Maria Konopnicka
Ebbe an der Küste der Normandie
Maria Konopnicka

Maria Konopnicka

Ebbe an der Küste der Normandie.

Das Meer ist zurückgegangen. Ein stiller, nebliger Morgen. Es ist zurückgelaufen, eilig, wie verwirrt, mit hastigem Getöse seine mächtigen Wogenberge einziehend, um dann nur mit feiner, ungleich zurückgebogener Welle über die sandige Uferdecke hinweg zu sprühen, einem schäumenden Weine ähnlich, dessen helle Perlen zischend bersten und verlöschen.

Schon ist es weit weg und noch einmal dehnt es sich heran, noch stöhnt es auf, rafft eine Handvoll Sand zusammen, läuft fort, kehrt wieder, flüstert, enteilt abermals, noch einmal – – – und wieder, einmal – – – Sand aber wird immer mehr. – – Jedes Heranklatschen der Woge deckt ihn mit kürzerem Wurf, jedes Zurücktreten fügt seinen Ufern etwas hinzu.

Da liegt er nun – hier zusammengeschoben, dort ausgebreitet, in schmalen Schichten trocknend, gekerbt, in krumme Linien gebogen, einem auseinandergeworfenen Ballen grauer Moireseide ähnlich, dessen dunkleren Rand eine dahinlaufende Spule mit Silberfransen säumt.

Das Meer aber ist immer ferner, immer stiller, meldet sich mit immer kürzerem Rauschen; es sammelt sich, schwillt an, wird immer mächtiger, zieht die auseinanderstiebenden Wogen in sich ein und, hat es sie endlich alle in seine kompakte Wellenburg zusammengezogen, so schaukelt es sich langsam, schwer auf seiner in dunkler Tiefe ruhenden Achse, vollstrahlig wie ein Auge, abgrundtief, fast regungslos.

Über seinen zusammengehaltenen Wellentiefen tauchen, gleichsam auch unbeweglich, zu dreien, vieren, große Fischerboote, mit ausgebreiteten Segeln auf, wie sie der Morgenwind auf die hohe See getragen.

Am Ufer aber beginnt ein Winden und Rauchen bläulicher Dünste, welche eine ganze Scala zarter lilafarbiger Töne in die Perlenhelle des Maimorgens träufeln. Der Himmel sinkt tief herab, am Rande etwas heller, dämmert eine Weile im blassen Licht, das er aus den Dünsten eingeathmet, dann verstummt ringsum die Welt, umschleiert sich, erlischt und taucht endlich in neblige Versunkenheit.

Die tiefen, leicht von Kies überglitzerten Sandbänke treten hervor, dehnen sich aus, blühen, plötzlich dunkler geworden, auf, wie lange, lange Hyacintenbeete, die sich gegen Villers, gegen Berezival, gegen Houlgate, Cabourg und weiter hinziehen, bis über die Felshänge hinaus, die den Ocean einkerben.

Rechts die verschlungenen Bänder und Arkaden des großen Dammes, wie eine zarte Spitze über den veilchenblauen Luft-Hintergrund geworfen links die schweren Dünsten schwankende Rhede, deren Masten, Raaen und gereffte Segel eine Vision gigantischer, über dem Abgrund sich wiegender Irisblumen hervorrufen.

Dort aber weit, weit hinaus, so weit das Auge reicht, dunkelt hinter den Nebeln das Meer wie ein ungeheures, in flüssigem Dunkel erzitterndes Etwas. – – –

Es ist was musikalisches in diesem Augenblick, etwas symphonisches – wie ein ungeheurer eintöniger Untergrund vibrierender Harmonie, durch welche kaum wahrnehmbar, eine gedämpfte, süße Melodie fließender Linien, dunkelnder Farben und halb verwischter Umrisse hervorleuchtet.

Eine unendlich weiche, wiegende, bald anschwellende, bald sinkende Melodie unfaßbarer, ungreifbarer geradezu gespenstischer Formen.

Eine Scala subtilster zerstäubter Töne und Halbtöne, von den Silberblitzen der Mövenflügel, die im Lila der Lüfte aufleuchten, bis zum tiefen Violett der wildbewachsenen zerklüfteten Zinnen der »Roches Noires« , die hoch oben dämmern wie ein Nest von Amethysten.

Und plötzlich ein Lied. Ein einfaches, stilles, mehr gesprochenes, als gesungenes Lied, das in unvergleichlicher Harmonie mit der Musik des Augenblicks zusammenfließt.

– – – Ils ont choisi la mer
 Ils ne reviendront plus – – –
Et puis, s’ils vous reviennent,
Les reconnaitrez vous?

Or ils n’ont plus leur àme
Elle est restèe en mer – – –
Ils ne vous reviendront plus
Ils ont choisi la mer …

Ich kenne das Lied und ich kenne die Stimme. Es ist eine junge Stimme, eine Frauenstimme; die blasse schlanke Yvette ist’s, die da in ihrem vom dunkelgrünen Buxbaum beschatteten Gärtchen singt, wo auf den großen vom Sturm durcheinandergewirrten Lavendelstauden die kleinen Blüthen von den kahlen Ruthen hervorleuchten, wie bei uns die Frühlingstriebe der geköpften Weiden.

Yvette ist zart, elend; sie hat keine Kinder, ich sehe sie oft, wie sie an der grünen Hecke ihres Gärtchens steht, auf das Meer hinausschaut und singt, und je weher sie singt, desto weiter schweift ihr Blick über die Linie der Fischerflotte hinaus – weit, weit hinaus – diese Augen sind ganz erfüllt von tiefer, grenzenloser Sehnsucht.

Anfangs hatte ich gedacht, daß Yvette sich so sehr nach ihrem Gatten sehne. Allein, der Mann kam zurück, war zuhause, rauchte, auf der kleinen Haustreppe sitzend, aus seiner kurzen Tabakspfeife und das Weib stand, nachdem sie ihn bedient, ebenso an ihrer grünen Hecke und sang ebenso, auf das Meer hinausschauend, ihre Lieder. Im Gegenteil, ihre Stimme wurde dann tiefer, voller, durchdringender schmerzlich und der hoffnungslose Blick ihrer eingesunkenen, umränderten Augen schweifte noch weiter hinaus.

»Vielleicht hat sie einen Liebsten und nach ihm also …« Aber unsere Wirtin läßt mich nicht einmal ausreden und schüttelt abwehrend Kopf und Hände.

»Non, non, non! Oh que non! C’est seuletment, vous savez, qu'elle a le mal du lointain – – – –«

Da enthüllte sich plötzlich vor meinen Augen ein seltsamer Winkel in der Menschenseele, die der zitternde grünliche Reflex der ewig zurück weichenden Meereswellen mir beleuchtete.

Das junge, kinderlose Fischerweib fühlt Sehnsucht. Anfangs sehnt sie sich nach dem Gatten, nach dem Gatten wie sie ihn besitzt und wie sie ihn einmal der Woche, einmal in mehreren Wochen und, in der Zeit der großen Winter-Fischzüge noch weit seltener sieht.

Das ist ein einfaches, natürliches, unmittelbares und in seinem ersten Stadium durchaus uncompliciertes Gefühl.

Allein die Sehnsucht erlangt, in dem Masse als sie andauert und sich im Herzen einnistet, die Zaubergewalt, ihrem Gegenstande wunderbare Reize zu leihen, so sehr, daß der Ersehnte der Sehnenden endlich als ein ganz anderer, wie verwandelt und vergeistert vor der Seele steht. Denn, was auch ein sehnendes Herz an Gefühl, an Blütenpracht und Glanz in sich trägen möge, das überträgt es alles auf den Entfernten und betrachtet ihn so im Lichte des eigenen Reichtums. Bis endlich jener Entfernte nicht nur ein unendlich Ersehnter und Geliebter, sondern zugleich auch etwas ganz andres, von der Wirklichkeit ungeheuer Verschiedenes und ihr Fernstehendes wird; so verschieden und so entfernt, daß, wenn die Barken an's Land stoßen und der Mann in eigener Person die Schwelle des Hauses betritt, er der Sehnenden als ein Fremder erscheint, als sei es nicht der, nach dem sie sich gesehnt.

– »Et puis s'ils vous reviennent
Les reconnaîtrez – vous?«

Und in der That: wie ist sein Gesicht mit der vom Seewind rissig gewordenen Haut, wie sind seine geröteten Augen, seine von der salzigen Feuchtigkeit verklebten Haare, seine schwarzen Zähne mit der immer darin steckenden Pfeife, sein unaufhörliches Spucken, seine nach Schlamm und Thran riechenden Kleider, sein schwerer, klappernder Gang, seine Gefräßigkeit und jene Festlands-Dummheit, welcher die Seeleute im Hause unterworfen sind; wie ist, dies alles so ungeheuer verschieden von dem Bilde, das der Sehnenden vor der Seele stand, als sie ihr Sehnsuchtslied sang.

Da wendet sie den Blick von der Wirklichkeit ab und läßt ihn weit, weit hinaus schweifen, um die Vision ihrer Sehnsucht zu erschauen.

Wiederholt sich dies nun im Lauf der Zeit, nicht nur als eine passive Erscheinung, sondern im Gegenteil, wächst es gleichsam mit den Quadraten der Entfernung als ein actives, sich entwickelndes psychisches Element, das notwendige Folgen hervorruft, so gehen Wirklichkeit und idealer Gegenstand der Sehnsucht immer weiter, immer wesentlicher und vollständiger auseinander, so daß das Weib sich endlich nicht nach dem Fischer, der ihr Mann ist, auch nicht in seiner Abwesenheit nach ihm, sondern an seiner Seite nach der Vision ihrer Seele sehnt. Und so fluthet zwischen ihnen – das Meer.

Allein die Zeit vergeht und jene, von der Sehnsucht hervorgerufene Vision, die Anfangs so farbig war, daß sie die Wirklichkeit verdeckte, verblaßt. Es ist gerade so, als ob sie mit dem Meere dort immer ferner und ferner zurückträte. Im Herzen der einfachen Fischersfrau mehrt sich weder Glanz noch Farbenspiel, womit sie die Ausgeprägtheit des idealen Bildes nähren könnte. Das Bild selbst also verblaßt und verwischt sich, aber das Gefühl des Abstandes zwischen ihm und der Wirklichkeit bleibt zurück. Es bleibt als Eindruck einer ungeheuren, nebligen Weite, einer unermeßlichen Ferne, nach welcher die Seele hinstrebt, immer weiter und weiter, ohne sie jemals zu, erreichen. Was es ist, dem sie zustrebt, das sie in jenen Fernen sieht, das sie, von ihm umfangen, zu umfangen sich sehnt – sie weiß es nicht. Sie fühlt nur, daß sie etwas hinzieht, etwas ruft, etwas zu sich heranzaubert, daß etwas ihren Blick, ihre Seele, ihre Lieder an sich reißt. – – –

So entsteht die allergefährlichste Sehnsucht, die gegenstandslose Sehnsucht, die nichts beschwichtigen kann und die bei der geringen Complicirtheit einer solchen einfachen Seele bald nicht nur deren mächtigster und hervorragendster, sondern deren einziger Ausdruck wird.

Da strömt in jedem Atemzug des Weibes Sehnsucht aus – nur um der Sehnsucht willen. Sie ist davon verzaubert, besessen, verhext, sie wird elend, blaß, krank.

Krank ist sie nach der Ferne, wie das Mere Poutaint in ihrer knappen, treffenden, aber tief psychologischen Diagnose bezeichnet. Das Meer aber tritt immer mehr und mehr zurück, der düstere, bebende Abgrund wird immer größer, immer ungeheurer und sein Donnern und Tosen braust aus immer ferneren, uferlosen Unendlichkeiten heran.

Dort aber, am fernsten Horizont, taucht immer und ewig ein nebelhaftes Segel, die Vision eines Segels auf, das immer dahintreibt, aber niemals an irgend einem Ufer landen wird.

Diesem Segel nach, ihm zu, schweift durch die öden, geheimnisvollen Weiten Yvette's Auge und ihr Lied.