Carl Hauptmann
Stummer Wandel
Carl Hauptmann

Carl Hauptmann

Stummer Wandel

Unten im Tale lag ihre Väterei, ein uraltes Bauernhaus, mächtig, mit langer Front und ungeheurem Dachausbau, ein Giebel breit und hoch unter einem alten, nun halb zerborstenen Pappelbaum. In weißem Grunde die Balken in Schwarz, daß das Holzgeäder die Wände in Felder einteilte – die durchsetzt waren mit schwarzen Querbändern, und in den mächtigen Wänden kleine Bauernfenster zu ebener Erde und oben, wo die leeren Stuben unheimlich sich dehnten, in deren einer allerhand Gold- und Silberkränze unter Glas und Rahmen hingen, in deren anderen Stroh herum lag, und nichts stand, als ein alter, zerbrochener Schrank, ein bunter Schub mit einem Brautkranz und Brautkleid der Großmutter drin – nichts sonst – und wo im Winter die alte, fromme Großmutter Gebauer ihre Birnen und Äpfel auf Stroh hinbreitete, lange mit gefalteten Händen besichtigte und Gott für den Segen dankte. Und oben war ein weiter, weiter, schier endlos scheinender Dachraum, hoch – und die Bretter im ganzen Hause krachten, wenn man hinaufstieg, und es war dunkel und öde, daß Eva sich hinter der Großmutter dicke Röcke einhuschte, und die Großmutter fast schalt, wenn sie dabei im Gehen behindert war, und beide, sie und die Magd, den Wäschekorb auf der Treppe abhocken mußten. Und um das Haus, dem der Großvater noch einen neueren Scheunenbau mit Stall vor die Tür gesetzt hatte, lag in grauem Mauerwerk ein mächtiger Obstgarten – und weit und breit Felder – nichts sonst. Ein Knecht oder eine Magd mußten mit Eva hinüber in die Schule, sonst war sie daheim, und um die alte ernste Frau herum, hatte sie ihr Lamm und ihren Kaninchenstall, und legte schon dort jedes Geschehnis zum Leid und zur Trauer aus.

Die alten Gebauerleute waren in der ganzen Umgegend – rundum – mit besonderer Andacht betrachtet. Nicht nur, weil beide, er ein hagerer, bartloser, vorgebeugter Mann, der nicht viel sprach, aber oft ein Bibelwort, womit er zum Himmel mahnte, und sie eine eilige, sinnige und doch wirtschaftliche Alte, die immer ein Air besaß, wirklich fromm waren. Nein, vor allem, weil man wußte, daß trotz Redlichkeit und Wohlstand, trotz Milde und Frömmigkeit in ihrem Hause der Tod Jugend um Jugend eingeheimst und ihnen nichts, als nur diese kleine Eva gelassen hatte, der jüngsten Tochter jüngste Lebensfrucht. Und eine ungeheure Sorglichkeit umgab nun das Kind. Bauerleute – aber Eva mußte vor Wind und Wetter geschützt werden und durfte nicht barfuß in den Sommergarten. Und die alte peinliche Großmutter mahnte an ihr herum: zärtlich und auf sich angewiesen – und tausendmal unmutig und zag, wie das kleine Mädchen mit dem schmalen Gesicht und den erschrockenen Fischaugen immer schon als Kind gewesen war. Und der alte Mann, der im übrigen sonst tätig und frisch aussah und mit den Knechten um die Wette im Erntetrubel sich in Schweiß brachte mit der Sense oder beim Ausladen der Garben, der Alte wurde zum Kinde und spielte den Klagenden, wenn Evchen in heller Angst zu ihm lief, einmal, als die Ratte ein weißes Kaninchen buchstäblich bei lebendigem Leibe angefressen. Eva hatte an diesem Tage zum erstenmale die ganze Welt ein Jammertal geschienen, und sie sah lange die helle Sonne nicht, so rannen ihre Tränen – so sehnte sie sich von der Zeit an nach etwas, zu dem sie weder bei Großvater noch Großmutter einen Weg fand.

Und in dem alten, mächtigen Giebelhause, das weithin in aller Ebene sichtbar ragte, ging ein frommer Geist um. Morgens und abends traten in die weite Eckstube, deren Diele immer weiß war und mit lichtem Sand bestreut, die sonnverbrannten Knechte, lustige Kerle, die die Mägde hinterm Heuwagen um die Hüften griffen und würgten und drückten, mit fromm erstarrten Gesichtern ein, und die roterhitzten, derben Mädels kamen aus dem Kuhstall und vom Miste, machten auf den Steinfliesen vor der Tür noch in Hast ein bissel Ordnung in ihre Gewandung, die luftig und bequem an ihnen herumhing, ließen wohl einen geschürzten Kittel über die dicken Waden tiefer nieder, und alles sah gleich auf den ernsten alten Gebauer, der nun, ein Käppchen wie ein geistlicher Herr auf seinem grauen Haar, Gesangbuch und Bibel aufschlug und dann feierlich und lang gedehnt vorlas: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln . . .« Bis er zum Singen kam, und Eva nur hinter der Großmutter verborgen hervorlugte, und die ernsten, großen, singenden, aufgerissenen Münder der Gesindeschar um die Tür anstaunte, wie sie vor sich starrten, und rauhes, grelles Getön die Stube bis in den Hof widerhallen machte. So war es in dem Hofe morgens und abends. – Und über der großen Schüssel, die die Magd oder Frau Gebauer selber auf den Tisch trug, rief der alte Mann auch den Segen Gottes an – und es ging stumm und streng zu.

So war es gewesen. So war Eva einsam herangewachsen, ein Kind einer früh gewelkten Mutter – und eine Enkelin von alten Großeltern, die sich in der Trennung von allem Lieben auf Erden hatten ganz an himmlische Tröstungen gewöhnen müssen, das Kind hinnehmend, daß sie es auch nur dem Himmel erzögen. –

Gebauers waren nun längst tot. Im Gebirgsdorf, wo jetzt Eva die Frau eines einfachen Mannes war, kannte man sie. Daß sie so im Kleinen und Ärmlichen saß, war ihr nicht unbequem – im Grunde sogar gleichgültig. Die Alten hatten die Bäuerei zurückgelassen, und ein frommer Tischler hatte Eva geheiratet. Ein wunderbares, heiliges Paar sollen sie schon geschienen sein, als sie im Brautkranz aus dem alten, hohen Hause ging und in die Kirche eintrat. Alle standen drum herum, auch Gespielinnen. Aber eine Nonne, die man einkleidet, konnte nicht erstaunter und weiter hinblicken, als wenn sie am Horizonte eine Vision sehe und die Erde ringsum nicht. Sie hatte sich auch ein schwarzes Kleid in Seide gewählt, die Myrten allein blühten fröhlich in ihren reichen Haaren. Und bei der Hochzeit betete man über dem Mahle anfangs und zu Ende. Und fromme Gesichter, wenige alte und noch weniger junge, die lachen wollten, aber doch auch ernst aussahen, wie die Knechte und Mägde, wenn sie in der Alten Zimmer eintraten zum Tagessegen. Und Eva saß, und Speise und Trank genoß man fast stumm, ehe die Brautleute heimfuhren. Eine ganz eigene Feier. Nur selten, daß ein Junger einmal mit einer Brautjungfer zu lachen wagte, danach gleich wieder verstummte, so wenig schien es jedem schließlich am Platze. Das Leben heiter spinnen, froh, im Frühling, wie es Gott gegeben hat, so sich umfangend in Glut und Liebe, daß aus den Leibern und Seelen neue schöne, tätige Leiber und Seelen aufwachen aus dem großen, aus dem zuverlässigen Gottesgrunde, war ganz vergessen – daß jener Ewige selbst lacht mit dem reichsten, seligsten Lachen, wenn er die Augen der Menschen einander zuwendet, daß sie sich leuchtend finden – und Schicksale in eins binden, daß sie Mutter und Vater werden für eine lange Ewigkeit – alles schien vergessen – nichts klang, als stummer Ernst und eine welke Lebenstrauer und ein feierliches Beten: so folgte man dem Brautpaar zum Wagen.

Und nun wohnten die beiden seit fünfzehn Jahren oben in dem Gebirgsdorf und lebten still, und alle achteten sie von ferne – er ein Geselle bei einem Meister, der eine weite Werkstatt besaß, tüchtig und redlich in der Arbeit, pünktlich und geschickt, und sie daheim, in einer kleinen Bäuerei zur Miete oben im Dachgiebel, wo Stube und Kammer Raum genug boten für ihr stummes Vorsichschauen, mit dem sie doch gar keine Erde und fast keine Menschen sah.

Denn es war unendlich seltsam: so jungfräulich sie auch noch um die alten gewesen war, so bestimmt und furchtlos sie einherging in den Zeiten, daß zu den Alten der Tod eintrat, und sie jedem, der zuerst dem Großvater Gebauer und dann der Großmutter, die beide selig starben mit Frieden im Angesicht, die Augen mit weichem Finger zugedrückt; seit sie mit dem Manne lebte, war sie fast ganz erstarrt und zu einer steinernen Maske geworden. Und wer sie sah, begriff nicht, daß ein Leben so jung, Monat um Monat, Jahr um Jahr hinstreichen konnte so im Vorsichhinsehen und Welt und Menschen nicht erkennen. Stumm und starr ging sie – und ihre Augen sahen stundenlang in eine Ecke, während sie ihre kleine Arbeit tat, so lange der Mann auswärts war. Stumm und starr ging sie Schritt um Schritt, als wenn selbst ein frisches Tempo im Lauf ihrer Seele wehe getan. Stumm und starr saß sie im Jahre mehrmals auf den Gräbern unten im Tal, wo die ganze Reihe Gebauer noch in Steinbegräbnissen lagen, und starrte nieder, und keine Miene bewegte sich in dem ernsten Staunen ihrer wasserhellen, jungen Augen. Stumm und starr kam sie näher. Ein jeder erkannte sie an der Behutsamkeit ihres Ganges. Ein jeder grüßte sie und wußte, daß ein versonnenes Lächeln leise, wie man Hauch in kühle Luft hineinweht, kaum aufwachend auch schon wie ein Unbegreifliches ihr selbst entschwinden würde. Und so war es auch. Denn wenn sie heimkam, hielt sie leise ihre Andacht und blickte zu Gott empor, der ihr wohl ein eisgrauer Gott geschienen, schon als der Großvater ihm mit gemessener Würde nur begegnen mußte und sich wohl hütete, einen falschen Tritt in's Derbe, Irdische vor ihm zu wagen.

Und Frau Endler hatte ein Kind bekommen. Leiden der Mutter ertrug sie gern. Die Schmerzen, die ihren zarten Leib fast zerrissen, so daß sie noch blasser und schmäler war, und sich lange nicht erholen konnte, achtete sie nicht. Und das Kind liebte sie noch viel mehr, als Gebauers sie geliebt. Und sie herzte und küßte es, manchmal schier, daß das junge Leben an ihrer Inbrunst in Gefahr war. Und sorgte, und redete heimlich mit ihm. Und wenn der Mann kam, standen beide, wie Maria und Josef, heilig vor der Krippe und blickten stumm hinein ohne zu reden: der Endler, der gütlich und männlich aussah, mit rotem Vollbart, und wohl wie ein Zimmermann oder ein Jünger ausgesehen haben mochte. Nur einsam ging es zu auch dabei. Man hatte es getauft und eine Frau und einen Mann seines Handwerks gebeten, Gevatter zu sein. Alte Leute. Und die hielten die Kleine, die auch Eva heißen sollte, über den Taufstein. Die Feier war fast noch seltsamer, wie der Endlerleute Hochzeit. Man hatte ein Kind empfangen und wollte es nun dem Himmel weihen. Jetzt bestimmter als je begann sich Frau Endler ihren Gott zu malen, und jetzt kam es ihr auch bestimmter auf wie Furcht vor ihm. Und Menschen die sie in den Jahren, wo das Kind kränkelte um der Zähne willen, begegneten, wollen in ihrem bleichen, fremden Gesicht einen Zug von Schrecken gewahr worden sein, der dem Staunen sich zugemischt, und der jeden auch wie eine Frage verfolgte über das Menschenleben, jedesmal wenn man ihr begegnet war. Aber ihr Gott war nicht so grausam. Er nahm ihr das Kind nicht. Es wuchs. Es wurde ein rothaariges, frisches Kind, dem Vater nach. Es gewann Lust und Laune, und man hörte Lachen oben in der Giebelstube. Das muß der Mutter gute Zeit gewesen sein. Denn sie durfte es ja wohl fünf, sechs Jahre in ihrer Einsamkeit hegen und es heimlich mit lichteren Hoffnungen erstaunen und es schier in Inbrunst küssen, als wollte ihre Liebe und ihr Festhalten an diesem einzigen Blut und Leben, wofür sie noch Augen und Ohren und alle Selbstvergessenheit besaß, keine Grenze finden. Und in der Zeit hatte sie auch die Gräber unten im Tal ganz vergessen. Man sah sie kaum noch auf einem Gange. Frühlinge kamen in's Land. Sie saß unter einem Apfelbaum im Bauerngarten und sah stumm in den Kinderwagen, der vor ihr stand, und wo Eva schlief, und sann nicht, war in sich selig, wie die Blütenblättchen ihr Kind bestäubten. Und wenn es schrie, entblößte sie ihre kleine Brust und legte ihren winzigen Schreihals weich daran und sann in sich nicht, sie fühlte selig, wie aus ihrem Blut Leben und Liebe in den kleinen, gierigen Saugemund hineinrann. Und wie es größer wurde, saß das Kind schon zu ihren Füßen in Betten im Grase – immer unter demselben alten Apfelbaum, und sie machte ihm Maienkränze um's Haupt und versuchte sich selbst zu schmücken, leise und heimlich – für das Kleine, das dann der Mutter herzhaft zulachte und mit den Händen in der Luft schlug – und ein seltsames Gefühl von Hoffnungsseligkeit war in ihren Mienen, wenn sie sich so ganz vor Kind und Apfelbaum und höchstens noch dem guten, schwarzen Pudel aus der Bäuerei vergessen konnte. Nur wenn der Bauer oder die Bäuerin zu ihr treten wollten, hastig nahm sie ihren Kranz herunter und legte ihn neben sich auf die Holzbank – und wenn einer mit ihr zu reden wagte, dann war sie lieb, aber die Worte wollten nicht recht kommen. Es schoß Röte in ihr zartes Blut, und man wußte nicht viel anzufangen, als nun auch das Kind zu nehmen und es einmal in die Lüfte zu schwenken, was wenigstens der Bauer tun konnte, jedesmal, daß Frau Endler dann empor sah mit einer Angst, als könnte man ihr das Kind rauben. Deshalb auch saß sie da unten fast immer allein. Ja – und sie war nie glücklicher im Leben, als dort allein. Sie war eine Mutter mit aller heimlichen Seligkeit im Herzen. Nun als sie sah, daß da ein rosig Leben ihrem Leibe entwachsen war, das ihr Sinn und Hoffnungen gab, Freuden, nie gekannte, vom Tragen und Sichschwerfühlen wie eine reife Frucht, durch alle die heißen Schmerzen, die so ahnungsweit wohlgetan, und die Schicksale sind und sich in die Sonne hineinmischen, wie die Dunkeltöne der Nacht, bis zum Entzücken, wo sie die Hüllen von der weichen Brust genommen, die so weich und weiß nur dem Kinde und seinem ersten Erdenglücke entgegengewachsen war – ja – nun bewegte sie sogar heimlich wie eine Sinnenfreude, wenn sie an ihres Mannes Liebe dachte. Und Leute, die aus der Bauernstube verstohlen durch die Fenster sahen, um sie zu beobachten, wollen gesehen haben, daß sie mit Maßliebchen, wie junge Bräute spielte – und sie zerpflückte und murmelte . . .

Diese Zeit war auch hingegangen. Endler hatte den Sarg für Evchen selbst gemacht. Und Frau Endler lebte wieder allein. Man sah sie viel auf den Kirchhof gehen, wo ihr Kind lag. Sie hatte nicht geweint. Nur das Staunen in ihren Augen war schier unbegreiflich groß geworden. Die Fischaugen, hell wie Wasser, sahen fast grausam drein – und doch lag auch Hingabe und Demut drin. Und dann, wenn sie ein Geräusch schreckte, oder wenn jemand sie grüßte, den sie, wenn er herankam, in ihrer tiefen Versunkenheit nicht gesehen hatte, dann fuhr sie fast zusammen. Und wenn sie gütig sehen wollte, war es nur wie eine Angst, die über ihre Züge huschte, wie ein Hauch, den man hinweht. – Und beide nun, Endler und Gebauers Enkelin, lebten still und fromm – nur in der letzten Zeit soll sie nicht mehr genug gegessen und getrunken haben. Es war ihr alles so gleichgültig geworden.

Endler war ein frommer Mann. Er war tätig und gewann immer wieder auch Leben unter die Füße. Er tröstete sich auch. Wenn Furcht und Angst vor Gott in sie kam, sagte er ihr, daß es ein guter Gott wäre, daß uns ein Vater im Himmel lebe, der Eva und alle zu sich nehme, und sie glaubte ihm und lächelte ihm zu, sanft und stumm. Und wenn er versuchte, sie aufzuwecken aus ihrem Starren, und er ihr zu essen und zu trinken brachte – es ging nichts Rechtes mehr ein in sie. Sie magerte ganz ab. Er versuchte es mit Arzt und Pflege. Das Leben in ihr war zu gleichgültig geworden gegen das Irdische. Sie fing sich an zu sehnen, wie sie sich erinnerte damals zum ersten Male gesehnt zu haben, als die Ratte ihr weißes Kaninchen bei lebendigem Leibe angefressen hatte. Sie lächelte verloren dem guten, frommen Pfleger zu – und nahm kaum noch einen Schluck Wasser, dann und wann einmal, wenn sie lange wie eine stumme Tote schon hingestreckt auf ihrem Bette dagelegen – bis man sie begrub.