Autorenseite

   weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Geheimnis der »Morgengabe«

Schnee mit Regen gemischt strömte vom Himmel und kämmte graues Haar über die kahlen Scheitel der Berghäupter. Als der jüngere Tveholmer den Abhang zur Bucht hinunterkletterte, wo seine Jolle lag, wimmerte und krachte es in den verkrüppelten Kiefern ringsum, und von der See her klang ein Geräusch, wie wenn einer in einer Steinhalde schaufele. Er horchte.

»Das Eis! Verdammt! Es kommt zurück!«

Drei Tage lang hatte der Nordsturm gebraust, hatte alles Eis innerhalb der Schären aufgebrochen und von Norden ungeheuer viel schweres Treibeis hergewälzt, bis endlich das ganze Getriebe ins Meer hinaus verschwunden war. Aber heute morgen war der Wind nach Südosten umgeschlagen, nun kam das Teufelszeug zurück.

Damit hatte er nicht gerechnet, wenigstens nicht so schnell …

Ein Irrtum war nicht möglich, er kannte den Ton allzu gut, der aus dem Schneegestöber kam. Der Südost würde bestimmt einen Teil des Eises grade hier durchtreiben. Und das wurde von dem Trutnabb festgehalten, der seinen Fangarm weit ins Meer streckte, wurde gegen den steilen Strandweg hier in der Mitte getrieben, da aufeinandergeschoben und wie in einem Trichter durch den Tveholmsund geschraubt. So würde es jetzt im Handumdrehen gehen, oder es war schon soweit. Das gab eine böse Heimfahrt, wenn man nicht vorher …

Er machte den obersten Knopf seiner Schafpelzjacke zu, rückte den schweren Sack auf den Schultern zurecht und lief, daß seine Absatzeisen Funken aus dem Geröll schlugen. Die Dämmerung nahm rasch zu.

»Du hättest nicht ins Dorf gehen und noch weniger dich dort aufhalten sollen, Schafskopf!« dachte er. Aber die Hebamme brauchte Begleitung und man wollte doch allerlei kaufen und mitbringen. In diesem Jahr durfte es kein gewöhnliches Weihnachtsfest sein, diesmal sollte es hoch hergehen! Denn jetzt war man Vater mit Frau und Kind unter eigenem Dach! Das Herz schwoll ihm vor Stolz unter der Pelzjacke, und seine Brust weitete sich, als er schweratmend durch das Schneetreiben weiterstiefelte.

Wenn nur nicht die Spieldose zwischen den anderen Dingen im Sack zerdrückt wurde! Die Spieldose! … Natürlich war es ein Unsinn, für ein Bündel, das nichts hörte und nichts begriff, solch ein Spielzeug zu kaufen; aber anderen Narrenkram hatte er ja auch mitgenommen … Jawohl, man war jetzt Vater, Vater!

Ach, er war verkehrt gelaufen! Die steile Schlucht hinunter und dann links um den Hügel mit den Föhren herum. Freilich, es war schon so dämmerig, daß man sich leicht verlaufen konnte. Hu, wie das Eis draußen krachte! Ob der Sund noch eisfrei war?

Vorgestern war sein Erstgeborener zur Welt gekommen, ein roter kräftiger Kerl. Alles ließ sich gut an, und heute morgen hatte die Hebamme gemeint, sie habe nichts mehr zu tun, und so wolle sie heim zum Julfest, ehe kein Durchkommen mehr sei. Er hatte das große Boot nehmen und sie südwärts um die Insel bis zu dem Bootsschuppen im Bysund fahren wollen. Aber das war ihr um diese Jahreszeit zu kalt und zu abenteuerlich vorgekommen, sie wollte so rasch wie möglich wieder festen Boden unter den Füßen haben. Da war nichts anderes übriggeblieben, als sie in dem Flachboot, der Jolle, hier über den Sund zu rudern. Aber für ein altes Weibsbild war dann die beinahe weglose Wanderung über die beiden Inseln auch kein Katzensprung gewesen – eine Meile bergauf und bergab, manchmal durch dichtes Unterholz und über gefrorenen Sumpf, bis man dann in einem geborgten Trog von Flachboot über den ein paar Meter breiten Alstrom gesetzt und an die Dorfgrenze gelangt war. Die arme Frau war an ihrer Gartentür völlig erschöpft und erledigt gewesen. Er aber war nicht müde, als er dann mit seinem von Geld strotzenden Tabaksbeutel zum Kaufladen ging. Hier wollte er einen guten Teil von dem loswerden, was ihm der Strömlingsfang im Herbst eingetragen hatte. Aber wie sollte er die große Neuigkeit verkünden? Der Laden würde jetzt vor dem Fest gedrängt voll sein, und man würde ihn jedenfalls ausfragen. Am besten wäre es, gleich damit herauszurücken; warum auch nicht?

Aber, als er die Ladentür hinter sich zugemacht und als die rostige Messingschelle ausgebimmelt hatte, war es, als verschlage es ihm die Sprache im Mund. »Hurra, ich hab einen Jungen!« hatte er rufen wollen. Statt dessen nickte er der ganzen Versammlung nur einen verlegenen Gruß zu. Vielleicht steckte noch etwas von seiner österbottnischen Wortkargheit in ihm. So lange er nun schon im Land war, immer hatte er sich unter den fröhlichen und mundfertigen Åländern hier im südlichen Finnland irgendwie verzagt und fremd gefühlt.

Verdammt, er war schon wieder fehl gelaufen! Wo blieb das Steinmal, an dem er vorbeikommen mußte? Na ja, an den Strand fand man schließlich auch nach dem Gehör …

Voll war es im Kaufladen gewesen und die Luft dick vor Tabaksqualm, daß die Weibsleute kaum schnaufen konnten; und auf der Heringstonne saß, leicht beschwipst wie gewöhnlich, Bussars-Matte, der schwadronierte und gelbe Klüten auf den Boden spuckte. Diese Tonne war übrigens etwas Besonderes; ihr Deckel war von vielen Hosenböden blankgescheuert, sie wurde fast nie aufgemacht und hieß allgemein der Prahlthron. Kein Mensch in der ganzen Gegend kaufte gesalzene Heringe, hatten doch alle ihre Strömlinge, aber trotzdem brauchte jeder anständige Kaufladen eine Heringstonne als Sitzgelegenheit.

Als man wissen wollte, wie es draußen auf dem Tveholm stehe, antwortete er nur: »Gut, danke!« Erst als der Bussar, der Jagdkumpan und unzertrennliche Freund seines älteren Bruders Janne, ihn fragte, ob es in der neugebauten Kate allein mit der jungen Frau nicht etwas einsam sei, hatte er sich aufgerichtet und so laut, daß es jeder hören mußte, gesagt: »Allein mit ihr? Nein, guter Freund, jetzt leckt es in unserer Kate schon durch drei Löcher.«

Als man den Vergleich begriffen hatte, fing die ganze Schar aus vollem Hals zu lachen an. Von der Heringstonne her schmetterte Bussars gewöhnliches: »Hä-hä-hui-huii!« bis sein Husten ihm die Stimme wie in einem Breikessel erstickte: »Hurr-urr-toff-poff!« Aber nichts von Boshaftigkeit war in diesem Gelächter, nur Wohlwollen allerseits. Er hatte genau achtgegeben. Und der Kaufmann lud ihn sogar in seine Ladenstube und bewirtete ihn mit drei Gläsern Holländerschnaps, eins für ihn, eins für die Frau und eins für den Jungen. Und dann gab es noch eins als Dreingabe. »Fürs nächstemal!« nickte der Kaufmann. Na ja, der Schlauberger wußte, was sich bezahlt macht: Es war danach eine verteufelte Kauflust in den Tveholmer gefahren. Eine Spieldose für ein neugeborenes Mannsbild kaufen, das hätte er bleiben lassen können! Und der Branntweinkanister aus dem stillen Winkel … Aber der war doch auch für Janne!

So! Jetzt war er an der kleinen Bucht, wo seine Jolle lag. Er stolperte den steinigen Hang hinunter, zwängte sich durch ein Dornengestrüpp, in dem ihn in der Dämmerung ein paar rote Beeren wie Plötzenaugen anblinkten, und schob sein Boot zur Hälfte ins Wasser. Dann blieb er einen Augenblick nachdenklich stehen.

Hier an der geschützten Stelle war die See nicht stürmisch, nur eine starke Strömung zeigte, daß dort im Südosten eine Eispressung lag. Die Schollen hatten sicherlich noch eine Strecke Wegs, bevor sie hierher kamen, nur ein paar ungefährliche abgesplitterte Brocken trieben voraus. Aber er konnte nicht bis zum Strand von Tveholm hinübersehen, obgleich das Schneetreiben etwas nachgelassen hatte. Kaum eine Kabellänge weit drang der Blick über das bleigrau vorbeigleitende Wasser, auf dem die einzelnen schwach leuchtenden Eisschollen dahersegelten wie stille weiße Vögel. Unheimlich sah es aus, beinahe wie ein Bild vom Totenfluß, das er einmal gesehen hatte … Ach Unsinn! Es handelt sich doch nicht um eine Weltumseglung, sondern nur um einige kräftige Ruderschläge mit dem Wind im rechten Ohr. Und heim mußte er! Was war da zu überlegen?

Er sprang ins Boot, stieß ab und legte sich in die Riemen, daß die Dollen knackten. Ein Stück weit ging es gut. Nur einige unbedeutende, kaum handgroße Eissplitter scheuerten gelegentlich am Boot. Er mußte mindestens halbwegs über den Sund sein und konnte nun schon Ausschau halten, ob nicht der Giebel seines Hauses aus dem Schneetreiben auftauchte, da knirschte es am Steven und dröhnte gegen den runden Bug der Jolle.

Eine verdammte Eisscholle, auf die er aufgefahren war! Er stieß mit dem Riemen nach unten, drehte das Boot und machte es wieder flott. Wieder legte er los; aber gleich polterte es wieder. Er stand auf und sah sich um, soweit das in der Dunkelheit möglich war.

Nach vorn war ihm der Weg hoffnungslos verbaut. Jetzt wurde es ernst, das Eis war da, richtiges Blockeis. Es schien an seinem Heimatstrand entlang zu treiben und hatte auf der linken Seite des Sundes einen Gürtel gebildet. Vor dem Steven gab es ein zusammengepreßtes Geschiebe großer Brocken, und der ganze Brei drehte sich in der Strömung wie um eine unsichtbare Achse. Gut, so mußte er eben zurück und sich einen anderen Weg suchen. Geradeaus an seinen Strand konnte er nicht kommen, aber vielleicht ein Stück weiter nördlich. Man mußte doch um das Teufelszeug herumkommen können, wenn es sich hier nur auf der Stelle drehte.

Er machte einige Schläge rückwärts. Da donnerte es gegen das Heck, und die Jolle lag still. Zum Henker, auch hier war kein Durchkommen! Er stand auf und versuchte den Eisblock wegzuschieben. Aber das Eis war überall gleich dick, er saß fest wie ein Fisch in der Reuse. Das Eis wurde gegen den Tveholm gesaugt; vielleicht konnte man sich ein Stück mit der Grütze treiben lassen und dann irgendwie an der Nordspitze landen.

Er setzte sich gelassen nieder, zog die Riemen ein und ließ der Sache ihren Lauf. Es war so finster, daß er nicht mehr sah, wohin er trieb. Der Schneeregen fiel in Striemen; aber er würde den richtigen Augenblick schon merken. Eine Weile saß er still und erkannte nun an der Windrichtung, daß er von dem schaukelnden, stöhnenden und rasselnden Geschiebe um das Boot her in der rechten Richtung geführt wurde.

Wie, klang das nicht, wie wenn Eis gegen Gestein schlägt – dort rechts, ganz nah? Hörte er nicht schon die Brandung? Ja, er mußte jetzt grade vor der Nordspitze sein. Richtig, da tauchte ein trübes gelbes Viereck aus dem dichten Schneetreiben auf! Das Licht aus seinem eigenen Stubenfenster … Seine Augen starrten weit offen unter dem triefenden Mützenschirm und saugten sich gierig an dem schwachen Schimmer fest. Dort drinnen hinter der Scheibe stand mitten in dem warmen Lichtschein ein Doppelbett, und darin lag eine blasse junge Mutter mit einem roten, heißhungrigen kleinen Trinker an der Brust. Ob sie sich wohl unruhig hin und her warf? Wart nur, ich komme, ja, ich komme! Übrigens saß wohl die Schwiegermutter am Bett und predigte Vernunft! Na ja, die Schwiegermutter … Sie war so, wie es in dem Lied hieß, das der Bussar zu singen pflegte: »O Seemannswitwe, denke dran, wie rasch ein Seemann sterben kann.« Aber wenigstens zitterte der Alten nicht bei jeder Kleinigkeit die Stimme, und sicher flossen ihr beruhigende und verständige Worte vom Munde. Und ich komme ja, ich komme mit dem Sack voll Eßwaren zum Julfest und mit allerlei Spielkram! Nur noch kurze Zeit, die Jolle treibt immer näher heran.

Aber was war nun das? Noch ein Licht, wie ein irrendes Streichholz irgendwo auf dem Hügel oder gar auf dem Dach? Janne, ja das mußte Janne sein, der von seiner Seite des Holms herübergekommen war und seine Sturmlaterne schwenkte, weil er ahnte, daß ein Lichtzeichen nötig sei. Vielen Dank, Janne, du wirst deine Laterne bald löschen und zu Bett gehen können …

Jetzt merkte er, daß die Jolle sich dem Land nicht mehr näherte. Also aufgepaßt, ehe die Strömung sie auf die andere Seite der Landspitze und dann ins Meer hinausführte! Er spannte alle Kräfte an, schaufelte Eisbrocken zur Seite, schaukelte das Boot hin und her, schob die größten Schollen auseinander und saß im nächsten Augenblick wieder an den Riemen. Es dröhnte rings um die Jolle und hämmerte unter ihrem Boden, wenn sie hoch auf eine Scholle gehoben wurde und auf der anderen Seiten hinuntersauste. Aber vorwärts ging es. Sooft er den Kopf drehte, leuchtete ihm das Stubenfenster heller entgegen. Jetzt konnte es nur noch einige Meter bis zu der Stelle sein, wo er Grund bekam, bis zu dem Geröllstrand vor der Nordspitze. Wenn er nicht richtig antrieb, mußte er hinausspringen und die Jolle das letzte Stück nachziehen. Nur noch ein bißchen … Verdammt, wie schwierig es grade hier wurde. Wahre Eisberge, einer nach dem anderen … Er arbeitete wie ein Verrückter, obgleich sein Riemen wie gegen eine Wand stieß.

Rrrff! Jählings flog er von der Ruderbank auf den Rücken ins Boot hinunter. Als er mit einem abgebrochenen Stumpen in der Hand schwindlig im Kopf wieder saß, merkte er, daß der größte Teil des Backbordriemens unter dem Eis verschwunden war. Und damit war ihm eines vollkommen klar: wo er auch heute abend oder später landen würde, an seinem eigenen Strand auf keinen Fall. Nur um sicher zu gehen, stieß er mit dem noch vorhandenen Riemen zwischen die Eisstücke hinunter. Er fand keinen Grund; da steckte er den Riemen ins Wriggloch am Heck und machte einen letzten Versuch. Ach, du lieber Himmel, wie sollte es mit einem Riemen gehen, wenn es mit zweien nicht gegangen war!

»Daß du dich auch mit nur einem Paar Stecken hinausgemacht hast, Dummkopf!« schrie er und schlug, dem Heulen nah, mit seinem rechten Stiefelabsatz gegen den linken, als säße dort sein gedankenloses Hirn. Er merkte, daß er aus vollem Halse brüllte, und riß seine Zündholzschachtel aus der Hosentasche. Aber wer hätte bei dem Sturm und dem Gekrach des Eises sein Rufen vernehmen können? Wer, der selbst eine Laterne in der Hand hielt, hätte das Licht kleiner Streichhölzer sehen können, die in dem Schneetreiben wie in einem Sack für einen Augenblick aufleuchteten? Und warum sollte er Janne auch noch in dieses Elend herauslocken? Was konnte der ihm helfen? Nichts!

Mit einemmal wurde er still. Der Schneeregen schlug ihm in das schweißnasse Gesicht und hängte sich überall an die dampfende Pelzjacke. Er saß auf seiner Ruderbank und blinzelte nach dem warmen gelben Viereck dort am Lande. Es wurde langsam trüber und undeutlicher, zuweilen durch dichteres Schneetreiben ganz unsichtbar, aber dann tauchte es wieder auf, noch matter – bis es für immer verschwand. Er trieb mit der Strömung und dem Eisfeld in die See hinaus, das wußte er. Jannes Laterne blieb noch ein Weilchen sichtbar, schwach wie ein krankes Glühwürmchen. Als auch das unwiderruflich verschwunden war, wurde ihm jämmerlich zumut, und seine Lippen wiederholten einen alten österbottnischen Reim, den er als Kind gehört hatte:

»Treibt Sturm aus Süden her wäss'rigen Schnee,
Helf' Gott den armen Burschen auf See!«

Dann kniete er auf den Boden der Jolle und fing ein Vaterunser zu beten an, aber mitten darin hörte er auf. Ach was! Man soll den Schöpfer nicht unnötig anrufen! Was hatte es denn für Not? Einen Pelz hatte er an, dazu einen Sack voll Nahrungsmittel, und seine Jolle war stark und hatte eschene Spanten; die konnte schlimmere Eispressungen aushalten! Irgendwohin kam er auf jeden Fall, wenn nicht heute nacht, so morgen früh. Sobald es hell wurde, fand sich schon ein Ausweg. Kam er aus dem Brei heraus, dann mußte er das Boot mit dem einen Riemen gegen die See halten und nach Norden treiben lassen, vielleicht bis Ankaröland. Blieb er aber in dem Teufelszeug stecken, dann hatte er wenigstens Ruhe vor dem Seegang, und schließlich fror alles zu, oder es zeigte sich ein anderer Ausweg. Hatte er denn nicht schon einmal im Treibeis gesteckt? Jawohl, mein Junge, und damals ging es nicht nur darum, im Zickzack um die heimische Hausecke zu fahren, sondern um viele Meilen und Wochen … Allerdings hatten sie ein anderes Fahrzeug gehabt und kecke Jungen dabei, die sich auf ihre Sache verstanden, man war nicht allein gewesen in so einem verfluchten Hobelspan mitten in der schwarzen Nacht …

Eine Weile blieb er in tiefes Sinnen versunken und dachte nach über die wunderbaren Wege des Herrn. War es nicht sonderbar, daß er hier saß, ein Mann mit Frau und Kind, und mit dem Eis nach Norden trieb, dorthin, woher er als Junge gekommen war auf der langen Unglücksreise mit zerfetzten Segeln, südwärts zu den lichten Haselhainen, zum Flundernfang, zu leichtherzigen, redseligen Menschen und zu dem vielen anderen Neuen?

Es war wohl das drittemal gewesen, daß sich Janne damals im Vorfrühling am »Fälan«, der schmälsten Stelle des Bottnischen Meerbusens, im Viermännerboot des alten Röisbacka auf die Seehundjagd begeben hatte. Er selbst, zehn Jahre jünger als sein Bruder, war als »Moses« Übliche Bezeichnung für den Küchenjungen und Handlanger. mit dabei gewesen. Einen Monat wenigstens, bis in den April hinein, hatten sie mit dem offenen Boot draußen in den Kvarken im Eis gelegen und bessere Beute gemacht als alle anderen, mit denen sie zusammentrafen. Der große Raum hinter dem Großmast war ein einziger Haufe toter Seehunde gewesen, niemand hatte sie mehr abziehen können. Und dann war das Unglück gekommen: mehrere Tage toller Nordsturm; da brach das ganze Bottenmeer auf und packte sich zusammen, ohne irgendeine dünne Stelle im Eis, ohne einen einzigen Riß. Das Eis damals hatte anders ausgesehen als das Kroppzeug hier um die Jolle herum. »Teufel!« Der Tveholmer spuckte aus und schüttelte einen ganzen Schneefladen von seiner Mütze. »Da gibt's nichts als mitgehn«, hatte Röisbacka gesagt, und das war beinah alles gewesen, was gesagt wurde. Gleich nachdem sie das Boot auf ein großes Stück klares, festes Eis gehoben, abgestützt und das Zelttuch darüber gespannt hatten, um ein Lager aufzuschlagen und zu kochen, hatte es unter dem Kiel einen Riß gegeben, und sie waren wieder hinunter in loses Eis gesackt. Dann trieben sie mit den Seehunden und Sauermilchfäßchen eine Woche gen Süden durch die große Bottensee. Später hörten sie, von den anderen Seehundfängern sei einer ausgeblieben bis zum Jüngsten Tag. Aber schließlich flaute der Sturm ab, und sie kamen südlich in offenes Wasser. Gerade hatten sie eine unbekannte Schäre erreicht, ohne daß nach irgendeiner Seite Land zu sehen gewesen wäre, da fror in einer bitterkalten Aprilnacht alles wieder zu, und es war unmöglich, in dem dünnen, zähen Blaueis zu segeln. Das hatte wenigstens er, der Junge, gemeint. – Einen Tag warteten sie noch auf den Steinbrocken, während der alte Nordsturm, wenn auch sachter, wieder auffrischte. Aber früh am anderen Morgen stützte Röisbacka den Kopf auf die Ellbogen und lauschte hinaus; wie er so auf dem Ehrenplatz quer mitten im Boot lag, schob er die Schaffelldecke zurück, steckte seinen mageren Krähenhals durch das Zelttuch und schaute gegen Süden. »Halinger, jetzt fahren wir nach Åland! Schmeißt Steine ins Boot, Jungs; aber werft sie ihm in den Steiß, dann segeln wir!« – Und sie warfen Steine hinein, meist hinten auf die Seehunde. Der Alte ließ volle Segel setzen, und nach einigen vergeblichen Ansätzen ging es munter vorwärts. Der Steven stand hoch in die Luft wie der Schnabel eines finnischen Zugstiefels; er legte sich weich auf das federnde Blaueis und drückte es unter sich, ohne daß es brach. Es war, als führe man Schlitten in einer schmalen spiegelnden Rinne aus Glas, und oben und unten und in den Segeln knisterte es, und die Aprilsonne strahlte vom schaumweißen Himmel nieder. »Damals war es nicht pechschwarz um einen wie jetzt, pfui!« Der Tveholmer spuckte in den Wind und das Dunkel hinein. Aber damals waren Kunst und Klugheit nötig gewesen, denn gleich hinter der Bootsmitte barst die zähe Eisschicht mit leichtem Krachen und schnitt wie mit Sägeblättern in die Bootsseiten hinein. Und schon fuhr der rote knorrige Schädel des alten Röisbacka über dem Achtersteven hin und her; er saß am Ruder im Heck, das anfangs nur ein paar Zoll über Wasser lag. Es sah fast aus, als führe er auf dem Hintern über glattes Spiegelglas. Seine wachsamen wasserblauen Augen musterten das Sägewerk, das da im Gang war. »Schmeißt ein paar Steine raus – gut – noch ein paar – jetzt stopp! Aber keiner bewegt sich vom Fleck!« Zwei Mann warfen Steine hinaus, und jeder blieb auf seinem Platz, damit ja keine Schwerpunktverschiebung die Berechnung störe. Das Heck hob sich etwas, das Sägeblatt schnitt einige Zoll weiter unten. »Hinaus mit zwei, drei von den Seehunden!« Drei steife Leiber plumpsten über Bord auf ihre gefrorenen blutigen Nasen, denn die hatten sie ihnen abgehackt, um wenigstens das Schußgeld zu retten. »Noch ein paar – stopp!« Wieder hob sich das Heck um einige Zoll.

Als sie aus dem Blaueis hinaus waren, lag kein Stein mehr im Boot, und von den toten Seehunden nur noch die unterste Lage. Hinter dem Großmast aber waren die Bordplanken von unten bis oben dünn geschliffen, fast so dünn wie eine Eierschale, fast hätte man das Tageslicht durchscheinen sehn können. Hätte das Eis nur eine Stunde lang an der gleichen Stelle gesägt, so hätte es ein Loch gerissen, und dann gute Nacht! »Schluß mit dem Plankenhobel«, nickte der Maserkopf des alten Röisbacka zufrieden. »Und jetzt kommt, weiß Gott, etwas Neues!« Ja, ein Nordsturm brauste daher, als grade die nördlichste Ålandinsel in Sicht kam. Zerrissene Segel hatten sie und ausgehungert und verfroren waren sie auch; aber das nächste Land, das sie in Sicht bekamen, erreichten sie nicht. Vielleicht waren sie grade dadurch in einen besseren Hafen gekommen; so meinten er und Janne später. Jawohl, gut aufgenommen wurden sie von der ersten Stunde an. Und zuerst hatte es eine wahrhaft babylonische Sprachenverwirrung gegeben, obgleich auf beiden Seiten niemand ein anderes Wort als schwedisch verstand. Das Boot verkauften sie zum Wrackpreis; wer hätte mehr gezahlt für eine polierte Eierschale und ein paar Segelfetzen! Erst mitten im Sommer waren Röisbacka und die anderen nach Österbotten gereist, recht trübselig noch und herrschaftlich per Dampfer und Eisenbahn. Aber zwei waren dageblieben und hatten gewartet, was sich machen ließe, denn sie besaßen keinen roten Heller mehr. Janne schlug sich als Zimmermann durch, und er selber nahm auf dem reichen Möland mitten in den Schären Dienst als Laufjunge. So verging ein Jahr ums andere, und zur Heimreise kam es nie. Als der Stiefvater einen Brief schrieb, Mutter sei gestorben, und ein kleines Erbe aus ihrem Nachlaß liege auf der Post, war ihnen eine Woche lang feierlich zumut, dann hatten sie den unbewohnten Tveholm gekauft, eine Kate gebaut und sich als Fischer niedergelassen. An Janne wäre es gewesen, zu heiraten; aber: »Der Lachs geht nicht freiwillig ins Netz«, hatte der Bruder gesagt. Statt dessen war er selber es gewesen … Eine nagelneue Kate hatte er sich gebaut, wenn auch kleiner und niedriger als die gemeinsame vom Vorjahr, weil der Strand in letzter Zeit nicht durch viel Treibholz gesegnet war. Zur Mittsommerzeit im vorigen Jahr hatte er Elfrida in einem laubbekränzten Boot von Askvik über den Fjord nach dem Tveholm geholt. Dort an der Treppe standen noch die beiden hohen Stangen mit ihrem Schmuck aus Tannenreis, das immer noch weich und prächtig war. Aber heute abend würden sie wohl wanken und ächzen.

Zu dumm, daß man jetzt nicht heimkommen konnte! Er streckte den Riemen in das Dunkel hinaus und fühlte um die Jolle herum. Überall nur ungefährlicher Eisbrei, mit kleineren Eisblöcken vermischt, aber undurchdringlich zusammengepackt und in einer schaukelnden Bewegung, die das Ganze ins Meer hinaustrieb. Zum drittenmal spuckte er ins Wasser und rief: »So steuer und segel selber, Schindluder!«

Eine Stunde um die andere verging. Von Zeit zu Zeit ergriff er den Eimer und schaffte den Schnee aus der Jolle, damit sie nicht zu schwer wurde. Einmal wurde es viel heller, und aus der Nacht funkelte etwas auf wie ein großer heller Butterblumenbusch, einmal – zweimal – dreimal. Aha! Der Leuchtturm von Ankarö! … Ach, wie weit nördlich stand der jetzt, wenn die Windrichtung noch gleich war! Er mußte weiter nach Westen abgetrieben sein, als er gedacht hatte. Aber einerlei, und außerdem gab es in dieser Richtung ein paar Schären.

Dann wurde das Schneetreiben wieder dichter, und Ankarö zeigte sich nicht mehr.

Er fror nicht, wie er so dasaß, aber seine Eingeweide fingen vor Hunger zu knurren an. Er nahm den vollen Sack zwischen die Knie, schnürte ihn auf und wollte eben darin wühlen; da zog er plötzlich die Hand zurück, obgleich ihm der Geruch geräucherten Fleisches lockend in die Nase stach. Nein, noch nicht! Aber mit einem ordentlichen Schluck durfte er sich wohl ermuntern, besonders behaglich war es ihm ja nicht zumute. Seine Finger fühlten schon das kalte Blech des Branntweinkanisters; aber da war etwas, was ihn warnte. Wer weiß, vielleicht würde er einen klaren Kopf sehr bald nötig haben … Er schnürte den Sack wieder zu und tröstete sich mit der Pfeife, obgleich er zugleich ziehen und nachstopfen mußte, um Zündhölzer zu sparen, denn er hatte nur noch drei.

Wie furchtbar langsam die Zeit verging! Ihm war, als sei es schon eine ganze Woche her, seit er heute abend in das Boot gestiegen war. Und es war doch erst gegen zwei, wie ihm seine Nickelzwiebel in dem schwachen Schein der Pfeife zeigte. Ach, bis zur Dämmerung hatte es noch eine gute Weile! Am besten, er versuchte etwas zu schlafen … Er streckte sich auf den Boden der Jolle aus und stemmte den Rücken gegen die Ruderbank. Rundum rasselte, gluckste und seufzte es wie zuvor, und aus der blinden Finsternis rieselte der Schnee herunter.

Aber jetzt! Er fuhr auf und lauschte. Durch den Wind drang ein gewaltiges Krachen und Donnern, das klang einmal wie der Lärm von hundert Teufeln in einer Klempnerwerkstatt, dann wieder, als ob ein Riese Felsblöcke einen Hang herunterrollte. In Lee lag Land, und gar nicht wenig; aus dem langgezogenen Ton ließ sich heraushören, daß dort ein langer Strand war. Sollte er am Ende dorthin steuern, um Boden unter die Füße zu bekommen, anstatt halbwegs nach Schweden zu treiben? Er wußte, daß eine leichte Jolle, sich selber überlassen, kaum einmal an einer kleinen Schäre antreibt – die Brandung und die Strömung treiben sie im Bogen daran vorbei. Freilich, im Eis war es vielleicht ein bißchen anders.

Das Getöse kam immer näher, er war schon mitten drin, zugleich aber auch in einer gewaltigen Eispressung. Die Jolle wurde wie in einer Zange zwischen zwei hohe Eisblöcke eingezwängt, die ihm beim Betasten wie ein paar Türpfosten vorkamen. Und jetzt begann es von beiden Seiten her zu pressen, daß die Bordwände krachten; es drehte die Jolle um wie einen Handschuh. Nun gab es keine Wahl mehr, mit diesem Hobelspan ging es zu Ende. Er stieß den Riemen in eine Lücke hinunter, und siehe, er fand gleich Grund, etwa mitschiffs an der Ruderdolle – gut, dann wußte er sich zu helfen! In dem Augenblick, als die Spanten splitterten, tat er mit dem Sack auf dem Rücken vom Vorsteven aus einen Sprung ins Ungewisse. Er kam auf eine feste Eisscholle und überlegte einen Augenblick. Vielleicht würde er mit ihr näher getrieben. Aber beim nächsten Schritt schon brach er durch, fiel bis an die Brust in das brennend kalte Wasser und stand eingeklemmt im Preßeis. Mit übermenschlicher Anstrengung arbeitete er sich heraus und weiter, aber er fühlte, daß ihm im Rücken irgend etwas riß. Springend, fallend, stolpernd arbeitete er sich durch die krachenden Schollen hindurch, bis seine Füße im schneebedeckten Heidekraut standen.

»Gerettet!« rief es in ihm, als er sich zu Boden warf und das Wasser aus den Stiefelschäften schüttelte. Aber der Sack! Wo war der Sack! In der rechten Faust hielt er krampfhaft einen abgerissenen Tragriemen …

»Verflucht, das Essen fürs Julfest ist hin! Und wenn ich nicht bald geborgen werde, heißt es hungern!« Mit geringer Zuversicht zog er die bleischwere Schafpelzjacke ab, wand sie so gut als möglich aus und taumelte dann einen gleichmäßig ansteigenden Hügel hinauf.

Wo mochte er sein? Drang nicht durch den Lärm ein stöhnender Laut dort rechts von dem Hügel her? – Wie Wind in langen Stahlstagen? Ein Wimmern und Knacken wie von einem hohen Holzturm im Wind … das konnte nichts anderes sein als die Bake Seezeichen: Holzturm ohne Leuchtfeuer, meistens unbewohnt, in besonders gefährdeten Gegenden mit einem Zufluchtsraum für Schiffbrüchige versehen.. – Er war auf der Schäre Morgongåvan, auf der »Morgengabe«!

 

Jetzt stieg ihm der Mut. Welch ein Dusel! Hier hatte er wenigstens ein Dach über dem Kopf, und nach altem Herkommen mußte sich drinnen immer eine kleine Handreichung für Schiffbrüchige vorfinden, mindestens Zündhölzer und Brennholz. Wenn er ein Feuer zustande brachte, hatte es weiter keine Not. Schlimmstenfalls konnte er die ganze Bake verfeuern. Aber seine eigenen drei Zündhölzer waren sicherlich nicht mehr zu brauchen, seine Hosentasche war eine einzige Pfütze.

Hart klopfte ihm das Herz vor Erwartung, während er sich um den Fuß des Turmes herumtastete. Er hängte den mächtigen Türhaken aus und trat in den gedielten Raum, der so groß wie ein Tanzboden war. In der kohlschwarzen Finsternis steuerte er auf die Mitte zu, wo sich, wie er wußte, eine aus Ziegelsteinen gemauerte Feuerstelle befand. Da rumpelte ihm eine ganze Menge Holzscheite und kleingespaltene Bretter über den einen Stiefel; das war gut. Und gleich daneben fand er die Holzkiste, die er suchte. Er machte den Deckel auf und steckte die Hände hinein. Einige zähe, nach Schimmel riechende Brocken, die einmal Brotlaibe gewesen waren, kamen ihm in die Hand, und dazu eine schleimige Masse, die wohl ein zerrissener Salzbeutel war. Jetzt aber klapperte es unter seinen Fingern – die Blechdose mit den Zündhölzern. Herrgott, der Deckel stand ja offen, Nässe war hineingekommen! Zwei Schachteln Zündhölzer fand er; aber würden sie Feuer fangen?

Seine Finger zitterten, als er mit dem ersten Hölzchen über die Reibfläche strich. Es ging nicht an und gab nicht das kleinste Geräusch, es war, als fahre er mit Zunder über Filz. Er versuchte es mit einem andern, vorsichtiger, probierte es mit der ganzen einen Schachtel und mit einigen Hölzchen aus der andern, holte seine eigenen drei Hölzchen heraus; keines gab einen Funken. Alle die Zündköpfchen waren so weich wie ein Malzkorn, und die Reibfläche der Schachteln runzlig von Feuchtigkeit.

Nun ertastete er eine Ritze im Fußboden und steckte eine Reihe Zündhölzer mit den Köpfen nach oben zum Trocknen hinein. Dann setzte er sich mißmutig auf die kalten Ziegel, die er nicht erwärmen konnte; jetzt erst merkte er, daß ihm die Zähne klapperten. Er war durchgeweicht wie ein ersoffener Hund, er fror, fror …

»Gott im Himmel, alles hat sich gegen mich verschworen!« dachte er. »Kann es wirklich der gerechte Wille des Himmels sein, daß ich …«

Nein, diesen Gedanken wollte er nicht zu Ende denken! Er, der Frau und Kind hatte – nein! Wenn nur einmal die verwünschte Nacht zu Ende wäre! Mit dem Tageslicht kam sicherlich auch Rettung.

Schlotternd entledigte er sich eines Kleidungsstückes nach dem andern, wand sie aus, daß das Wasser auf den Boden platschte, und zog sie dann wieder an. Dann begann er hier innen unter dem knarrenden Holzturm herumzutrotten, lief zehnmal, hundertmal, zweihundertmal im Ring, immer im Ring herum; aber in seine steifen Glieder wollte keine Wärme kommen. Die Kälte mußte draußen schärfer geworden sein, die nassen Kleider gefroren ihm am Leibe, wie er auch lief und lief. Zuletzt setzte er sich ermattet an die Wand, gerade als die steile Leiter zur Dachluke hinauf wie ein mitten durch das Turmgerüst herunterhängendes Galgenseil sich heller abzuheben begann und sich die ganze Bake in helleren und dunkleren Streifen zeigte. Das zögernde Tagesgrauen des Dezembermorgens drang durch die undichten Balken; aber er war zu müde, darauf zu achten, und döste nur sitzend weiter.

Als er erwachte, fiel heller Sonnenschein durch die Spalten der Bake, und das Krachen des Eises drunten am Strande hatte aufgehört; aber um ihn selbst war es nicht gut bestellt. Um auf die Beine zu kommen, mußte er eine ganze Eisplatte von seinen Kleidern brechen, die ihn so krumm eingepackt halten wollte, wie er im Schlaf gesessen hatte, obgleich er jetzt das Gefühl hatte, sein Körper sei heiß wie ein Ofen. Hatte er Fieber? Es flimmerte ihm rot vor den Augen. Sonderbar, auch aller Hunger war verschwunden.

Nein, hier mußte irgend etwas getan werden. »Ich ergebe mich nicht, ich muß heim!«

Da stand die verfluchte Zündholzreihe in dem Spalt am Fußboden. Er besichtigte sie und suchte die besten heraus; allein sie gingen so wenig an wie in der Nacht. Die Köpfchen glichen jetzt nicht mehr weichen Malzkörnern, sondern kleinen schwarzen Eistropfen. Einige Hölzchen und eine losgerissene Reibfläche schob er unter sein Hemd in die heiße Achselhöhle, vielleicht daß sie da trockneten. Sein Hemd … und plötzlich fiel ihm ein, daß es ihm als Notsignal dienen mußte. Warum zauderte er? Eilig zog er es vom Leibe und die nassen Kleider wieder an. Dann entdeckte er eine lange Stange in einem Winkel der Bake und kletterte mühsam auf den glatten Stiefelsohlen die beinah senkrechte hölzerne Leiter hinan. Die festgefrorene Dachluke aufzubekommen, war keine leichte Sache; aber schließlich ging es doch, und nachdem er beide Hemdärmel um das Ende der Stange geknüpft hatte, steckte er das Signal in die Luft hinaus und winkte damit, winkte verzweifelt, bis seine Arme müde wurden. Das mußte doch irgendwo gesehen werden … Der rotrandige Flanellappen blähte und füllte sich wie die Gösch im Topp einer Schute bei leichtem Nordwind.

Er kletterte noch eine Sprosse höher und steckte den Kopf zum steilen Turmdach hinaus. Der schwindsüchtige Wintersonnenschein hatte keine rechte Kraft, tat ihm aber in den fiebergeröteten Augen weh, als er plötzlich aus dem Halbdunkel der Bake ins Helle kam. Zuerst vermochten seine Blicke nichts festzuhalten; Meer und Himmel und alles, was im Gesichtskreis lag, flossen für ihn in einem sacht wogenden Nebel zusammen. Ja, da unter ihm lag jedenfalls die »Morgengabe« wie ein großer weißer, etwas verbeulter Teller mit einer einzigen dunkleren Stelle – das war wohl die Senke mit dem Vogelsumpf. Und der Teller drehte sich im Kreis, immer im Kreis herum … Aber jetzt blieb er stehen, und damit wurde auch weiter in der Ferne alles deutlich. Er sah, daß eine niedrigstehende gelbe Sonne über einem beinah eisfreien Meere leuchtete, das von einer nördlichen Brise gekräuselt wurde, aber nicht mehr die gestrige Dünung zeigte. Noch war nirgends ein Boot zu sehen, das hierher hielt … Abwarten, abwarten, es würde kommen …

Wie deutlich alles dastand in der klaren Winterluft! Dort draußen der Leuchtturm von Galten, eine schwimmende Ziegelfestung, ein einmastiges Kriegsschiff aus Stein. Das Feuerschiff von Brotthällen mit dem großen Mars schwebte wie eine schwarze Spinne über dem Gesichtskreis. Und Ljungarn auf der schwedischen Seite – eine Wachskerze ohne Leuchter auf dem riesigen Zinnteller des Meeres.

Wie die verschneiten Inseln, die da auf dem schweren und bleichen Wasser schwammen, zwischen den Schären leuchteten! Einige wie glänzendweiße Eiderenten, andere mehr graugelb wie mittelgroße Säger. Dort weit im Süden Möland mit allen seinen kahlen Schären und Landmarken wie eine Vogelschar. Und fern im Osten die Küste selbst wie eine bucklige Wolkenbank, hier blau, verwischt und unbestimmt, dort näher, so daß man die Landzungen und Baumwipfel zählen konnte. Spiegelte da nicht eine Fensterscheibe in Askvik einen Funken her, der glänzte wie ein Körnchen Katzengold? Ja, dort auf dem Lande gab es Ortschaften mit Menschen unter einem warmen Dach und Kramläden mit hübschen Weihnachtsauslagen und lachenden alten Männern, die auf der Heringstonne saßen. Kramläden, ja … Und vor der Küste im Osten reihte sich der ganze Kranz von Schären und Holmen – Skeppö, Koflytta, Angestö, Mößgrunden, Lekatten, Kopparkläppen, Utterskär – bis … bis der Blick nur noch einen Sund, schmal wie ein Draht, zu überspringen hatte, und dann war er daheim auf dem Tveholm. Ach, fürs Auge war das einfach; aber der verdammte Körper kam nicht mit! Ein frostgelber Streifen von Rauch lag über dem Holm; er sah deutlich, daß er aus seinem eigenen Schornstein kam. Wurde dort ordentlich zu Mittag gekocht, oder machten sie Vorbereitungen zu einem betrübten Weihnachtsfest mit dem wenigen, was sie im Hause hatten? Heute fing die Festzeit an, heute war Heiliger Abend … Er meinte zu erkennen, wie die Brautstangen mit ihren kleinen Quasten an der Spitze dort über die niederen Bäume herausragten, schmal wie zwei Stecknadeln mit den Köpfen nach oben. Die Nadeln stachen ihn, daß es ihm in den Augen brannte. Vielleicht meinten sie dort drüben, er sei noch wohlbehalten im Dorf und habe die unsinnige Heimfahrt gestern abend gar nicht unternommen. Wohl kaum, Janne war sicherlich früh am Morgen auf irgendeine Weise über den Sund gefahren und hatte gesehen, daß die Jolle nicht drüben lag. Um den Tveholm herum zog sich das Treibeis wie eine breite Halskrause; von da aus lohnte sich ein Versuch, in See zu gehen, auf keinen Fall. Wollte Janne mit Rettungsmannschaft ausfahren und ihn suchen, dann mußte er zuerst ins Dorf, und da hatte er Gott weiß was für weite Umwege zu machen bis an offenes Wasser oder festes Strandeis, über das man ein Boot schaffen und zu Wasser bringen konnte – wahrscheinlich bis nach Askvik. Das konnte eine Weile dauern.

Hastig drehte er den Kopf nach der andern Seite, wie einer sich von einer trügerischen Hoffnung abwendet.

Dann mußte die Rettung wohl von Norden kommen, von den Lotsen auf Ankaröländ oder vielleicht vom Leuchtturmwächter selbst. Man mußte sein Signal bemerken, mit dem er jetzt wieder winkte. Die Leute dort hatten ja beständig das Auge am Fernrohr. Das Eis um die große Insel her war kaum der Rede wert, und hier herüber war der Weg nicht weit. Der Signalmast auf dem Hügel vor der Lotsenwohnung war so genau zu sehen, daß Flaggrahe und Stag deutlich zu unterscheiden waren; der Leuchtturm weiter hinten auf der nördlichen Landspitze stand so klar da, daß man beinah die Ziegel an dem runden Turm zählen konnte, unten rot und oben weiß. Bald würde wohl ein Boot vom Lotsenplatz in See stechen …

Aber lieber Gott, wie er jetzt wieder fror! Er hatte auch so sonderbare Stiche im Rücken, ungefähr zwischen den Schulterblättern. Warum stand er hier und nützte seine Kiefer mit Zähneklappern ab, und hatte nicht einmal nachgesehen, ob nicht im Strandeis noch etwas von der Jolle und dem abgerissenen Sack zu finden sei.

Er machte die Dachluke zu und klemmte sein Notsignal unter der Deckelkante fest, daß es mit dem flatternden Flanellhemd aussah wie eine schiefe Flaggenstange. Mit zitternden Beinen kletterte er in seinen gefrorenen Kleidern die Leiter hinunter und wankte zu der Stelle am Strand, wo er gestern nacht notgelandet war. Von der Jolle ragten nur noch ein paar eingefrorene schwarze Splitter in die Luft. Vom Inhalt des Sackes sah er noch weniger, nicht eine Spur. Alles war unter das Eis gesaugt und von der Strömung weggeführt worden. Doch, dort war ja etwas auf einer Eisscholle einige Schritte landeinwärts! … Wie auf einem Teebrett lagen zwei blanke Gegenstände da – die Spieldose und der Branntweinkanister. Die beiden leichten Blechdinger waren wohl aus der Eismühle heraufgeschraubt und von einer Welle bis hierher getragen worden.

Die Spieldose … ja, die konnte man nicht essen. Aber der Branntwein war grade das, was er brauchte! Rasch, wie das Unglück kommt, hatte er den Korken herausgezogen und schüttete eine wahre Sturzsee in sich hinein, er wußte nicht, wieviel. Die kalte Flüssigkeit wogte wie ein köstlicher Feuerstrom durch seine Eingeweide und verwandelte seinen ermatteten Körper im Augenblick vollständig. Branntwein, das war ein Satan von Zaubertrank! Mit einem Schlag alles verändert. Die schwankende Sonne schien beinah sommerwarm, die Steifheit seiner Kleider war verschwunden, die ganze Fahrt hierher auf die Morgengabe nur ein rasend lustiges Abenteuer – hei, wer hatte schon so eine Julfahrt gemacht? »Hei, Prosit!« Er hob den Kanister in die Sonne und nahm noch einen Schluck. Sobald Janne oder die Leute von Ankarö hier waren, sollten sie auch einen hinter die Binde kriegen – und dann, dann ade, du Satansturm hier, und heim zum Julfest! – Ja, ein Julfest, das … Zum Teufel, ein verdammt unbeschreiblich schönes Julfest …

Lachend wie verrückt, in seligem Vorgefühl, torkelte er zum Turm hinauf und einmal ums andere darum herum. In der einen Hand hielt er die Spieldose, in der andern den Kanister; mit beiden fuchtelte er wild in der Luft herum und brüllte dazu aus Leibeskräften. Zuweilen purzelte er in den Schnee und nahm dann noch einen Schluck, um wieder auf die Beine zu kommen. Schließlich setzte er sich an der Südseite des Turmes nieder, lehnte den Rücken an den Unterbau und schlief augenblicklich ein, das Gesicht der gesegneten Sonne zugewendet.

Dunkel und sternhell war es, als er erwachte, und ihn fror unmenschlich. Er machte einen neuen Versuch mit dem Kanister. Wärmer wurde er wirklich für eine Weile, aber nicht mehr fröhlich, sondern nur trauriger und schwächer. Verfluchter Branntwein! Er sah den Widerschein der Sterne im Wasser und mehrere breite Feuerbahnen in einem einzigen Wirrwarr durcheinandertanzen. Nein, der Blechteufel mußte fort, der sollte nicht neben ihm liegen, wenn, wenn … Es sollte wenigstens nicht von ihm heißen, daß er im Branntweinrausch von Frau und Kind weggesegelt sei … Er wankte zum Strand hinunter und schleuderte den glucksenden offenen Kanister über den Eisgürtel weg in die See hinaus. Dann mußte er beinah kriechen, um zurück zum Turm zu kommen. Die Zündhölzchen gingen so wenig an wie früher, herumzulaufen war ihm auch nicht mehr möglich, so setzte er sich auf denselben Platz wie zuvor.

Bald schüttelte ihn ein Kältekrampf, bald war er heiß wie ein Backofen, und die Stiche in seinem Rücken wurden immer heftiger. Zuweilen schwand ihm das Bewußtsein, zuweilen meinte er plötzlich, der Morgen graue, bis er merkte, es war das Blinken des Leuchtturms von Ankarö, das durch die Ritzen der dünnen Turmbretter schimmerte. Jawohl, sein Licht schickte er her, aber kein Boot …

Was war das? Klangen da nicht deutlich Kirchenglocken, wenn auch aus weiter Ferne? Ja wahrhaftig … es war Heiliger Abend …

Er faltete die Hände, betete ein Vaterunser und einige andere Gebete, die er auswendig konnte; aber mitten in dem letzten schlief er ein.

Als er wieder zu Bewußtsein kam, war er durch einige leichte klingende Töne ganz dicht bei ihm geweckt worden … es schien ihm fast, als wollten sie zu einer kleinen Melodie werden. Er fühlte sich jetzt wieder merkwürdig munter; aber was war das für eine winzige Kurbel zwischen seinen Fingern, die er herumdrehte? Ach ja, die Spieldose! Damit hatte er seinen Jungen erheitern wollen. Er drehte immer eifriger, rund herum, rund herum, daß es aus der Dose heraus rieselte und rauschte wie ein lustiges Frühlingsbächlein. Und plötzlich fühlte er auch, daß ihm sein Junge hier im Arme lag – warum hatte er das nicht schon früher bemerkt? Er küßte ihn lange und heftig, bohrte seinen Mund in die weichen Nackenhaare und biß ihn beinah. Aber das tue nichts, sagte Elfrida, die dicht daneben stand, das tue gar nichts, es sei ja Weihnachten …

Jedenfalls war es das Beste, noch etwas zu schlafen. Sobald es hell wurde, fuhren sie heim, sie alle drei …

 

Noch an diesem selben Weihnachtstag wurde er von seinem Bruder und einigen aufgebotenen Männern gefunden. Er saß drinnen im Turm, an die Wand gelehnt, tot. Zwischen den Knien hatte er die blecherne Spieldose, und mit beiden Händen hielt er ein zusammengepreßtes und zerkautes Stückchen seiner Schaffelljacke an den Mund. Man nahm an, aus Hunger.

Jedermann wunderte sich, daß man von Ankarö aus nichts bemerkt hatte. Bald verbreitete sich das Gerücht, sowohl das Notsignal als auch er selbst seien wohl bemerkt worden; aber man hätte drüben keine Lust gehabt, am Heiligen Abend auszufahren. Das wurde zuletzt so fest behauptet, daß der Richter genötigt war, einzugreifen und ein Verhör anzustellen.

Der alte Leuchtturmwärter selbst hatte von nichts gewußt, und ihm wurde geglaubt. Auch der Lotsenältermann Stark behauptete, nichts gesehen zu haben. Wer halte denn so scharfen Ausguck mitten in den Weihnachtsvorbereitungen und zu einer Jahreszeit, in der die ganze Schiffahrt so gut wie völlig ruhte?

Der junge Stark aber gab zu, er habe im Fernrohr etwas Ungewöhnliches auf der »Morgengabe« wahrgenommen. Nur daß es ein richtiger Mensch sei, hätte er nicht einen Augenblick annehmen können. Wie sollte ein lebendes Geschöpf dorthin gekommen sein? Er habe einmal gemeint, eine tanzende fuchtelnde Gestalt in weißen Kleidern zu sehen, die wie Eis glänzten, dann aber angenommen, es sei eine Erscheinung oder ein Gespenst. Deshalb habe er nicht weiter nachgeforscht und das Geheimnis für sich behalten. Übrigens habe er an anderes zu denken gehabt als an Geister. Seine Frau sei in diesen Tagen in schweren Kindsnöten gewesen; und an dieser Tatsache könne der Herr Richter wohl nicht zweifeln, denn nachdem sie ein armseliges kleines Mädchen – ihr erstes Kind – geboren habe, sei sie gestorben.

Damit ließ man die Sache fallen. Aber seit diesem Tag waren die hochmütigen Bewohner von Ankarö in der ganzen Gegend verrufen.


   weiter >>