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Hanns von Gumppenberg

Die letzte Ehre

Eine Seelenstudie

Grau und fröstelnd lag die erste Dämmerung des Junimorgens über der kleinen Bahnstation. Die Sonne blinzte schon durch die schläfrigen Nebelschleier, als der Zug hielt und Franz, seine steifen Glieder schüttelnd, auf den menschenleeren Perron herabsprang. Er war auf dieser abgelegenen Strecke der einzige Passagier gewesen: er und der tote Vater, den er zur letzten Ruhestätte geleitete.

Seine erste Aufmerksamkeit galt dem Wagen, welcher außen mit einem großen Kreuze bezeichnet war; derselbe war schon ausgehängt und auf das Seitengeleise geschoben worden. Alles in Ordnung! Franz schritt zu dem melancholisch zwischen ausländischen Ziersträuchern wispernden Brunnen, hielt sein Taschentuch unter die Röhre und wusch sich, den mit ehrenvollen Narben bedeckten Cylinder abnehmend, Augen und Stirn: wie Feuer brannten sie ihm von den Aufregungen der letzten Tage und der zweiten schlaflos durchräderten Nacht. Dann trat er in die Expedition und erkundigte sich. Ein Telegramm wurde ihm ausgehändigt: »Sende Wagen und Transportfuhrwerk halb sieben – früher wegen des Festes unmöglich, Vetter Max.« Also auch das in Ordnung.

Was beginnen die anderthalb Stunden lang? Auf dem Perron bleiben, bei dem Leichenwagen, der starr, schwer und finster selbst wie ein großer Sarg auf den Schienen lastete? Er hatte eine Angst bekommen vor diesen schwarzumflorten Gedanken, schon heute Nacht, wie er dahinraste, das Gesicht an die Scheiben gepreßt und den verstiebenden Funken nachstarrend – eine unheimliche Angst vor sich selbst, daß er widerstandslos versinken könnte in diese Weltfremde, dies apathische Nebelgrau, das ihm aus der unaufhörlichen Folge seiner Enttäuschungen nur allzu bekannt war. Wozu auch solche Empfindungen? Was halfen sie? Was sollte ihm der Tod? War er nicht jung, trotz alledem? Sollte, mußte er nicht leben! Leben für sich und seine in Dürftigkeit zurückgelassene Mutter? War das nicht seine Pflicht?

Leben! höhnte er innerlich vor sich hin, während er langsam und müde gegen das noch tief schlummernde Dorf hineinschlenderte. Leben! was ist Leben? Eine irre Flamme, aus Gräbern aufflackernd und über Gräbern wieder erlöschend, lautlos wie diese Morgenstille ringsum. Eine vielleicht furchtbar inhaltsschwere, vielleicht aber auch lächerlich gegenstandslose Frage, deren Lösung und Wert jenseits liegt, sei es im Nichts, sei es in einem Etwas, das wir niemals begreifen können, Leben – wofür? Für Genuß und Selbstbefriedigung? Möglichst viel an sich zu raffen, um nach einer nichtigen, in der Erinnerung zu einem Augenblick zusammenschrumpfenden Spanne möglichst viel wieder verlieren zu können? Oder für andere in aufopfernder Selbstlosigkeit, wie der Tote am Perron, der immer so bescheiden und genügsam gewesen war, kaum jemals ein Wort der Unzufriedenheit sagte, und nun dort rückwärts in seiner Lade so geduldig still auf das enge Plätzchen in der Mauernische wartete: sich selbst Alles versagend in jahrelanger Mühe andern zu der Verzweiflung zu verhelfen, nur möglichst, möglichst viel verlieren zu müssen – am meisten in ihm selbst und seiner Liebe?? Oder leben für allgemeine Empfindungen, für große Menschheitsziele, wie es ihn, das »verkannte Literatengenie«, einst so sirenenhaft gelockt hatte? mit Hintansetzung aller anderen Interessen für Bestrebungen einzutreten, die vor der furchtbaren Nüchternheit des Grabes zu bunten Kinderträumen verschwimmen? Was hatten Andere davon? Nichts – was er? Not, lähmende Nahrungssorgen, Unfähigkeit, seine Mutter zu unterstützen, ihr nun zu danken, daß sie – daß sie ihm das Leben geschenkt ...

So oder so: falsche Münze war's immer, kläglich falsche, mit der das Leben seine Knechte bezahlt.

Ironie seines Schicksals! Während er so dachte, freute es ihn unwillkürlich, wie verwertbar diese Ideen zu einem geistreich pointierten pessimistischen Feuilleton seien: er überschlug schon die ungefähre Ausdehnung desselben und berechnete ganz mechanisch, wie viel es ihm bringen, wie viele Tage er davon »leben« könne. – Er spuckte aus, in einem wilden Gefühl des Ekels, Aber war's ein Wunder? Monatelang hatte diese Maschine fieberhaft arbeiten müssen: jetzt fungierte sie schon ganz von selbst und walzte jeden auftauchenden Gedanken zu einem druckreifen Manuskript aus ...

Stimmenklang ließ ihn aufblicken. Er war auf den Marktplatz gekommen, an das Wirtshaus der Kirche gegenüber. Dralle Mägde waren hier schon thätig, Guirlanden aufzubinden und die schmierigen Steine und Dielen des Eingangs mit Gras und Feldblumen zu bestreuen, denn heute war Frohnleichnamsfest und große Prozession.

Franz schritt über die grüne Streu in die frischgescheuerte Wirtsstube und ließ sich eine Tasse Kaffee bringen, die er mechanisch hinunterstürzte. Dann wanderte er, mit plötzlicher Hast an seine Pflicht sich erinnernd, auf den Bahnhof zurück. Da standen schon die beiden Fuhrwerke, die der reiche Vetter Max abgeordnet hatte, seinen toten und seinen lebendigen Gast nach dem Stammsitz Derer von Thüngen zu tragen: ein eleganter Einspänner und ein massiver, mit zwei mächtigen Ackergäulen bespannter Brückenwagen, ersterer von einem glattrasierten Kutscher in Livree, letzterer, der noch weißstaubige Spuren einer kürzlich beförderten Steinlast aufwies, von zwei »hörigen« Bauern geführt.

Bei Franzens Anblick sprang der Kutscher ab, eilte ihm entgegen und blieb, mit einer tiefen Verbeugung seinen umflorten Hut ziehend, in ehrfurchtsvoller Entfernung stehen. »Ich habe wohl die Ehre, den Herrn Baron« – Franz nickte kurz, während eine sonderbar ungewohnte Empfindung ihn durchzuckte: die Empfindung, »Baron zu sein.« War er's denn nicht auch? war er nicht der echtbürtige Sproß eines uralten Geschlechts, das mit Barbarossa gegen die Ungläubigen zog und mit Frundsberg die Mauern Roms erstürmte? Wahrhaftig! in seiner Viertenstockstube, in den grobheitdurchwehten Vorzimmern der Zeitungsredaktionen, im täglichen Kampf ums liebe Brot hatte er ganz vergessen, daß er ein bevorzugter Mensch war, daß er vor andern etwas voraus hatte. Jetzt, da seinem Vater seitens Derer von Thüngen die letzte Ehre geschehen sollte: jetzt bekam der Sohn etwas von der Glorie ab – der Sohn jener Bürgerlichen, deren Ehelichung den Vater seiner adeligen Verwandtschaft entfremdet hatte. Oder leuchtete ihm die Glorie nicht schon jetzt aus der andächtig-devoten Miene des Kutschers entgegen? Und was mochte ihn erst alles im Familienschlosse erwarten, das er nun selbst zum erstenmale betreten sollte? »Der Herr Baron lassen sich entschuldigen, Sie werden den Herrn Baron am Eingang in den Markt erwarten. Wir müssen aber langsam fahren, Herr Baron, weil die Prozession erst heraus sein muß aus dem Markt – eher können der Herr Baron nicht entgegenkommen mit der Geistlichkeit. Befehlen der Herr Baron, daß die Leute – ausladen?«

Er hatte das letzte Wort in flüsternder Scheu gesprochen und deute auf den Wagen mit dem Kreuze, an dessen Thüre schon die beiden Bauern und zwei Bahnbeamte harrten, Franz nickte energisch. »Gewiß – laden Sie aus!«

Er empfand eine Art wilden Behagens, die Brutalität der Situation sich doppelt zum Bewußtsein zu bringen, welche ihn zwang, die Leiche seines besten Freundes wie einen Waarenballen hierhin und dorthin zu dirigieren: seinen dreifachen Abscheu dann wollte er ausgießen über Alles, was sich für Harmonie und Weltordnung ausgab. Abscheu? hatte er denn ein Recht, sich so aufzuspielen? War dieser Tote, war er selbst, waren alle die von Thüngen, waren alle Menschen der Erde mehr als flüchtig verkittete und wieder zerfallende Sandkrumen im Winde? Und abermals krochen die Gedanken der vergangenen Nacht heran, oder vielmehr die Gedankenlosigkeit, das trostlos starre, niederpressende Nichts mit dem seelenaussaugenden Basiliskenblick und dem traurigen Wahnsinn, etwas aus sich zu machen, sogar fühlende, unsäglich sehnende Menschen, und wieder in sich zurückzuschlingen, ins Nichts ... er schüttelte heftig den Kopf und trat rasch an den Wagen, behülflich zu sein.

Die zwei »Hörigen«, mit ihrem Fuhrwerk herangekommen, hatten den Sarg bereits gefaßt und rückten und zerrten ihn eben heraus, stießen dabei aber aus Unvorsichtigkeit, ehe Franz es verhindern konnte, hastig mit dem Fußende gegen den niedrigen Saum des Wagens, so daß der Sarg in allen Fugen erzitterte.

Franzens Phantasie malte ihm sofort den Vater vor, der da drinnen lag, wie der unsanfte Stoß ihm die Arme emporschnellen und der ernsthafte bärtige Kopf ihm wackeln mußte, recht wie einem Hampelmann – und er mußte lachen. Lachen über die Leiche seines Vaters?? Wieder erschrak er über sich selbst – wieder suchte er sich abzulenken, »Die Kränze müssen geordnet werden!« befahl er in energischem Ton, auf die zahlreichen Blumenspenden deutend, welche noch im Bauche des Wagens lagen: »Können Sie das selbst, oder ...«

»Jawohl, Herr Baron!« riefen die beiden »Hörigen«, sich in militärische Position werfend (sie hatten offenbar gedient): »Das machen wir schon selber!«

Und sie gruppierten die Kränze und Schleifen um die nun auf dem Brückenwagen ruhende Totenlade mit einem Geschick und Geschmack, den man ihnen nicht zugetraut hätte. Endlich waren sie fertig.

Franz bestieg den Einspänner, der Brückenwagen mit seiner düsteren Last fuhr vor, und fort ging es im Schritt, erst durch das immer noch stille Dorf, dann hinaus in den herrlichen Sommermorgen, durch nickende Kornfelder zum Walde, während die Sonne höher und höher emporstieg. Langsam zogen die beiden Fuhrwerke dahin, wie todesmatt, Schritt für Schritt, Franz hinter dem Vater drein, der nun als leblose Stoffmasse auf dem breiten, schmutzigen Wagen da vor ihm lag, roh hin- und hergerüttelt von den Stößen der steinigen Straße. O Pfui! was war doch die Welt? Was war sie doch?? und dafür alle die Mühe? Dafür sich selbst unaufhörlich Schweres und Schwerstes abgewinnen?? –

Ein leiser Wind erhob sich über die Kornfelder her, und an Franzens Ohr klang jenes feine Rauschen, jenes verführerisch feierliche Säuseln, dessen geheimnisvoller Zauber seine Kinderseele einst so tief bewegt hatte, als läg' eine heilige Verheißung, eine märchenhaft glückliche Zukunft darin ... »haha! Die Menschen werden und vergehen, die Natur ist immer dieselbe – sie allein lebt! Wir aber sterben von Ewigkeit zu Ewigkeit. Wir sterben, damit sie leben kann: und dafür narrt sie dann ihre Knechte mit solchen Ammenliedern, – in falsche Träume uns zu lullen, – als wären wir mehr als Futter und Töpferthon – als wäre sie für uns da, und nicht wir für sie ...«

Ächzend, tiefeinschneidend in weicheren Grund, bogen die Räder des Brückenwagens zum Walde ein. Das gleißnerische Singen des Korns verstummte ... hinter dunklem Laubgitter erlosch die sonnige Landschaft. Mächtige Hochstämme ragten links und rechts, ernstgebreitete Kronen wiegend; nur ganz ferne huschten noch gelbe Lichter über das kriechende Moos – manchmal der Schrei eines Vogels, sonst Totenstille: öde, düstere Einsamkeit eines Riesentempels der Trauer.

Kein Wort wurde gewechselt zwischen den drei Männern voran und dem »Herrn Baron«, der unverwandt auf den langen Zinnsarg vor ihm starrte. Weichere, menschlichere Gefühle durchschütterten ihn: all' dessen gedachte er, was diese Handvoll Erde ihm gewesen war und was er nie mehr würde vergelten können, nie mehr! Und unaufhaltsam stürzten ihm die Thränen aus den wunden Augen: es war ihm zu Mut, als strömte sein ganzes Ich in ihnen dahin, wie versprühter Tau durch das Moos dort in die Erde zu sinken ...

Aber da war der Wald vorbei. Franz zog sein Taschentuch und trocknete sich, beinahe ärgerlich, die Augen. Wieder geflennt – noch einmal das dumme Zeug! Immer noch keine trockene Resignation als einzig richtige und vernünftige Stimmung, wo doch Alles so klar war in seiner Trostlosigkeit, all' das unsinnige Werden und Vergehen? Und mit krampfhaft energischem Ruck sich aufrichtend, ließ er seine Blicke umherschweifen. Über ihm in ungeheurer tiefblauer Wölbung strahlte der Sommerhimmel: hochgeballtes, schneeweißes Gewölk reckte sich daran empor. Weit gebreitet, mit lachenden Wiesen und Feldern dehnte sich die Ebene, freundliche Dörfer grüßten dazwischen verstreut – alles schon Thüngenscher Besitz: und dort rückwärts hinter der bebuschten Bodenwelle, wo die zwei Raben jetzt eben hinüberflogen schwerfälligen Flügelschlags, dort mußte es wohl liegen, das alte Stammschloß, denn dort hinab lenkte die Landstraße. Wieder wurde in Franz das Bewußtsein des täglich um sein Leben kämpfenden Artikelschreibers wach; er gedachte der mühseligen Beamtenarbeit seines Vaters, und in seinem Dichtergemüt setzte sich ein Verslein zusammen, das klang ungefähr so:

»Sie jagen und ernten in Wald und Flur,
Sie zechen und sie prassen:
Wir beide aber, wir kommen nur,
Um uns begraben zu lassen ...«

und das freute ihn. Fast wie ein Triumph durchfuhr ihn das Gefühl, nicht wie »sie« zu sein. Und obendrein empfand er mit Behagen, daß ihm der Vers noch immer aus der Seele floß. Lange hatte er's nicht mehr erproben können, in hunderterlei nichtigen Zeitungsquasseleien – einst freilich ... ah bah! Dummes Zeug! Er drückte den struppigen Cylinder, der etwas lose geworden, tief in die Stirn – obwohl sie ihm glühte wie im Fieber. Und weiter ging es, Schritt für Schritt dahinschleichend: immer hinter dem toten Vater drein.

Heißer und heißer brannte die Sonne nieder: es ging gegen Mittag. Jetzt wurde ein Dorf erreicht. Da horch! was war das? Orgelklang? und das Surren vieler betender Stimmen ... Die Prozession kam entgegen: braune Bauerndirnen in weißen Kleidern und Kränzlein im starkgeölten Haar, Ministranten mit bunter Fahne – und auch hier die Straße festlich mit Gras und Blumen bestreut! Unwillkürlich einen Fluch hervorstoßend riß der Bauer, der die Zügel des Leichenwagens führte, seine Gäule herum, daß sie seitwärts längs der Kirchhofsmauer hinunterstolperten, dem lebhaft daherwogenden Zuge ausweichend – der Kutscher mit dem Einspänner folgte; und wie sie in weitem Bogen ohne eigentlichen Weg die Straße wiedergewannen, war alles schon vorüber ...

Eine halbe Stunde später hatten die beiden Fuhrwerke die ersten vorgeschobenen Häuser des Marktfleckens Thüngen erreicht. Und da stand auch schon Vetter Max in elegantestem Trauerhabit mit tadellosem Cylinder und Glacees am Wege: hinter ihm in einiger Entfernung nahten Geistliche in vollem Ornat. Franz hatte den glücklichen Fideikommisverwalter nur einmal gesehen, fünfzehn Jahre vorher, als der reiche Vetter, in die Welt tretend, seinen ersten und letzten kurzen Anstandsbesuch in der bescheidenen Beamtenwohnung machte. Aber er erkannte ihn sogleich wieder. Der Ausdruck dieser vornehm-phlegmatischen Züge hatte sich nicht sonderlich verändert.

Die Wagen hielten, Franz sprang ab, und Max schüttelte ihm herantretend mit graziöser Bewegung und kurzem, etwas geschäftsmäßigem Gruße die Hand. Hierauf stellte er dem Vetter ebenso förmlich die inzwischen herangekommenen geistlichen Herren vor, welche sich mit einer Miene verbeugten, als hatten sie irgend einen großmächtigen Potentaten, nicht aber einen armen Artikelschreiber vor sich. Franz war es, als hätte er das Gedächtnis verloren, das Gedächtnis von Allem was früher war – als erwache er aus einem tiefen Traum und dies hier sei sein eigentliches Leben, in dem er heimisch sei ... es war ganz sonderbar. Hochaufgerichtet stand er, den abgenommenen Cylinder noch immer in der Hand, wie triumphierend in seinen von der Mutter geerbten dunkelbraunen Locken, als der reichstgeschmückte Geistliche rauchfaßschwingend die Leiche einsegnete. Die hatte er nun fast vergessen. Er fühlte nur, daß auch er etwas in der Welt wäre und bedeute. Und als die Ceremonie zu Ende war, ging er, seine geflickten Handschuhe fester ziehend, stolzerhobenen Hauptes neben dem aristokratisch nachlässig einherwandelnden Verwandten hinter dem Sarge, in beinahe auffälligem Paradeschritt.

Alle Glocken hatten in dem Flecken zu läuten begonnen, und eine Schar männlicher und weiblicher Einwohner schloß sich mit lautem Festgetöse dem Zuge an, unaufhörlich sich vergrößernd: galt es doch, einem Familienglied der uralten, gnädigsten Schutzherrschaft in den Himmel zu helfen. Franzens verengte Brust dehnte und weitete sich: eine wunderbare Sicherheit und Siegesgewißheit durchdrang ihn, wie einst in den Tagen seiner rosigsten Zukunftsträume – wie ein einziehender Triumphator schritt er über die auch hier in der Eile noch liegen gelassene Feldblumenstreu, während Baron Max wegen dieses unverzeihlichen Fauxpas zwischen den Gebeten hindurch halblaut auf seine Untergebenen einwetterte. Und fort gings, geradewegs zu den offenen Thoren einer Kapelle, wo schon die nötige Anzahl Diener wartete. Den Sarg hurtig übernehmend, ließen sie ihn vor dem Altar niedergleiten und behängten ihn mit dem bereitgehaltenen großen Wappenschild der Familie.

Max, sichtlich erleichtert, zog Franzen eilig mit sich in das gleich nebenan mit dunkelgrauen Mauern sich erhebende Schloß. »Du mußt entschuldigen,« sagte er, »daß ich nicht ganz speziell mich dir widmen kann; morgen vielleicht – heute habe ich noch fünf Gäste – Einquartierung von einer Artillerieübung ... sie werden zu Tische da sein. Die Sache kam eben zu rasch ...« Die beiden Männer waren in eine hohe gewölbartige Halle getreten und stiegen eine breite, teppichprunkende Wendeltreppe hinan. Links und rechts hingen langgestreckte Bilder an den getünchten Wänden: steife Hofherren in überladener Tracht hinabgeschwundener Jahrhunderte und mit vornehm schläfrigen, halbgeschlossenen Augen. »Hier ist dein Urgroßvater,« erklärte Max im Vorbeieilen, auf einen stattlichen Kavalier in der Tracht der Napoleonszeit zeigend – »und das dort ist dein Ururgroßvater.« Franz wandelte wie im Traum. Jetzt betraten die Vettern einen hallenden Korridor und Max schloß ein mit altertümlichem Luxus vollgepfropftes Zimmer auf, das von dem eigentümlichen Geruch lange leerstehender Wohnräume durchduftet war. »Hier habe ich dich einquartiert!« sagte er, »verzeih nur, daß es nicht besser ist – die größeren mußte ich schon an die Offiziere abgeben, eh' ich wußte, daß du kommst. Hier ist Wasser und alles Nötige –« Er zeigte auf einen verschwenderisch ausgestatteten Waschtisch aus der Zopfzeit. »Du entschuldigst mich ein paar Augenblicke, nicht wahr? In einer halben Stunde darf ich dich wohl bitten, nach dem Speisesaal zu kommen« ...

Eine halbe Stunde später, und Franz, welcher sich so elegant wie möglich gemacht hatte, fand sich in dem von schwerer Pracht glänzenden Speisesaal ein. Max stellte ihm erst im Nebensalon seine junge Frau vor, eine fürstliche Erscheinung in rauschendem Seidenkleid, und seine drei Kinder, einen lebhaften Knaben und zwei reizende, blondgelockte Töchterchen; ferner eine auf Besuch auf dem Schlosse weilende Gräfin. Hierauf erschienen, einer nach dem anderen, mit einer gewissen ehrfurchtsvollen Beklommenheit in Miene, Bewegung und Sprache, die militärischen Gäste: ein Artilleriemajor und einige Leutnants. Als auch hier die Vorstellung beendet und ein paar passende Worte gewechselt waren, nicht ohne Beihilfe der zu diesem Zweck auf dem Tisch ausgebreiteten Photographien italienischer Landschaften, bat die Schloßherrin zu Tische und schwebte auf dem spiegelglatten Parquet robenrauschend voran, wobei Franz seltsamer Weise wieder an das Kornrauschen von heute Morgen denken mußte – an der Thüre wartend, wollte er den Offizieren den Vortritt lassen. Aber diese, ihn mit gleicher Ehrfurcht wie die Schloßherrschaft selbst respektierend, verbaten sich mit tiefen, abwehrenden Knixen diese ungebührende Ehre.

Als Franz nach dem allgemeinen, stumm-flüchtigen Tischgebet, welches er gänzlich gedankenlos mitmachte, sich an die Seite seiner schönen Frau Base niederließ, fühlte er etwas wie einen starken Schwindel – der Cylinder hatte ihn wohl zu lange gedrückt? Es war aber gleich wieder vorbei. Nur das Eine blieb merkwürdig: wohin war doch seine ganze Leichenstimmung versunken? Fühlte er sich nicht zufriedener, glücklicher als jemals? Zwei gallonierte Diener schlüpften lautlos herein, und servierten mit graziösem Armeschwenken alle Herrlichkeiten der Welt: immer wieder etwas Neues und Besseres. Franz aß viel und trank noch mehr, von Vetter Max in beidem bestärkt, der mit einer Art leisen Mitleids in den schlaffen Zügen ihn fortwährend nötigte. Nebenher wurde er und sein Gegenüber, der Major, von der reizenden Schloßherrin in ein geistreiches Gespräch über Richard Wagner verwickelt, welches sie mit einer Fülle französischer Brocken durchmengte. Wagner – Franzens Lieblings-Komponist! Das Herz ging ihm auf, er sprach von großen Künstlern überhaupt, schließlich von dem Gewaltigsten aller Gewaltigen, von Shakespeare, und machte seinem Enthusiasmus mit so überlauter Fröhlichkeit Luft, als wäre er zu einer Hochzeit gekommen. Vetter Max schaute ihn jetzt öfters verwundert an, ohne den gleichgiltigen Gesamtausdruck seines Gesichtes zu verlieren. Zum Schlusse des Diners erschien französischer Sekt in mächtiger Quantität, und nun erreichte die allgemeine Lustigkeit ihren Höhepunkt: auch den verschüchterten Leutnants war plötzlich die Zunge gelöst. Franz, der auch dem Sekt sehr stark zugesprochen, schwamm selbstvergessen in dieser Vollflut schwelgender Lebensfreude. Jetzt machte der Major, der ein bischen über die Schnur gehauen, im Eifer des Gesprächs eine Bewegung, als wolle er der Frau Baronin scherzend auf die Hand schlagen: da wußte diese, daß es Zeit sei, die Tafel aufzuheben. Ein rasselnder Ruck aller Stühle – gegenseitige, großenteils unsichere Knixe, schüchtern noch nachklingendes Gelächter ... und man trennte sich.

Vetter Max, allein vollkommen ruhig und geschäftsmäßig geblieben, zog seine Uhr. »Bald vier,« sagte er kurz. »In einer Viertelstunde müssen wir in die Kirche hinüber, zum Totenamt.«

Franz fuhr zusammen. Zum Totenamt! Ach ja.

»Willst du erst noch den Park ein wenig ansehen?« frug der Vetter.

»Ja – bitte! Gehen wir noch in den Park.« Und er folgte schwankenden Schrittes, wieder an den steifen, sonderbaren Bildern vorbei, die wie vorwurfsvoll nach ihm schauten. Franz erwiderte ihre zürnende Blicke. »Was wollt ihr?« dachte er: »ihr seid tot – und ich lebe!« und das dachte er so laut, daß Max sich wandte, ihn ansah und den Kopf schüttelte. Aber Franz merkte nichts. »Ich lebe, ich, der Freiherr von Thüngen!« klang es und sang es in ihm: »ich lebe, lebe und trinke Sekt, Sekt, Sekt!«

Sie waren im Hofe angelangt. Max öffnete ein verschnörkeltes Gitterthor, und sie schritten über einen wohlgepflegten Rasenplatz an den Schloßteich. Kugelig dichte Kastanien und Lindenbäume hingen da ihre blätterdichten Zweige über die tiefgrüne, reglose Flut, welche mit großen, weißen, eben aufgeblühten Seerosen dicht bedeckt war: mit der Wappenblume Derer von Thüngen.

»O, wie schön!« rief Franz, innehaltend und in die schmachtend geöffneten Kelche mit den duftig goldenen Blütengriffeln starrend ... »wie schön!«

Max sah ihn eine Weile von der Seite an, dann suchte er ein Gespräch zu beginnen, über andere Vettern, die ihn regelmäßig besuchten, über dies und das. Aber Franz ließ ihn reden, hörte kaum zu und schaute nur immer in die Kelche der Seerosen. Bis ihn endlich Max mit abermaligem Kopfschütteln unterm Arme faßte und in halb ärgerlichem Tone rief: »Es ist Zeit, Franz – wir müssen in die Kirche.« Da sah Franz auf, nickte und folgte ihm. Eine fahle Blässe hatte sein Antlitz bedeckt.

In der Kapelle brannten die umflorten Kerzen am Altar und um den Sarg. Als die beiden eintraten, hatte das Amt schon begonnen. Max wies den Vetter in die erste Bank, dem Sarge zunächst, und kniete sich neben ihn. Der Geistliche vorne betete, halbflüsternd, auf lateinisch: »O Gott, erbarme dich deines Knechtes Friedrich –« so nämlich hatte Franzens Vater geheißen. In den Ohren des Sohnes tönte der »Knecht« nach ... mit diesem einen Worte, mit dem gleichzeitigen Eindruck der schwarzen, dumpfen Totenkapelle und des wie Höllenglut an den Wänden hinflackernden Kerzenscheins waren sie plötzlich wieder da, die Gedanken der verflossenen Nacht. »Seines armen Knechtes« ... ja! Knechte, Knechte alle Menschen – Knechte des herz- und sinnlosen, grausamen Molochs Natur, der sie wieder hinabschlang in den Rachen der Vernichtung, sobald er sattsam mit ihnen gespielt hatte. –

In einem letzten, instinktiven Selbsterhaltungstrieb richtete Franz sich auf ... Menschen!! lebenden Menschen wenn er ins Antlitz sah, Menschen wie er selbst, keinen Toten – dann mußte sie doch schwinden, diese furchtbare Empfindung, Und sein Blick flog ringsum durch die Reihen der Betenden, Aber was war das? Waren das Menschen – oder waren es Tiere?? Diese Ohren – dieser gierige Mund – diese häßlich schnuppernden Nasen ... nein! und die Ohren namentlich – solche Ohren konnte doch unmöglich ein Mensch haben! Pfui! o pfui! das waren ja Tiere, sie alle – Tiere, die sich in Kleidern zu verbergen suchten ...

Er war aufgesprungen, wie in Fieberglut, und wollte nach dem Ausgang stürzen. Eine kräftige Hand legte sich auf seine Schulter und hielt ihn fest. Er zuckte zusammen, fuhr herum und starrte in das erregte Gesicht seines Vetters.

»Laß mich los!« schrie Franz: »ein Freiherr willst du sein?? Ein Tier bist du, weiter nichts ... schau nur deine Ohren an!«

*

Er war »übergeschnappt«.