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Wilhelm Jensen

Eine Schachpartie

Es war ein vierundzwanzigster Dezember, wie manche Leute behaupten, daß er so sein muß. Leute, die ein behäbiges Einkommen besitzen und eine behagliche Wohnung mit großen Öfen in allen Zimmern und auf dem Vorflur, drin überall lustiges Feuer wärmt, leuchtet und knattert. Wo seit Wochen eine abgeschlossene Weihnachtsstube mit geputztem Baum und beladenen Tischen umher an allen Schlüssellöchern von lachenden, lugenden, zischelnden Kindergesichtern belagert wird, deren Unvermögen, länger zu warten, mit dem Heranrücken der letzten Dämmerung etwas von dem hastig zuckenden Augenflimmer überhungerter Tiere im Walddickicht annimmt.

Dann, behaupten jene Leute, müsse das Wetter gerad' so sein, damit man die rechte Freude daran habe, im letzten Moment noch' einmal wieder auf die Straße hinauszulaufen, um etwas noch Vergessenes, ganz Notwendiges oder völlig Unnötiges herbeizuschaffen und dann nach dem eilfertigen Einkauf mit den Papierdüten auf dem Arm und frostroten Ohren, Backen und Nasen am Kopf ins Haus zurückzustürmen, sich den Schnee von den Schuhen zu trampeln, von den Mänteln und Kapuzen zu schlagen, aus dem Bart herunterzufingern und den sprungbereit umwitternd sich heranschleichenden, jugendlichen Raubtieren zu versichern, es sei wundervolles Wetter draußen und in den Düten nichts als gewöhnliches Mehl zum Backen der abendüblichen Schmalzkuchen.

Es gibt indes auch Leute, die weniger für solches Weihnachtswetter eingenommen sind, und im allgemeinen dürfte ihre Kopfzahl größer sein als die der Liebhaber, da wenigstens in deutschen Breiten der Hang, mit Holz und Kohlen zu sparen, verbreiteter ist als das Gegenteil. Ja, es soll sogar Leute geben, die unter allen und jeden atmosphärischen Umständen überhaupt gar kein Wohlgefallen an dem Abendeintritt des vierundzwanzigsten Dezembers finden, diesen am liebsten aus dem jährlichen Kalender ausgestrichen sähen, oder wenigstens ihn nicht in anderer Weise verbringen, als jeden sonstigen der kriechenden oder fliegenden Tage. Allerdings müssen das entweder sehr arme, oder sehr unglückliche, oder sehr absonders wunderlich geartete Menschenkinder sein.

Oder auch sehr vereinsamte, heimatlose oder in die Fremde verschlagene von der Art, wie sie in großen Städten alle Tage und ebenso auch an dem des Tannenbaums vielfach abends die Bierhäuser und nachmittags die Cafés anfüllen, weil sich an ihm für sie kein Unterschied mit irgendeinem anderen des Jahres bemerklich macht. An sich brauchen sie darum noch nicht arm, unglücklich oder gemütswunderlich zu sein, nur sind sie (nach der überwiegenden Anschauung) bedauernswert, daß sie auch an diesem Abend keine andere Unterkunftsstätte aufsuchen können, als die ihnen stets in gleicher Weise gegen Barvergütung oder Kredit offenstehende. Aber auch den Leuten, welche sich über solche weihnachtlich Vereinsamte mit einem gewissen menschenfreundlichen Mitleidsausfluß ihrer eigenen erwartungsvoll behaglichen Stimmung äußern, kommt es keineswegs in den Sinn, einen von jenen zu sich ins Haus hereinzuladen. Es versteht sich von selbst, daß man an diesem Abend mit den »Seinigen« oder wenigstens mit den »Nächsten« allein ist, und es ist selbstverständlich die Sache und Aufgabe eines jeglichen, um Weihnacht Angehörige und Nächste zu besitzen.

Trotz dem besten eigenen Willen indes fällt dies nicht jedem gut möglich, besonders manchen jungen Männern nicht, die in der Großstadt auf der Universität, technischen Anstalten, in Handelsgeschäften oder sonstigen Berufszweigen die Leitersprossen ihrer Lebensbahn hinansteigen. Eine Anzahl von ihnen mag überhaupt nirgendwo ein Heimathaus mehr haben, und für eine andere die Reiseentfernung dorthin sich zu beträchtlich belaufen, wenige mögen zu gleichgültig, ein bißchen mehrere zu fleißig, die meisten zu gering bei Kasse sein, um dem väterlichen Herd in der Weite einen Weihnachtsbesuch abzustatten. Sie brauen sich am Abend als Surrogat für den ihnen entgehenden Familienpunsch in irgendeiner »Kneipe« einen, den letzteren jedenfalls an Kräftigkeit und mutmaßlich auch an Gläserzahl übersteigenden Grog; Studenten in Gemeinschaft ihrer gleichsituierten »Korpsbrüder« oder »Blasenkumpane«, Leutnants, Fähnriche und Kadetten mit ihren »Kameraden«, junge Kommis mit anderen Bankiers-, Millionär-, Engros- und Endetail-Firmen der Zukunft, jeder mit seinesgleichen. Denn allein will heut' abend niemand sein und nimmt sogar lieber mit einer langweiligen Gesellschaft vorlieb, als mit gar keiner. An keinem anderen Tage tritt der alte Zug der Menschheit zur Hürdengenossenschaft so unweigerlich wieder in sein Recht. Ein Prozentsatz von Zuneigung mag dabei mitwirken und die Auswahl bestimmen, aber die Hauptsumme fließt aus dem selbstsüchtigen Trieb, daß niemand heut' allein sein will.

Diese Stimmung eröffnet den Tag schon und steigert sich um Mittag und besonders nach der Mahlzeit bereits derartig, daß die Cafés heut' bessere Geschäfte machen als je. Man »zieht« sich davor, sich von den lebendigen Gesichtern und Stimmen umher abzutrennen; man hat eine instinktive Abneigung dagegen, erst noch einmal in die leere Bude heimzugehen, zwecklos darin herumzusitzen und zu stehen, die Dämmerung mit allerhand wehmütigen und frostig in der Einsamkeit überlaufenden Kindheitserinnerungen heraufkommen zu sehen, und man ist bemüht, unvermerkt den Nachmittag in den Abend hinüberzuführen. So fängt man in ungesprochener Übereinkunft das beendete Kartenspiel wieder an, setzt die Dominopartie unermüdlich fort, die Bälle ans der grünen Billardplatte karambolieren unablässig weiter. Der Tag blickt immer hinfälliger, wie ein erblindetes Greifenauge durch die großen Spiegelscheiben herein und schüttelt sich weißes Haar wallend vom Scheitel. Es ist, als sei draußen eine Riesenfrisierstube, in der zahllose Gehilfen ihre Scherenkunst an schneehell abgebleichtem Gelock einüben. Ein Kellner mit glimmendem Pünktchen am Oberende eines langen Stabes huscht zwischen den dichtumsessenen Tischchen hin und wieder, und nach einer Weile sagt einmal irgendwo an einem von ihnen eine Stimme: »Man hat gar nicht bemerkt, daß das Gas angezündet worden.« Eine andere erwidert darauf: »Ja, es muß schon spät sein – das Spiel war heut' so interessant – und es wird Zeit, zu gehen, damit wir nicht als die letzten zur Bowle kommen.« Die Mahnung findet allgemeinste Beipflichtung, denn die Übergangsperiode ist das Übelste und jeder trachtet danach, sie in schwatzender, pfeifender, über das Schneewetter räsonierender Bereitschaft durchzumachen. So wandert ein kleiner Trupp gemeinschaftlich aus der Tür auf die Straße, dem verabredeten Abendziele zu, und, gleichfalls aufbrechend, folgen bald von da und dort andere nach. Es wird leerer zwischen den Rohrstühlen und den Marmortischchen, die Kugeln liegen unbewegt auf den grünen Tüchern, und klappernd räumen die befrackten Bediensteten Tassen und Gläser zusammen. Sie haben auch einen ungewöhnlichen Abend in Aussicht, denn es steht mit Sicherheit zu erwarten, daß er keine Gäste mehr bringen wird. Sollte sich dennoch noch einer hierher verirren, so gibt es Mittel, ihm verständlich zu machen, daß auch Kellner einmal im Jahre einige Stunden unbehelligt im Kreise von »Kollegen« zu verbringen berufen und berechtigt sind, und daß ein anständiger Mensch, falls er den Drang dazu in sich fühlt, anderswo als im Kaffeehaus am Weihnachtsabend den Einsiedler spielt. Man wird ihm dies mutmaßlich durch die »Ellerbecker Blume« zu begreifen geben, indem man ihn einfach nicht hört und sieht und nach Belieben hungern und dursten läßt, bis er selbst dessen überdrüssig geworden. Nach der Mitternachtsglocke wird es allerdings wieder laut von Nachtschwärmern hier werden, die auf dem Heimgang von der verdampften Bowle noch wieder vorkehren, Sodawasser-Pfropfen knallen lassen und den Mokka mit etwas fahriger Hand an die Lippen setzen. Aber bis dahin ist's noch weit, einen ganzen Weihnachtsabend lang. Da schwinden gottlob die letzten Nachmittagsgäste durch die Tür, und der Wind wirft statt ihrer eine Schneewelle herein.

So weit war's denn heut' beinah' in einem der besuchtesten Cafés einer großen norddeutschen Stadt. Nur einige Zeitungen raschelten noch da und dort vor unschlüssig dreinblickenden Gesichtern, die offenbar die tiefsinnigen politischen Erörterungen der Blätter lediglich als Exspektativmittel verwerteten und von den Kellnern zweckentsprechend durch das Ausdrehen aller um sie her befindlichen Gasflammen behandelt wurden. Einzig an einem Ecktisch sah der weißkrawattete und schwarzbefrackte Machthaber noch von diesem rationellen Verfahren ab, denn dort saß noch ein Gastpaar in eine Schachpartie vertieft. Das allein hätte freilich keinen Anspruch auf außergewöhnliche Berücksichtigung begründet, aber es hatte eine besondere Bewandtnis mit den beiden Spielern. Erstens kamen sie täglich, und zweitens hinterließ der ältere von ihnen regelmäßig neben dem Betrag für den von ihm genossenen Kaffee noch ein Zwanzigpfennigstück, dessen Verwendung er offenbar dem Gutachten des Kellners anheimstellte. So waltete eine unsichtbar schützende Fee über der Gasflamme, unter der sich sein Sitz befand.

Das Paar war, äußerlich wenigstens, ein höchst ungleichartiges. Einem etwa drei- bis vierundzwanzigjährigen Studenten saß ein Mann von wohl fast dem dreifachen Alter gegenüber. Sein Aussehen hatte etwas Eigentümliches, das zwischen Groteskem und Unheimlichem hin und her schwankte. Das dickgeflockte Haar auf seinem Kopf gehörte unverkennbar nicht ihm selbst, denn es war von der Farbe eines Spitzmausfells, während ein kleiner stachlicht aufgekrümmter Schnurrbart ebenso rattengrau wie die langfädigen, verbuschten Brauen von der pergamentfahlen Gesichtshaut abstach. Ein Habichtsschnabel krümmte sich als Nase von der vorgebauten Stirn herunter, daneben standen zwei glimmernde Raubvogelaugen, die beinah immer, gleich denen einer Eule im Tageslicht, von dem oberen Lid halb übernickt wurden. Die Oberlippe dagegen zog sich, in der Mitte geschweift, von dem weißen, scharfen, vollerhaltenen Gebiß etwas aufwärts, so daß es den Eindruck erregte, als ob ihr Inhaber beständig lautlos vor sich hin lache. Nur der Gegensatz des stets unbeweglich ernsthaften Gesichts ließ die Täuschung erkennen, die den Zügen besonders den ungewiß-unheimlichen Ausdruck lieh.

Der junge Student war einnehmend, mit blauäugigem, offenem, blond vom Haar und kurzen Bart umfaßtem Gesicht. Nur ein wenig blaß, redete dies von Überarbeitung und Mangel an Bewegung in frischer Luft; sein Anzug, wenn auch sauber und anständig, zeigte sich bei näherer Besichtigung ziemlich fadenscheinig-bejahrt und sprach von knappen Verhältnissen. Sie lagen offenbar als eine Bürde auf ihm, die seine von der Natur kraftvoll und elastisch gebauten körperlichen und geistigen Schultern stark herunterdrückte. Man sah ihm eine Unsicherheit seiner Existenz an und daß seine, zu freudigem Lebensmut geschaffenen Augen zumeist von herandrängenden Schatten der Zukunft überdunkelt wurden.

Er hieß Wolfgang Wegerdanz, und das Schicksal hatte seinen Namen bewahrheitet und ihm einen fröhlichen Tanz durchs Leben verweigert. Seit mehreren Jahren war er eltern- und heimatlos, kurz, nachdem er als Mediziner die Universität bezogen, war sein Vater gestorben, ohne ihm mehr an Hab und Gut zu hinterlassen, als daß er bei hochgradigster Sparsamkeit vielleicht eben damit bis ans Ende seines Studiums gelangen konnte. Das Knausern lag ihm aber nicht im Blut, und die Folgen dieses Eigenschaftsmangels machten sich bald an seiner Kasse bemerkbar. Er hatte in zwei Semestern das verbraucht, was für drei reichen mußte, und das vorweggelaufene ließ sich mit aller Kunstfertigkeit und Beschleunigung seiner wissenschaftlichen Gangart nicht wieder einholen. Seit zwei Jahren nun schon war das vorauszusehende Endfazit seiner Berechnung stets das nämliche geblieben. Wenn er überhaupt bis zum Examen kommen wollte, mußte er seine Natur auf den Kopf stellen und sich gleich dem verhungertsten Geizhammel den Bissen am Mund und jede Versuchung eines vergnüglichen Augenblicks an der Seele abknickern, um sich möglicherweise noch nach studentischer Sprachweise bis zur Praxisberechtigung »durchzuschinden«. So ging sein tägliches Dasein vom Morgen bis in die späte Nacht lediglich im Besuch von Kliniken, Kollegien und häuslichem Repetieren auf. Nicht zu seinem besonderen Behagen, doch er mußte, wollte, was er mußte, und konnte, was er wollte. Viel Verkehr mit Kommilitonen hatte er nie geführt, brach indes mehr und mehr auch den wenigen ab und vermied die Lokalitäten, in denen er mit Bekannten zusammentreffen konnte, um sich keiner Verlockung auszusetzen, denn er hatte an sich erfahren – und zwar auch noch im letzten Semester – sein Fleisch sei nicht vom stärksten.

Wieder nach uraltem Studentenbrauch benannten seine früheren Genossen ihn infolge alles dessen selbstverständlich einen »Simpel« und »Ochswurm«, bekümmerten sich nicht weiter um ihn, und er war im ausgedehntesten Wortsinne ein »Obskurant«, der in der ganzen Stadt keinen Korpsbruder, keinen Blasenkumpan, Kollegen oder Kommilitonen besessen hätte, um den Weihnachtsabend vor den sonstigen des Jahres durch eine gemeinschaftliche Bowle auszuzeichnen, falls seine Umstände ihm solchen Beteiligungsluxus verstattet haben würden.

Einmal am Tage muß jedoch auch das pflichteifrigste Lasttier eine Rastpause machen, um seine Schleppwanderung fortsetzen zu können, und da die Wissenschaft bei Wolfgang Wegerdanz diesen Naturtrieb noch durch physiologische Begründung unterstützte, so suchte er täglich in der kollegienlosen Zeit nach dem Mittagessen ein Café auf, um sich dort durch eine Ruhestunde Kräftigung für die zweite Hälfte der Tagesarbeit zu holen. Allerdings nötigte dies ihn zu der beträchtlichen Ausgabe für eine Tasse Kaffee, aber es gewährte ihm andererseits ohne weitere Kosten das erprobt beste Mittel, sich zugleich eine geistige Ausspannung und ein Vergnügen zu bereiten. Nicht durch Zeitungslektüre, denn er bekümmerte sich blitzwenig um hohe Politik und verstand von ihr kaum mehr als die Verfasser der Leitartikel, doch er nahm stetig sofort einige Journale in Besitz und hockte sich mit ihnen an seinen gewohnten Ecktisch. Romane und Novellen, Lyrisches, Unterhaltendes, Ethnographisches und Volkswirtschaftliches ließ er in den Zeitschriften gleichfalls völlig unangetastet, schlug nur die Seiten mit den Schachaufgaben auf, beorderte sich vom Kellner ein Schachspiel, dessen Benutzung er durchaus umsonst erhielt, und vertiefte sich unbeweglich in die Lösung der mehr oder minder schwierig ausgeheckten Probleme, bis ein hübsches, lebendiges Aufleuchten seiner Augen kundgab, daß er den richtigen Weg entdeckt habe. Andere hätten darin vielleicht weniger eine Erholung als eine abermalige geistige Anstrengung gefunden, allein er war von früher Kindheit auf ein leidenschaftlich-eifriger und zweifellos mit besonderem Talent veranlagter Schachspieler gewesen, dem die gewürfelten Felder des Brettes überall in der Welt etwas wie einen heimatlichen Boden darstellten, auf dem er, aus dem Geleise seiner ernsten Tagestätigkeit fortgehoben, sich von ihr erfreulich, nachhaltig und erinnerungsvoll zu frischer Kraft ausruhte.

Da hatte sich vor bald einem Vierteljahr etwas Absonderliches zugetragen. Eines Nachmittags war an den Tisch, als er bei der Lösung einer Aufgabe gesessen, ein eigentümlich aussehender alter Herr getreten und hatte mit einer trocken schlürfenden Stimme gefragt, ob er vielleicht Lust habe, eine Partie zu spielen. Bei Wolfgangs bereitwilliger Bejahung stellte der Fremde auch die Figuren schon in Ordnung, loste wortlos um den Anzug, erhielt diesen und begann. Er gab keinen Laut mehr von sich, solange die Partie dauerte, und spielte vortrefflich. Im Anfang hielt der junge Student sich dem Alten überlegen, dann kam er nach und nach zu der gegenteiligen Empfindung, daß jener eigentlich stärker sei als er. Aber schließlich gewann er dennoch mit Anspannung aller Kraft; sein Gegner äußerte nichts, sondern nahm nur zum Zeichen, daß er die Partie aufgebe, schweigend seinen König zwischen zwei Fingerspitzen und legte ihn der Länge nach auf das Schachbrett um. Danach stand er auf, sagte mit heiserem Ton: »Morgen um diese Zeit Revanche,« und ging ohne weiteren Gruß davon.

Das war ein etwas ungewöhnliches Benehmen, an sich indes noch nicht gerade absonderlich. Das Befremdende für Wolfgang Wegerdanz aber war, daß der Unbekannte zuvor in seine Tasche gegriffen, eine Börse hervorgezogen und stumm eine funkelnd neue Doppelkrone auf den Tisch vor den Studenten hingelegt hatte. Es dauerte etwas, bis diesem klar wurde, daß das Goldstück für ihn als Spielgewinn daliege, und danach fiel der Gedanke mit einem gewissen Schreck über ihn, daß er ebenso die Partie hätte verlieren können und der Fremde dann die gleiche Leistung von ihm erwartet haben würde. Offenbar war es diesem selbstverständlich, daß man um eine Doppelkrone spielte. Unzweifelhaft aber auch gehörte die anmutig flimmernde Münze Wolfgang, und wenn er sie nicht an sich nahm, verschwand sie voraussichtlich beim Abräumen der Tassen in irgend einer unaufgeklärt bleibenden Weise in der Tasche des Kellners. Diese Vorstellung besaß fraglos etwas Widersinniges und bewog ihn, das Zwanzigmarkstück jedenfalls vorderhand bei dem mageren Silberinhalt seiner Geldtasche in Verwahrsam zu bringen. Am nächsten Tage konnte er es ja mit der Erörterung zurückstellen, daß er nicht gewohnt und nicht in der Lage sei, Schach um Geld zu spielen.

Der nächste Nachmittag kam und mit ihm, präzis mit dem Glockenschlage, stand der wunderliche Spielpartner da. Er nickte nur, setzte sich und stellte die Figuren auf. Wolfgang verschob seine Erklärung bis zum Schluß der Partie, die ebenfalls wie die gestrige verlief. Doch gleich nach ihrem abermaligen Verlust hob der Alte sich vom Stuhl, legte wortlos wieder eine Doppelkrone hin und war zwischen den Tischen und Gästen umher davon, eh' der Zurückbleibende seine Absicht auszuführen imstande gewesen.

Er wurde ein wenig vor sich selbst rot, denn vielleicht hätte er den Mund rascher auftun können, wenn – wenn das Gold ihn nicht so eigentümlich angeblinkt hätte. Im Grunde war es ehrlicher Verdienst, durchaus freiwillig entrichtet – oder vielmehr es gewährte ihm die Möglichkeit, sich das Vergnügen einer Partie mit einem guten Spieler noch öfter zu wiederholen. Er konnte einfach darauf warten, daß er verlieren und so das Geld ohne alle Erläuterungen zurückerstatten würde. Und er setzte sich vor, ruhig weiterzuspielen, bis dieser Fall eingetreten und der Gewinst ihm wieder aus der Tasche fortgeschwunden sei. Dann war immer noch Zeit zu einem Aussprechen, oder er brauchte einfach das Stelldichein nicht mehr innezuhalten und konnte sich in einem andern Café der großen Stadt verlieren.

Der Fall, daß er unterlag, trat auch am dritten Tage schon ein. Er zog seine Börse und vollbrachte mit einer gewissen Feierlichkeit, die Nonchalance sein sollte, als sei es eine Art täglichen Tuns von ihm, seine Obliegenheit, die Doppelkrone vor den Fremden hinzulegen. Nichtsdestoweniger zauderten seine Finger ein klein wenig, es tat ihnen leid, das schöne Goldstück loslassen zu müssen, besonders da der Alte es mit einer unbeschreiblichen Gleichgültigkeit wie einen Kupferpfennig einsteckte und seine Miene nicht den leisesten Unterschied beim Gewinn und beim Verlust aufwies. Wie er nach gewohnter Art verschwand, sah Wolfgang ihm kurz nach und dann auf das noch vor ihm liegende Schachbrett zurück und murmelte ärgerlich: »Warum zog ich damals nicht, wie ich anfänglich wollte, den ›Bauern‹? Dann hätte ich die Partie gewonnen.« Und er setzte eifrig die Stellung wieder auf und spielte sie mit dem Zug des Bauern aufs neue bis zum Ende durch. In der Tat mußte er so gewinnen und er murmelte nochmals: »Zu dumm!« Und da er gleichzeitig den Betrag für seinen Kaffee hervorzog, warf er einen halb bedauerlichen Blick auf das einsame Goldstück, das, von seinem Genossen getrennt, allein zwischen den dünnen Falten des Portemonnaies heraufschimmerte.

Das, wie gesagt, hatte sich vor mehreren Monaten zugetragen, und seitdem saßen die beiden Tag um Tag zur nämlichen Stunde am selben Tisch bei ihrer Schachpartie. Es fiel nie ein anderes Wort zwischen ihnen, als dann und wann ein solches, das sich auf das Spiel bezog. Nach Ablauf einer Woche ungefähr hatte der junge Student sich einmal seinem sonderbaren Partner vorgestellt und dieser darauf mit einem kurzen Kopfnicken ein paar unverständliche Töne in den Bart gesprochen, die mutmaßlich auch seinen Namen bedeuten sollten, dem Ohr des Hörers jedoch nicht die geringste Andeutung davon hinterließen. Der Kellner redete den Fremden »Herr Baron« an, auf Wolfgangs Nachfrage wußte er indes weiter nichts, als daß sein Vorgänger das nämliche getan. Allerdings fügte er noch als Stützpunkt für die hohe Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit dieser adligen Betitelung den Umstand des täglichen zurückgelassenen Zwanzigpfennigstücks an. Es lag ein leiser Seitenblick darin, daß Wolfgang Wegerdanz vermutlich nicht dem freiherrlichen Stande angehöre.

Der letztere konnte immer noch nicht zur Erkenntnis gelangen, wer der stärkere Spieler von ihnen sei. Wochenlang hatte er wieder Grund besessen, sich dafür zu halten, da sich allmählich zweihundert Mark in blanken Goldstücken in seiner Börse gesammelt gehabt. Wenn noch einmal das Gleiche hinzukam, löschte es den Leichtsinn seiner ersten Universitätsjahre aus und machte den Ausfall für das eine, nachdenklich vor ihm liegende Semester gleichsam ungeschehen. Er spielte nicht deshalb, natürlich nicht; aber er konnte nicht ändern, daß es ihm bei einer schwierigen Zugwahl manchmal plötzlich zur Vorstellung kam.

Jedenfalls indes waren das nur Schlösser aus den komprimierten Luftsteinen des Freiherrn von Münchhausen gewesen, denn in der letzten Woche jetzt hatte er Tag um Tag eine Partie verloren. Sein Gegner spielte neuerdings mit unglaublicher Sicherheit, Zähigkeit und tiefberechnender Verschlagenheit, die weit mehr an einen alten Wechseljuden als an einen »Baron« erinnerte. Und heut' am Weihnachtsnachmittag befand sich nur noch eine einzige Doppelkinne in Wolfgang Wegerdanz' Tasche.

Er bemerkte nicht, daß fast alle übrigen Gäste schon das Café verlassen hatten, sondern spielte mit brennendem Gesicht. Seine Partie stand eigentlich nicht schlecht, wenigstens vermochte er nirgendwo einen Nachteil für sich herauszufinden. Aber trotzdem konnte er sich nicht des Gefühls erwehren, daß ihn irgend eine versteckte Gefahr bedrohe. Dies Gefühl besaß etwas Unheimliches, er wußte selbst nicht, weshalb. Sein Gegner saß ihm wie ein alter, verwitterter, oben phantastisch mit schwarzen Flechten überwachsener Baumknorren gegenüber, an dem nur aus den beiden Augenhöhlen ein phosphoreszierendes Geglimmer fiel. Er regte nichts als die langen knochigen Finger, um seine Figuren zu bewegen. Dann sagte er einmal heiserstimmig, wie es schien, ohne die Lippen zu rühren: »Matt in fünf Zügen.«

Es verhielt sich so, unausweichlich; plötzlich gewahrte der junge Student es auch, daß er ahnungslos in eine Falle geraten war. Er griff hastig in die Tasche und legte die letzte Doppelkrone vor den Gewinner hin. Dabei atmete er auf; im Grunde war er froh, sie los zu sein. Er fühlte, das Gold hatte gedroht, eine dämonische Gewalt über ihn zu gewinnen, ihn am harmlosen Schachbrett in die fiebernde Aufregung eines Hazardspieles zu verstricken. Und er stand im Begriff, beizufügen, daß er fortan durch Arbeitsnötigung verhindert sei, das Spielen weiter fortzusetzen.

Doch gegen seine Gewohnheit hatte der Alte nicht sogleich den Stuhl geschoben, sondern den langen Rücken zurückgelehnt, sah unter den Nicklidern herüber und sprach zum erstenmal mit einer nicht auf das Spiel bezüglichen Äußerung:

»Ein widriger Abend. Der fatalste im Jahr. Ihnen auch?«

Von der Anrede überrascht, entgegnete Wolfgang Wegerdanz unwillkürlich das erste, was ihm auf die Lippen kam: »Mir ist er wie jeder andere.«

»Das heißt, Sie sind ein verständiger Mensch und haben keine Narrenspossen an ihm vor, Lichter und Lachen und Alberei.« Der Sprecher stand jetzt auf, steckte das Goldstück ein, nickte nach seiner Art mit dem Kopf, doch setzte hinzu: »Wenn Sie Lust haben, den widerlichen Abend noch mit einer Partie umzubringen – ich wohne in der Wasserstraße 7 –, ein heißes Glas Punsch tut bei der infamen Witterung auch gut.«

Der so unerwartet Eingeladene war derartig erstaunt, daß er zunächst nur halb stotternd: »Gewiß, Herr Baron,« erwiderte. Dann wollte er seinen Vorsatz ausführen, doch es kam ihm mit einer falschen Scham, der andere möge Rechnung geführt haben, daß er heute das letzte der von ihm selbst entrichteten Goldstücke zurückerhalten, und er fügte eilig hinzu: »Ihre Aufforderung ist sehr liebenswürdig – wenn es mir möglich fällt – eine gewisse Zusage kann ich leider nicht geben.«

»Wenn es Ihnen doch noch gefällt, pochen Sie dreimal mit dem Knauf an die Tür.«

Die antwortende Stimme mußte irgendwoher gekommen sein, aber man hatte an keiner Mundregung der langen, hageren Gestalt wahrgenommen, von wo, und gleich darauf war diese so geräuschlos, als berühre sie den Fußboden nicht, aus der Tür verschwunden; statt ihrer fuhr nur ein winselnder Windstoß, Schnee mit sich stäubend, herein. Wolfgang Wegerdanz sah sich halb verwirrt um, ob er bei der Lösung einer Schachaufgabe eingenickt sei und geträumt habe. Alle Gasflammen, außer derjenigen, unter welcher er noch saß, waren ausgelöscht; dicht neben ihm stand der Kellner, die Hand schon nach dem Schachbrett vorstreckend, und schaute ihm mit nicht mißzuverstehendem Erwartungsblick ins Gesicht. So verließ auch er das weihnächtlich leere Café.

Wohin? Auf seine Stube, um zu arbeiten, wie immer. Was sonst?

Gewißlich folgte er nicht der Einladung seines Schachgegners. Wenn er verlor, hatte er keine Doppelkrone mehr zu bezahlen. Bis zum Beginn des neuen Jahres mußte er mit den wenigen Markstücken in seiner Börse ausreichen.

Er selbst hatte bedachtsam jeder etwaigen Verlockung zu einer Weihnachtsvergeudung vorgebeugt und Vorsorge getroffen, daß er nicht eher Geldmittel für das nächste Quartal ausbezahlt erhalten konnte. Außerdem regte der alte »Baron« in ihm eine unbestimmt abwehrende Empfindung. In seiner Vorstellung bekam derselbe etwas von einer aufgeputzten, elektrisierten Leiche, die automatenhaft Schach spielte.

Es war in der Tat ein widerwärtiges Wetter, wenigstens unfraglich für den, der keinen letzten, hastigfröhlichen Besorgungsgang darin zu machen hatte. Auf den Straßen lief alles und stieß, halb blind vom flatternden Schneegewirbel, gegeneinander an. Offenbar waren da und dort die Vorbereitungen noch zurück, denn an einer Ecke rannte ein Dienstmann mit einer dichtverschneiten Tanne Wolfgang gerad auf den Leib, und das grüne Gezweig stieß ihm den Hut vom Kopf. Er fühlte die kleinen Blattnadelspitzen an der Schläfe und spürte in der Nase ihren harzigen Geruch. Das versetzte ihn plötzlich, wie ein Duft es manchmal tut, um viele Jahre zurück, daß er einen Augenblick im Weihnachtszimmer seiner Kinderheimat zu stehen glaubte. Auch seine Augen trugen mit zu der Täuschung bei, denn sie sahen geradeaus in ein Fenster hinein, wo schon ein brennender Baum von hundert Lichtern funkelte. Es mochte dadurch in dem Zimmer zu heiß geworden sein, und man hatte das Fenster geöffnet; Kinderstimmen, Lachen und Jubel klangen heraus. Dann kam's ihm zum Bewußtsein, daß er vor einem fremden Haus auf der Straße stand. Er schüttelte sich und raffte seinen schneenassen Hut auf. Ihn fror, und er lief jetzt ebenfalls, bis er, atemlos drei dunkle Treppen hinangestiegen, die Tür seiner lichtlosen »Bude« öffnete.

In dieser stellte er sich mechanisch ans Fenster, sah auf die weiß aus der eingebrochenen Nacht herüberschimmernden Nachbardächer und trommelte mit den Fingerknöcheln halblaut gegen die Scheibe. Das Bild von vorhin war wieder da, noch deutlicher, denn er gewahrte sein eigenes Knabengesicht in altvertrauter Stube zwischen denen seines Vaters und seiner Mutter, alles von strahlenden, buntfarbigen Tannenbaumkerzen erhellt. Aber es fing an darüber zu schneien und sich zu verwandeln, wie in einem mechanischen Theater sich eine lachende Blütengegend zu einer Winterlandschaft umändert. Die Flocken fielen immer dichter und häuften sich auf den Tischen des Weihnachtszimmers, daß diese zu zwei großen, weißen Truhen anwuchsen. Schwerwuchtig lagerte sich der Schnee auf all das bunte Glitzerwerk der Tanne, und die Lichter stiegen von dieser in die Höh' und wurden zu einem Gewimmel blitzender Sterne, die durch eisige Winternacht auf einen einsamen, tiefverschneiten Friedhof herunterfunkelten.

Der Alte hatte recht, es war ein widriger, frostig anwehender Abend, selbst in der ofenwarmen Stube. Das kam niemals wieder, als in schmerzhafter Erinnerung, war tot, wie die Toten selbst. Eigentlich war dies Zimmer hier selbst auch nur eine Art Kirchhof, ein Grab, an dessen Inhalt in der ganzen lebendigen Welt kein einziger Mensch gedachte.

Wolfgang Wegerdanz zündete rasch seine kleine Studierlampe an, setzte sich und griff nach seinem Handbuch der Pharmakologie. Die Zahlen und Brüche darin enthielten ein gutes Mittel, schweifende Gedächtnisphantasien zu bändigen.

Aber sehr trockene Geisterbanner waren es doch und hatten auf die Dauer nicht Kraft genug, den Blick zu halten, daß er sich nicht einmal über den Buchrand hinaus ins Leere verlor.

Gab es wirklich keinen einzigen Menschen auf der Welt, der heut' abend an ihn dachte?

Da stand plötzlich ein anderes Bild über dem grauen Schnitt der Pharmakologie in der Luft, ein wundervoll schönes und anmutiges, und der junge Student nickte dem zu und sagte halblaut: »Erwine –«

Das Bild kam aus einem Spätsommertag des letzten Jahres, an dem er noch einmal die biblische Erfahrung von der Schwäche seines Fleisches gemacht, denn Musik und fröhliches Getriebe in einem distinguierten Vergnügungsgarten hatten ihn verleitet, sich über das für seine Verhältnisse ungeeignete Entreegeld leichtsinnig hinwegzusehen und einzutreten. Unter hohen Bäumen nahm er an einem Tisch Platz, es gab bunte Lampions, Feuerwerk und bengalische Flammen, und während des roten Geloders einer solchen gewahrte er plötzlich unfern von sich ein Mädchen, oder vielmehr eine junge Dame, bei der ihm zum erstenmal im Leben geschah, daß er sie immerfort ansehen mußte. Sie saß mit anderen Altersgenossinnen zusammen, doch unter ihnen, wie sich eine Lilie oder eine weiße Sommerrose zwischen den Herbstastern und Georginen auf den Beeten des Gartens ausgenommen haben müßte. Es schien nicht, daß sie an der Unterhaltung ihrer Begleiterinnen viel Gefallen finde, denn ihr Blick ging meistens für sich, vereinsamt durch den linden Abend umher. Und da das Gesicht Wolfgangs ihr immer zugewandt blieb, konnte es nicht anders geschehen, als daß ihre Augen gleichfalls einmal in die seinigen treffen mußten. Das taten sie auch, nur sehr flüchtig, und gingen vorbei. Doch nach einer Weile kamen sie noch einmal wieder, offenbar aus einer Art von Neugier, um zu sehen, ob das stumm herüberblickende Gesicht noch ebenso da sei.

Weiter wußte Wolfgang Wegerdanz eigentlich von dem Abend nichts. Vielleicht waren ihre Augen sich danach noch einmal begegnet, aber sicher konnte er sich dessen nicht erinnern. Nach ein Paar Tagen indes hatte der Zufall es gefügt, daß er auf seinem Vormittagsweg zum Kolleg in einer Anlage der nämlichen jungen Dame entgegenkam. Sie ging allein und er erkannte sie auf den ersten Blick wieder, doch ebenso schien auch sie es zu tun, und es kam ihm unwillkürlich, als sei es seine Höflichkeitspflicht, nicht grußlos an ihr vorüberzugehen. So zog er seinen Hut, und sie dankte freundlich, fast mit einem zutraulichen Ausdruck ihrer großen braunen Augen, als habe sie es bei seinem Anblick auch gar nicht anders erwartet. Es war etwas in ihrem Wesen, das den jungen Studenten an ihn selbst erinnerte, er konnte sich nur nicht gleich sagen, was. Doch zu Haus fand er's; sie regte die Empfindung, trotz ihren damaligen Gefährtinnen ebenso vereinsamt in der Welt zu sein, wie er.

Und wenn's dann noch wieder ein Zufall war, so war's jedenfalls ein höchst merkwürdiger, daß sie nach und nach an jedem Morgen genau zur selben Zeit und an der nämlichen Stelle des Weges durch die verhältnismäßig stille Anlage kam, wenn er in sein Kolleg ging.

Dann hatten sie auch einmal miteinander gesprochen; wie dies geschehen, und ob er sie oder sie ihn angeredet, oder ob sie beide es gleichzeitig getan, wußte er nicht mehr. Aber es war selbstverständlich geworden, daß sie sich bei ihrem Zusammentreffen ein Weilchen unterhielten, in der plaudernd vertraulichen Art, wie ein paar Kinder, die auf gleichem Spielplatz zueinander geraten und gegenseitig nichts weiter von sich zu wissen brauchten, als daß jeder den anderen gern dort antraf. Dabei war's von selbst gekommen, daß er ihr seinen Namen genannt und erfahren, sie heiße Erwine, und es hatte einmal angefangen, daß sie sich beim Auseinandergehen die Hand gegeben, und war so geblieben. In dem allem lag etwas Selbstverständliches, wie wenn Schwester und Bruder sich begegnen und einige Minuten traulich und fröhlich zusammen stehen bleiben. Sie wußten auch voneinander, daß sie beide eltern- und geschwisterlos in der Welt daständen, und dies Gefühl des gleichartigen Alleinseins hatte wohl die ungewöhnliche Befreundung zwischen ihnen herbeigeführt.

So war nach langer sonniger Herbstzeit spät erst der Winter angebrochen und zwar mit einem stürmischen Regenmorgen, an dem sie ihm ohne Schirm begegnet, so daß er den seinigen aufgespannt, ihr den Arm geboten und sie dergestalt an ihr Wegziel geleitet hatte. Wie sie an letzterem in einem vornehm niederschauenden Hause verschwand – eine Tante von ihr wohnte darin, die sie täglich besuchen müsse – stand er und sah ihr nach. Er fühlte noch die Wärme, die ihr Arm auf dem seinigen hinterlassen.

Aber auf einmal fiel ihm dabei etwas von den Augen herunter, doppelt, gewissermaßen vom einen und vom anderen zugleich. Sie waren keine Kinder und keine Geschwister, und es war auch keine Freundschaft, sondern Liebe, die schon lange heimlich in seinem Herzen für Erwine klopfte, doch ihm in diesem Augenblick erst klar zum Bewußtsein geriet. Und andererseits stand zum erstenmal deutlich vor ihm, daß sie bei ihrer Schönheit und Anmut einen aristokratischen Gesichtszug trug und stets in vornehm einfache, doch wertvollste Stoffe gekleidet ging. Und er war so arm, vielleicht kaum seine Studien vollenden zu können, und seine Zukunft so aussichtslos wie der trübe Winternebel um ihn her.

Am andern Morgen schlug er nicht den nächsten Weg durch die entblätterten Anlagen zu seinem Kolleg ein und ging ihn nie wieder. Es zuckte ihm wohl krampfhaft durch die Brust und zerrte ihm den Fuß hinüber und zog ihn mit fast übermächtiger Gewalt, doch er leistete Widerstand; denn er konnte, was er wollte, und wollte, was er mußte, was Ehrenpflicht war.

Aber diese gebot nicht, daß er heut' abend nicht einmal mit den Augen über den Rand der nüchternen Pharmakologie wegschweifte und halblaut »Erwine« vor sich hin sagte. Denn wenn sie auch in all ihrer Lieblichkeit lebendig über dem grauen Buchschnitt dastand, so hörte sie es doch nicht.

Trotzdem fuhr Wolfgang Wegerdanz jetzt zusammen. Wie eine Antwort auf den Ton, der von seinen Lippen gekommen, klopfte es an seine Tür.

Es war indes nur ein Dienstmann, der ein kleines Paket brachte und wieder ging. Die Aufschrift des Päckchens war an Wolfgang gerichtet. Wer in der Welt konnte seiner am Weihnachtsabend gedenken?

Ein Etui kam zum Vorschein und darin ein einfaches goldenes Medaillon. Es mußte doch an eine falsche Adresse geraten sein, war vermutlich für eine weibliche Empfängerin bestimmt. Offenbar hatte man hier zu drücken, um die Kapsel zu öffnen. Seine Hand tat es mechanisch. Aber gleich danach flog ihm ein Aufschrei vom Mund: »Erwine –«

Sie sah ihn aus dem Innern des Medaillons an, im Brustbilde einer kleinen, doch wunderbar lebensvollen Photographie. Ihn überliefs heiß; es war doch eine Antwort auf ihren Namen im Moment, als seine Lippen ihn gesprochen.

Ein schmales Zettelchen lag eingebogen, darauf stand mit feiner Handschrift:

»Wenn meiner niemand heut' gedenkt, gedenke ich doch dessen, der so einsam heut' abend ist wie ich. Es war so schön, als die Bäume noch ihre Blätter trugen. Wie kahl und traurig sind sie geworden, wenn ich zur Tante gehe. Warum ist es denn Winter geworden? Die Sonne war so warm, als wolle sie Frühling bringen.«

Der Lesende zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Eine Antwort war's, nicht nur auf sein Denken und Reden, sondern auch auf das Klopfen seines Herzens. Das Herz in dem Urbild des kleinen Konterfeis pochte ebenso – es war traurig über den leeren, entblätterten Weg – es zitterte auch – es bat –

Wolfgang Wegerdanz sah plötzlich kleine Fußspuren im Schnee der stillen Anlage vor sich, die einzigen. An wohlbekannter Stelle hielten sie an, als ob suchende Augen darüber umhergingen.

Morgen früh war es gewiß so.

Wenn er ihr dann schweigend ebensolch ein Medaillon mit seinem Bilde zurückgab, auch mit einem Blättchen darin, auf dem stand, daß er ihrer nicht minder gedacht und immer gedenken werde. Aber, daß er den Weg nicht mehr gehen dürfe, weil – weil es nicht sein könne –

So mußte er's, um jeden Preis, und mechanisch griff seine Hand hastig in die Tasche nach seiner Börse. Doch im selben Augenblick zerflog der traumhafte Rausch um seine Stirn vor einem Anklappern allernüchternster Wirklichkeit. Aus den Falten seines Portemonnaies glitzerte ihm keine Doppelkrone entgegen, nichts als einige Kupfer- und Silberstücke schoben sich darin durcheinander, für die sich in keinem Juwelierladen ein goldenes Medaillon erhandeln ließ.

Auf einmal sagte eine raunende Stimme aus einer dunkeln Ecke der Stube: »Wasserstraße Nr. 7.«

Dort lag die Doppelkrone, die er brauchte, und wartete auf ihn. Freilich, wenn er sie für seinen Zweck verwandte, konnte er dem Verlierer keine Revanche mehr geben, sondern mußte fortan in scheuer Weise das Café vermeiden. Aber von dort fortzubleiben, lag ja so wie so in seiner Absicht, und er erwarb sich das Geld nicht in unehrlicher Art.

Er konnte auch im Spiel unterliegen – das Blut schoß ihm bei dem Gedanken ins Gesicht.

Dann trug er seine Börse nicht bei sich und entrichtete seine Schuld später, wenn das neue Jahr ihn mit Geldmitteln versehen. Es war nur ein Anlehen, das er machte, und er konnte überhaupt nicht verlieren, denn Erwine stand als ein Schutzgenius neben ihm.

Um jeden Preis mußte er die Doppelkrone noch heut' abend haben, und das Medaillon in seine Brusttasche bergend, drückte er den Hut wieder auf den Kopf, in dem sein Gehirn sich in ähnlich taumelnden Sprüngen bewegte, wie seine Füße sie die Treppe hinuntermachten. Draußen war es jetzt befremdlich still, die Straßen der Großstadt lagen fast so unbelebt, wie sonst nur in den ersten Stunden nach Anbruch des Morgengrauens. Es schneite nicht mehr, und die wenigen Leute, die da und dort in fast taghellem Licht gingen, hatten etwas wunderlich Spukhaftes, als seien sie nicht aus Türen hervor, sondern unter dem weißen Überzug der Erde heraufgekommen, um ein paar Stunden lang die von den Lebendigen heut' verlassenen Plätze und Straßen in Besitz zu nehmen, mit horchenden Ohren und starrenden Augen zwischen den Häusern umherzuwandeln. Nicht die Gaslaternen allein warfen ihre Helle um sich, auch aus allen Fenstern vom höchsten bis zum untersten Stockwerk brach, verhängt oder durch freie Scheiben funkelnd, der Glanz des Weihnachtsabends und flimmerte aus den Millionen winziger Frostkristalle am Boden zurück. Wie ein großes Sarglaken überzog es ihn, hing von Simsen und Ecken gleich Streifen und Fetzen eines Leichentuches herunter. Ein lebendig klopfendes Herz gehörte offenbar gegenwärtig nicht in diese friedhofartig anschauernde Welt hinaus.

Wolfgang Wegerdanz' Phantasie nahm es auf und trieb's ihm durchs kreisende Blut zu sonderbaren Erscheinungen und Tönen vor Blick und Gehör, aber sein klopfendes Herz trieb ihn noch stärker und ohne Anhalt fort. Der Wind blies noch scharf und warf manchmal vom Dach eine niederstäubende Lawine über den Laufenden; er besaß nur eine allgemeine Vorstellung von der Richtung, in der sich die Wasserstraße befand, diese selbst hatte er nie betreten, kannte sie kaum dem Namen nach. Der Weg führte weit aus dem Zentrum der Stadt nach Nordost, allmählich in dunkle und wie völlig ausgestorbene Gegenden. Hier gingen selbst die schattenhaften Wanderer nicht mehr um, in einem Gewirr alter, enger, gekrümmter Gassen konnte der vergeblich Suchende niemanden befragen. So drehte er sich irr in einem unbekannten Kreise, bis ihm einmal ein klatschender Ton ans Ohr schlug und er an einem breiten, schwarzen Strich durch die weiße Schneedecke erkannte, daß er neben dem Fluß stehe, der das Nordende der Stadt durchzog. Vor seinen Füßen rauschte dumpfgurgelnd das Wasser; bei dem Ton kam's ihm, daß die Wasserstraße danach den Namen führen möge. Hierher und dorthin blickte er herum, dann war ihm ein günstiger Zufall behilflich. Eine vereinsamte Laterne warf noch eben ihr flackerndes Licht bis an den Rand einer alten, halbverfallenen schwärzlichen Mauer, an der ein Straßenschild befestigt war, von dem sich mit scharfer Augenanstrengung der Name »Wasserstraße« buchstabieren ließ.

Aus dieser selbst sah keine Beleuchtung mehr hervor, wie ein dunkler Schlauch wand sie sich abwärts und verlor sich in Nacht. Sie schien weniger aus Gebäuden als aus Lücken zu bestehen, die durch tür- und fensterloses Mauerwerk ausgefüllt wurden; eine Hausnummer zu unterscheiden, fiel unmöglich. Wolfgang zählte, doch zwecklos, denn nichts gab einen Anhalt, auf welcher Seite sich die ungeraden Zahlen befänden; tastend fühlte seine Hand nach einem Türklopfer umher. Dann geriet ihm einmal ein solcher, eisig an der Hand klebend, zwischen die Finger; er schritt vorbei, weit, bis er wieder auf Türen stieß, doch nirgendwo fand sich ein zweiter. So kehrte er zurück; nach dem Gefühl bildete der Klopfer einen alten metallenen Drachenkopf. Er sah an einer hohen, schwarzen Hauswand in die Höh'; alles daran war totenstill und lichtlos, hier gab es keinen Weihnachtsabend. Nur das Murren des Flusses kullerte hinter dem Gebäude herüber; wie der junge Student den Fuß gegen die Schwelle vorsetzte, trat er in eine tiefe Schneewehe hinein. Unwillkürlich bückte er die Augen darauf nieder, keine leichteste Spur befand sich darin. Es sah aus, als sei kein lebendes Wesen heut' darin aus oder ein gegangen.

Zaudernd legte er seine Hand auf den Klopfer. Das Herz tat ihm ein paar stockend warnende, abmahnende Schläge, aber dann pochte es hurtig wieder: »Erwine – Erwine!« und er schlug nach der empfangenen Weisung dreimal mit dem alten Drachenkopf gegen die Tür. Ein hohles Echo dröhnte von innen zurück, doch nichts regte sich; nur beim dritten Anhieb sprang die Tür plötzlich wie von selbst auf. Mechanisch trat er einen Schritt vor, da fiel der schwere Eichenholzflügel auch von selbst, knarrend und schütternd, hinter ihm wieder ins Schloß, und er stand in toter Finsternis. Alles war lautlos, nur von einer Seite her kam ein leiser, schlürfender Ton. Dann schien sich der Laut in einen Schimmer zu verwandeln, der irrwischhaft da und dort über die Stufen und an dem Geländer einer breiten, düsteren Treppe herunterzitterte. Weiter ließ sich nichts gewahren, bis auf einmal die heisere Stimme des alten Schachliebhabers sagte: »Sie sind lange ausgeblieben. Fürchteten sich wohl vor dem Wind und Wetter. Ein widerlicher Abend. Es freut mich, daß er Ihnen auch so ist. Hier!«

Wolfgang unterschied noch immer kaum etwas von den Umrissen des Sprechers, der auf dämpfenden Filzsohlen mit einem kleinen Blendlicht von der Treppe herabgekommen war und ebenso wieder hinanstieg. Der Ankömmling folgte ihm nach; er vermochte nichts um sich zu erkennen, gewann nur den Eindruck eines großen, altmodischen Flurs, in den finstere Gänge einmündeten. Einen derselben schritten sie entlang, und der Fußtritt des jungen Studenten lief hallend an den Wänden des leeren Korridors voraus und kam ebenso, wie der eines Doppelgängers, hinter ihm zurück. Sonst lag das weite Gebäude totenschweigsam gleich einer Katakombe rundumher.

Endlich öffnete der Alte eine Tür, und eine schmale Lichtbahn fiel heraus. Sie hielten in einem großen, durchwärmten, aber trotzdem ungemütlichen Stubenraum an. Eine mit grünem Schirm überdachte Lampe erhellte nichts als einen breiten in der Mitte des Zimmers stehenden Schachtisch mit eingelegten Feldern; eh' das Auge sich gewöhnte, verschwanden die Wände umher beinah völlig und gleicherweise die Decke, die sich hoch droben zwischen dunklem Gebälk verlor. Auf dem Tisch stand ein großer, alter Kristallhumpen bis zum Rand mit dampfendem Punsch gefüllt, neben einem gemaserten Kasten lag eine fremdartige, schlangenhaft gewundene Tabakspfeife, von Goldfäden umringelt, zwischen denen bunte Steine von sprühendem Glanz hervortauchten, und mit breitem Bernsteinmundstück versehen. Zwei augenscheinlich Jahrhunderte alte Lehnsessel, deren Arme in ausgeschnitzte Fratzenköpfe endeten, sahen sich an beiden Seiten des Tisches entgegen, auf dessen Feldern die Schachfiguren in Ordnung aufgestellt standen. Sie waren von kostbarster Art, aus Elfenbein und Ebenholz gearbeitet, doch wunderlich und verschieden. Bei den weißen bildeten die Türme Elefanten, die Springer ansprengende Reiter, die Läufer zierlich schlanke Pagen; der König trug Zepter und Krone, und neben ihm, als ein kleines Kunstwerk, ragte die Dame ihm mit einem feinen, madonnenhaft lieblichen Antlitz bis an die Schulterfalten seines Hermelins. Vom Nacken des schwarzen Königs dagegen fiel ein Purpurmantel herab, und sein Nebenmann war nicht weiblicher Natur, sondern nach orientalischem Brauch ein Wesir mit grellen weißen Augen im Gesicht und roter Hahnenfeder auf einem Karfunkelturban; die Läufer reihten sich als aufgereckte, hechelnde Wölfe daran, die Springer als haarige Böcke und die Türme als Einhörner mit gesenktem, zum Stoß ausholendem Kopf. Davor standen die Bauern in verschiedensten Gestalten hockender, grinsender und zähnefletschender Zwerge und Kobolde. Alle Elfenbeinfiguren trugen als Krönung eine weiße Perle, während auf den Köpfen derer von Ebenholz ein Steinchen wie Blutstropfen funkelte.

Wolfgang Wegerdanz' Blick haftete staunend auf dem seltsamen und kostbaren Schachspiel, dann sagte er, um mit einer Äußerung gleichsam sein bisheriges Schweigen zu entschuldigen:

»Sie standen im Begriff, Herr Baron, mit sich selbst eine Partie zu beginnen.«

Doch als Antwort kam ihm trocken entgegen: »Ich dachte mir, daß Sie kämen.«

Unwillkürlich entflog dem jungen Studenten: »Ich selbst wußte es vor kurzem noch nicht, daß ich von Ihrer freundlichen Einladung Gebrauch machen würde.«

Es war wie ein von der Wand kommendes Echo, das zurückgab: »Ich wußte es.« Wolfgang sah auf; die Lippen unter dem rattengrauen Schnurrbart vor ihm hatten sich nicht bewegt, nur aus den beiden tiefen Augenhöhlen darüber glimmerten ihm zwei phosphoreszierende Punkte entgegen. Dann rührte es ihm wieder halb tonlos ans Ohr: »Ich hatte heut' nachmittag den Anzug, Sie bekommen Weiß,« und eine langfingerige Hand tauchte in den Lampenschein und deutete auf den Sessel vor den Elfenbeinfiguren.

Der Aufgeforderte setzte sich und eröffnete das Spiel. Sein Blick hatte sich etwas an die karge Beleuchtung gewöhnt und unterschied hie und da undeutlich einen aus dem Dunkel um ihn jetzt hervortauchenden Gegenstand. Von Gesimsen an den Wänden schimmerten alte Metallgeräte, Waffen und Wunderlichkeiten. Es waren lauter seltsame Dinge, die einen dichten Rahmen um den Stubenraum bildeten. An Drähten von der Decke herabhängend, wurden auch weitklafternde, ausgestopfte Eulen und Raubvögel halb sichtbar, wie sie sich leis unhörbar im Zug des auf die Fenster drückenden Windes bewegten. Es kam Wolfgang plötzlich mit einer Aufhellung: Sein sonderbarer Wirt war zweifellos kein »Baron«, sondern ein alter Trödler, ein Raritätenhändler, in dessen Antiquitätenraum er hier saß. Die Lehnsessel, das Kristallglas, die goldumringelte Pfeife, das barockwertvolle Schachspiel, alles stimmte dazu.

Sie hatten lautlos einige Züge getan, nun sagte der Alte: »Trinken Sie nicht? Es ist eine gute Mischung. Sie wird Ihnen helfen, die Partie zu gewinnen.« Seine Hand wies auf den dampfenden Humpen, und seine Zähne blinkten unter der aufgezogenen Oberlippe, als ob sie tonlos lachten.

Wolfgang setzte mit einer Dankesäußerung das Glas an die Lippen, und der Schluck, den er trank, durchflutete ihn wie ein glühender Strom. Nach einigen abermaligen Zügen sprach es über das Brett zu ihm herüber: »Rauchen Sie nicht? Es ist ein guter Tabak. Er wird Ihnen die besten Pläne eingeben.«

Der junge Student rauchte gern, doch hatte es sich seit Monaten schon aus Sparsamkeit abgewöhnt. So ließ er sich nicht weiter auffordern, hob die Hand nach dem bereitgestellten Kasten, stopfte sich daraus die wunderliche Schlangenpfeife und setzte die Bernsteinspitze an den Mund. Ein köstliches Aroma umgab ihn bei dem ersten Zug, und ein fremdartiges Wohlbehagen durchfloß ihm Glieder und Sinne. Er hatte in der Tat noch nie so wundervollen Tabak geraucht. Wahrscheinlich eine Schmuggelware des alten Trödlers.

Im Zimmer war keine Bewegung und kein Laut. Nur der Wind winselte draußen manchmal mit einem Stoß durch den Korridor, und nur die Knochenhand des Alten streckte sich ab und zu vor, um seine Figuren zu fassen. Nun hatte er einen seiner schwarzen Bocksspringer gehoben, doch die Finger hielten mit ihm unerwartet in der Luft an, unter den Nicklidern sahen seine Augen herüber, und er fragte plötzlich mit dem trocken schluckenden Kehlton:

»Um was spielen wir?«

Dem Befragten stieg das Blut ein wenig rot in die Schläfen, doch er versetzte mit möglichster Unbefangenheit: »Ich denke, wie gewöhnlich.«

»Um eine Doppelkrone? Haben Sie noch eine bei sich?«

Es war gewesen, als ob die Frage von einem der schwebenden Raubvögel heruntergekommen sei. Wolfgang Wegerdanz' Gesicht hatte sich noch dunkler gerötet, aber nun tönte es gleich hinterdrein: »Ich gebe auch Kredit. Nur ist es ein ungewöhnlich widerlicher Abend; da kann man nicht um Gewöhnliches spielen. Wenn's Ihnen genehm ist, setzen wir heut' das Zehnfache an Doppelkronen auf die Partie.«

Bei den letzten Worten schoß auf einmal wiederum eine neue Aufhellung, ein jähes Verständnis durch den Kopf des Angeredeten. Sein Gegner war nicht allein ein Trödelhandelsmann, sondern auch ein alter Wucherer, der das Schachspiel gleichfalls als Geschäft betrieb und den Weihnachtsabend zu nutzen gedachte, um gegen die Spesen eines Glases Punsch und einer Pfeife Tabak einen guten Profit zu machen. Das war von Anfang an sein Trachten gewesen, und er hatte Wolfgang mit seiner Einladung in diese Falle gelockt.

Trotzdem berührte diese Aufklärung diesen eigentlich angenehm. Wo er ein Opfer gewinnsüchtiger Spekulation sein sollte, fühlte er sich von aller Rücksichtnahme befreit und konnte ohne jedes Ehrenbedenken ruhig ebenfalls nur seinem Wunsch, sich Geld für seinen Zweck zu beschaffen, nachhängen. Zwar war es eine gewaltige Summe, die ihm als Einsatz angeboten worden, doch das Herz schlug ihm hastig, welch schönere Gedächtnisgabe er dafür morgen Erwine zurückzureichen imstande sein werde. Außerdem empfand er sich so leicht und sorglos, wie von Flügeln getragen; er warf noch einen schnellen Blick über das Brett. Unzweifelhaft war seine Stellung die vorteilhaftere, und er antwortete rasch: »Mir ist der Einsatz recht.«

»Ihre Partie steht gut, und junge Männer können immer Geld brauchen.«

Diesmal war es wirklich ein lachender Hauch, der mit der Entgegnung von den Zähnen des alten Trödlers kam. Es lag etwas unverständlich Seltsames darin, denn er hatte mit dem ersteren die Wahrheit gesagt, und es klang, wie wenn er seinem Gegner den hohen Gewinn gönne. Offenbar hielt er irgend einen tiefversteckten Plan in Vorbereitschaft, doch der junge Student fürchtete sich nicht. Er hatte sich noch niemals so klaren Blicks, so sicher in der Beherrschung seines Schachtalents gefühlt. Scharf übermusterte er jede Einzelheit seiner Position, und vollberuhigt spielte er weiter.

Der Wind heulte draußen, und die toten Vögel kreisten geräuschlos im Halbdunkel über dem Tisch, sonst nichts. Schweigend saßen die Spieler sich gegenüber. Schon lange, denn ein verwehter Turmuhrschlag hatte einmal wie mit dumpfem Fingerklopfen an die Scheiben gepocht und tat's jetzt wiederum. Dabei regte der Alte zum erstenmal den Kopf. Er drehte ihn, ohne seinen Körper zu bewegen, auf dem Hals fast bis gegen das Fenster herum und fragte: »Wer ist da? Bist du's? Komm herein!« Doch es kam nichts auf die Aufforderung, als daß ein Fauchen, gleich dem einer unsichtbaren Katze, durch den Raum her fuhr und die schwebenden Vögel in schnellere Bewegung setzte. Der Kopf unter der Spitzmausperücke wandte das Gesicht auf das Schachbrett zurück und fügte im selben Ton wie schon zuvor hinzu: »Ihre Partie steht gut. Es ist ein widerlicher Abend.«

Damit stand er auf, trat unhörbar gegen die dunkle Wand hinan und kam ebenso zurück. Doch trug er etwas Schweres zwischen seinen beiden Händen mit sich, sagte mit schlürfender Stimme: »Man sollte an solchem Abend um einen höheren Betrag spielen,« und stellte eine alte, mit Eisenspangen beschlagene Truhe auf den Tisch. Es klirrte helltönig darin beim Aufstoß, und zugleich hob er den Deckel ab, ein Glimmern und Glitzern kam darunter hervor, und der große Kasten war bis zum Rand mit lauter funkelnden Doppelkronen angefüllt. Und heiser sprach es über die gleißenden Goldschuppen hin: »Das wäre ein guter Einsatz für solchen Abend. Wenn Sie verlieren, können wir ihn nachher zählen.«

War das nur ein phantastischer Traum, in dem Wolfgang Wegerdanz hier saß? Da lag Gold, so viel, wie sein Leben in zehn Jahren nicht bedurfte – er drückte sich die Nägel seiner Finger in die Handfläche und fühlte an dem Schmerz, daß er wirklich nicht träume, mit wachen Sinnen hier sitze. Vor sich sah er das Schachbrett und am Rand desselben einen von den schwarzen Bocksspringern, den er vor kurzem geschlagen. Von seinen Offizieren fehlte noch keiner, er besaß zweifellos einen mehr als sein Gegenspieler.

Doch er brachte stotternd über die Zunge: »Solche Summe besitze ich nicht – könnte ich nicht bezahlen –« Der Alte tauchte seine Hand in die Goldstücke und ließ sie durch die Finger klirren. »Das wär' ja auch nicht gleich nötig. Sie könnten's von Ihrem späteren Verdienst abtragen.«

»Dazu würde mein Leben kaum ausreichen.«

»Ein Leben ist lang, wenn man jung ist. Junges Blut im Herzen braucht oft Gold, um glücklich zu sein. Wenn die Jugend vorbei ist, nützt es nicht mehr.«

Es hämmerte plötzlich wie mit einem wahnsinnigen Schlag im Herzen Wolfgangs auf, daß er besinnungslos ausstieß: »Ihr Einsatz wäre töricht – Sie hätten keine Bürgschaft, daß ich Ihnen jemals –«

»Ich bin nicht ängstlich und brauche nichts als zwei Zeilen Schrift, daß Sie Ihr Ehrenwort geben – im Falle wenn Sie verlören – Ihre Schuld an mich abzutragen.«

Der Sprecher hatte ein Blättchen von der Brust gezogen und griff nach einer Feder –

Auf einmal sah der junge Student wieder die kleinen Fußspuren im Schnee – und die seinigen standen daneben. Doch er streckte nicht schweigend das Medaillon vor sich hin – er sprach dazu. Und er sprach nicht, daß er den Weg zum letztenmal im Leben gegangen, sondern daß er ihn wieder gehen dürfe – daß er – daß die Sonne Frühling bringen könne, trotz den winterkahl entblätterten Bäumen –

Wie das gleißende Gold von den langen knochigen Fingern dämonisch rann und rieselte! Wie der Blutstrum siedend in die Schläfen schoß! Wie das Herz selig zitterte und zugleich zum Zerspringen raste!

»Sie wollen nicht, sind reich genug, brauchen kein Gold,« murmelte der Alte trocken. »Mir gilt's gleich.« Und er legte die Feder auf den Tisch.

Da hielt Wolfgang Wegerdanz' Hand sie gefaßt, krampfhaft umklammert. Das weiße Blättchen taumelte ihm vor den Augen hin und her – zwei Sekunden noch, dann stand sein Name unter den beiden Zeilen, die der Wucherer von ihm verlangt hatte. Ohne eine Miene zu ändern, steckte der Empfänger das Blatt wieder in seine Brusttasche und sagte: »So ist's in Gültigkeit. Ihr Ehrenwort wär' mir auch genug gewesen. Die Schrift ist nur für Leben und Sterben. Ihre Partie steht gut.«

Damit setzte er sich auf seinen Platz zurück, und mit fiebernder Anspannuug seines Kopfes bückte Wolfgang sich auf das Brett. Lautlos bewegten sich eine Weile die Figuren hüben und drüben; seine Hand hielt sich fest auf das kleine Medaillon gedrückt, das er an der Brust trug. Er fühlte, es half ihm, er hatte sein Leben dafür eingesetzt, kämpfte für ein doppeltes Lebensglück und mußte siegen.

Da flimmerte es ihm einmal mit einer Vision vor den Augen. Seine kleine Elfenbeindame nahm die Züge Erwines an, und zugleich dehnte sie sich und wuchs zu der Gestalt und leibhaftigen Grüße der Geliebten auf. Ein seliges Gefühl durchfloß ihn bei dem Anblick, doch er mußte die Phantasmagorie verscheuchen, um sein Spiel fest im Auge zu halten. Nun schrumpfte sie auch klein wieder zusammen, aber seine Königin behielt immer noch das Antlitz Erwines, und wie von ihr ausfließend, wallte ein leichter Nebelschleier über die Figuren um sie her.

Unwillkürlich sah er auf, woher der bläuliche Dunst komme. Es ließ sich nichts entdecken, doch auch seinen Gegner gewahrte er durch ein gleiches flatterndes Luftgespinst. Regungslos saß der in seiner steten Art, nur gespenstig verlängert schien sein hagerer Leib und sein Gesicht gegen die Decke aufzuwachsen.

Der junge Student blickte auf das Brett zurück, da verdichtete sich der Nebel auf diesem noch mehr, daß er kaum die Figuren darauf noch unterschied. Gewaltsam zwang er seine Augen zur Sehschärfe, doch der Dunst rann aus seinen eigenen Wimpern hervor. Es umflorte ihm den Kopf mit einem leisbetäubenden Gaukelspiel, das ein undeutlicher Gedanke durchzitterte, in dem Punsch sei eine phantastisch aufregende Substanz enthalten gewesen, und er habe aus der Pfeife mit Opium versetzten Tabak geraucht.

Doch nur dunkel kam's ihm zum Bewußtsein, eine andere Vision, etwas aus seinem Gedächtnis Auftauchendes drängte sich ihm darüber. Es war eine Zeichnung des Malers Alfred Rethel, die er einmal gesehen: An einem Tisch, schachspielend, saß ein Jüngling und ihm gegenüber Mephisto als sein Gegner. Überall vom Gebälk blickten grinsende Tierfratzen den ersteren an und eine dicke Kreuzspinne kroch auf ihn zu. Neben ihm aber stand ungesehen ein weißgeflügelter Engel und weinte um ihn, denn er spielte um seine Seele.

Das Bild sah Wolfgang Wegerdanz auf einmal lebensgroß und lebend an, und nun trug auch der weinende Engel die Züge Erwines.

Was war das? Über ihm raschelte das tote Gevögel und die langen Raubschnäbel krümmten sich noch mehr, als machten sie sich bereit, auf ihn herunterzuhacken. Auf dem Sims sah er plötzlich etwas weißlich Fahles aus dem Dunkel vortauchen und ihn mit den leeren Augenhöhlen eines Totenschädels anstarren. Und nun fiel sein Blick wieder auf den, den er nur für einen alten Wucherer gehalten, und durch den nebelnden Schleier grinste ihm um weißzähnigen Kiefer tonlos eine satanische Hohnlache.

Er selbst spielte mit dem Teufel um seine Seele – um sein Leben, seine Ehre. Als Köder hatte der Versucher ihm seine Liebe vorgehalten, um ihn zu verderben.

Daß alles nur ein schrecklicher Traum wäre! Er konnte nicht mehr erkennen, welche Figur er anfaßte; ungewiß tastend, hielt er eine und wollte sie wieder loslassen.

»Touché, joué,» raunte es heiser von den sich nicht bewegenden Lippen unter dem rattengrauen Schnurrbart herüber und danach reckte sich die lange, fleischlose Knochenhand über das Brett. Sie setzte den rotbeturbanten schwarzen Wesir mit der Hahnenfeder auf das Feld der weißen Elfenbeindame und hob diese wie mit einer Zange zwischen zwei Fingerspitzen in die Luft. Wolfgang stieß einen Schrei aus, es war das Gesicht Erwines, in das die beiden langgespitzten Nägel sich einkrallten, und lautlos legten sie dieselbe wie eine Tote auf den Rand des Schachtisches um. Er hatte einen Zug gemacht, der ihn seine Dame verlieren ließ. Von seinem Mund kam ein dumpfes Stöhnen: »Es ist aus –«

Wie ein hohlstimmiges Echo wiederholte der Gewinner: »Aus. Geben Sie die Partie auf? Sie stand lange gut für Sie. Dann wollen wir zählen.«

Seine Hand streckte sich nach dem Inhalt der Goldtruhe, doch der junge Student stammelte: »Nein – noch nicht – ich kann noch – ohne die Dame –«

Aber nun zerriß der Nebelschleier vor seinen Augen. Er starrte auf die rettungslose Stellung seines Königs, und eine fahle Blässe ließ ihm alles Blut aus dem Gesicht fallen.

»Zu unbedachtsam gespielt,« raunten die Zähne seines unheimlichen Wirtes. »Jugend ist manchmal übermütig. Zählen!«

Seinen Arm behinderte etwas, er faßte danach, zog einen bläulich schillernden Revolver aus einem Gürtel unter seinem weiten Schaubenrock und legte ihn auf den Tisch. Unbewußt stotterte Wolfgang:

»Ja – ich war wahnsinnig – Ihr Gold machte mich dazu. Haben Sie Mitleid mit mir – Sie brauchen ja nicht mehr. Ich habe mein Leben zur Sklavenarbeit, zu Jammer und Elend an Sie verkauft. Wär's nur das – aber ich habe mehr verloren, als Sie wissen, als Sie kennen. Ich war reicher, als alles Gold auf der Erde machen kann – mein Herz, meine Hoffnung war's, und nun sind sie wieder bettelarm. Haben Sie Erbarmen – es ist ja Weihnachtsabend. Geben Sie mir meinen Schuldschein zurück.«

»Weihnachtsabend? Was hatten Sie am Weihnachtsabend hier zu suchen? Der Schein ist gut aufgehoben. Ich habe Ihr Leben gekauft; das ist ein hübsches Weihnachtsgeschenk. Was wollen Ihre heißen Augen auf meiner Brust? Ihre Namensschrift daran verbrennen? Wenn sie's könnten, hätte Ihr Mund sein Ehrenwort zurück? Aber Sie haben mir den widerlichen Abend einträglich gemacht. Sie wollten eine Doppelkrone von hier mitnehmen. Ich gebe sie Ihnen als Aufgeld drein – zum Dank – da.«

Mit kaltem, bleckendem Hohne zischelte es über den Tisch, und eine Hand griff vor und legte eines der goldenen Stücke aus der Truhe neben den blauen Stahlglanz der Pistole. Wolfgang Wegerdanz starrte darauf nieder, das doppelte Metallgeglimmer rann ihm vorm Gesicht ineinander. Nun hämmerte alles Blut ihm plötzlich fiebertoll in den Schläfen auf. Mit einem wilden Griff der Verzweiflung packte er nicht das ihm höhnisch dargebotene Goldstück, sondern den Revolver und schrie, aufspringend: »Schurke, du hast mich betrogen, mich vergiftet! Gib mir den Schein, gib mir mein Wort zurück!«

In seinem irren Blick stand: wenn er sich weigert und ich töte ihn – niemand hört den Schuß in dem leeren Hause. Sein Mund spricht zu keinem mehr von meiner Schuld, und ich kann sein Gold mit mir –

Doch nur ein Augenblick, das Anbranden einer wahnsinnigen Blutwelle war's. Geisterhaft unbeweglich stand die hagere Gestalt vor ihm, wie mit den unheimlich phosphoreszierenden Augen in seine Seele hinunterglimmernd, und ein eisiger Schauer durchgrauste Wolfgang Wegerdanz bis ins Herz. Es war der Teufel, der ihn mit der Waffe noch weiter versuchte, für ein ehrlos verlorenes Leben zum Dieb, zum Räuber, zum Mörder zu werden. Unbewußt zitterte von seinen Lippen noch einmal mit tödlichem Weh der Name »Erwine« – dann fuhr seine Hand blitzschnell auf und setzte sich die Pistole selbst gegen die Stirn.

Doch gleichzeitig umklammerten ihm die Finger des Alten mit hartem, knöchernem Griff den Arm und hinderten ihn an seinem Vorhaben. Aus der Kehle kam's ihm mit widerwärtigem Ton: »Soll ich für Ihren Mörder gelten, daß man Sie tot bei mir findet? Wenn Sie nicht länger leben wollen, wählen Sie eine andere Art, die mich nichts angeht. Ich will Ihnen gern behilflich sein – zum Dank für den guten Abend. Hier.«

Er hielt den Arm des jungen Mannes und zog ihn durch eine Tür mit sich auf einen dunklen Gang. Willenlos folgte Wolfgang ihm nach; sein Gehirn war völlig betäubt, nur ein einziger Gedanke drin, nichts mehr denken und fühlen zu müssen, an den Schluß eines grausigen Traumes zu kommen, ehe er wieder zur wachen Vollempfindung seines hoffnungslos elenden Lebens gelange. Um ihn lag stille, tote Finsternis, nur vom Ende des Korridors, in dem er sich befinden mußte, tönte ein dumpfes Rauschen und Plätschern her. Es kam näher, und nun hielt die Hand seines Führers ihn an, und ihm klang ans Ohr: »Wenn es Ihr Wille ist – hinter der Tür hören Sie draußen den Fluß. Er ist hoch vom Schnee, und Sie brauchen sich nicht anzustrengen, um zu springen, nur sich hinunterfallen zu lassen. Dann ist Ihre Schuld quitt, und man findet Sie morgen irgendwo drüben. Wollen Sie?«

»Ja – hinunter – rasch,« stöhnte die Brust des jungen Studenten, und er hörte die Tür vor sich auf leis' knarrenden Angeln aufgehen – es kam noch einmal eine Vision, ihn zu martern, ihn mit dem Lieblichsten und Wunderreichsten zu höhnen, was das Leben für ihn besessen haben könnte. Gleich einem Traumbild sah er ein heimliches Zimmer vor sich, in dem ein hoher Tannenbaum mit goldenem und silbernem Behänge zur Decke aufstieg. Rote und weiße Kerzen tauchten aus den grünen Nadeln, doch brannte keine, nur ein alter Kronleuchter verbreitete ein mildes Licht durch den Raum. Darin saß, wie auf etwas harrend, eine vornehm gekleidete, schlanke Mädchengestalt; sie wandte den Kopf, und das Gesicht und die braunen Augen Erwines sahen der geöffneten Tür entgegen.

So lebendig stand das Gaukelspiel der überreizten Einbildung vor Wolfgang Wegerdanz' Blick, daß er laut aufschrie. Wundersam, aber süß und schauerlich, tat auch die Phantasmagorie das nämliche. Sie bewegte sich, sie flog vom Sessel auf, sah starr, wie zu Tod erschreckend, nach der Türschwelle und stieß ebenfalls einen Schrei von den Lippen. Doch gleich darauf sprachen noch vom Korridor her hinter dem Rücken des jungen Mannes zwei andere Lippen:

»Es ist sehr einsam und still für ein junges Leben am Weihnachtsabend in unserem Hause, Erwine, und ich denke, ein Gast ist dir willkommen. Wenigstens einer, den du selbst dir geladen hast. Du dachtest wohl, alte Augen sähen nicht und wüßten nichts von einem jungen Herzschlag. Aber sie waren um dich, um an dir gut zu machen, was sie einst an dir versäumt. Meine Tochter ließ ich einem Manne, der um sie warb, ohne ihn zu kennen und zu prüfen, nur weil er einen stolzen Adelsnamen trug, wie sie selber. Und er heiratete ihre hohe Mitgift und brachte ihr nichts zu, als den hohlen Anspruch seiner Geburt. Denn er kannte nur Hochmut und Selbstsucht, war ein Spieler und Verprasser, feig und ehrlos. In Schanden ging er unter, und deine Mutter starb vor Gram und Tränen, denn sie hatte ihn geliebt. Da gelobte ich an ihrem Sarg, meine Schuld an ihr auszusühnen an dir, die sie mir in der Wiege gelassen. Und ich hütete dich, ich sah dich zu jeder Stunde, ich wußte, was du tatest und dachtest, von deinem ersten Wünschen und Wollen an. Mein Leben besaß keinen anderen Zweck mehr als dein Glück. Doch ich war ein Tor und wollte dich auch vor der Liebe bewahren, die deiner Mutter Verderben gebracht. So lebtest du einsam mit mir, und ich ließ keinen vornehmen Freier in deine Nähe. Aber ich handelte wiederum unrichtig, denn es war wider die Natur. Und ich sah dich ihr gehorchen, nicht meiner Vorsicht; ich gewahrte dich auf deinem Morgenweg anhalten und mit einem jungen Manne reden; ich erkannte die gefürchtete Liebe in deinem Herzen erwachen. Sie hatte sich keinen glänzenden Kavalier erwählt, sondern einen armen, namenlosen Studenten, tief unter deinem Rang und Reichtum. Kein äußeres Blendwerk konnte dich bestochen haben, es mußte Edles in ihm sein. Da suchte ich ihn auf und trachtete danach, in seiner Seele zu lesen. Der Umstand begünstigte mich, daß er das Schachspiel liebte, denn es ist ein Spiel, das nicht der Rede bedarf, um die Gesinnung, den Wert und das Wesen eines Menschen zu offenbaren. Ich sah ihn täglich und ich lernte ihn kennen, daß seine Armut ihn nicht durch Gewinnsucht zu einer Unehrenhaftigkeit verleiten konnte. Das Gold lockte seine Bedrängnis, doch er widerstand. Und er war stärker sogar, als die Versuchung, um deine Liebe zu werben, denn eine Erkenntnis des Unterschiedes zwischen euch und der Aussichtslosigkeit seines Lebens gebot ihm plötzlich, den Weg zu meiden, den du kamst. Dein Herz aber konnte nicht von ihm lassen, da es wußte, daß seines in der Ferne ebenso nach dir bange. Deine Weihnachtssendung an ihn sprach es mir, die der Bote mir zuvor überlieferte. Da beschloß ich, ihn in einer Prüfung zu versuchen, die über mein Sollen und Müssen entscheide: ob die Umstände ihn gleich deinem Vater zu einem blinden Glücksritter, zu einem Feigling und einem Ehrvergessenen zu machen imstande seien. Doch er verlor den Mut nicht, sondern trotzte allem Unheimlichen, mit dem ich ihn umgab – um deinetwillen. Er war ein Spieler und setzte sein Leben ein, aber nicht für Gold, sondern um dich zu gewinnen. Und er konnte dich erringen, er brauchte nur Gewalt an einem Betrüger zu üben, der ihn tückisch überlistet. Doch seine Ehre stand ihm höher als sein Glück und sein Leben, und er wollte es hinwerfen. Für dich ist er der Versuchung erlegen, aber für sich hat er die Prüfung bestanden. Es ist Weihnachtsabend heut', Erwine, und ich hieß dich, ihn festlich bereiten und auf mein Kommen zu warten. Vergib mir, daß mein Alter lange zu einsam für deine Jugend in diesem Hause war. Ich hab's erkannt und bringe dir einen besseren Weihnachtsgast mit. Zündet miteinander die Kerzen eures Lebensbaumes an, Kinder, daß sie in der Wintersonnenwendnacht den Sonnenglanz eures Sommers vorausdeuten! Und so vergib auch du, Wolfgang Wegerdanz, deinem widrigen, betrügerischen Schachgenossen!«

Die Augen des alten Freiherrn leuchteten ohne die eulenhafte Nickhaut klar und warm in das Gesicht des noch sprachlosen jungen Mannes; er streckte die Hand aus und nahm sich die dickflockig schwärzlich-glimmerige Perücke vom Scheitel, unter der sein eigenes eisgraues Haar noch schön den Kopf umschloß, und zum erstenmal schalkhaft lächelnd, sagte er: »Eure Partie stand von Anfang gut, und Ihr habt sie gewonnen. Laßt mich noch ein Weilchen Eurem Weiterspielen zuschauen.«