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Kommunismus und Sozialdemokratie

I. Die Idee einer sozialdemokratisch-kommunistischen Koalition.

Das deutsche Proletariat steht vor schweren Kämpfen mit der anschwellenden Masse des Faschismus Hitlers. Nur als geschlossene Front darf es erwarten, sich siegreich zu behaupten. Kommunisten wie Sozialdemokraten werden in gleicher Weise von den Nationalsozialisten bedroht. Trotzdem verharren die Kommunisten bei ihrer alten Taktik, die Sozialdemokratie als ihren schlimmsten Feind anzusehen, der zuerst zu besiegen sei, ehe man an die Hitlerleute herankönne.

Die Unsinnigkeit dieser Taktik hat sogar der Kommunist Trotzky klar erkannt, er fordert die Kommunisten Deutschlands auf, sich mit der Sozialdemokratie über eine gemeinsame Abwehr des Nationalismus zu verständigen Obiges war schon geschrieben, da erfuhr ich von einem Artikel, den ein Herr Heinrich Zell in einem Berliner Blättchen, »Der Vorstoß«, veröffentlichte. Er weiß dort zu berichten, der »Reichstagsabgeordnete Kautsky« habe Trotzki mit Briefen bombardiert und der österreichische Genosse Alfred Adler sei zur Verstärkung dieser Briefe nach der Türkei gefahren, um Trotzky zu veranlassen, für eine sozialdemokratisch-kommunistische Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus einzutreten.
Diese Notiz erhält Bedeutung nur dadurch, daß die Moskauer »Iswestja« sie mit Behagen weitergibt, um Trotzkys »Verrat am Kommunismus« zu kennzeichnen. Natürlich ist die ganze Mitteilung willkürlich aus den Fingern gesogen, noch dazu von einem Mann, der die Menschen, über die er schreibt, so wenig kennt, daß er mich zum Reichstagsabgeordneten macht und Fritz Adler, den er offenbar meint, mit Alfred verwechselt. Ich habe seit dem Jahre 1914 keine Zeile an Trotzky gerichtet. Nicht, weil ich es prinzipiell ablehnen würde, mit Kommunisten Briefe zu wechseln, sondern weil ich keine Veranlassung hatte, mich mit Trotzky auszusprechen. Wir verkehrten miteinander nur noch auf dem Wege öffentlicher Polemiken in Büchern. K. K.
.

So dringend notwendig das wäre, es wird nicht geschehen, die Kommunisten werden fortfahren, den Nationalsozialismus in dieser Krise der Republik dadurch zu unterstützen, daß sie keine Partei so grimmig befehden, wie die Sozialdemokratie, zeitweise Hand in Hand mit den Hitlerleuten.

Liegt da nicht ein unglückseliges Mißverständnis vor? Was trennt uns denn von den Kommunisten? Diese bilden ebenso wie wir Sozialdemokraten eine proletarische Partei. Die Befreiung des Proletariats durch Einführung einer sozialistischen Gesellschaft ist unser gemeinsames Ziel. Noch mehr: die theoretische Grundlage für unsere praktischen Kämpfe haben wir mit den Kommunisten gemein: die Lehre von Karl Marx. Es scheint, als trennte uns nur die verschiedene Auslegung mancher seiner Worte. Und daran sollte eine Kampfgemeinschaft scheitern, in der es um Sein oder Nichtsein des ganzen proletarischen Befreiungskampfes geht?

Träfe das zu, dann stünde unsere Bewegung nicht höher als manche christliche Sektierer, die sich aufs wütendste um der Auslegung einzelner Bibelworte willen zerfleischten.

Dieser Ansicht ist unter anderem Dr. Paul Krische. In der »Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie«, September 1931, in der es von der »Krise des Sozialismus« handelt, erklärt er: »Der erbitterte Bruderkampf beider Internationalen« sei »der typische dogmatische Kampf um den echten Ring«.

Indes, näher besehen, waren auch jene Sektierer nicht so verbohrt, wie es auf den ersten Blick erscheint. Hintes der verschiedenen Auslegung von Worten bargen sich sehr reale Differenzen. Anscheinend bekämpften sich z. B. Luther und Zwingli bloß wegen der verschiedenen Deutung der Worte, durch die Christus das Abendmahl eingesetzt hatte. Doch ihr wirklicher Gegensatz bestand darin, daß Zwingli ein Republikaner war und Luther die absolute Monarchie verfocht.

Ebenso verhält es sich heute bei dem Verhältnis zwischen uns und den Kommunisten. Sie bekämpfen uns nicht, weil sie Marx anders auslegen als wir, sondern sie müssen ihn anders auslegen, um Argumente gegen uns zu finden. Einst standen sie auf gleichem theoretischen Boden mit uns. Aber später hat sich zwischen ihnen und uns ein Abgrund aufgetan, den nichts überbrücken kann, so sehr wir es wünschen würden und so notwendig es wäre. Dieser Abgrund entsteht weder aus einem Mißverständnis noch aus einer bloßen Meinungsverschiedenheit.

II. Die Eigenart des Marxismus

Um zu erkennen, wie völlig unvereinbar Kommunismus und Sozialdemokratie miteinander sind, müssen wir zunächst einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des Sozialismus werfen.

Er hat zwei Wurzeln, eine ethische und eine ökonomische. Die erstere geht aus dem angeborenen Wesen des Menschen hervor, die andere aus dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaft und der Klassenlage ihres Proletariats.

Die Forderung, die die Männer der französischen Revolution aufstellten nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ist eine Forderung, die älter ist als die geschriebene Geschichte. Sie bildet das Verlangen aller Unterdrückten und Ausgebeuteten und ihrer Freunde, seitdem es Unterdrückung und Ausbeutung gibt. Doch diese Forderung stellt bloß ein Problem auf, zeigt nicht den Weg, es zu lösen. Dieser Weg ist unter verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen für verschiedene Klassen sehr verschieden. Erst unter der kapitalistischen Produktionsweise wird die Lösung des Problems durch Herbeiführung demokratischer Gemeinwirtschaft der arbeitenden Menschen möglich und notwendig. Nur durch ökonomische Forschung, nicht durch ethische Entrüstung kann man zu dieser Lösung kommen. Aber freilich wird man zu ihr nicht kommen, wenn man nicht von dringendem Verlangen nach dem durchglüht wird, was man seit 1789 als »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« bezeichnete.

Jeder sozialistische Denker war ein Empörer gegen jegliche Knechtung und Ausbeutung. Doch ein jeder war auch ein ökonomischer Forscher.

Die revoltierende Betrachtung des Massenelends, das die kapitalistische Industrie mit sich brachte, führte zu sozialistischen Ideen. Doch dieses selbe Elend drückte gerade durch seine Furchtbarkeit die arbeitenden Massen so tief herunter, daß sie vielfach unfähig wurden zur Widersetzlichkeit. Und wo sich einmal ein paar von ihnen empörten, wußten sie nichts Besseres zu tun, als Maschinen zu zerstören und Fabriken anzuzünden. Sie vermehrten durch solche Wutausbrüche nur das eigene Elend.

Für die ersten Sozialisten stand es daher fest, daß das Proletariat sich nicht selbst befreien könne. Die Befreiung sollte ihm durch Menschenfreunde gebracht werden, die über ihm standen. Doch lag es bald klar zutage, daß von den Staatsmännern und Millionären der bürgerlichen Welt nichts zu erwarten sei. Neben den auf die wohlmeinende Bourgeoisie rechnenden Utopisten erstanden Sozialisten, die erkannten, daß nur aus dem Proletariat selbst die Kraft zur Durchführung des Sozialismus kommen könne. Doch auch sie verzweifelten an der Masse. Sie wandten sich an die kleine Schar von Eliteproletariern, die besondere günstige Verhältnisse über den Durchschnitt erhoben. Sie im Verein mit Berufsrevolutionären sollten sich in einer Verschwörung zusammenfinden, um durch einen bewaffneten Putsch die Staatsmacht zu erobern und durch sie das Proletariat zu befreien, den Sozialismus durchzuführen. Endlich gab es auch Sozialisten, die sich durch die Anfänge der Arbeiterbewegung täuschen ließen, die Zahl und die intellektuelle Höhe der Arbeiter ihrer Zeit überschätzten, vermeinten, das Proletariat bedürfe bloß der Demokratie, namentlich des allgemeinen Stimmrechts, um sofort die Staatsgewalt zu gewinnen und die Gesellschaft in seinem Sinne zu gestalten.

Alle diese Richtungen, wie verschieden sie voneinander waren, stimmten darin überein, daß sie nur mit dem Proletariat rechneten, wie sie es vorfanden, und nach einem Mittel zur sofortigen »Lösung der sozialen Frage«, das heißt, zur sofortigen Aufhebung des Elends und der Knechtung der arbeitenden Klassen suchten. Jede dieser Richtungen übte die strengste Kritik an den anderen sozialistischen Richtungen, jede erkannte klar die Illusionen der andern – und jede hatte darin recht Dabei unterlagen sie alle der Kritik der Zeit, durch die eine jede von ihnen sich bald abnützte.

Da kamen Marx und Engels mit ihrem dialektischen Materialismus und führten die Idee der Entwicklung in das sozialistische Denken ein. Sie erkannten das Proletariat nicht bloß wie es ist, sondern wie es wird. Sie erkannten, zur Zeit des Kommunistischen Manifestes, daß es noch nicht so weit sei, sich ohne weiteres zu befreien, auch nicht durch das allgemeine Wahlrecht, daß es jedoch ebensowenig befreit werden könne durch wohlmeinende Bourgeois oder durch den Putsch einer Vorhut energischer Verschwörer. Aber sie sahen gleichzeitig, daß das Proletariat durch das Wachstum der Industrie an Zahl immer mehr zunehme und gleichzeitig intellektuell, moralisch, organisatorisch immer mehr erstarke. Auf diese Weise werde es die Kraft erlangen, sich selbst zu befreien. Dazu müßte es freilich erzogen werden. Doch könne das nicht durch Leute bewirkt werden, die sich selbst zu Schulmeistern der Arbeiterschaft aufwürfen, sondern durch die Praxis des Klassenkampfes, der den Lohnarbeitern durch die Verhältnisse aufgedrängt werde.

Seine erzieherische Wirkung kann der Klassenkampf unter sonst gleichen Bedingungen um so eher entfalten, je mehr er auf demokratischer Grundlage vor sich geht, der Grundlage allgemeiner Schulbildung, der Organisations- und Preßfreiheit und des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Lange bevor diese Rechte für das Proletariat Mittel werden, die politische Macht zu erobern, werden sie Mittel seiner Erziehung, um es reif zu machen, diese Macht nicht bloß zu erobern, sondern auch festzuhalten und erfolgreich zum Aufbau einer höheren Gesellschaftsordnung zu benutzen.

Die Aufgabe der Sozialisten bestand für Marx und Engels nicht darin, sofort die »soziale Frage« zu lösen und den Sozialismus durchzuführen, sondern zunächst darin, das Proletariat in seinem Klassenkampf zu unterstützen, es über die kapitalistische Gesellschaft, ihre Machtverhältnisse und Produktionsbedingungen aufzuklären, seine Organisation zu stärken.

Von diesem Standpunkt ausgehend, strebten Marx und Engels nach der Zusammenfassung aller am Befreiungskampf des Proletariats teilnehmenden Elemente in einer geschlossenen Massenpartei. Vor ihnen hatten die verschiedenen führenden sozialistischen Denker jeder sein besonderes Mittel zur Lösung der sozialen Aufgabe erfunden und den Kampf gegen alle Sozialisten eröffnet, die andere Mittel anpriesen. So hatte der Sozialismus die Arbeiter gespalten. Marx und Engels legten Wert darauf, sie zu einigen, nicht eine marxistische Sekte zu den andern hinzuzufügen.

Schon im Kommunistischen Manifest 1847 betonten sie das. Sie erklärten ihren Anhängern, die sich als Kommunisten bezeichneten:

 

»Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien.«

 

Sie verlangten von ihren Anhängern nur, sie, sollten innerhalb der Arbeiterparteien danach trachten, »vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung« vorauszuhaben,

In diesem Sinne haben sie auch gehandelt, z. B. in der ersten Internationale, in der die Marxisten sehr dünn gesät waren. Dafür zählte sie um so mehr Proudhonisten, später auch Blanquisten sowie englische Gewerkschafter, die von Sozialismus wenig wußten.

III. Die Diktatur in der Partei.

Marx und Engels haben es verstanden, die Ideenwelt des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung zu einer festen Einheit zu verschmelzen. Auf dieser Einheit beruhen alle Arbeiterparteien unserer Zeit, die seit dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts erstanden und an die Stelle der ihnen vorhergehenden Sekten traten. Als Arbeiterparteien verfechten sie die Klasseninteressen des Proletariats; als sozialistische Parteien führen sie den proletarischen Klassenkampf als Befreiungskampf aller Geknechteten und Ausgebeuteten, nicht nur der Lohnarbeiter allein.

Die sozialistischen Parteien kämpfen nicht bloß um kürzere Arbeitszeit und höhere Löhne, um Arbeitslosenversicherung und Betriebsräte, sondern für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aller Menschen, ohne Unterschied des Geschlechts, der Religion oder der Abstammung.

Die sozialistischen Arbeiterparteien dieser Art verwirklichen die marxistischen Ideen auch dann, wenn sie sich ihrer nicht bewußt werden. Sie sind in den Gebieten kapitalistischer Produktionsweise überall mit wenigen Ausnahmen seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts in unwiderstehlichem Vordringen begriffen. Auch Rußland konnte sich dem Auftauchen des Marxismus und einer auf seinen Anschauungen aufgebauten sozialdemokratischen Arbeiterpartei nicht verschließen. Doch stellte das Zarenreich einer sozialistischen Partei marxistischer Färbung außerordentliche Hindernisse entgegen, noch größere als dem vormarxistischen sozialistischen Denken. Rußland hemmte das Aufkommen marxistischer Ideen schon wegen seiner ökonomischen Rückständigkeit, die bewirkte, daß eine ausgedehnte kapitalistische Massenindustrie und damit eine zahlreiche großindustrielle Lohnarbeiterschaft in den Großstädten erst spät auftrat. Nicht minder wurde das Aufkommen einer Partei des proletarischen Klassenkampfes durch das Fehlen jeglicher Demokratie gehemmt, das alle Parteitätigkeit, jede Massenorganisation, jede freie Presse unmöglich machte.

Dazu kam, daß sich in Rußland bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eben wegen seiner Rückständigkeit, mehr Reste eines primitiven Dorfkommunismus erhalten hatten als sonstwo in Europa. Alles das bewirkte, daß das sozialistische Denken, das sich in Rußland bildete, dort länger als im Westen vormarxistische Züge bewahrte. Die russischen Kämpfer für Freiheit und Gleichheit übernahmen frühzeitig von Westeuropa sozialistische Tendenzen, Es lag aber für sie nahe, nicht im wenig zahlreichen städtischen Proletariat, sondern in der ungeheuren Masse der Bauernschaft die Kraft zu sehen, aus der die sozialistische Regenerierung des Zarenreichs hervorgehen sollte. Die städtischen Arbeiter selbst kamen zumeist vom Dorf, waren vielfach ihrem Denken und Fühlen nach noch ganze Bauern. Und auf dem Dorfe war man entfernt von der Staatspolizei, konnte man leichter Propaganda treiben.

Die arbeitenden Massen in Stadt und Land und die Verfechter ihrer Interessen unter den Intellektuellen, namentlich den Studenten, wurden weit eher von Ideen eines Bauernsozialismus ergriffen als vom Marxismus. Später als in Westeuropa kam dieser in Rußland empor, nur langsam und schwer gewann er Einfluß auf die städtischen Arbeiter und die Studenten.

Erst 1898 waren die Gruppen, die sich zu marxistischen Ideen bekannten, zahlreich genug geworden, um zur Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands schreiten zu können.

Sie war eine durch und durch marxistische Partei und hat Forscher hervorgebracht, die das marxistische Denken nicht nur in Rußland, sondern in der ganzen Welt aufs mächtigste befruchtet haben.

Doch die besonderen Verhältnisse Rußlands waren dem konsequenten Marxismus nicht günstig. Auch in Deutschland war dieser erst durchgedrungen, als seine Großindustrie hoch entwickelt war und seine politische Verfassung ausreichend Gelegenheit für große, freie Arbeiterorganisationen und eine sozialistische Massenliteratur sowie für freie Betätigung der Massen in Streiks und Wahlkämpfen bot. In Rußland waren auch nach der Bildung der Sozialdemokratischen Partei die Industriearbeiter noch relativ wenig zahlreich, und sie fühlten sich meist noch als Bauern ohne eigenes proletarisches Bewußtsein. Dabei gab es nur eine geheime Presse und geheime Organisationen, die naturnotwendig nur kümmerliche Dimensionen erreichen konnten. Die Bedingungen bestanden weiter, die marxistisches Denken hemmten. Selbst viele, die sich für Marxisten hielten, unterlagen ihnen. Sie leugneten nicht den Marxismus, vertraten ihn vielmehr oft fanatisch. Aber unwillkürlich unterschoben sie ihm immer mehr Gedankengänge, die vormarxistischer, blanquistischer oder bakuninistischer Art waren.

Der weitaus bedeutendste unter den Marxisten dieser Art wurde Wladimir Ulianoff, mit dem bekannteren Kämpfernamen Lenin. Er hatte sich der russischen Sozialdemokratie von ihrem Beginn an angeschlossen. Ihrem Programm stimmte er zu – er hat daran mitgearbeitet. Was ihn zuerst in Gegensatz zu den konsequenten Marxisten unter seinen Parteigenossen brachte, war die Frage der Parteiorganisation.

Diese Organisation mußte unter den Verhältnissen des zaristischen Rußland notwendigerweise eine geheime sein. Doch sollte sie eine Form erhalten, die den geistigen Kräften der Mitglieder die größten Möglichkeiten der Höherentwicklung bot und die weitesten Kreise der Arbeiterschaft zu selbständigem Denken anregte. Das war nur erreichbar bei regster Teilnahme aller Parteigenossen an der Parteitätigkeit und ihrer engsten Fühlung mit der Arbeiterbewegung. Das hieß nichts anderes als weitgehende Demokratie innerhalb der Partei.

Das stand ganz im Einklang mit den Auffassungen von Marx, dem die Demokratie in den Anfängen der Bewegung weniger ein Mittel war, politische Macht zu gewinnen als vielmehr eines, die Massen zu erziehen.

Der Bund der Kommunisten, dem Marx und Engels 1847 beitraten, hatte bei den damaligen politischen Zuständen auf dem Festland Europas ein Geheimbund sein müssen. Er war zuerst auch eine Verschwörung. Eine solche bedingt eine diktatorische Macht der Leitung über die Mitglieder. Das lehnten unsere Meister ab. Sie traten dem Bund erst bei, als er aufhörte, eine Verschwörung zu sein, obwohl er ein Geheimbund bleiben mußte angesichts des Fehlens jeglicher Vereinsfreiheit. Engels berichtet über ihn:

»Die Organisation (des Kommunistenbundes) selbst war durchaus demokratisch, mit gewählten und stets absetzbaren Behörden, und hiedurch allein allen Konspirationsgelüsten, die Diktatur erfordern, ein Riegel vorgeschoben Einleitung zu K. Marx, Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln. Zürich 1885, S. 10.

Wie der Kommunistenbund mußte auch seine Nachfolgerin, die erste Arbeiterinternationale von 1864, in manchen Ländern geheim organisiert sein. Doch abermals kämpfte Marx heftig dagegen, daß sie als eine Verschwörung mit diktatorischer Spitze aufgebaut werde, wie Mazzini es wollte. Marx siegte damals über diesen. Nicht diktatorisch, sondern demokratisch wurde die erste Internationale organisiert. Marx war auch gegen die Art, wie 1863 der Allgemeine deutsche Arbeiterverein organisiert wurde, in dem Lassalle diktatorische Vollmachten erhielt. Die Eisenacher unter Bebel und Liebknecht, denen Marx zustimmte, organisierten sich im Gegensatz zu den Lassalleanern 1869 demokratisch. Die diktatorische Organisationsform nutzte sich rasch ab. Die demokratische wurde die allgemeine Form proletarischer Organisationen in Deutschland.

Doch das Bedürfnis nach einer Verschwörung mit unbeschränkter Diktatur des Leiters und blindem Gehorsam der Mitglieder macht sich immer wieder dort breit, wo die Organisation eine geheime sein muß, die Masse noch keine eigene Bewegung zeigt und wo die politische Organisation nicht als Mittel betrachtet wird, das Proletariat zur Selbständigkeit zu erziehen, sondern die politische Macht durch einen Handstreich zu erobern. Nicht der Klassenkampf, sondern der Putsch tritt damit in den Vordergrund des Interesses, und mit ihm wird militärisches Denken in die Parteiorganisation hineingetragen, ein Denken, das auf den Sieg im Bürgerkrieg, nicht auf die geistige und ökonomische Hebung der Massen ausgeht. Diese werden immer mehr als Kanonenfutter betrachtet, das um so leichter zu verwenden ist, je fügsamer es jedem Kommando gehorcht, ohne eigenes Denken und Wollen.

Die Sozialdemokratie Rußlands wurde, den Marxschen Auffassungen entsprechend, demokratisch organisiert. Aber Lenin entdeckte darin bald einen Fehler. Er fing an, für das Zentralorgan der Partei vermehrte Befugnisse zu fordern, für die Mitglieder Schmälerung ihrer Rechte in der Partei.

Nicht nur Axelrod, Vera Sassulitsch, Potressoff, später auch Plechanoff traten ihm entgegen. Selbst Rosa Luxemburg, die sonst mehr zu Lenin neigte, hatte Bedenken gegen die Diktatur, die Lenin in der Partei aufrichten wollte.

In seiner Schrift »Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück« (1904), ging er bereits so weit, zu erklären:

»Der Bureaukratismus entgegen dem Demokratismus, das ist das Organisationsprinzip der revolutionären Sozialdemokratie entgegen dem Organisationsprinzip der Opportunisten (S. 151).«

Ich entnehme das Zitat einer Kritik, die Rosa Luxemburg in der »Neuen Zeit« (XXII. 2.) an Lenins Buch übte. Sie erklärte:

»Die Aufrichtung der Zentralisation in der Sozialdemokratie auf diesen zwei Grundsätzen, auf der blinden Unterordnung aller Parteiorganisationen mit ihrer Tätigkeit bis ins kleinste Detail unter eine Zentralgewalt, die allein für alle denkt, schafft und entscheidet, sowie auf der schroffen Abgrenzung des Kerns der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären Milieu, wie sie von Lenin verfochten wird, erscheint uns als eine mechanische Uebertragung der Organisationsprinzipien der blanquistischen Verschwörung von Arbeiterzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen (S. 488, 489).«

»Lenins Gedankengang ist hauptsächlich auf die Kontrolle Das Wort wird hier wohl mehr im englischen Sinne von »Beherrschung« als im französischen von »Beaufsichtigung« gebraucht. K. der Parteitätigkeit und nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht auf die Entfaltung, auf die Schurigelung und nicht die Zusammenziehung Soll wohl heißen: Zusammenfassung, Konzentration. K. der Bewegung zugeschnitten.« (S. 492.)

So kennzeichnete Rosa Luxemburg das Wesen des Leninismus schon in seinen ersten Anfängen. Kein Wunder, daß Stalin sie heute auf den Index der Gegenrevolutionäre setzt.

Die von Lenin angestrebte absolute Herrschaft einer von einem Diktator geführten Verschwörung von Berufsrevolutionären über die Arbeiterbewegung kann für diesen Diktator ein vorzügliches Mittel werden, in der Bewegung Macht zu gewinnen. Allerdings auch das nur unter bestimmten Umständen, nur bei einer sehr unentwickelten, unselbständigen Arbeiterschaft. Proletarier, die gewöhnt sind, selbständig zu denken und zu handeln, lassen sich eine solche Bevormundung nicht gefallen. Doch bei rückständigem Proletariat kann die Diktatur einer überlegenen Persönlichkeit sicher ein ausgezeichnetes Mittel der Machtgewinnung werden. Dagegen versagt sie vollständig als Mittel, die Kräfte und Fähigkeiten der Arbeiter zur Selbstbefreiung und Selbstverwaltung zu entwickeln. Schon 1904 hat Rosa Luxemburg herausgefunden, daß die Diktatur in der Partei nur bewirken kann, den geistigen Aufstieg der Arbeiterschaft zu hemmen und einzuengen. Und doch wird gerade in dem anfänglichen Stadium der proletarischen Bewegung, in dem allein eine freiwillig anerkannte Diktatur eines ihrer Führer über sie möglich ist, die Erziehung des Proletariats zu selbständigem Denken und Handeln weit wichtiger, als die Gewinnung von Macht für die Führer.

Rosa Luxemburg hat also bereits vor bald dreißig Jahren den Leninismus als ein die Höherentwicklung des Proletariats hemmendes Element erkannt. Natürlich vermochte sie nicht damals schon alle die verderblichen Wirkungen vorauszusehen, die er in seinem Schoße barg.

Indes machte sich bereits in den Anfängen des Leninismus neben der »Einengung« und »Schurigelung« der Bewegung noch ein weiteres sehr schädliches Moment stark bemerkbar.

Der Diktator ist gleich dem Gott der Monotheisten ein höchst eifersüchtiger Gott. Er duldet keinen anderen Gott neben sich. Wer in der Partei an seine göttliche Unfehlbarkeit nicht glaubt, erntet seinen glühenden Haß. Lenin erhob den Anspruch, das gesamte Proletariat müsse willenlos seiner Führung folgen. Wer innerhalb des Proletariats anderen Führern mehr Zutrauen schenkte oder gar selbständig eine eigene Meinung verfocht, der erschien ihm als der ärgste Feind, der mit allen Mitteln zu bekämpfen war, auch den schmutzigsten, wenn sie momentanen Erfolg versprachen.

Daraus ergab sich für Lenin, ergibt sich für jeden, der Diktator in der Partei sein will, die Unmöglichkeit, mit Genossen zusammenzuarbeiten, die gelegentlich anders denken als er; ja sogar die Unmöglichkeit, überhaupt mit charaktervollen, selbständig denkenden Genossen auf dem Fuße der Gleichberechtigung in der Partei dauernd zusammen tätig zu sein.

Wo die Diktatur im Parteiorganismus Platz greift, verarmt er daher geistig immer mehr, da sie die besten Kräfte entweder zum Verzicht auf geistige Selbständigkeit bringt, degradiert, oder sie aus der Partei ausschließt.

Noch schlimmer aber wirkt die Diktatur in der Partei dadurch, daß sie es unmöglich macht, alle Elemente, die gewillt sind, an dem proletarischen Klassenkampf teilzunehmen, in einer Kampfgemeinschaft zu vereinigen.

Marx hat es uns gelehrt und eine Fülle bitterer Erfahrungen haben es seitdem bestätigt, daß das schlimmste Hemmnis der Arbeiterbewegung die Spaltung ihrer Organisationen ist. Nur in geschlossener Einheitlichkeit vermag das Proletariat vorwärts zu kommen. Die Diktatur bedeutet aber notwendigerweise die Spaltung.

Gewiß ist sie nicht die einzige Ursache von Spaltungen sozialdemokratischer Parteien. Mitunter treten in einer solchen Partei unter besonderen Umständen so tiefgehende Meinungsverschiedenheiten, namentlich taktischer oder organisatorischer Natur auf, daß eine Spaltung nicht zu vermeiden ist. Doch stets wird diese als ungeheures Unheil empfunden und stets strebt man nach Ueberwindung der Spaltung, sobald der Anlaß aufhört, der sie hervorgerufen hat.

Die Diktatur in der Partei geht dagegen von vornherein auf die Spaltung der Partei aus, diese Spaltung liegt im Wesen der Diktatur. Der Diktator lehnt es nicht bloß ab, seine Organisation mit anderen, selbständigen, Arbeiterorganisationen zu einem höheren Gesamtorganismus zu vereinigen. Es fällt ihm nicht einmal ein, mit anderen sozialistischen Parteien wenigstens gelegentlich gegen den gemeinsamen Klassengegner zusammenzuwirken.

Kaum begann der Leninismus sich in der russischen Sozialdemokratie zu entfalten, da führte er auch schon zur Spaltung in Menschewiki und Bolschewiki. Dank dem trat unsere russische Bruderpartei bereits 1905 in die erste russische Revolution gespalten ein, was ihre Kraft in diesem entscheidenden Zeitraum bedenklich schwächte, zum größten Schaden des russischen Proletariats.

Seitdem hat sich die Kluft zwischen den beiden Richtungen des russischen Marxismus nicht wieder geschlossen, sondern im Gegenteil immer mehr vertieft und verbreitert.

Geistige Verarmung der eigenen Partei, Hemmung des geistigen Aufstiegs der Arbeiterschaft, ihre Schwächung durch dauernde Spaltung – das war das Ergebnis der Leninschen Parteidiktatur schon vor der russischen Revolution von 1917.

Diese brachte eine fundamentale Wandlung aller sozialen und politischen Verhältnisse. Wie gestaltete sich da der Leninismus?

IV. Die Diktatur im Staate.

Die russische Märzrevolution von 1917 brach unter Umständen aus, wie sie, wenn auch nicht gleich für den Sozialismus, so doch für die sozialistischen Parteien nicht günstiger sein konnten. Der zaristische Herrschaftsapparat war damals völlig zusammengebrochen, der Adel politisch und sozial abgenutzt und hilflos, das Kapital dagegen vornehmlich ausländischen Ursprungs, so daß sich die eigentliche russische Kapitalistenklasse ganz kraftlos zeigte. Da wurden Proletarier und Intellektuelle im Verein mit der Bauernschaft allmächtig. Und in diesen Klassen und Schichten überwogen die Sozialisten – die Sozialrevolutionäre mehr bei den Bauern, die Sozialdemokraten, sowohl Menschewiki wie Bolschewiki, mehr unter den Lohnarbeitern und Intellektuellen.

Die Sozialisten beherrschten den Staat. Sie konnten relativ – im Verhältnis zur Rückständigkeit des Staates und der arbeitenden Klassen – ungeheuer viel für diese Klassen damals erreichen, sie rasch gewaltig heben und zur Beherrschung des Produktionsprozesses reif machen unter zwei Bedingungen: einmal, daß die im März 1917 gewonnenen demokratischen Freiheiten erhalten blieben, so daß die Aufklärung und Organisierung der Massen, ihre Selbstbetätigung in Politik und Wirtschaft ungehindert vor sich gehen konnte. Dann zweitens, daß die sozialistischen Parteien sich auf ein gemeinsames Aktionsprogramm einigten und sich koalierten, um es loyal durchzuführen.

In diesem Sinne handelten auch die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki. Nicht die Bolschewiki. Lenin kam im April 1917 nach Petrograd aus der Schweiz von vornherein mit der Absicht, den anderen sozialistischen Parteien den Krieg anzusagen und sie zu zertrümmern. Dies Streben war nicht eine gelegentliche Laune, es entsprang dem Wesen der Diktatur in der Partei.

Mehr asiatisch als europäisch, den Bedürfnissen und Instinkten des rückständigsten Teils des russischen Proletariats angepaßt, erwies sich unter den damals gegebenen, ganz ausnahmsweisen Bedingungen die Diktatur in der Partei als ein ausgezeichnetes Mittel, die demokratisch organisierten Parteien der Bauern und Proletarier niederzuwerfen und ohne sie, ja gegen sie die Macht im Staate zu erobern – allerdings die Macht nur für den Diktator, nicht für das Proletariat.

Nach dem völligen Zerfall der zaristischen Armee und Bürokratie im Weltkrieg war die stramm zentralisierte und diktatorisch regierte bolschewistische Partei diejenige Organisation, die sich schließlich in der allgemeinen Desorganisation des Staates durchsetzte. Sie tat es, um eine neue Armee und Bürokratie aufzubauen, eine neue Autokratie zu errichten unter Ausschließung aller Freiheit des Handelns und Denkens in Staat und Gesellschaft.

Die Diktatur Lenins über die Partei dehnte sich jetzt aus zu einer Diktatur über die Gesamtbevölkerung des Staates. Damit wurde aber der Gegensatz des Bolschewismus zu den übrigen sozialistischen Parteien maßlos gesteigert.

Bis 1917 war die Diktatur in der bolschewistischen Partei für sie Mittel des Kampfes für die Demokratie im Staate gewesen. Diesen Kampf führte Lenin ebenso wie die anderen sozialistischen Parteien. Noch 1917 forderte er ebenso wie diese die Einberufung einer nach allgemeinem Wahlrecht erwählten Konstituante. Und bis 1917 hatte er den Kampf gegen die anderen sozialistischen Parteien nur mit den Mitteln der Propaganda führen können, mit geistigen Waffen. Er unterschied sich in dieser Beziehung von den anderen Sozialisten nur dadurch, daß er die Lüge auch zu den geistigen Waffen zählte. Ein Sozialist, der seine Aufgabe darin sieht, das Proletariat geistig so hoch zu heben, daß es imstande ist, sich selbst zu befreien, muß sich bei seiner propagandistischen Tätigkeit stets streng an die Wahrheit halten. Wer dagegen das Proletariat für unfähig hält, sich selbst zu befreien, wer es im Kampfe bloß als Kanonenfutter schätzt, das nur dazu da ist, dem Diktator blind gehorsam die nötige Macht zu verschaffen, der schreckt vor Lügen nicht zurück, wenn sie das Prestige des Diktators erhöhen und die anderen, selbständig denkenden Sozialisten als erbärmliche Kerle erscheinen lassen.

Als die Erwählung der Konstituante den anderen Sozialisten, nicht den Bolschewiki die Mehrheit brachte, entschloß sich Lenin ohne weiteres, die Versammlung auseinanderzujagen, deren Zustandekommen er eben noch eifrig betrieben. Auf den Trümmern der demokratischen Staatsverfassung, für die er bis 1917 gegen den zaristischen Absolutismus gekämpft, errichtete er jetzt seine Staatsmacht. Auf diesen Trümmern baute er einen neuen militaristisch-bürokratisch-polizeilichen Staatsapparat der Autokratie auf. Damit verfügte er den anderen Sozialisten gegenüber über alle Mittel der Repression, die der Zarismus angewandt hatte, und er gesellte noch jene Mittel der Unterdrückung hinzu, die der Kapitalist als Besitzer der Produktionsmittel gegen ungebärdige Lohnsklaven anwendet. Ueber diese Produktionsmittel in ihrer Gesamtheit verfügte Lenin jetzt, da er die Staatsmacht dazu benutzte, seinen Staatskapitalismus aufzurichten, den man besser Staatssklaverei nennen sollte.

Kein Kapitalismus macht die Arbeiter so von sich abhängig, wie der zentralisierte Staatskapitalismus in einem Staate ohne kraftvolle Demokratie. Und keine politische Polizei ist so allmächtig und allgegenwärtig, wie die Tscheka oder GPU, von Leuten eingerichtet, die jahrelang den Kampf gegen die politische Polizei des Zarismus geführt hatten, ihre Methoden, aber auch ihre Schwächen und Lücken kannten und sie daher zu verbessern wußten.

Alle diese Mittel der Repression brauchte man nicht in Anwendung zu bringen, wenn Lenin sich 1917 entschlossen hätte, mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki zusammen eine Koalition zu bilden. Hinter diesen Parteien stand die ungeheure Mehrheit in der Bevölkerung, wie die Wahlen zur Konstituante bewiesen. Alles, was die Bolschewiki an wirklichem Fortschritt durchzuführen suchten, gehörte auch zu dem Programm der anderen sozialistischen Parteien und wäre von ihnen durchgeführt worden, da die Bevölkerung ihnen die Macht dazu verlieh. Die Konfiskation des großen Grundbesitzes war auch von Sozialrevolutionären und Menschewiki geplant – sie wurde von der menschewistischen Regierung in Georgien durchgeführt. Den Kampf gegen den Analphabetismus, die Ehereform, Einrichtungen der Arbeiterwohlfahrt, Kinderheime, öffentliches Heilwesen, Betriebsräte, Arbeitslosenversicherung und Arbeiterschutz, von denen in Sowjetrußland soviel Wesens gemacht wird, sind vielfach in weit vollkommenerer Weise in kapitalistischen Staaten bei starker Arbeiterdemokratie erreicht worden. Die Sozialisierung der Großbetriebe, soweit sie schon ökonomisch vorteilhaft war, hätte die Mehrheit der Konstituante auch durchgeführt.

Alle diese Einrichtungen, auf die die Bolschewiki so stolz sind und die unwissenden Touristen so sehr imponieren, wären von der Mehrheit der Konstituante nicht nur durchgeführt, sondern besser durchgeführt worden, als von der Diktatur, schon aus dem Grunde, weil der Wohlstand des Landes größer gewesen wäre. Alle die Einrichtungen, die zugunsten der Massen in Rußland eingeführt wurden, leiden unter dem Mangel an Mitteln, unter überstürzter, mangelhaft vorbereiteter Einführung sowie unter Methoden brutaler Gewalt, zu denen die Diktatoren und ihre Werkzeuge auch dort schritten, wo es ohne Gewalt besser gegangen wäre. Viele arbeitende Menschen wurden dadurch gegen das neue Regiment dort erbittert, wo ihre freudige Mitwirkung möglich und notwendig war.

Alle derartigen Erschwerungen der sozialen Umwandlungen: Mangel an Mitteln, Ueberstürzung, Widerhaarigkeit der Bevölkerung, sie hätten sich in hohem Maße vermeiden lassen, wenn diese Umwandlungen ein Werk der Konstituante waren. Sie wurden direkt oder indirekt durch den Bürgerkrieg herbeigeführt, der eine notwendige Folge davon war, daß Lenin die Konstituante durch seine Matrosen im Januar 1918 auseinandersprengte.

Ohne Sprengung der Konstituante blieb Rußland der Bürgerkrieg mit seinen Schrecken, Roheiten und Verwüstungen erspart. Wieviel reicher wäre das Land geblieben, wieviel mehr Wohlstand hätte die soziale Umgestaltung den arbeitenden Klassen gebracht! Und alle die ungeheuren Kosten des militärischen, bürokratischen, polizeilichen Apparats hätte man sparen können, soweit er Repressivzwecken diente. Man hätte sie produktiven Aufgaben zugeführt und auch dadurch den allgemeinen Wohlstand gefördert.

Man durfte der Bevölkerung die größte Freiheit geben, sowohl ihrer Presse, wie ihren Vereinen und Versammlungen, ihrer Selbstverwaltung. Wie rasch mußten sich unter diesen Umständen die Massen ökonomisch, physisch, geistig heben, selbständigem Denken, gegenseitigem Vertrauen zwischen Arbeitern, Intellektuellen und Bauern sowie sozialistischer Produktion, einem Reich der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit entgegenreifen.

Diese ganze herrliche Entwicklung wurde an dem Tage verschüttet, an dem Lenin ihm ergebene Militärbanden dazu aufbot, der Konstituante ein Ende zu machen.

Daß diese so leicht zu stürzen war, bezeugt freilich auch einen hohen Grad politischer Unreife jener Volksschichten, die damals in Petrograd dominierten – ganz unwissende Soldaten, die nur einen Wunsch hatten: sofortigen Frieden, und die wähnten, Lenins Diktatur sei das unfehlbare Mittel, ihn zu bringen.

Nur die Komplizierung der Revolution durch den Krieg, nicht das Vertrauen der Mehrheit des Proletariats hat den Bolschewismus zur Herrschaft gebracht. Und weil er dies Vertrauen nicht besaß, mußte er, einmal an der Macht, zu ihrer Behauptung zum Terrorismus greifen und ihn beibehalten bis heute, ohne die geringste Aussicht auf seine Milderung.

Man sagt oft, der Terror gehöre einmal zum Wesen der Revolutionen. Mit Rosenwasser, mit Glacéhandschuhen würden Revolutionen nicht gemacht. So sei es immer gewesen.

Es ist ein sonderbarer Revolutionarismus, der behauptet, wie es bisher gewesen, müsse es auch heute und später wieder sein. Es ist aber nicht einmal wahr, daß es keine Revolution ohne Schreckensregiment gegeben habe. Die Große Französische Revolution begann 1789, der Terror erst im September 1792 infolge des Krieges. Nicht die Revolution, sondern der Krieg treibt zum Terror und auch zur Diktatur. Sie treibt zum Terror nur dort, wo sie mit den Mitteln des Bürgerkrieges ausgefochten wird.

Das war Ende 1917 in Rußland nicht nötig. Die Demokratie war errungen, Proletarier und Bauern herrschten – die Forderungen der Proletarier konnten mit demokratischen Methoden durchgesetzt werden, soweit sie mit den Interessen der Bauern vereinbar waren und mit den vorhandenen materiellen Mitteln befriedigt werden konnten.

Die Herrschaft der ungeheuren Mehrheit im Interesse der ungeheuren Mehrheit bedarf im demokratischen Staate keiner brutalen Gewalt, um sich geltend zu machen.

Bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung waren 36 Millionen Stimmen abgegeben worden, davon nur 4 Millionen für bürgerliche, 32 Millionen für sozialistische Parteien. Von rechts war die Versammlung in keiner Weise bedroht. Sie konnte ihr Werk der Regenerierung Rußlands und der Vorbereitung des Sozialismus erfolgreich in Angriff nehmen.

Nur einen großen Fehler besaß sie – in den Augen der Bolschewiki: diese hatten in ihr nicht die erhoffte Mehrheit. Für die Bolschewiki waren 9 Millionen Stimmen abgegeben worden, für die andern sozialistischen Parteien 23 Millionen. Das war ein für jeden braven Bolschewisten unerträglicher Zustand. Die Konstituante hätte alles das, was durchführbar war im Interesse des Proletariats, ebenso und rationeller, erfolgreicher durchgeführt, als die siegreichen Bolschewiki allein, aber diese hätten dabei nur als gleichberechtigter Partner mittun, sie hätten nicht von oben herab diktieren können.

Dagegen wehrten sich die Bolschewiki mit aller Macht, und sie benützten eine günstige Konjunktur, die Konstituante auseinanderzutreiben. Dieser Schlag wurde nicht gegen eine zaristische oder aristokratische oder bürgerliche oder sonstwelche »weißgardistische« Gegenrevolution geführt, sondern gegen die andern sozialistischen Parteien, die erfolgreicher als die Bolschewiki um die Seele der Arbeiter und Bauern rangen.

Deshalb die Aufhebung aller demokratischen Rechte der Massen, deshalb der Terror. Er war das notwendige Ergebnis der Herrschaft einer Minderheit über die große Mehrheit des arbeitenden Volkes. Deshalb bleibt er für die Bolschewiki unentbehrlich nicht nur im Bürgerkrieg, sondern auch in dem Jahrzehnt des inneren Friedens seitdem. Er ist für sie ein Mittel nicht zur Abwehr der Gegenrevolution, sondern zur Niederhaltung und Vernichtung aller Revolutionäre unter den Arbeitern und Bauern, die sich nicht willenlos der Knute der neuen roten Zaren und ihrer kommunistischen Kosaken unterwerfen.

Solange die Bolschewiki in Rußland auf den Kampf gegen den weißen Zaren angewiesen waren, blieb die Diktatur ihrer Führer auf die eigene Partei beschränkt. Sie wirkte da spaltend und die geistige Entwicklung der ihnen anhängenden Genossen lähmend.

Seitdem die Bolschewiki die Staatsmacht erobert haben, wird ihre Diktatur ein Mittel, die andern sozialistischen Parteien im eigenen Staate nicht mehr zu spalten, sondern zu zermalmen. Und ihre Lähmung der geistigen Entwicklung beschränkt sich jetzt nicht mehr auf die eigene Partei und die ihr nahestehenden Kreise, sondern auf das gesamte russische Volk.

Dazu gesellen sie nun auch eine entsetzliche Lähmung der ökonomischen Entwicklung Rußlands, die statt dem glänzenden Aufstieg eintrat, den die Freisetzung der Volkskräfte durch die Revolution vom März 1917 verhieß, sobald der entsetzliche Weltkrieg ein Ende genommen. Vergeblich suchen die Bolschewiki diese Lähmung zu bannen, zuerst durch die Nep, dann, da diese nur vorübergehend hilft, durch den Fünfjahrsplan. Auch der muß versagen, trotz mancher äußerlich bestechender Resultate. Wer nicht an der Oberfläche bleibt, wem die Menschen wichtiger sind als die Bauten, der sieht, daß der Fünfjahrsplan bloß Stein- und Stahlökonomie betreibt unter Mißachtung jeglicher Menschenökonomie, daß er den Aufbau neuer Industriestätten unternimmt durch Raubbau an den menschlichen Arbeitskräften, die um so tiefer in Unterernährung und Schmutz versinken, je höher einige neue Fabriken emporwachsen.

Diese Mißachtung der Menschen, die mit der Diktatur untrennbar verbunden ist, bringt jedes diktatorische Regiment in unversöhnlichen Gegensatz zu allen demokratischen Sozialisten, auch wenn es aus einer ursprünglich proletarischen Partei herauswächst. Aus sozialistischer Vernunft wird Unsinn, aus sozialistischer Wohltat wird Plage, wenn nicht ein freies, wohlgeschultes und organisiertes Proletariat sie mit demokratischen Mitteln zur Durchführung bringt, sondern wenn sie ein kleiner Klüngel von Diktatoren mit diktatorischen Mitteln in einer unwissenden, jeder Selbstverwaltung beraubten und entwöhnten Arbeitermasse verwirklichen will.

V. Die Diktatur in der Internationale.

Wir haben gesehen, wie die Idee der Diktatur innerhalb einer sozialistischen Partei wirkt, und dann, welche Wirkungen sie übt, wenn die diktatorische Partei die Staatsmacht erobert. Es bleibt uns noch zu betrachten übrig, welche Folgen für den Klassenkampf sie in der Internationale nach sich zieht.

In der sozialistischen Internationale vor dem Weltkrieg fand Lenin keine so günstigen Bedingungen für seine Parteidiktatur, wie in Rußland. Wollte er sich nicht isolieren, mußte er dort die Demokratie anerkennen, nicht bloß platonisch, sondern auch praktisch. So unangenehm ihm manche Beschlüsse internationaler Kongresse waren, er kritisierte sie bloß, was sein gutes Recht war, aber er lehnte sich nicht gegen sie auf.

Das änderte sich, als der Weltkrieg die Internationale zeitweilig funktionsunfähig machte. In Zimmerwald (Schweiz) fanden sich 1915 einige Elemente der zweiten Internationale zu gemeinsamer Tagung zusammen. Doch stimmten sie in ihren Absichten nicht ganz überein. Die einen wollten dahin wirken, die bisherige Internationale zu neuem Funktionieren zu bringen, andere dagegen wollten ihr eine neue, dritte, entgegensetzen, aus der alle sozialistischen Parteien ausgeschlossen sein sollten, die nicht ganz den Ansprüchen der Begründer der neuen Internationale entsprachen. Den Kern dieser Internationale sollten die Bolschewiki bilden, kommandiert von Lenin. Sie wollten die Internationale also von vornherein nicht erneuern, sondern spalten.

Kaum war der Weltkrieg beendet, so schritten sie an die Gründung der neuen, dritten Internationale, im Gegensatz zur früheren, die nun (1919) ebenfalls wieder zu funktionieren begann. So demokratisch die zweite und ebenso die erste Internationale gewesen, so diktatorisch wurde die dritte, die ihren ständigen Sitz in Moskau erhielt und zu einem bloßen Werkzeug der russischen Regierung herabsank, die auf diese Weise eine große Anzahl Agenten im Ausland erhielt, teils selbstlose, enthusiastische Anhänger, teils gut bezahlte Angestellte, stets aber blinde Organe des Moskauer Zentrums ohne den mindesten eigenen Willen.

Die Zeit schien den Sowjetgewaltigen günstig zu sein. Sie erwarteten die allgemeine Weltrevolution, deren Führung ihnen, den erfolgreichsten Revolutionären der Welt, zufallen sollte. Die Diktatur über Rußland mußte dann zur Diktatur über die Welt werden.

Das war jedoch eine falsche Rechnung der Kommunisten – so nannten sich die Bolschewiks nach ihrem Staatsstreich von 1917, um anzuzeigen, daß sie nicht mehr Sozialdemokraten seien, wie sie zwanzig Jahre lang gewesen –, ihre Diktatur war der damaligen Eigenart des russischen Volkes angepaßt, nicht der von Völkern westlicher Zivilisation. Doch selbst in Rußland hatte die kommunistische Diktatur nur unter den ganz abnormen Verhältnissen nach dem militärischen Zusammenbruch 1917 die Herrschaft erringen können.

Daß es in jedem Staate der Welt zur Zeit des Kriegsendes zu einer Revolution kommen werde, konnten nur Leute erwarten, denen das Wesen des modernen Staates ganz fremd geblieben ist. Bloß in den besiegten Militärmonarchien kam es zur Revolution. Doch auch dort siegten nicht die Kommunisten. Kein höher entwickeltes Proletariat sieht in einer Diktatur, auch wenn sie sich noch so proletarisch gebärdet, ein Mittel seiner Befreiung.

Die Idee der kommunistischen Weltrevolution hatte also ein ganz anderes Schicksal als die kommunistische Diktatur in Rußland, Diese kam zum Siege und hat sich bisher ungebrochen behauptet. Jene hat allenthalben elend Schiffbruch gelitten. Doch ging sie nicht spurlos vorüber.

Der Anblick der Sowjetrepublik war für den sozialistischen Beschauer von außen, der nicht tiefer sah, ein imponierender. Ein solcher Beschauer wußte nicht, daß alles, was in dem neuen Staatswesen an wirklichem Fortschritt vorhanden war, bloß Ausführung dessen bedeutete, was die anderen sozialistischen Parteien Rußlands bereits angebahnt und vorbereitet hatten und was sie durch die Konstituante mit ihrer gewaltigen sozialistischen Mehrheit weit rationeller, weil unter günstigeren Bedingungen unter eifrigster Teilnahme der Bevölkerung durchgeführt hätten, als es die Bolschewiki in den durch sie provozierten Bürgerkriegen und der daraus hervorgehenden enormen Reduzierung der Produktivkräfte unter weitgehender Lähmung der Volkstätigkeit vermochten. Einem solchen oberflächlichen sozialistischen Beschauer, dessen Wünsche Väter seiner Gedanken waren, blieb es auch leicht verborgen, daß die Revolution, die unter demokratischen Formen zu raschem Aufschwung der geistigen und ökonomischen Kräfte des Volkes geführt hätte, unter der Diktatur selbst jene hoffnungsreichen Ansätze zum Aufstieg der Volksmassen verkümmerte, die sich in den Jahrzehnten des Kampfes gegen den Zarismus gebildet hatten.

Man sah nur die Tatsache, daß sich da in Rußland zum ersten Male in der Geschichte eine sozialistische Partei zu dauernder Beherrschung eines Staates – des riesigsten Europas – emporschwang. Das war eine zu beglückende Tatsache, als daß man ihr leicht mit prüfendem Zweifel entgegengetreten wäre.

Die Sympathien für das kommunistische Rußland waren daher in den Kreisen der westeuropäischen Sozialdemokratie anfangs weit verbreitet Doch das genügte den Gewalthabern im Kreml nicht. Der Bolschewismus war groß geworden durch die Diktatur der Partei. Es war ihm gelungen, die Diktatur im Staate zu erobern. Nun wollte er sich auch dem Weltproletariat gegenüber nicht mit weniger begnügen als der Diktatur. Jeder, der sich ihr außerhalb Rußlands nicht beugen wollte, war sein Feind, auch dann, wenn er fand, für das russische Proletariat sei die kommunistische Polizeidiktatur eine ganz schöne Sache. Das genügte nicht, er mußte diese Diktatur für die ganze Welt als erstrebenswert betrachten.

Dazu konnten sich viele nicht entschließen. Die Bolschewiki erklären es jedoch für die Pflicht zum mindesten jedes Marxisten, eigentlich aber jedes Proletariers, sich ihrer Diktatur zu unterwerfen. Wer es nicht tut, wird von ihnen als ein Klassenfeind bezeichnet, ein Gegenrevolutionär, ein niederträchtiger Verräter, gefährlicher als der direkte Klassenfeind. Die bürgerlichen Parteien sind für sie bloß Gegner, mit denen man unter Umständen verhandeln, einen Waffenstillstand vereinbaren kann. Die Sozialdemokraten hingegen sind für sie feige Deserteure oder schuftige Meuterer, denen nichts anderes gebührt als der Strick.

Auf diese Weise sind die Kommunisten in allen Ländern dazu gekommen, die Kräfte des Proletariats nach dem Weltkrieg aufs empfindlichste zu schwächen, gerade in einer Zeit, in der zwar nicht die allgemeine Weltrevolution zu erwarten war, wo aber doch in vielen Staaten ein Umsturz der alten Gewalten eintrat und überall in Europa das Proletariat zu erhöhter Bedeutung gelangte.

Dadurch, daß sie die Behauptung der eigenen Diktatur höher stellten als die Einigkeit des Proletariats, spalteten sie nach dem Weltkrieg die sozialistischen Parteien außerhalb Rußlands ebenso, wie sie schon vor dem Weltkrieg die Sozialdemokratie Rußlands gespalten haben. Sie steigerten diese Schwächung der proletarischen Kräfte noch dadurch, daß sie versuchten, die Gewerkschaften ebenso zu spalten wie die sozialdemokratischen Parteien.

Die kommunistischen Parteien, die sich auf diese Weise außerhalb Rußlands bildeten, durften natürlich nicht nach eigener Einsicht handeln, sondern mußten blind den Weisungen gehorchen, die ihnen von der Zentrale in Moskau zugingen. Diese Zentrale wurde stets sehr schlecht über die Verhältnisse im Ausland unterrichtet – ihre feilen Werkzeuge und Berichterstatter teilten ihr die Dinge nicht so mit, wie sie wirklich lagen, sondern wie der Diktator in Rußland sie gern gesehen hätte. Noch jeder Despot ist bisher von seinen servilen Werkzeugen in dieser Weise getäuscht worden.

Daher wurden die Kommunisten des Auslands leicht in ganz sinnlose Abenteuer hineingehetzt, die ihnen schwere, oft fast vernichtende Niederlagen zuzogen, die mitunter für lange Zeit die schlimmsten Rückwirkungen für das ganze Proletariat des betreffenden Landes nach sich zogen.

Diesem verbrecherischen Treiben setzen die Kommunisten die Krone dadurch auf, daß sie überall dort, wo eine sozialdemokratische Arbeiterpartei mit einem bürgerlichen Gegner in schwerem Kampf liegt, sie nicht nur nicht unterstützen, sondern ihr dabei in den Rücken fallen, wobei sie der Reaktion helfen.

Schwächung der Kräfte des Proletariats, Stärkung seiner Gegner – das ist das Ergebnis der Politik der kommunistischen Internationale. Das ist kein Zufall, nicht eine gelegentliche Entgleisung, sondern das notwendige Ergebnis der Politik der Diktatur in der Partei, im Staat, in der Internationale, jener Diktatur, die Lenin vor drei Jahrzehnten begründete und die das Rückgrat seiner Sekte geworden ist.

Trotzky hat ganz recht, wenn er meint, in der jetzigen Situation in Deutschland sei eine Kampfgemeinschaft zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten dringend notwendig. Beide sind proletarische Parteien, beide ziehen aus dem Proletariat ihre Kraft. Sie stehen sogar theoretisch auf dem gleichen Boden, dem des Marxismus. Allerdings legen sie ihn sehr verschieden aus, aber das brauchte eine gelegentliche Koalition nicht zu verhindern, wenn es gilt, ein gemeinsames großes Ziel zu sichern, und das ist die Demokratie. Denn so sehr die Kommunisten die Demokratie dort verabscheuen, wo sie die Macht errungen haben, so sehr bedürfen sie ihrer dort, wo sie in der Opposition sind. Und niemand nutzt die Demokratie mehr aus als sie. Trotzdem kommt eine solche Kampfgemeinschaft für die offiziellen Kommunisten gar nicht einmal in Frage, so dringend notwendig sie für die Kommunistische Partei selbst wäre. Die Idee der Diktatur verbietet jedes Zusammenwirken mit Parteien, die auf Gleichberechtigung Anspruch erheben.

Wir Sozialdemokraten brauchten eine solche Koalition wegen der theoretischen Meinungsverschiedenheiten mit den Kommunisten nicht abzulehnen. Doch auf der Gegenseite kommen für den Abschluß einer Kampfgemeinschaft nur Kommunisten in Betracht, die sich der Parteidiktatur entzogen haben. Die sind leider nicht einmal ein Generalstab ohne Armee, sondern nur vereinzelte abgehalfterte Generale.

Trotzky selbst wäre für die Idee einer Koalitionspolitik dieser Art nicht zu haben gewesen, so lange er an der Diktatur teil hatte.

Nicht theoretische Meinungsverschiedenheiten und Haarspaltereien, sondern die Realitäten der Diktatur mit ihren unentrinnbaren Konsequenzen bilden das große Hindernis, das jedes Zusammengehen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten unmöglich macht.

Noch ist nicht abzusehen, wann und wie einmal dieses Hindernis fallen wird. Fällt es einmal, verzichten die Kommunisten auf die Diktatur, ob freiwillig oder gezwungen, dann hört die Scheidung zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten auf, eine Notwendigkeit zu sein. Dann ist die Wiedervereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten nur noch eine Frage der Zeit.

Die Kommunisten erwarten, in anderer Weise die so dringend notwendige »Einheitsfront« des Proletariats herstellen zu können. Sie weisen darauf hin, daß seit einiger Zeit von Jahr zu Jahr die Stimmenzahl der Kommunisten bei den Wahlen in Deutschland wachse. Kein Zweifel, augenblicklich machen bei jeder Wahl die Kommunisten Fortschritte, vielfach auf Kosten unserer Partei. Doch noch weit mehr Gewinne an Stimmen, darunter auch Arbeiterstimmen, weisen die Nationalsozialisten auf. Die einen wie die anderen Gewinne stammen aus derselben Quelle, der zermürbenden Not der Arbeitslosigkeit. Sie bezeugen nicht die Ueberlegenheit der Praxis und der Theorie der Kommunisten oder Nationalsozialisten, sondern nur die ungeheuerliche Ausdehnung, die das Heer der Arbeitslosen in der Deutschen Republik erreicht hat. Sie bezeugen, wie sehr in ihren Reihen die Verzweiflung wächst, wie sehr die Krise in so vielen Proletariern das Selbstvertrauen ertötet, jedes nüchterne Erkennen der augenblicklich ach so trostlosen Wirklichkeit verhindert, das Bedürfnis nach einem rettenden Wunder öder Wundertäter allmächtig werden läßt.

Würde die ganze Arbeiterklasse Deutschlands diesen entnervenden und verdummenden Wirkungen der Krise erliegen, so bedeutete das wohl den Untergang der deutschen Sozialdemokratie, doch würden sich die Kommunisten betrogen sehen, wenn sie vermeinen, auf diese Weise das Proletariat einigen und zum Siege führen zu können. Es bliebe dann gespalten zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten, verlöre jede Selbständigkeit und würde willenloses Kanonenfutter gewissenloser wie unwissender Diktatoren nach der Art eines Max Hölz oder Hitler.

Zum Glück für das deutsche Proletariat werden die Träume der Kommunisten nicht in Erfüllung gehen. In den zwei Menschenaltern ihres Bestehens und sieghaften Aufstiegs hat die Sozialdemokratie in den Arbeitern Deutschlands so viel Wissen, so viel Kraft und Selbstvertrauen, so viel Solidarität und Treue zur Organisation entwickelt, daß selbst die auflösenden und verheerenden Wirkungen des Weltkrieges, der Friedensbedingungen und schließlich der Weltkrise dem Kern der Sozialdemokratischen Partei, der freien Gewerkschaften und aller der Organisationen, die sich um sie sammeln, nichts anzuhaben vermochten.

Die Sozialdemokratie ist momentan zum Stillstand gekommen. Doch im Rückzug befindet sie sich nicht. Noch ist sie der Fels, an dem sich die Wogen des Faschismus und seiner kommunistischen Helfershelfer erfolglos brechen.

Aber allerdings, solange die Krise dauert, werden die Faschisten durch sie enorm begünstigt; so lange müssen die sozialdemokratischen Arbeiter jeden Nerv anspannen, wollen sie ihre Partei, wollen sie das Proletariat, wollen sie die Menschheit vor der schändlichsten Entwürdigung retten, mit der die Diktatoren von links und rechts sie bedrohen.