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Edmund Hoefer

Die alte Apfelfrau

1855

»Ich weiß nicht, was es mit dir ist, Kind,« sagte die Alte; »du bist mir so ganz anders, und gar nicht gut mehr, gar nicht das lustige, brave Mädchen, wie sonst. Was ist in dich gefahren, daß du den Kopf hängen läßt und so jammervoll darein stehst, wie die Katze beim Regenwetter?« und sie legte freundlich die Hand auf den dunkeln Kopf des jungen Mädchens, das vor ihr auf einem Schemel saß, die Hände auf dem Schooß gefaltet und das Haupt an das Knie der alten Frau gelehnt. »Nun, Marie, was ist's? Dein Kopf ist heiß, Kind, und du zitterst.«

Marie hob den Kopf nicht auf, sie bewegte die Hände nicht, sie regte sich nicht, nicht einmal die Augen, deren lange Wimpern sich so tief gesenkt hatten, daß man nicht bemerken konnte, ob die Lider darunter nicht so fest geschlossen waren, daß kein Blick heraus konnte. Aber aus den Lippen kam die Stimme, und sie war leise und gepreßt, und die Worte waren nur: »Du weißt es ja, Großmutter!« – Die wenigen Laute kamen aus einem tief gedrückten Innern, aus einem trüben kleinen Kopf. Der Mensch dünkt sich so ein Kunstwerk zu sein, so sich in seiner Gewalt zu haben, wie ein richtiges gutes Schloß, das man kinderleicht auf- und zuschließt. Und doch ist nichts so unverschließbar wie ein Menschenherz: die Mienen künden von ihm, und in den Worten zittern seine Schläge.

»Ja, ich weiß,« sprach die alte Frau und beugte sich zu der Enkelin und sah ihr in's Gesicht, denn der Ton der Antwort gefiel ihr nicht. Aber es war schon tiefe Dämmerung in dem kleinen reinlichen Zimmer, da zu dem hereinbrechenden Abend auch noch der alte Baum schattete, der dicht belaubt draußen im Hofe und nahe am Fenster stand. So richtete sie sich wieder auf, ohne etwas bemerken zu können, und schüttelte leise vor sich hin den Kopf.

»Du nimmst dir's gar zu sehr zu Herzen, meine Tochter,« sagte sie wieder nach einer Pause, mit ziemlich ernster Stimme. »Du grübelst und denkst da nun den ganzen Tag und noch gar die halbe Nacht herum, und malst es dir pechrabenschwarz aus und hast nicht Ruh, nicht Rast. Das ist nichts, dabei geht dir Leib und Seele zu Grunde. Du gefällst mir gar nicht, Kind. Wer wollte so verzagt sein und doch wieder so hochmüthig? Denn das bist du.«

»Hochmüthig, Großmutter, ich?« Sie hatte den Kopf aufgerichtet zu der Alten, die in ihrem tiefen Lehnstuhl weit zurück saß. Draußen auf dem Hof ging ein Knecht vorüber mit einer hell brennenden Laterne, und ein scharfer Strahl derselben fiel gerade in's Zimmer und auf Mariens Gesicht und spiegelte sich dort in einer großen Thräne, die sich zwischen den gesenkten Wimpern hervor drängte. »Hochmüthig, ich?« wiederholte sie leise. »Ach Gott!«

»Ja, und gottlos noch obendrein,« versetzte die Alte, indem sie aber dabei wieder die Hand auf des Mädchens Kopf legte. »Ich will dich nicht schelten, du armes Kind, die Menschen sind ja fast alle nicht anders, und du bist so jung. Aber es ist so; ich will dir das erklären. Sieh, da hast du dein Herz an den Burschen gehängt, der mir nie und niemals gefallen, und als er wegging in die Fremde, hast du ihm das Herz nachgeschickt oder auch mitgegeben. Und nun, da er es dir zurück schickt, weil ihm ein anderes besser convenirt, nun ist das ein Elend zum Sterben, und du denkst, kein Mensch als du habe so etwas Grausames erlebt. Ist das nicht der pure, sündige, unchristliche Hochmuth? Es haben noch andere Leute ganz was anderes ertragen, und dir ward nichts Apartes. Und ist das recht, daß du nun so verzweifelst und thust, als ob alles aus und zu Ende sei, in deinen Jahren, wo das Leben knapp erst angefangen? Ist das nicht gottlos? Wer wollt' an unseres Herrgotts Hülfe gleich so verzagen?«

»Ich nehm's ja demüthig, wie der Herrgott es will!« sprach die Kleine traurig. – Aber die Alte sagte: »Das ist nun auch wieder nicht recht. Was will der Herrgott? Daß du den Kopf einziehen und die Ohren hängen lassen sollst? Daß du ein bischen jammerst, aber sonst alles über dich kommen läß'st, ohne dich zu wehren? Was der Herrgott will, ist schwer zu sagen; aber er schickt uns die Trübsal und Noth sicher nicht, daß mir uns davor wie die Schafe ducken und jammervoll zu Grunde gehen. Nein, er will uns damit prüfen, ob mir rechte Menschen sind und Courage haben und uns wehren für unser Glück und thun, was unsere Schuldigkeit ist. So will er's, und dann hilft er auch wieder. Das Glück liebt die Feigherzigen nicht, die ihr Herz immer in den Taschen haben.«

»Großmutter, ich habe ihn so übermenschlich lieb gehabt!« sprach das junge Mädchen leise. – »Thut dir das leid, Kind?« fragte die alte Frau ernst? – »Nein, Großmutter, aber es thut nun so ganz schrecklich weh, daß das alles für nichts gewesen!« – »Für nichts? Bist du selbst nichts, Kind?« fragte sie wieder eben so ernst. »Mich dünkt, du solltest dich gerad freuen darob, daß du so ein ehrlich und wacker Herz hast. Was der Mensch will und thut, muß etwas Ganzes und Tüchtiges sein, dann mag's vor der Welt immer unterliegen. In unseres Herrgotts Augen besteht es zu Recht und wird dem Menschen zu gut gerechnet von ihm, und vor des Menschen eigenem Gewissen besteht's auch zu Recht, und damit holt er sich doch daraus seinen Frieden.«

Das Mädchen war still und regte sich anscheinend nicht; aber die Hand der Großmutter, die noch immer fest und ruhig auf dem dunkeln Köpfchen lag, spürte es wohl, wie es in dem armen Wesen nicht so still war. Denn ein unendlich leises, aber unaufhörliches Zittern ging durch die ganze Gestalt, und manchmal zuckte sie auch heftiger, wie fiebernd zusammen.

»Sieh, Marie, es ist mir lieb, daß wir 'nmal darauf gekommen sind,« sprach die alte Frau nach einer langen Pause. »Ich hab's dir schon lange einmal sagen wollen, denn es that dir noth, daß du einmal aufgeschüttelt wurdest. Das Grübeln und das Quälen in Gedanken thut kein gut. Das ist was Ungesundes und muß heraus. Was zum Kukuk!« fuhr sie fort und band sich die Bänder an der saubern weißen Haube fester, »du bist knapp zwanzig Jahre alt und schmuck und ein wackeres Mädchen – denn das kann ich vor Gott und der Welt verantworten – mit dir ist's noch lange nicht Matthäi am Letzten; die guten Tage kommen für dich erst.«

Marie hatte den Kopf erhoben und die Alte angesehen. Jetzt stand sie auf, und indem sie mit beiden Händen ihre Haare glatt strich, sagte sie mit nicht gar so trübem Ton: »Ja, das Grübeln und Denken ist das aller – allerschlimmste. Wenn ich so mit dir einmal reden kann, da wird's gleich besser.« – »Ja, so ist's, aber warum? Die dummen Menschen meinen, nur das Herausreden sei's und das ist gelogen. Sie mögen's auch nicht besser verstehen. Nein, ich denke mir so: wenn so was Dummes oder Schweres immer nur in dem Einen Kopf bleibt, da kann's nicht ausbleiben, daß es konfus wird und auf unrichtige Wege kommt. Aber wenn's heraus gelangt an den Tag, da kann das Unrichtige nicht bestehen, da wird es wieder zurecht gerückt von dem Freund – heißt das, wenn dieser selbst vernünftig ist und anschauende Augen hat. Siehst du, und die habe ich Gott sei Dank all mein Lebtage gehabt, und darum kann ich dir die Wahrheit sagen.«

»Aber hart redest du, Großmutter,« sprach das Mädchen mit einem Klange von leisem Schmerz. »Streicheln thust du deine Marie nicht.« – »Das ist auch ganz und gar nicht nöthig, Kind. Wer gesund ist, dem hilft, wenn er 'nmal krank ward, eine ordentliche Mixtur, die nicht spaßt. Mit den vielen süßen Tränklein ist's nicht gebessert und währt viel länger.«

Das Fenster der kleinen Stube, in dem dieses Gespräch geführt wurde, ging, wie gesagt, gegen den Hof zu, der nicht gering war. Der Hausbesitzer war ein reicher Fuhrherr, und rings um den weiten Raum des Hofes zogen sich die Stallungen und Remisen, wo ein stetes Kommen und Gehen» herrschte, Wagen herausgezogen oder hineingeschoben und Pferde vorbeigeführt wurden. Gegen Abend wurden daher in diesem Raum stets einige Laternen brennend erhalten, und eine solche, die nicht fern vom Fenster am nächsten Gebäude ihre Stelle hatte, warf ihr Licht in einem gedämpften zitternden Strahl in das kleine Zimmer und erfüllte es mit einer nicht unangenehmen, heimlichen Dämmerung.

Der alten Bewohnerin mochte das auch gefallen, denn als die Enkelin jetzt nach einer langen Pause vom wieder eingenommenen Sitz aufstand und hinausgehen wollte, sprach die Großmutter: »Laß die Lampe noch draußen, Kind; es ist hier ganz gut so. Zu arbeiten brauchst du nicht mehr; setz' dich wieder her und horch zu, ich will dir etwas erzählen, was ich noch keiner Menschenseele gesagt. Wozu sollt' ich auch? Was geht die alte Apfelfrau am Rockenberger Thor die Menschen an? Wer fragt nach der? Du aber kannst draus lernen.«

Sie hatte sich tief zurückgelehnt, so daß man nur aus dem hellen Schimmer ihrer Haube die Stelle des tief gesenkten Antlitzes ahnen konnte, und dazu hatte sie die Hände in dem Schooß gefaltet. Als Marie sich aber gehorsam wieder zu ihren Füßen auf das Schemelchen gesetzt, da hob sie das Gesicht auf, daß das Licht sich schnell wie ein Blitz in den alten Augen spiegelte, und dann legte sie die Rechte wieder auf des Mädchens Kopf und fing ohne ein weiteres Wort ihre Geschichte an. –

»Ich will es dir nur sagen, ich habe auch einmal einen Menschen lieb gehabt,« sprach sie, und ein schwermüthiger, zitternder Klang bebte durch ihre tiefe, sonst so feste und ruhige Stimme. – »Selbst deine Mutter hat es niemals erfahren, obgleich sie von je mein liebstes Kind gewesen und ich sonst alles und alles mit ihr beredet. Aber an die Gräber soll man nur an ganz absonderlichen Tagen gehen; die Todten wollen auch ihre Ruhe haben. Und mir ist, als sei das alles, alles todt und begraben und versunken, so unmenschlich lange ist es her. Das kannst du dir auch wohl selbst denken; denn da ich so alt war wie du, weißt du, da heirathete ich schon meinen ersten seligen Mann, und da war bereits Jahr und Tag vorbei, seit das gewesen, was ich meine.

»Ich war dazumal natürlich noch bei meiner lieben Mutter, die eine kreuzbrave Frau war, auch noch jung, obgleich schon Wittfrau; der Herrgott scheint das so bei den Weibsleuten unseres Namens für's Beste zu halten. Nun, die Mutter war auch schon Apfelfrau und saß mit ihrem Kram aus, aber nicht unter'm Thor, das litten damals die Herren von der Stadt noch nicht, sondern an der Ecke der Schmiedergasse, wo zu jener Zeit ein Haus mit einem weiten Erker stand, unter dem man so ziemlichen Schutz hatte. Nahe dabei wohnten wir auch, in dem alten Convent, wie das Gebäude zu jener Zeit hieß. Das war ein großmächtiger Bau: er ging herum von der Rosenstraße über die ganze Steinhauerstraße und tief hinein in die Papenklemme. Die neuen Häuser dort und das große neue Packhaus sind alle daraus entstanden. Nur das Stück in der Papenklemme steht noch, und da gerade auf der Ecke, wenn du in den alten Thorweg hineinguckst, rechter Hand, war die Thür zu unsern kleinen Zimmern, und da wohnten wir, die Mutter, meine beiden Brüder, die du ja auch noch gekannt hast, die dazumal aber noch ein paar ganz kleine Jungen waren, und ich.

»Ich war ein frisches, munteres Ding, dem es gar nicht gefiel, daß es so wenig zu thun hatte und so viel still sitzen mußte; am liebsten war' ich den ganzen Tag draußen gewesen und hätte herum gewirthschaftet: es war ein Junge an mir verdorben, so wild und beweglich war ich. Statt dessen mußt' ich aber den ausgeschlagenen Tag zu Haus bleiben, zuerst der Nachbarin an die Hand gehen, die in Abwesenheit der Mutter nach uns Kindern und der Küche sah, dann von meinem zwölften Jahr an das alles allein besorgen. Es ging auch; die Mutter kochte Abends oder Morgens zeitig unser Essen, so daß ich es Mittags bloß warm zu machen und ihr durch einen von den Jungen nachzuschicken hatte. Vorher hatte ich unsere Betten zu machen und die beiden Stuben zu kehren, sowie das Geschirr zu reinigen. Das war nichts Großes, kannst du dir denken, und dann hatt' ich nichts anderes zu thun, als ein bischen zu nähen oder zu stricken – spinnen lernte ich damals erst – und auf die beiden Buben zu passen, daß sie nicht gar zu viel unnützes Zeug trieben.

»Sonntags und an den Festtagen, wo die Mutter nicht aussitzen konnte, ging ich mit ihr in die Kirche und nachher und noch an einem Wochentage in die Christenlehre; aber das hörte auch auf, als ich mit vierzehn Jahren eingesegnet wurde. Und so lebt' ich denn still hin von einem Tag zum andern. Da passirte nichts, da war ich meist allein, meines Gleichen waren im Convent nicht viel, und die standen mir auch nicht einmal alle an; hinaus kam ich nur selten Abends einmal und nur auf kurze Zeit zu irgend einer, die ich noch von der Christenlehre her kannte. Das war ein über die Maßen stilles Leben, und gut war das gar nicht, denn so was bringt nur zu dummen Gedanken und Narrheiten, und daß ich davon frei blieb, mag wohl eine besondere Gnade von Gott gewesen sein.

»Auf allerhand Gedanken bin ich denn auch gekommen und auf allerlei Anschläge, wie ich mir die Langeweile vertreiben könnte. Ich bat die Mutter, sie solle mich auch aussitzen lassen mit dem Kram, und da sie das nicht wollte, wie's ja natürlicherweise auch nicht anging, bin ich wieder auf andere Dinge gerathen, aber nicht auf üble. Und zuletzt fand ich denn auch das Richtige. Wenn ich bei uns drunten mit den Zimmern und den Buben fertig war, ging ich in dem großen Bau Trepp auf und ab und kreuz und quer und half, wo ich konnte, und wo ich was zu thun fand. Und es war auch genug da; es wohnten viele arme und gebrechliche Leute im Hause, die schon eine Handreichung brauchen konnten. Und ganz oben, zwei lange Stiegen über uns, wohnte in einem kleinen Stübchen ein armes, altes Weibsbild, hieß Frau Leonhard, ihr Mann war 'nmal Thorschreiber gewesen und bei einem Brande übergefahren worden, und ihr hatte man, weil's ihr so bitterlich arm ging, da das freie Logis gegeben und alljährlich drei Gnadenthaler dazu. Nun, du kannst dir denken, daß sie davon auch nichts auf Zinsen legte. Und da das alte Wesen nun noch gichtbrüchig ward und mit den lahmen Beinen nicht mehr kriechen und mit den krummen Fingern nicht mehr spinnen konnte, so mußte doch eine Menschenseele nach ihr sehen, daß sie nicht geradezu Hungers starb oder im Schmutz verkam. Und da hatte ich denn mein Wesen.

»Du mußt dir nun aber auch wieder nicht denken, daß in dem alten Bau lauter so arme Menschen wohnten. Das war nur oben in den kleinen Löchern, welche die Armenpflege vergab. Unten war alles vermiethet, wie auch unsere Stuben, und da wohnten ganz ordentliche Leute, bei denen es gar reputirlich aussah und herging. So war es auch mit einem alten Goldschmied Mandel, der die Zimmer gerade über uns hatte. Das war ein sehr braver Mann und reich, sag' ich dir. Warum der da eingezogen, weiß ich nicht; er hätt's für sein Geld überall eben so gut, wo nicht besser haben können. Er wohnte da aber ganz allein mit seiner alten Haushälterin; seine Frau war lange todt und Kinder hatte er nie gehabt. Bei dem durfte ich aus und ein gehen und der alten dicken Hanne helfen. Er mochte uns Kinder alle und hat uns mehr als einen Groschen heimlich in die Taschen gesteckt.

»Nun, ich weiß nicht, was es war, kam's ihm nur so in den Kopf von wegen seiner großen Einsamkeit, oder wollte er die Hanne ärgern, oder war's so ein dummer Einfall, kurz, mit einem male hieß es, er habe in die große blaue Stube einen Miethsmann eingenommen, einen jungen Herrn, der hier an der Akademie auf den Oberförster studirte, und die Menschen sagten, er sei Baron oder gar Graf. Nun, mich ging das nichts an, denn von der Zeit, daß er einzog, kam ich nicht mehr hinauf; die Mutter hatt' es mir streng verboten.

»So ging denn Woche auf Woche hin, wo ich ihn nicht einmal sah; war auch nicht gerade allzu neugierig, denn ich muß dir das sagen, meine Tochter, ich war schon über sechzehn Jahre alt, aber nach den Mannsleuten sah ich noch gar nicht und machte mir auch keine Gedanken über sie, weder über einen, noch über alle. Ich dachte nicht an so etwas, wie das Heirathen. Und also, um wieder auf's andere zu kommen, von dem Herrn Grafen sah ich nichts, als hin und wider seinen Hund, ein schönes großes Thier mit so klugen Augen und weiß und braun geflecktem, weichem, langem Haar. Der und ich wurden bald gut Freund mit einander, und als ich ihn erst ein paarmal gestreichelt, da kam er sogar hie und da einmal in unsere Stube, setzte sich neben mich und legte seinen Kopf auf meinen Schooß und sah mich an. Sich, Kind, da hab' ich mir oft schwere Gedanken gemacht, was so eine arme Kreatur doch übel dran ist, daß Gott ihr die Sprache versagt. Denn sie möchte so gern sprechen, es ist so gar was Bewegliches in den Augen, als ob sie schrecklich viel auf dem Herzen hätte.

»Hören that ich nun aber desto mehr von dem Herrn Grafen, denn das war er und hieß Graf von Hüne. Nicht aber, als ob er viel Lärm gemacht, getobt und getollt, allein oder mit seiner Kameradschaft; nein, ich habe selten einen so ordentlichen und ruhigen, gesetzten Menschen gesehen. Aber Morgens zuweilen in aller Frühe und Abends spät fast alltäglich spielte er auf einem kleinen Orgelwerk – wunderschön, sag' ich dir – und manchmal, aber nicht oft, blies er auch das Horn. Wie das aber gewesen ist, das läßt sich nicht beschreiben. Die hellen Thränen sind mir dann beim Zuhören über die Wangen gelaufen, so unmenschlich schön war's und so rührend. Und ich bin ein altes Weib und schwachherzig all mein Lebtage nicht gewesen, aber wenn ich daran denke, können mir noch die Augen naß werden, und gehört habe ich so was nie wieder.

»Nun war's so um Martini, da hatte ich seit ein paar Tagen weder vom Herrn Mandel noch von Hannen etwas gesehen, die ich doch sonst hie und da auf dem obern Flur traf oder auf der Treppe, wenn ich die Leonhard oben heimsuchte. Und am Sonntag Nachmittag sagte die Mutter zu mir: »Regine, der alte Mandel ist krank, hör' ich; du kannst 'mal hinaufgehen und dich nach ihm umsehen, ob er auch was braucht; Hanne ist auch nicht die stärkste.« Das that mir nun grausam leid und so sprang ich die Treppe hinauf, klopfte an und trat ein. Er war nicht gerade bettlägerig, sondern saß auf seinem Canapé, sah aber recht leidig und übel aus. Hanne war auf ihrem Stuhl an der Thür und nickte mir freundlich zu.

»Sieh,« sprach er, »kannst du den Weg zu mir auch noch finden, Gine? Hast doch 'n schlechtes Herz; vor dir könnt' ich sterben und begraben werden, du fragtest nicht darnach.« – Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen; ich verantwortete mich tapfer und so kamen wir in einen lustigen Discurs. – »Kikel, kakel,« meinte der Alte endlich, »das ist lauter Faselei. Du kommst von wegen meines Miethsmanns nicht, will ich dir sagen, und das ist närrisch genug. Glaubt deine Mutter und du, daß er die Kinder mit Haut und Haar verspeise, der Herr Graf? Sieh ihn dir 'mal darauf an, da sitzt er hinter'm Ofen.«

»Und richtig, als ich hinsah – da saß er. Es war draußen schon Dämmerung, und im Zimmer erst recht. Die Fenster waren nur klein, und hinter dem großen schwarzen Ofen war's beinahe dunkel, so daß ich ihn bisher nicht bemerkt. Doch wäre ich bald in die Knie gesunken, so erschrak ich, und rasch drehte ich mich um und sprang zur Thür, allein die Hanne fing mich auf und hielt mich fest. Und dann lachten sie viel, und ich blieb auch noch was weniges, und ich weiß auch wohl, daß der Herr hervor kam und mich ganz sanft fragte, ob ich mich denn vor ihm fürchte? Dazu sagte ich nein, aber was es so eigentlich gab, weiß ich nicht. Ich hatte einen zu großen Schreck gekriegt, und obgleich mir niemand etwas zu Leide that, dankte ich doch meinem Gott, wie ich erst wieder draußen und auf der Treppe war. – Siehst du, das war das erste Sehen. Aber es blieb nicht dabei.« –

Die Alte schwieg nachdenklich, und erst nach einer langen Pause begann sie wieder.

»Von der Zeit an war's, als sollte es so sein. Der Herr Graf begegnete mir öfter und öfter, bald drunten, wenn ich unsere Stube auskehrte, bald auf der Treppe, bald auch bei seinem Wirth, zu dem ich jetzt öfters mußte, weil der alte Mann gar übel dran war und ordentlich still im Bette lag. – Zuerst sagte er mir wohl nur: »Guten Tag, Regine,« oder »wie geht's?« oder er nickte mir auch bloß freundlich zu, und ich sagte gar nichts, denn ich erschrack immer wieder von neuem, daß ich kaum meinen Knix machen konnte; zuweilen mag ich das auch vergessen haben. Nun aber – ich brauch' dir wohl nicht erst zu sagen, daß es dabei nicht blieb und daß wir allgemach bekannter wurden.

»Wenn ich ihm auch noch nicht in's Gesicht sah, so sah ich ihm doch nach und dachte und überlegte mir, wie er aussah. Und da konnte ich mir's nicht verbergen, daß er ein schmucker Herr sei mit einem so freundlichen und guten Gesicht, und nicht im mindesten böse; und seine Stimme war die pure Sanftmuth und Herzigkeit, und seine Worte konnte er setzen, daß sie geradeswegs zum Herzen gingen. Kurz, Angst haben konnte man gar nicht, und ich hatte sie auch bald nicht mehr; ich hielt ihm Stand, ich sprach, wenn er mich fragte. Aber ihn ansehen – so recht ordentlich, mein' ich – habe ich noch lange nicht können. Und einmal, da er, wie wir schon ziemlich bekannt waren, mir im Vorbeigehen die Hand hinhielt und so recht treuherzig sagte: »Grüß Gott, Reginchen!« und als ich so in der Unbesinnlichkeit meine Hand in die seine legte und er sie drückte – Kind, wie mir da ward, das glaubst du nicht. Ich lief davon in die hinterste Ecke und habe geweint, so schämte ich mich, und ich konnte gar nicht Luft kriegen vor all der Herzbeklemmung.

»Das war ein Jammer, und ich wollte ihm nie wieder vor die Augen kommen, daß ich ein so dummes Mädchen gewesen und so vergeßlich und zudringlich. Was mußte er von mir denken? Und als ich ihn das erstemal wieder von fern kommen sah, lief ich auch richtig davon, und als er mir das zweite mal begegnete – es war oben an der Treppe und ich hatte geglaubt, er wäre ausgegangen, aber nun trat er hinter der Säule hervor gerade vor mich hin, daß ich wohl stehen bleiben mußte – nun, da bin ich blutroth geworden und ganz schwindelig.

»Jungfer,« sagte er – er hatte mich noch nie so genannt und seine Stimme klang ganz traurig und so ernsthaft – »Jungfer, hab' ich Ihr was zu Leide gethan, daß Sie mir aus dem Wege läuft? Sage Sie es mir, es ist unwissentlich geschehen und ich will es Ihr abbitten.« – Sieh, Kind, das konnte ich nicht aushalten, den Herrn so demüthig zu sehen, und ich erzählte ihm, wie ich mich vor mir selber geschämt, daß ich so frech gewesen, ihm meine arme Hand zu geben. »Sei Er mir um Gotteswillen nur nicht bös, Herr Graf,« sagte ich. »Ich bin eben eine dumme Magd, und es soll ganz gewiß nicht wieder geschehen. Es war nicht aus Schlechtigkeit, kann Er mir glauben, sondern aus Dummheit; aber sei Er mir nicht bös!«

»Er sprach kein Wort, und wie ich endlich zu ihm aufsah – mir war's, als sagt's mir einer, ich müsse ihn ansehen – da hatt' er seine großen himmelblauen Augen auf mich gerichtet, so ernst und doch so freundlich, so still, und doch war's wie lebendige, geredete Worte darin, daß ich nun wohl sah, böse war er mir nicht; aber richtig war es auch nicht, und da sah ich flink wieder nieder und wußte kaum von meinen Sinnen, so besonders war mir zu Muth.

»Ach Gott, Herr Graf,« sagte ich, weiter nichts, und weiß auch nicht, was ich eigentlich noch habe sagen wollen. – »Regine,« sprach er, und der Ton war so sanft, daß mir bloß davon die hellen Thränen in die Augen drangen, »Regine, du kleine, thörichte Person, was redest du da von böse sein und Schlechtigkeit? Du bist ja ein Kind, so gut und hübsch, ohne Falsch und Sünde, ein Kind, wie es Gott lieb hat. Und sieh, böse hast du mich nicht gemacht, als du mir deine treue kleine Hand gabst, aber glücklich, sage ich dir. Und nachher hast du mich betrübt.« – Ich erschrak wieder. – »Ach,« sagte ich, »so ist's doch richtig; ich hab' mir das wohl gedacht, ich bin eben so ein dummes Ding!« Und dazu muß ich ganz kurios ausgesehen haben, denn er fing an zu lachen und faßte mich bei den Händen und sprach: »Darum war's nicht, sondern weil du dich so lange nicht vor mir sehen ließest. Und ich muß dich doch sehen, wenn es mir gut gehen soll. Weißt du nicht, daß ich dich lieber habe als alles, als die ganze Welt? Und alles könnte ich um dich geben, so lieb habe ich dich, Regine!« Und damit legte er seinen Arm um mich und küßte mich auf die Stirn.

»Ich war meiner nicht mächtig. Es schwirrte mir im Kopf, und das Herz schlug mir durch den ganzen Leib. Ich wußte von nichts, ich dachte nichts, ich sagte nichts, ich konnte auch nicht weg. Ich hörte nur die Worte, die Worte immer von neuem! Und als er mich los ließ und zu mir sagte: »Regine, hast auch du mich lieb?« – da – das weiß ich noch – schüttelte ich nur den Kopf und meinte: »Ich weiß nicht!« – Und als er mich dann noch einmal küßte und zu mir sprach: »Nun gehe, du liebes Kind, aber nicht wahr, morgen früh sehe ich dich hier wieder, und du redest dann auch mit mir?« – da mag ich wohl genickt haben.

»Ich stieg dann die Treppe hinab und setzte mich in die Ecke neben mein Bett und legte den Kopf in die Hand, war still und dachte und dachte. Und wie ich mir da alles überlegte und zusammen hielt, da merkte ich wohl, daß ich den Herrn lieb hätte schon seit langer Zeit, und daß ich am liebsten für ihn sterben möchte. Sieh, fröhlich war ich eben gar nicht dabei, sondern ganz unmenschlich traurig, und wußte doch mit keiner Ahnung weßhalb. Und so saß ich, bis ich an die Arbeit mußte, und wie schwer mir der Abend ward, und daß die Mutter nichts merkte, das kannst du dir selbst denken.

»Als ich Abends endlich in's Bett konnte und die beiden Jungen still geworden und ich nun ganz allein war, da dachte ich Ruhe zu finden. Doch da täuschte ich mich, es fing vielmehr erst recht an, und ein Auge habe ich in der Nacht nicht zugethan. Nachher habe ich mich daran schon gewöhnen müssen, aber damals war's das erstemal, und da war's bitter hart; du weißt das auch wohl. Es ist dann so neu für den Menschen und er kann sich nicht darin zurecht finden, nicht in das Hinliegen, nicht in die Stille. Und dazu ist's, als hätten die Gedanken ordentlich darauf gepaßt, so kommen sie nun mit Gewalt herbei. Ich erinnerte mich seiner Worte, sie summten mir im Kopf, und ich mußte mich immer ganz angsthaft fragen, was ich junges Ding nur an mir habe, daß er so von mir denken könne? Aber schön war's doch, daß er mich so lieb hatte, unmenschlich schön, und so sanft und weich – es mußte sich über die Maßen süß darin ruhen lassen.

»Als es gegen Morgen ging und die Mutter in ihrem Bett sich rührte, kamen aber auch die andern Gedanken: wie es nun werden sollte, ob ich hinaufgehen und mit ihm reden dürfte, wie er gebeten hatte, oder ob ich drunten mich versteckte, wie ich es eigentlich am liebsten gethan? – Wie ich mich so abängstigte, hört' ich plötzlich oben erst seine Schritte und dann mit einemmal sein Hornblasen. Und das war so sehnsuchtsvoll, und das war so wehmüthig, und das sprach zu mir wie mit leibhaftigen Worten: »Regine, ich habe dich lieb über alles, und alles könnt' ich geben für dich, und du kannst mich so betrüben und willst dich nicht sehen lassen, nur aus reiner, purer, dummer Angst? Komm, Regine, komm!« – Da sprang ich mit beiden Füßen steil aus dem Bett, mir war's, als könnte ich nicht länger warten; er lockte und blies mir die Seele aus dem Leibe, ich mußt' ihm sagen, daß ich nicht von ihm lassen, daß ich an seinen Augen hängen wollte mein Lebenlang.

»Aber die Mutter fragte von ihrem Bett herüber recht verdrießlich, was los sei, wohin ich wolle? Ich solle nur ruhig noch liegen bleiben, und über den großthuigen Herrn oben werde sie Klage erheben; das sei keine Mode noch Manier, die Leute zur nachtschlafenen Zeit mit seinem Getute zu maltraitiren. – Da merkt' ich erst, daß es noch Nacht sei und noch lange keine Zeit für mich. Und so kroch ich still wieder in's Bett zurück und horchte nach oben.

»Als wir endlich aufgestanden waren und die Mutter mit dem Heinrich hinaus war, der ihr den Kram tragen half, als ich nun mutterseelenallein war – und oben war es auch längst wieder mäuschenstill – da wußt' ich mir nicht mehr zu rathen; ich fiel auf die Kniee und bat den Herrgott um Erleuchtung und Erleichterung. Die kam mir denn auch, jedoch nicht von dem lieben Gott direkt, wie ich's mir einbildete, sondern ganz anders. Denn plötzlich legten sich von rückwärts zwei Arme um mich, und des Herrn Grafen Stimme sagte dicht an meinem Ohr: »Regine, hast du mich gar nicht – gar nicht lieb?«

»Ich schrie nicht auf, wie ich sonst wohl gethan, ich erschrak gar nicht, mir war's, als hätte das so kommen müssen. So hob ich denn auch ganz ruhig meinen Kopf vom Stuhl und sah ihn an, recht von Herzen. Und als er mich dann zu sich hinaufzog und mich noch einmal fragte: »Regine?« – da ward mir zu Muth, wie über Nacht bei dem Hornklang, das Wort faßte meine Seele an und ich drückte die Augen zu, denn ansehen hätt' ich ihn dabei nicht können, und legte meine beiden Arme um seinen schneeweißen Hals und sagte: »Ach, lieber Gott, ja, ich habe Ihn lieb, mehr als mein Leben! Aber das kann ja doch nicht gehen mit Ihm und mir, denn ich bin ja nur so ein geringes Kind!«

»Auf die Worte hob er mir den Kopf auf und, küßte mich auf die Lippen, als sei er mein verlobter Bräutigam, und dann bat er mich, endlich die Augen aufzumachen, die ich bis dahin noch immer dicht geschlossen hielt, und ihn nun ehrlich und getreulich anzusehen. Kind, er sah so gar gut und glücklich aus! Und dann redete er mit mir, wie lieb er mich habe und wie es werden solle mit uns. Seine Worte hab' ich nicht behalten; ja schon als er mich wieder allein gelassen, wußt' ich nichts mehr davon. Mir war nur übermenschlich, himmelsselig zu Muth. Ich dachte bloß an ihn, an seine Güte, und wie schön er war, und wie lieb er mich hatte. Die Mutter schalt Abends, ich sei nicht bei mir. Das war ich auch nicht, ich war bei ihm. Er blies gerade wieder sein Horn, und ich dachte an sein Schloß im heimlichen grünen Wald, von dem er mir erzählt; da sollte ich mit ihm leben und sterben.« –

Die Großmutter holte tief Athem und schwieg dann eine geraume Zeit. Marie sah zu ihr ein wenig besorgt hinauf; aber so viel sie zu erkennen vermochte, waren die Züge des alten Gesichts wenig oder gar nicht verändert, sie müßten denn noch stiller und unbewegter gewesen sein als gewöhnlich; die alte Frau war mit ihrem Leben ja auch gar fern von der Gegenwart. Mit einemmale zuckte es aber leicht durch die Züge und sie fing wieder an.

»Siehst du, das kann ich dir nicht so sagen, wie's nun kam; es war eigentlich auch nichts Besonderes, so neu und seltsam und süß es sonst für mich junges Ding und für ihn sein mochte. Meistens blieb es nur bei einem Blick, bei einem Händedruck oder schnellen Wort, zu Weiterem hatten wir kaum Zeit noch Courage. Und sieh, ich könnt' noch weinen vor Dankbarkeit, wie der Herr mich armes, unerfahrenes Kind so geachtet und geehrt, als sei ich seine richtige Braut, daß er mir mit keinem Blicke zu nahe trat und mit keinem Wort, daß ich nicht einmal erschrecken mußte oder mich schämen und roth werden, es müßte denn vor dem herrlichen Glück gewesen sein, das in mir zitterte.

»Einmal sprachen wir uns noch ordentlich, er hatte mich Morgens drum gebeten, und ich kam dann nach oben an die Treppensäule, und da sagte er mir wieder viel Liebes und Schönes, so daß mir bei der Aussicht in die Lebenszeit mit ihm war, als sehe ich in das volle, helle, lichte Himmelreich. Am folgenden Tage wollte er nun an den Herrn Onkel schreiben, der sein Vormund war. Das sei ein sehr lieber Herr, meinte er, und gar nicht stolz auf sein Schloß und Gut. Erst nachher wollte er meiner Mutter davon sagen, und dann sollte ich auf ein paar Monate fort zu seiner Schwester und dort »auf die Gräfin studiren,« sagte er lächelnd, und ich lachte auch.

»Er war sonst nicht so munter an dem Morgen, sondern sehr ernsthaftig, so daß ich schon bangte, er könnte mir um was böse sein; aber seine Zärtlichkeit und Liebe gegen mich blieb doch sehr groß und schön. Als ich fort mußte und er mir Adje sagte, wollte er mich schier gar nicht aus seinen Armen lassen und küßte mich immer von neuem, und fragte mich immer wieder, ob ich ihn auch sehr, über alles lieb habe? Und endlich seufzte er, da ich ging, hoch auf. Unten am Treppenabsatz sah ich mich noch einmal um nach ihm; er stand richtig noch oben, hatte die Arme auf das Geländer gelegt und sah gleichfalls mir nach. Seine Augen waren so sanft und traurig und so nachdenklich, daß ich noch einmal umkehrte und mich noch einmal von ihm küssen ließ. – »Bist du mir auch gewiß nicht bös, liebster Mensch?« fragt' ich. – »Gewiß nicht, Regine, nur so voll Sehnsucht,« entgegnete er; »ich möchte dich nie mehr von mir lassen.« Und so nahmen wir Abschied, und diesmal kam ich richtig hinunter.

»An dem Nachmittage machte der Herr eine Ausfahrt mit einem seiner Kameraden: zwei Stunden darauf, wie es schon dunkel war, kam er zurück, aber er ging nicht, sondern sie trugen ihn die Treppe hinauf. Er hatte sich erzürnt gehabt mit einem andern von den Forstleuten, hatte sich mit ihm schießen müssen, und die Kugel saß nun mitten in seiner treuen Brust.

»Da lag er oben und war sterbens – sterbenskrank, auf den Tod, sagten die Doktoren, und ich durfte nicht zu ihm! Da lag er und hatte ein fürchterliches Fieber und war nicht bei sich und wußte von seinen Sinnen nicht. Aber siehst du, mich hat er nicht vergessen gehabt, er hat mich gerufen Tag und Nacht. Und ich erfuhr das von der alten Leonhard, die sie als Wartfrau an sein Bett gesetzt, und von der Hanne. Aber ich durfte nicht hinauf. Und er hat von Himmel zu Erde gebeten, sie sollten mich zu ihm lassen, daß ich ihm seinen heißen, armen, lieben Kopf streichle und kühle, und der Doktor kam herunter und sagte davon zu meiner Mutter und bat sie. Sie sprachen nur leise, aber ich saß still in der Ecke und hört's doch. Und als der Doktor sagte: »So und so ist es, und lasse Sie die Regine hinauf!«' und als die Mutter dann antwortete: »Nein, meine Tochter ist mir just so lieb, als der Herr Graf seiner Mutter, und er hat kein Unglück davon, aber Regine, die ist schimpfirt davon ihr Lebenlang!« – da – das ist das einzigemal – konnt' ich mich nicht halten und weinte laut hinaus.

»Der Doktor ist kopfschüttelnd gegangen; ich habe mich auch bald wieder gefaßt, denn das Weinen half nichts; wenn meine Mutter einmal ja oder nein gesagt, war das Ding zu Ende. – »Hast du dir was vorzuwerfen mit dem Herrn?« fragte sie mich, als ich still geworden. – »Nein,« sagte ich. – Da nickte sie mit dem Kopf und war still; und von der Zeit an hat sie bis an ihren Tod nie wieder ein Wort mit mir davon geredet. Am andern Tage mußte ich zu meiner Base vor dem Rockenberger Thor und dort im Garngeschäft helfen, das sie betrieb. So erfuhr ich nichts mehr von meinem liebsten, liebsten Herrn. Siehst du, das war ein Herzeleid!

»Es konnte wohl schon an die drei Wochen sein, seit ich von Hause gemußt, da war mir die Leibwäsche ausgegangen, und die Mutter hatte mir andere zu schicken vergessen. Es war mir aber greulich, so unrüstig in den Sonntag hineinzugehen; zu schicken hatt' ich niemand, und so mußt' ich wohl selber gehen, obschon ich's eigentlich nicht sollte. Als ich in's Rockenberger Thor kam, fuhr von der andern Seite langsam eine vierspännige stolze Kutsche daher, so daß ich zur Seite springen mußte. Und in dem Wagen saß ein vornehmer alter Herr mit einem großen Stern auf der Brust, und neben ihm in Kissen gepackt bleich und krank mein liebster Herr Graf. Er hatte die Augen geschlossen und sah mich nicht.

»Mir stand das Herz still; einen Laut hab' ich nicht von mir gegeben und bin niedergefallen ohne Leben. Fremde Leute haben mich aufgehoben und zu meiner Mutter gebracht, wo ich erst nach Stunden wieder zur Besinnung kam. Aber in mir war es wie todt; ich konnte mich über nichts mehr freuen, es war mir alles egal, nun ich den verloren, an den ich meine Seele gehängt. Denn ich wußte wohl, daß ich ihn verloren und niemals wiedersehen werde.

»Nur einmal bin ich heftig und zornig geworden. Das war, als die Leonhard zuerst über mich den Kopf schüttelte und meinte, ich habe mich an den Herrn weggeworfen. Und als ich ihr sagte, wie die Sache gestanden, da lachte sie mich halb aus, halb aber gratulirte sie mir: ich solle Gott danken, daß es so abgelaufen; der Herr habe doch nur Unrechtes mit mir im Sinn gehabt, wie alle von seiner Art. Das konnte ich ihm nicht nachsagen lassen; er war nicht wie die Andern, sondern weit – weit anders. Ich habe das nachher noch besser gemerkt, als ich erst mehr vom Leben der Menschheit sah. Ich habe ihr derb die Wahrheit gesagt, recht derb. Sie hat auch an meinem Glauben nicht gerüttelt; der saß zu tief und war zu gut; daran reichen böse Zungen nicht hinan. Und noch heut glaub' ich und sterb' darauf: er hat es gut mit mir gemeint.« –

Nach einer langen Pause fuhr die alte Frau noch einmal fort.

»Es verging Zeit auf Zeit. Die Mutter ward auf einmal kränklich und wollte mich versorgt sehen. So nahm ich meinen ersten seligen Mann, der mir schon seit Jahr und Tag nachgegangen. Ich bin auch recht gut mit ihm dran gewesen, denn es war ein braver Mensch, und ich kann nichts über ihn klagen, als daß er mir so bald gestorben. Nun, da saß ich mit den drei kleinen Kindern, meine Mutter war auch schon todt, und weil ich es in der bösen Zeit gar zu schwer hatte, ließ ich mich bereden, deinen Großvater zu heirathen. Und auch das schlug mir wohl aus, er hat wacker und freundlich an mir gehandelt, so lange ich ihn haben durfte, und ich habe ihn rechtschaffen lieb gehabt.

»Nun war's im zweiten Jahr unserer Ehe und wohl an die fünfzehn Jahr' nach jener Zeit, wo ich den Herrn Grafen kennen gelernt. Deine Mutter war gerade geboren worden und ich saß zum erstenmal wieder, noch ein bischen schwach, mit meinem Tisch unter dem Thor – denn da saß ich schon seit ein paar Jahren – und Gott der Herr weiß, wie es kam, aber ich dachte einmal wieder so recht an die alte Zeit und an den lieben Herrn, wie es wohl mit ihm gewesen wäre, und ob ich meines Lebens so froh geworden wie nunmehr. Denn sieh, mein Mann war ein braver Mann, und die Kinder waren gesund und von guter Natur, und ich selbst fühlte mich frisch auf, und unsere Arbeit hatte ihren Lohn, wir konnten leben davon. So war alles schön und gut, und ich wußte nicht, wie es hätt' besser werden können.

»Wie ich so saß und herumdachte, fuhr ein Wagen durch's Thor. Er hält an, ein Herr steigt heraus, sagt: »Fahr langsam zu,« und kommt dann an meinen Tisch. Zuerst hatt' ich in meinen Gedanken dessen nicht recht Acht gehabt, nun aber, da er kam, war es mir nicht halb recht.

»Denn ich will dir was sagen, mein Kind – unterbrach sich die Erzählerin mit einigermaßen gedrücktem Ton – zuerst als ich aufgesessen, behaupteten die dummen Menschen, ich sei absonderlich schmuck, oder, wie sie sagten, schön, und es waren oft so junge Schlecker und alte Sünder an meinen Tisch gekommen, nicht um des Apfels und der Kirschen willen, die sie kauften, sondern wegen meiner, das hatt' ich recht gut gemerkt; und so sehr mir's zuwider gewesen und so tapfer ich diesem und dem meine deutsche Herzensmeinung gesagt, ich hatt' es nie wehren können, denn der Weg und der Platz war nicht mein. Ich war aber ganz froh, als nun die Kinder nach einander kamen und dafür das glatte Gesicht wegging: und seit ein paar Jahren war auch nichts mehr vorgekommen. Aber als der nun kam, fiel es mir wieder ein. Was konnte so ein Herr von mir wollen?

»Ich sah daher auch nicht auf und ließ ihn am Tische vor mir stehen, ohne nach seinem Verlangen zu fragen. Da mit einemmal sagte es: »Regine!« – Guck, ich fuhr zusammen, als schlüge mir ein Blitz in's Herz, daß es davon still stehen müßte für immer. Ich sah auf – ich sah mich um, wer das gesagt? Aber es war niemand da als er: du weißt, um die dritte Nachmittagsstunde ist es dort todeseinsam, als sei kaum ein Mensch in Stadt und Land, und der Thorschreiber schläft dann auch. Und so sah ich ihn an – ich mußte wohl, – und da sah ich, daß es Willfried war – so hat der Herr Graf geheißen: es war ein so schöner Name.

»Ich zitterte so, daß ich mich kaum auf dem Stuhl halten konnte: ich mußt' ihn ansehen, meine Augen wurden festgehalten von den seinen, die noch immer so himmelblau waren, so groß und so sanft wie dazumal, als ich sie zuerst gesehen: und nun waren sie noch – ich weiß nicht, wie, es war mir aber, als sähe daraus eine rechte Herzenskrankheit hervor. Das fiel mir aber alles erst nachher ein: dazumal dacht' ich nichts Gewisses oder was zu sagen wäre. Nur das weiß ich, ich war eine ehrbare Frau und liebte meinen Mann rechtschaffen und meine vier lieben Kinder, aber hätt' er da zu mir gesagt: »Regine, komm!« – Kind, ich glaube, ich wäre mit ihm gegangen, wohin er gewollt. Ich habe ihn lieb gehabt wie mein Leben, ich hab' mein Herz an ihn gehängt und meine Seele, so daß sie nie von seinem Andenken los kamen. Und es war etwas in ihm, war's vom Himmel oder von der Hölle, aber es war wie ein allmächtiger Zauber, daß man dagegen nicht an konnte. Der Mensch ist so gar schwach!

»Aber er hatte das Herz, wie ich's von ihm gedacht und weßhalb ich ihn so lieb gehabt: es war das Herz eines Engels, in dem es keinerlei Sünde gab. »Regine,« sagte er nun noch einmal, »bist du es wirklich, wie mir die Leute gesagt? Aber ich seh's dir ja an, daß du es bist. Wie ist es dir in all den Jahren ergangen?«

»Da kam Frieden und Ruhe über mich vor den freundlichen, rechtlichen Worten: ich konnte mich wieder zurecht finden und sagte ihm von mir und meinem Ergehen, wie es ja zum Preis Gottes wohl stehe und ich recht zufrieden sein könne, und dann fragte ich auch ihn nach seinem Lebensstande. Kind, als ich mich gefaßt, war's mir nicht allein mit Frieden, sondern auch mit so herzlicher Freude durch's Herz gegangen, daß mir die Augen feucht wurden und ich den lieben Herrn gar nicht genug ansehen konnte. Aber nun, wie er mir erzählte, weint' ich wirklich und vor Betrübniß. Er hatte auch geheirathet – er mußte das so für seinen Stand und Rang. Zwei Kinder lebten ihm und waren seine ganze Freude, seine Augen leuchteten dabei, als er erzählte, wie lieb sie wären. Aber von seiner Frau Gräfin sagte er kein Wort, als: »Sie ist schon seit zwei Jahren todt. Laß sie in Gottes Gnade ruhen.«. Er selbst war seit dem Schuß in die Brust nie wieder recht gesund worden. Man sah's ihm auch an, der Tod lauerte in seinen Augen. Nun war er auf einer Reise und hier durch gefahren, – er habe mich noch einmal wiedersehen wollen, bevor er sterbe.

»Da war's gut, daß er mir die Hand gab und mir Adje sagte, denn ich konnte mich schier nicht mehr halten, daß ich nicht laut aufweinte; das alles brach mir das Herz. Als er aber weg war, packte ich zusammen, ging nach Hause und setzte mich wie damals in die Ecke an's Bett und weinte, wie ich nie geweint. Hätt' ich ihn gehabt, ich hätt' ihn nicht sterben lassen, so lieb hatt' ich ihn, und war doch nur ein armes Weib.

»Ein halb Jahr darauf kam ein Packetchen an mich, darin waren ein paar schöne silberne Schaustücke für die Kinder und die Nachricht, daß er mich vor seinem Tode noch vielmals habe grüßen lassen.

»Das wollt' ich dir erzählen.«