wird man euch auflauern. Hört mich, Freunde, seid vorsichtig; leidet Hunger und Kälte, meidet aber Dörfer und Städte. Die Eingeborenen fürchtet nicht, die werden euch nichts thun. Jetzt aber merkt euch, was ich euch über den Weg sagen will. Vor der Stadt Nikolajewsk ist ein Gehöft; dort wohnt unser Wohlthäter, der Verwalter des Kaufmanns Tarchanow. Früher trieb er hier auf Sachalin Handel mit den Eingeborenen, kam einmal hierher in die Berge und verirrte sich hier mit seinen Waren. Mit den Eingeborenen stand er aber in Streit und Uneinigkeit. Als diese sahen, daß er sich in einem ungünstigen Ort verfangen hatte, fielen sie über ihn her und hätten ihn umgebracht, wenn wir nicht damals zufällig hier vorbeigezogen wären, auf der Flucht von Sachalin ... Damals floh ich noch zum erstenmale.

Als wir im Walde russische Hilferufe hörten, eilten wir hin und befreiten den Verwalter von den Eingeborenen. Seitdem vergilt er die ihm erwiesene Hilfe. »Bis an das Ende meines Lebens muß ich mich den Leuten aus Sachalin dankbar erweisen!« sagte er, und wirklich, seitdem hat er uns manches Gute und manche Hilfe unseren Leuten erwiesen. Sucht ihn auf; er wird auch euch helfen.«

So teilte der Alte uns alle Wege mit, gab uns Ratschläge und sagte dann: »Jetzt, Brüder, habt ihre keine Zeit mehr zu verlieren. Du, Wassili, befiehl doch den Leuten, hier an dieser Stelle mir meine letzte Wohnung zu graben; hier ist es besser. Wenigstens wird mein Grab der Wind umfächeln, der von jener Seite herüberkommt, und die Wellen von dort her ans Ufer, an mein Grab schlagen. Zögert nicht, Leute; an die Arbeit!« Wir gehorchten.

Da saß der Alte am Fuße der Lärche, und wir gruben ihm mit unseren Messern ein Grab. Als wir es vollendet hatten, sprachen wir ein Gebet. Der Alte saß still, mit dem Haupte nickend, und über seine Wangen flossen Thränen.

Als die Sonne hinter den Bergen versank, war er tot, und als es dunkel war, hatten wir schon die Grube verschüttet.

Als wir ins Meer hinausgefahren waren, ging mit mildem Leuchten der Mond am Himmel auf. Wir schauten uns um und entblößten unsere Häupter ... Hinter uns starrten die Berge Sachalins, am Ufer auf dem Felsen nickte die Lärche Burans.

8.

Am sibirischen Gestade angekommen, hörten wir schon, daß das Gerücht von Saltanows gräßlichem Tode selbst den Eingeborenen bekannt geworden war: so schnell hatten sie es erfahren, als hätte der Wind es ihnen zugetragen. Wir trafen ihrer einige beim Fischfang. Sie schüttelten die Köpfe und grinsten; augenscheinlich freuten sie sich.. »Ihr habt gut lachen, dachten wir; wie aber wird es uns ergehen? Sein Kopf kann nun die unsrigen kosten!« – Sie gaben uns Fische, klärten uns über die verschiedenen Wege auf, die wir einzuschlagen hätten, und wir marschierten weiter. Es war als gingen wir auf glühenden Kohlen; wir schreckten bei jedem Geräusch zusammen, umgingen jedes Gehöft, mieden jeden Russen und verwischten hinter uns unsere Spuren. Schrecklich war es!

Am Tage ruhten wir meist im Walde aus; nachts gingen wir weiter. Beim Tarchanowschen Gehöft kamen wir bei Morgendämmerung an. Mitten im Walde stand es, neu, von einem starken Zaun umgeben. Die Pforten waren geschlossen. Den Anzeichen nach war es das nämliche, von dem Buran uns erzählt hatte. Wir traten näher heran und klopften an. Es wurde drinnen Licht angezündet und bald tönte die Frage: »Wer da?«

»Landstreicher, die von Buran dem Stachei Mitritsch Grüße überbringen,« erwiderten wir. Damals war der Hauptverwalter, eben dieser Stachei Mitritsch, gerade ausgefahren und hatte auf dem Gehöft einen Gehilfen zurückgelassen mit dem Gebot, wenn von Sachalin Flüchtlinge kämen, solle er jedem von ihnen fünf Rubel, ein Paar Stiefel, einen Pelz, Kleidung und Proviant, so viel sie brauchten, auf den Weg geben. »Wie viele ihrer auch seien, befriedige alle; rufe die Arbeiter zusammen, damit es in ihrer Gegenwart geschehe, und sie es mir nachher bestätigen können,« hatte er beim Verlassen seines Hauses gesagt.

Auch hier hatte man von Saltanow gehört. Als uns daher der Gehilfe erblickte, erschrak er.

»Ach, Brüder, seid ihr es, die den Saltanow niedergeschlagen – schlecht steht es um euch!«

»Nun, ob wir's sind oder nicht, thut nichts zur Sache. Wie steht es aber damit, wird Eure Gnaden uns nicht irgend welche Hilfe leisten? Buran sendet uns zu Stachei Mitritsch mit Grüßen.«

»Wo ist denn Buran selbst? Wieder in Sachalin?«

»Ja, auf Sachalin liegt er begraben.«

»Nun, Gott hab ihn selig! Ein guter Mensch war er, ehrlich ... Stachei Mitritsch denkt noch jetzt häufig seiner. Er wird für ihn wohl manche Messe lesen lassen. Wie hieß er aber, wißt ihr's, Leute?«

»Nein, wir wissen's nicht. Buran hieß er stets bei uns. Er mag wohl selbst seinen Namen vergessen haben; ein Landstreicher braucht keinen.«

»Das ist es eben, Brüder – schlimm ist euer Leben, sehr schlimm. Selbst wenn der Pope für euch zu Gott beten will, kann er es nicht, weiß er doch nicht, wie er euch nennen soll. Der Alte wird doch auch eine Heimat, Verwandte gehabt haben, Brüder, Schwestern und vielleicht gar liebe Kinder!«

»Natürlich mag er sie gehabt haben. Mag ein Landstreicher seinen Namen, den er bei der Taufe empfangen hat, abgelegt haben, doch auch ihn, wie die anderen, hat ja ein Weib geboren.«

»Ihr führt ein trauriges Leben, Brüder!«

»Giebt's etwas Traurigeres?! Erbetteltes, Geschenktes essen wir, Geschenktes tragen wir, und sterben wir, so bekommen wir nicht einmal ein Grab. Sterben wir im Walde, so fressen unseren Leib die wilden Tiere, unsere Knochen bleicht die Sonne. Traurig wohl ist unser Leben!«

Bedauern und Mitleid erregten unsere Worte beim Gehilfen – denn je mehr man Teilnahme hervorruft beim Sibirier, desto freigebiger wird er – und wir selbst waren auch erregt durch die Wahrheit dieser Worte. Er wird doch gleich gähnend zu Bette gehen und satt im warmen Bette schlafen; wir aber müssen hinaus, müssen in dem finsteren Walde umherirren und uns vor jedem Menschenauge verbergen, wie ein verpestetes Untier, wie ein Gespenst bei Anbruch des Tageslichts.

»Doch, Brüder,« sagte er, »ich muß schlafen gehen. Ich gebe euch von mir aus noch je einen Zwanziger pro Mann, und da, empfangt nach der Weisung meines Herrn, was euch zukommt, und geht mit Gott. Alle Arbeiter werde ich nicht wecken – drei Mann habe ich hier, denen man vertrauen kann, sie werden's dann später bestätigen. Sonst kann man sich noch Unglück mit euch auf den Hals laden. Hört nur meinen Rat, geht nicht nach Nikolajewsk, dort lebt jetzt ein strenger Kreisrichter. Alle durchziehenden Wanderer befahl er aufzuhalten, wo sich nur einer zeigen sollte. »Keine Elster werde ich vorüberfliegen,« sagte er, »keinen Hasen vorüberspringen lassen, geschweige denn diese Sachaliner.« Glücklich könnt ihr euch schätzen, wenn ihr unangefochten vorüberkommt; in die Stadt steckt nur ja nicht eure Nase.«

Er gab uns, wie es ihm befohlen war, außerdem noch Fische und von sich aus jedem einzelnen einen Zwanziger, bekreuzigte sich dann, ging in sein Zimmer und schloß das Thor. Das angezündete Licht erlosch, und bald schlief alles im Gehöft. Bis zum Morgen war es noch weit. Wir zogen weiter, und schwer lastete auf uns die Traurigkeit.

Ja, tiefe Trauer bedrückt manchmal die Seele des Landstreichers. Die tiefe Nacht, der finstere Wald umgeben ihn, der Regen durchnäßt, der Wind und die Sonne trocknen ihn wieder – und nirgends auf der freien weiten Welt, nirgends findet er Ruhe und Sicherheit. In die Heimat stets sehnt er sich zurück, und kommt er dahin nach vieler Mühsal und Gefahr, so erkennt ihn jeder Hund als einen Landstreicher. Und streng ist da die Obrigkeit ... Kaum in die Heimat zurückgekehrt, erwartet ihn wieder der Kerker!

Ja, und dennoch scheint ihm zuweilen selbst der Kerker ein Paradies zu sein – so auch in jener Nacht. Schweigend schritten wir fort, als Wolodjka plötzlich sagte: »Brüder, was mögen jetzt die Unsrigen machen?«

»Von wem sprichst du?«

»Von den Unsrigen dort auf Sachalin, in der siebenten Kaserne. Jetzt mögen sie wohl sorglos schlafen! Wir aber – wir irren hier ... ach, wären wir lieber gar nicht gegangen!«

Ärgerlich schalt ich ihn. »Schämst du dich nicht, wie ein altes Weib zu bereuen! Wärst du doch gar nicht mitgezogen, wenn dein Mut so klein ist und du nur andere mutlos machen kannst.«

Und doch ward auch ich nachdenklich. Müde waren wir, gingen und schlummerten; der Landstreicher ist es gewohnt, im Gehen zu schlummern. Sobald ich aber in Schlaf verfiel, träumte ich mich sofort zurück in die Kaserne. Der Mond leuchtete und erhellte matt die Wand und hinter den vergitterten Fenstern schliefen die Arrestanten auf ihren Lagerstätten. Dann träumte ich, daß auch ich dort läge und mich reckte. Der Schlaf entfloh. Doch schlimmer wirkt kein Traum, als wenn Vater und Mutter im Traume vor uns treten. Nichts, so träumte ich, wäre mit mir vorgefallen, nichts hätte ich erlebt, nicht Kerker, nicht Sachalin, nicht jene Begegnung mit den Kordonsoldaten. In der elterlichen Hütte lag ich und die Mutter kämmte mein Haar und glättete es. Auf dem Tisch brannte ein Licht und der Vater saß mit der Brille auf der Nase und las in einem ehrwürdigen Buch ... Vorleser war er. Die Mutter sang ein Lied.

Als ich von diesem Traum erwachte, war mir als stak in meinem Herzen ein Messer. Statt der traulichen Stube – der düstere Wald. Voranschreitend Makarow und wir alle im Gänsemarsch hinter ihm her. Ein leiser Wind erhob sich bisweilen, bewegte flüsternd das Laub und erstarb. Und in der Ferne, zwischen dem Laub der Blätter, erblickt man das Meer und darüber wölbt sich der Himmel, am fernen Rande des Horizonts leicht sich rötend – ein Zeichen, daß die Sonne sich bald erheben würde. Niemals aber schweigt das Meer – immer scheint es ein fremdländisches Lied zu singen oder zu grollen. Daher träumte ich stets von diesem Liede. Meist weht das Meer unser einem Sehnsucht ins Herz, da wir nicht ans Meer gewöhnt zu sein pflegen.

Immer mehr näherten wir uns Nikolajewsk; Dörfer und Gehöfte wurden immer häufiger, und der Weg für uns immer gefährlicher. Langsam und vorsichtig schlichen wir an die Stadt heran. Des Nachts marschierten wir vorwärts, den Tag über hielten wir uns im Waldesdickicht versteckt, wohin nicht nur kein Mensch, sondern selbst kein Tier sich verirrt.

Wir hätten einen größeren Umweg um Nikolajewsk machen müssen, doch wir waren zu ermüdet und außerdem war unser Proviant zur Neige gegangen.

Abends kamen wir zum Ufer eines Flusses und sahen dort einen Haufen Menschen. Wir schauten näher hin: die »freie Mannschaft«Die »freie Mannschaft« bilden jene Zuchthäusler, die ihre Strafzeit verbüßt haben. Sie leben nicht im Gefängnis, sondern in eigenen Wohnungen, obgleich sie sowohl persönlich, als auch ihre Arbeit einer gewissen Kontrolle und gewissen Regeln unterworfen sind. war es, die Fische fing. Da traten wir denn furchtlos näher.

»Grüß Gott, Leute!« sagten wir.

»Grüß Gott!« erwiderten sie. »Woher?«

Ein Wort gab das andere. Dann blickte ihr Ältester auf uns, rief mich beiseite und fragte: »Seid ihr nicht aus Sachalin? Seid ihr es nicht, die den Saltanow niedergemacht?«

Aufrichtig gesagt, zögerte ich, ihm die Wahrheit zu sagen. Zwar gehörte er zu unseren Leuten, doch auch diesen konnte man nicht alles sagen. Und dann ist die »freie Mannschaft« doch auch nicht dasselbe, was unsere »Arrestantengemeinschaft« ist. Will nun etwa der Älteste oder sonst jemand von ihnen sich bei der Obrigkeit beliebt machen, so geht er hin und zeigt heimlich etwas an – er ist ja frei. Im Kerker kennen wir alle Denunzianten; kaum passiert etwas – sofort wissen wir, wer es gethan hat. Wie kann man das aber hier erkennen?

Er durchschaute sofort, weshalb ich zögerte, und sagte: »Mich fürchtet nicht; nie werde ich einen Genossen verraten, auch geht es mich ja nichts an. Da in der Stadt schon die Sache bekannt ist und ich jetzt sehe, daß ihr elf Mann seid, so war es mir nicht schwer zu erraten. Brüder, eine schlimme Suppe habt ihr euch eingebrockt. Die Geschichte ist eine sehr böse und der Kreisrichter hier sehr streng – doch, das ist eure Sache. Werdet ihr durchkommen, so könnt ihr zufrieden sein. Da wir noch Proviant nachbehalten haben, so werde ich euch sobald wir in die Stadt zurückkehren, unser Brot und etwas Fisch geben. Braucht ihr nicht vielleicht einen Kessel?«

»Ein überflüssiger Kessel könnte allerdings nicht schaden.«

»Ihr sollt ihn haben ... Nachts bringe ich ihn und auch sonst noch einiges. Seinem Mitbruder muß man doch helfen!«

Leichter ward es uns ums Herz. Ich zog die Mütze und dankte dem guten Mann, ebenso thaten meine Genossen. Viel war es uns wert, daß er uns mit Vorräten versorgte, mehr noch, daß er uns ein gutes Wort gab. Bis jetzt hatten wir die Menschen meiden müssen, da wir von ihnen nichts zu erwarten hatten, als Böses und den Tod – hier bedauerte man uns zum erstenmal.

Vor Freude wäre uns hier fast ein Unglück zugestoßen.

Als die freie Mannschaft fortgegangen war, faßten wir Mut und wurden sorgloser; Wolodjka fing sogar an zu tanzen. Wir ließen jede Vorsicht außer acht, zogen uns zurück in die Dickmannsche Schlucht (nach dem Deutschen Dickmann so benannt, der dort seine Dampfmaschinen baute) – oberhalb des Flusses. Wir zündeten Feuer an, hingen darüber zwei Kessel; in dem einen kochten wir Thee, in dem anderen eine Fischsuppe. Indessen war es Abend geworden, es wurde dunkel, und ein feiner Regen rieselte nieder. Wir kümmerten uns beim heißen Thee nicht um den Regen.

So saßen wir, als wären wir in Abrahams Schoß, ohne zu bedenken, daß, da wir von uns aus die Lichter der Stadt sahen, von dort aus auch unser Feuer gesehen werden konnte. So unvorsichtig konnten wir zuweilen sein, die wir durch Wald und Feld geirrt waren, vor jedem Menschen uns verborgen hatten – jetzt, gegenüber der Stadt zündeten wir ein Feuer an und unterhielten uns so sorglos, als drohe uns dabei nicht die geringste Gefahr.

Zu unserem Glück wohnte damals in der Stadt ein alter Herr, ein Beamter. Früher war er in N. Gefängnisinspektor gewesen. In N. war das Gefängnis groß; viele Leute hatte es beherbergt und alle erinnerten sich gern dieses Greises. Ganz Sibirien kannte den Samarow, und als man mir vor drei Jahren sagte, daß er gestorben sei, fuhr ich nur deshalb zum Popen, um für ihn eine Totenmesse lesen zu lassen. Ein guter Herr war er gewesen, nur zu schimpfen liebte er; und so schimpfte er, daß es ganz schrecklich war. Er schrie und stampfte mit den Füßen – Schlimmes that er aber niemandem. Man achtete ihn, da er gerecht war, niemand beleidigte, nie uns Arrestanten bedrückte; er ließ sich nicht bestechen und verlangte nie etwas von der »Gemeinschaft« zu seinem Vorteil, sondern nahm nur das, was diese ihm freiwillig für seine Wohlthaten bot. Er hatte es auch sehr nötig, denn seine Familie war nicht klein.

Damals war er aber schon aus dem Dienste geschieden und lebte in Nikolajewsk, im eigenen Häuschen. Aus alter Gewohnheit machte er sich auch jetzt viel mit unseren Leuten, der »freien Mannschaft,« zu schaffen. An jenem Abend saß er auf seiner Terrasse und rauchte; da sah er in der Dickmannschen Schlucht ein Feuer. »Wer mag dort wohl Feuer angezündet haben?« dachte er.

Zwei von der »freien Mannschaft« gingen da zufällig vorbei. Er rief sie zu sich heran.

»Wo fischen jetzt die eurigen,« fragte er, »an der Dickmannschen Schlucht, glaube ich, doch wohl nicht?«

»Nein,« erwiderten sie, »dort nicht. Oberhalb der Schlucht. Übrigens müssen sie heute zurückkehren!«

»Das ist's ja ... Seht ihr aber dort jenseits das brennende Feuer?« »Ja.« »Wer kann das wohl sein? Wie meint ihr?« –

»Wir wissen es nicht, Stepan Saweljitsch. Wanderer wahrscheinlich.«

»Das ist's eben: Wanderer! Ihr Schufte denkt gar nicht an eure Brüder, nur ich muß immer an sie denken. Wißt ihr nicht, was der Kreisrichter vorgestern von den Flüchtlingen aus Sachalin gesagt hat? Man hat sie hier in der Nähe gesehen ... Sie mögens wohl sein, die thörichten Kinder, die dort das Feuer angezündet haben!«

»Mag sein, Stepan Saweljitsch.«

»Nun, schlimm steht es dann um sie! Seht mal an, was sie da treiben! ... Ich weiß nur nicht, ob der Kreisrichter schon in der Stadt ist? Wenn er noch nicht zurück ist, so muß er bald kommen, und sieht er das Feuer, so sammelt er sofort Militär. Und doch ist es so schade um die Leute. Saltanows Mord kann ihnen die Köpfe kosten. Macht doch geschwind ein Boot bereit!«

Wir saßen nun am Feuer in Erwartung der Fischsuppe; schon längst hatten wir nichts Warmes in den Mund genommen. Die Nacht war dunkel, vom Ocean her waren Wolken aufgezogen, ein feiner Staubregen fiel hernieder, im Walde flüsterte und rauschte es, unser Geräusch und Reden übertönend – uns Landstreichern ist die dunkle Nacht der beste Freund. Je dunkler am Himmel, desto heller im Herzen.

Plötzlich horchte der Tatare auf – ein feines Gehör besitzen diese Tataren. Auch ich horchte und mir schien es, als hörte ich leise Ruderschläge auf dem Wasser. Ich trat näher zum Fluß – richtig: ein Boot näherte sich unhörbar, am Steuer saß ein Mensch mit einer Kokarde an der Mütze.

»Nun Leute,« sagte ich, »wir sind verloren. Der Kreisrichter kommt!« Wir sprangen auf, warfen die Kessel um und flohen in den Wald ... Ich hatte den Leuten verboten, auseinanderzulaufen. Wir wollten erst sehen, was da sein werde. Im ganzen Haufen könnten wir uns vielleicht noch eher retten, wenn die Zahl der Angreifer klein wäre. Wir verbargen uns hinter die Bäume und warteten ...

Das Boot hielt am Ufer; fünf Mann stiegen aus. Der Eine lachte hell auf und sprach: »Was seid ihr Dummköpfe auseinander gerannt? Ihr werdet gleich alle herauskommen, wenn ich euch nur ein Wort sage; mutig seid ihr zwar wohl, lauft aber doch wie die Hasen davon!«

Neben mir stand hinter einem Baumstamme Darjin. »Hörst du nicht, Wassili – des Kreisrichters Stimme kommt mir so bekannt vor?«

»Warte, sei still! Ihrer sind nur wenige.«

Einer von ihnen trat vor und fragte: »He, ihr Leute! Fürchtet euch nicht! Wen kennt ihr in dem hiesigen Gefängnis?«

Wir antworteten nicht.

»Ach, ihr Teufelskinder,« rief er jetzt, »sagt, wen ihr hier kennt, vielleicht werdet ihr auch uns dann kennen!«

»Ob wir euch kennen oder nicht,« rief ich, »besser aber wäre es sowohl für uns als auch für euch, wenn wir euch nie gesehen hätten. Lebend ergeben wir uns nicht!«

Den Genossen gab ich ein Zeichen sich bereit zu halten. Ihrer waren fünf, wir waren also in der Mehrzahl. Nur schlimm wäre es, dachte ich, wenn sie zu schießen beginnen – in der Stadt würde man es hören. Wir schienen jedenfalls verloren; ohne Kampf wollten wir uns aber doch nicht ergeben.

Der Alte begann wieder: »Kinder, kennt denn niemand von euch den alten Samarow?«

Darjin stieß mich wieder an: »Richtig, das muß der Inspektor aus N. sein!« – »Nun, kennt Euer Gnaden vielleicht den Darjin?« fragte er laut.

»Wie sollte ich nicht? Ältester war er ja bei mir in N.; Fedor hieß er, glaube ich.«

»Ich bin's selbst, Euer Gnaden! kommt nur heraus, Kinder! Unser Wohlthäter ist's.« Da traten wir alle vor.

»Sind Sie wirklich, uns zu fangen hergekommen, Euer Gnaden? Das hätten wir von Ihnen nie erwartet.«

»Dummköpfe seid ihr! Bedauert habe ich euch, ihr Tröpfe. Seid ihr denn verrückt geworden, daß ihr im Angesichte der Stadt Feuer angezündet habt?«

»Der Regen hat uns durchnäßt, Euer Wohlgeboren!«

»Der Regen hat euch durchnäßt?! Und ihr nennt euch noch Landstreicher? Werdet wohl wie Zucker zergehen! Von Glück könnt ihr sagen, daß ich vor dem Kreisrichter auf die Terrasse heraustrat, um eine Pfeife zu rauchen. Hätte jener euer Feuer erblickt, er würde euch schon ein Plätzchen bereitet haben, wo ihr euch hättet trocknen können! Ach, Leute, Leute! Nicht sonderlich klug seid ihr, trotzdem ihr Saltanow über die Klinge habt springen lassen, ihr Kanaillen! Löscht schnell das Feuer und packt euch fort vom Ufer, tiefer hinein in die Schlucht! Dort steckt meinetwegen zehn Feuer an, ihr Lumpengesindel!« Er schimpfte, wir standen um ihn herum und lachten. Als er zu schreien aufgehört hatte, sprach er: »Da hab ich euch im Boot Brot und Thee mitgebracht. Gedenkt des alten Samarow nicht in Feindschaft. Und wenn euch Gott glücklich von hier forthilft und einer von euch vielleicht nach Tobolsk kommen sollte, so stelle er meinem Heiligen ein Licht dort in der Kirche. Ich werde wohl hier sterben, wo ich ein Haus mit meiner Frau als Hochzeitsgut mitbekommen habe ... auch bin ich schon alt. Und doch gedenke ich mitunter meines Geburtsorts. – Nun aber, lebt wohl! Und noch einen Rat gebe ich euch – trennt euch! Wie viele seid ihr jetzt?«

»Elf Mann.«

»Nun, und seid ihr nicht Esel? Von euch spricht man ja schon in Irkutsk, und ihr Narren zieht in hellem Haufen noch immer weiter!«

Der Alte setzte sich in sein Boot und fuhr fort. Wir gingen nun tiefer in die Schlucht zurück, kochten unseren Thee, aßen unsere Suppe, ordneten unsere Vorräte und nahmen, dem Rate des Alten folgend, Abschied voneinander.

Ich ging mit Darjin zusammen, Makarow mit den Tscherkessen, der Tatare mit zwei anderen und die übrigen drei auch zusammen. Seitdem haben wir einander nicht wiedergesehen. Ich weiß nicht, wer von ihnen noch lebt, oder ob jemand schon gestorben ist. Vom Tataren nur habe ich gehört; er soll auch hierher verschlagen sein – ob es aber wahr ist, weiß ich nicht. In derselben Nacht gelang es uns, heimlich an Nikolajewsk vorbeizugehen; nur ein Hund auf einem nahen Gehöft schlug an.

Als die Sonne aufging, hatten wir schon zehn Werst auf Waldwegen zurückgelegt und näherten uns der Landstraße. Plötzlich hörten wir Geklingel. Schnell versteckten wir uns hinter einem Strauche und sahen ein Dreigespann an uns vorüberfahren, und im Wagen saß schlummernd, in seinen Mantel gehüllt, der – Kreisrichter.

Da bekreuzigten wir uns beide, Darjin und ich. »Gott sei Lob und Dank, daß er am Abend nicht zurückgekehrt war! Uns zu fangen mag er wohl ausgefahren sein.«

9.

– Das Feuer im Ofen war erloschen und in der Hütte war es so warm, wie in einem Ofen. Der Reif am Fenster begann zu thauen und daraus konnte man schließen, daß der Frost nachgelassen haben mochte, da bei starken Frösten die Eiskruste am Fenster nie zu thauen pflegt, wie warm es in der Hütte auch sein mag. Daher hörten wir auf, Holz in den Ofen zu legen und ich trat hinaus, um das Ofenrohr zu schließen.

Der Nebel hatte sich wirklich ganz verzogen, die Luft war durchsichtig und schien weicher. Im Norden, hinter den Gipfeln der Hügel, die von schwarzen Wäldern bedeckt waren, erhoben sich, matt glänzend, weiße Wölkchen, die schnell am Himmelsraume dahinschwebten. Jemand schien schwer und tief zu seufzen und sein Atem, aus gigantischer Brust emporsteigend, erhob sich lautlos in die Luft, im weiten Raume verschwindend. Ein schwaches Nordlicht leuchtete.

Einem aufsteigenden traurigen Gefühle mich hingebend, stand ich auf dem Dache, und mein Blick schweifte nachdenklich in die Ferne. Die Nacht hatte sich über die Erde gebreitet in all ihrer mächtigen und kalten Schöne. Am Himmel blinkten die Sterne, die glatte Schneefläche zog sich weit hin, am Horizont stand der finstere Wald, erhoben sich die Gipfel der fernen Berge. Und dies ganze Bild in seiner Kälte, Dunkelheit und seinem Schweigen wehte Trauer und Sehnsucht mir ins Herz hinein ...

Als ich in die Hütte zurückkehrte, schlief schon der Landstreicher und die Stille ward nur unterbrochen von den langsamen, ruhig-gleichmäßigen Atemzügen des Schlafenden.

Auch ich legte mich zu Bett, doch lange noch konnte ich nicht einschlafen unter dem Eindruck der eben gehörten Erzählung.

Mehr als einmal war ich im Begriff einzuschlafen, doch da rührte sich gerade dann der Schlafende auf seinem Lager und flüsterte leise, unverständlich. Sein tiefer Brustton, der wie ein dumpfes Murren zu mir herübertönte, machte mich immer wieder munter und erzeugte in meinen Gedanken Bilder aus seiner Odyssee. So schien es mir manchmal, als hörte ich über mir das Flüstern des Laubes im Walde, als schaute ich hinab vom Felsen und sähe die weißen Häuser der Kordons im Thale liegen und als schwebte zwischen mir und jenen Häusern ein gewaltiger Adler, langsam seine mächtigen freien Schwingen regend.

Und die Gedanken trugen mich fort – weiter und weiter fort aus dem hoffnungslosen Dunkel der engen Hütte. Ein freier Wind schien mich zu umfächeln, in meine Ohren tönte der weite Ocean grollend seine Melodien, die Sonne sah ich untergehen, tiefes Dunkel umgab mich und leise schaukelte mein Boot auf den Wellen des Meeres ...

Mein Blut war in Wallung geraten durch die Erzählung des Landstreichers. Ich dachte nach, welchen Eindruck diese hervorbringen müßte auf Gefangene, wenn sie in dumpfer Zelle erzählt würde. Und weshalb, fragte ich mich, wirkt auf mich die Erzählung nicht durch die Schwierigkeit der Flucht, nicht durch die erduldeten Mühsalen und Gefahren, selbst nicht durch die unstillbare, sehnende Schwermut des Landstreichers, sondern nur durch die ganze Poesie der freien Freiheit; weshalb überkommt auch mich jetzt der Wunsch nach Freiheit, nach Meer, Wald, und Feld? Und wenn diese mich zu sich rufen, wenn die unübersehbare Weite mich lockt, wie unbezwingbar muß sie erst den Landstreicher locken, der schon genippt hat an dieser Schale unstillbarer, unendlicher Sehnsucht?

Der Landstreicher schlief; mich ließen meine Gedanken nicht einschlafen. Ich vergaß dabei, was ihn in Kerker und Zuchthaus gebracht, was er gethan haben mochte, als er aufgehört hatte, »seinen Eltern zu gehorchen.« Ich sah in ihm nur ein Leben voll Jugendmut, Energie und Kraft, ein Leben, das hinausrief in die Freiheit, in ... Wohin?

Ja, wohin? ...

Aus dem leisen Geflüster des Landstreichers glaubte ich Seufzer herauszuhören. Wem galten sie? Ich versank in tiefes Grübeln über die Lösung eines schier unlösbaren Rätsels, und über mir schwebten düstere Traumgebilde ...

Die Sonne war untergegangen. Die Erde lag mächtig, unfaßbar, trauervoll, in tiefes Sinnen versunken da. Schweigsam hing eine Wolke schwer darüber. Nur ein schmaler Streif des Himmels am fernen Horizonte leuchtete noch im schwachen Lichte der erlöschenden Strahlen der Dämmerung, und weit, weit von jenen fernen Bergen her blinkte ein Licht. – Was mag es wohl sein? Das heimatliche Feuer des längst verlassenen Vaterhauses oder das Irrlicht im Dunkel auf dem uns erwartenden Grabe? ...

Ich schlief spät ein.

10.

Als ich erwachte, mochte es etwa elf Uhr sein. Auf dem Boden des Zeltes spielten schräge Sonnenstrahlen, die sich nur mühsam durch die befrorenen Fensterscheiben stahlen. Der Landstreicher war nicht mehr im Zelte.

Ich mußte in Geschäften ins Dorf, spannte daher mein Pferd vor den Schlitten und fuhr aus meiner Pforte die Dorfstraße hinunter. Der Tag war klar und verhältnismäßig warm. Es mag etwa zwanzig Grad Kälte gegeben haben und – alles in der Welt ist nur relativ – was sonst an anderen Orten nur im stärksten, strengsten Winter vorkommt, bei uns hier war es das erste Frühlingswehen. Die Rauchwolken, die aus allen Schornsteinen stiegen, standen nicht mehr kerzengerade in der Luft, wie es gewöhnlich bei starkem Frost vorzukommen pflegt, sie wurden nach Westen abgelenkt, ein Ostwind wehte, der Wärme vom Großen Ocean mit sich führte.

Das Dorf war zur Hälfte von verschickten Tataren bewohnt und da diese heute ein Fest feierten, war die Straße recht belebt. Hie und da knarrte eine Pforte und aus dem Hofe fuhr ein Schlitten oder sprengten Pferde heraus, auf denen berauschte Reiter schwankend saßen. Die Anhänger Mohameds beachten wenig das Verbot des Korans und daher beschrieben die Reiter sowohl als auch die Fußgänger auf ihrem Wege eigentümliche Zickzackkurven. Zuweilen sprang ein scheues Pferd zur Seite und warf den Schlitten um; das Pferd raste die Straße entlang, und der herausgeschleuderte, im Schnee fortgeschleifte Insasse wirbelte wahre Wolken von Schnee auf, indem er krampfhaft die Zügel festhielt. Ein Pferd nicht zügeln zu können oder aus dem Schlitten geschleudert zu werden, kann jedem passieren, besonders wenn man berauscht ist; aber bei einem guten Tataren gilt es für eine Schande, wenn man die Zügel aus der Hand läßt – selbst unter solch schwierigen Verhältnissen.

Doch da zeigt sich an der geraden Straße ein besonderes Leben. Reiter weichen zur Seite, Fußgänger gleichfalls, die Tatarinnen in ihren roten Gewändern, geschmückt und geputzt, treiben die Kinder von der Straße in den Hof. Aus den Zelten kommen Neugierige hervor, und alle schauen nach einer Richtung aus.

Am anderen Ende der langen Straße tauchte jetzt ein Häuflein Reiter auf, und bald sah ich, es galt ein Wettrennen, das bei den Tataren und den Jakuten sich großer Beliebtheit erfreut. Sechs Reiter waren es etwa, die wie der Wind dahinflogen; als sich die Kavalkade näherte, erkannte ich, allen voran, das graue Pferdchen, auf dem gestern Bagilai angekommen. Mit jedem Hufschlage vergrößerte sich die Entfernung zwischen ihm und den anderen. Nach einer Minute rasten sie an mir vorbei wie ein Sturmwind.

Die Augen der Tataren glänzten vor Erregung, vor Neid.

Alle bewegten sie im Reiten Hände und Füße und schrien, mit ihrem ganzen Körper sich zurückbeugend. Nur Wassili ritt »auf russische Art« nach vorn auf den Hals des Tieres gebeugt, nur von Zeit zu Zeit kurze, gellende Pfiffe hervorstoßend, die wie Peitschenschläge wirkten. Das graue Pferdchen rannte schnell, mit seinen Füßen kaum den Boden berührend.

Die Sympathie der Zuschauer war, wie gewöhnlich, auf seiten des Siegers.

»Ein fixer Kerl!« jubelten sie; und die alten Pferdediebe, ungeheure Liebhaber dieses Sports, klopften begeistert im Takt der Hufschläge sich auf die Hüften.

Mitten auf der Straße holte mich Wassili ein, als er auf seinem schaumbedeckten Tiere zurückkehrte; seine besiegten Nebenbuhler folgten weit hinten.

Das Gesicht des Landstreichers war bleich, seine Augen glänzten vor Erregung. Ich merkte, daß er schon getrunken hatte.

»Ich habe schon getrunken!« rief er mir zu, sich vom Pferde beugend und mit der Mütze herübergrüßend.

»Ihre Sache,« erwiderte ich.

»Thut nichts, sei nicht böse! Trinken kann ich, meine Besinnung vertrinke ich aber nie. Übrigens gieb, bitte, meine Mantelsäcke niemandem heraus. Und wenn ich auch selbst darum bitte, gieb sie nicht! Hörst du?«

»Ich höre,« antwortete ich kalt, »nur betrunken kommen Sie, bitte, nicht zu mir in die Hütte.«

»Ich werde nicht kommen,« erwiderte er und gab dem Pferde einen Schlag. Das Pferd schnob, bäumte sich, doch drei Faden war es kaum geeilt, als Wassili es anhielt und sich wieder zu mir wandte: »Das ist ein Pferd! Gold ist es wert! Ich habe darauf gewettet. Sehen Sie wie es läuft! Jetzt kann ich von den Tataren so viel bekommen, als ich dafür will. Ja, ja, ein Tatar liebt gute Pferde mehr als sein Leben.«

»Weshalb verkaufen Sie es denn? Womit werden Sie denn arbeiten?«

»So, weil ich muß!«

Wieder gab er dem Pferde einen Schlag und hielt es gleich darauf an.

»Deshalb eben, weil ich hier einen Bekannten getroffen habe. Alles werfe ich fort. Ach, Freund! Sieh mal, dort, auf dem schwarzen Schimmel, den Tataren ... Du, du! rief er dem hinter uns reitenden Tataren zu, – »Achmet! komm mal her!«

Ein kleiner, schmächtiger Schimmel kam mit seinem Reiter meinem Schlitten zugeeilt. Der Tatare nahm grüßend die Mütze vom Kopfe und lächelte. Neugierig schaute ich ihn an.

Die schlaue Physiognomie Achmets verzog sich zu einem breiten Grinsen. Die kleinen Augen blickten lustig, verschlagen und vertraulich das Gegenüber an. »Wir verstehen einander,« schien der Blick zu sagen. »Ich bin zwar ein Schelm, doch das ist's eben, ein schlauer Schelm zu sein! Darin liegt's!« Und das Gegenüber mußte auch lachen, wenn es auf dies breite, knochige Gesicht, die lustigen Fältchen um die Augen und auf die dünnen abstehenden Ohren blickte. Achmet war überzeugt, daß man ihn verstanden habe; er war befriedigt und nickte mit dem Kopf.

»Ein Freund und Genosse,« sagte er auf Wassili weisend, »zusammen streiften wir durch das Land.«

»Wo wohnst du denn jetzt? Ich habe dich früher hier nicht gesehen.«

»Ich hole meine Papiere; in die Gruben wandere ich, schleppe Spiritus.«Der Handel mit Branntwein ist in und bei den Gruben streng verboten und daher hat sich in den Waldbezirken des Lenagebiets ein besonderes Gewerbe gebildet, das der Branntweinverkäufer, die in die Gruben den Branntwein bringen, der mit Gold aufgewogen wird. Das Gewerbe ist sehr gefährlich, da darauf Zuchthaus steht und die wilde Natur des Landes selbst viele Schwierigkeiten in den Weg legt. Viele dieser Branntweinverkäufer kommen in den Wäldern durch Entbehrungen und Kosakenkugeln um, nicht selten auch unter den Messern ihrer Konkurrenten. Dafür ist aber das Gewerbe ein rentableres, als das Goldgraben selbst. Ich sah auf Wassili. Er senkte sein Haupt vor meinem Blick und spielte mit dem Zügel; doch gleich darauf hob er wieder den Kopf und sah mich herausfordernd an mit seinen feurig glänzenden Augen. Seine Lippen waren fest geschlossen, nur seine Unterlippe zuckte.

»In den Wald zieh ich mit ihm. Was schauen Sie so auf mich? Ich bin ein Landstreicher und bleibe es!«

Die letzten Worte sprach er schon im Davonsprengen, hinter sich eine Wolke aufgewirbelten Schnees lassend.

Nach einem Jahre traf ich Achmet wieder im Dorf; er holte wieder »seine Papiere«. Wassili kehrte nicht mehr zurück.


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