Claire von Glümer
Gesühnt
Claire von Glümer

Claire von Glümer

Gesühnt

Novelle

Der Kurierzug war angekommen; Omnibusse standen bereit, die Aussteigenden nach den Gasthöfen der kleinen Hafenstadt zu bringen; aber es war erst Mitte Mai, der Zuzug nach dem nahegelegenen, vielbesuchten Ostseebade hatte noch nicht begonnen und beinahe leer rasselten die Wagen nach der Stadt zurück.

In einem derselben, der die Aufschrift »Zum goldenen Anker« trug, saßen nur zwei Damen in Trauer. Die ältere, eine zarte Gestalt mit feinem, blassem Gesicht, lehnte sichtlich erschöpft zwischen Plaidbündeln und Reisetaschen, während die jüngere, ein schönes, blondes Mädchen, bald rechts, bald links aus dem Fenster sah. Endlich wendete sie sich zu ihrer Gefährtin und sagte:

»Mütterchen, sieh nur, wie hübsch es hier ist – wie still und freundlich: so recht zum Gesundwerden. Ganz heimisch mußt du dich hier fühlen.«

Die blasse Frau fuhr auf.

»Heimisch fühlen!« wiederholte sie, und in die mattblauen Augen kam ein Ausdruck der Angst; »was willst du damit sagen?«

»Mein armes Mütterchen, wie nervös du noch immer bist!« antwortete das junge Mädchen, indem sie sich vorbeugte und die Hand der Mutter liebkosend zwischen ihre beiden Hände nahm. »Ich meinte nur, die breiten Straßen mit den kleinen, weißen Häusern, vor denen hin und wieder Bäume stehen, müßten dich an unsere Wohnung in Hoboken erinnern.«

»Ja, es ist möglich ... du kannst recht haben, liebe Käthe,« sagte die Mutter und warf einen zerstreuten Blick aus dem Wagenfenster; dann zog sie den Schleier herunter und sank mit einem Seufzer in ihre frühere Stellung zurück.

Die Tochter sah sie bekümmert an; aber jetzt bog der Wagen um die Straßenecke auf einen Platz, der, an drei Seiten von Häusern umschlossen, an der vierten vom Hafen begrenzt war. Ein Gewirr von Masten zeichnete sich auf dem Goldgrunde des Abendhimmels ab.

Käthe brach in einen Freudenruf aus: »Das Meer! dort drüben ist das Meer!« sagte sie. »Wie lange haben wir es entbehren müssen! ... Sieh, dort kommen Fischerboote nach Haus ... und das Schiff da drüben macht sich bereit, in See zu stechen – hörst du, wie die Matrosen singen? – Und hier steht ein ganzer Trupp Teerjacken beisammen. Mütterchen, wie glücklich bin ich, dich hier zu haben und dem düstern Berlin entronnen zu sein!«

Der Wagen hielt vor einem alten Hause, durch dessen Einfahrt ein winkliger, nicht allzu saubrer Hof sichtbar wurde. Ein Kellner stürzte herbei, den Damen beim Aussteigen zu helfen.

»Die für Mrs. Brown bestellten Zimmer,« sagte das junge Mädchen, bot der Mutter den Arm und führte sie sorgsam die schmale, knarrende Holztreppe hinauf und über einen Gang, an dessen Ende der Kellner ein Zimmer mit altmodisch dürftiger Einrichtung öffnete. Dumpfige Luft schlug den Eintretenden entgegen.

»Liebe Mutter, hier kannst du nicht wohnen!« rief Käthe, und zu dem Kellner gewendet, fügte sie vorwurfsvoll hinzu: »Ich habe gute Zimmer bestellt!«

»Zu dienen, es sind unsere besten,« gab er in gereiztem Tone zur Antwort. »Gnädige Frau wollen sich gefälligst überzeugen: Mittelsalon, Schlafzimmer rechts und links, ausgezeichnete Betten, Federmatratzen ...«

»Schon gut, lassen Sie das Gepäck heraufbringen,« fiel die ältere Dame ein, und während sich der Kellner mit unmutigem Serviettenschwenken entfernte, sank sie in die Sofaecke, zog fröstelnd ihr Tuch um die Schultern und sah mit starren Augen wie ratlos umher.

Die Tochter, die inzwischen beide Fenster geöffnet und den Platz, auf den sie hinausgingen, mit raschem Blick überflogen hatte, trat an ihre Seite.

»Du fühlst dich hier unbehaglich, liebe Mutter,« sagte sie; »es soll nicht lange dauern; morgen quartieren wir uns um. Dort drüben steht ein neues, stattliches Hotel ... wie bist du nur dazu gekommen, dies elende Wirtshaus zu wählen? – ›Zum goldenen Anker‹ – es klingt gleich nach dem, was es ist.«

»Zu meiner Zeit war es das beste,« gab die Mutter zerstreut zur Antwort.

»Zu deiner Zeit!« wiederholte das junge Mädchen. »Du bist schon hier gewesen? – warum hast du mir das nie gesagt?«

»Liebe Käthe, quäle mich nicht mit Fragen,« fiel die Mutter ungeduldig ein. »Laß Tee bringen und packe das Nötige aus, so daß ich mich gleich zurückziehen kann.«

Käthe gehorchte. Nach kurzer Zeit war der Teetisch serviert; die Mutter rührte die Speisen kaum an. Bald saß sie in sich zusammengesunken, wie in Gedanken verloren; bald sah sie mit unruhigen Blicken umher, und die Hände griffen nach diesem und jenem. Plötzlich stand sie auf.

»Ich möchte mich niederlegen,« sagte sie; »aber was fange ich mit dir an? Hast du etwas zu lesen?«

»Sorge dich nicht um mich, ich werde schreiben,« antwortete das junge Mädchen. »Martins haben gebeten, ihnen gleich Nachricht zu geben, wie du die Reise überstanden hast.«

Die Mutter zog die Brauen zusammen.

»Liebe Käthe,« sagte sie, »ich habe natürlich nichts dagegen, daß du den Wunsch der guten Leute erfüllst, aber zu einer fortgesetzten Korrespondenz zwischen euch möchte ich es nicht kommen sehen. Die Frau eines Subalternbeamten, die möblierte Zimmer vermietet, ist kein Verkehr für dich.«

Käthe sah die Mutter mit großen, erstaunten Augen an.

»Ich bin der Frau so sehr, sehr viel Dank schuldig,« sagte sie. »Was hätte ich in dem wildfremden Berlin ohne ihre Hilfe angefangen? Wie manche Nacht hat sie an deinem Bette mit mir gewacht, wie unermüdlich für uns beide gesorgt ...«

»Ja, ja, das alles weiß ich,« fiel die Mutter ein; »ich habe mich auch nach Kräften dankbar bewiesen ... du magst hin und wieder schreiben, wenn es dir Bedürfnis ist ... was ich wünsche, ist nur ... wir sind nun einmal nicht mehr in Amerika, wo Schuster und Schneider zu den höchsten Staatsämtern gelangen können. Die verschiedenen Rangklassen sind hierzulande scharf abgegrenzt.«

»Aber warum sollen wir uns danach richten?« rief Käthe, indem sie mit einer ihr eigenen stolzen Bewegung den Kopf erhob. »Wir gehören ja doch in keine dieser Rangklassen hinein.«

Die Mutter wechselte die Farbe.

»Was willst du damit sagen?« fragte sie gereizt. »Wozu sind wir denn herübergekommen? – Glaubst du etwa, daß wir deines Vaters Wunsch und Absicht erfüllen, wenn wir uns damit begnügen, auf deutschem Boden zu stehen? – Unsern Verwandten haben wir uns anzuschließen, haben Rücksicht zu nehmen auf ihre Position ...«

»Mütterchen, Mütterchen, rege dich nicht so auf!« bat die Tochter. »Du machst dich wieder krank. Ich habe dich nicht erzürnen wollen und werde gewiß alles tun ...«

»Nun, so fange damit an, in deinen Freundschaften exklusiver zu sein,« fiel ihr die Mutter ins Wort, indem sie dem Schlafzimmer zuging. »Gute Nacht!« fügte sie, über die Schwelle tretend, in milderem Tone hinzu, wies Käthe, die ihr folgen wollte, mit einer Handbewegung zurück, schloß die Tür und schob den Riegel vor.

Bestürzt blieb Käthe einen Augenblick stehen. Nie war die Mutter so heftig und ungerecht gewesen. Auf Verwandte sollte Käthe Rücksicht nehmen, von deren Dasein und Lebensstellung sie nie gehört hatte, und exklusiver in ihren Freundschaften sollte sie sein! Wußte denn die Mutter nicht, daß sie von Kindheit an nur einen Freund und Vertrauten gehabt hatte, den Vater, der vor acht Monaten gestorben war?

Sie setzte sich an das offene Fenster und sah in den verglimmenden Abendschein hinaus. Die Herzenseinsamkeit, in der sie des Vaters Tod zurückgelassen hatte, kam ihr zum Bewußtsein, wie lange nicht, denn in der Sorge um die kranke Mutter hatte sie seit Wochen und Monaten sich selbst vergessen. Nun drangen Sehnsucht und Erinnerung um so mächtiger auf sie ein. Sie sah des Vaters edle Züge wieder, das gütige, vertrauenerweckende Lächeln, die geistsprühenden Augen. Sie rief sich zurück, wie er sie, solange sie denken konnte, geistig und körperlich behütet hatte, wie er sie mehr und mehr an seinem inneren Leben teilnehmen ließ und sie endlich seinen »guten Kameraden« zu nennen pflegte.

Sie hatte sich Mühe gegeben, den Namen zu verdienen, indem sie sich nach Kräften in seine Interessen und Arbeiten einlebte. Tagelang begleitete sie ihn zu Fuß, zu Wagen oder zu Pferde, wenn er den ärmeren Teil seiner Kranken besuchte, oder ging in seinem Auftrage Trost und Hilfe zu bringen, sorgte für seine Bequemlichkeit im Hause, las mit ihm und half ihm seinen Blumengarten pflegen. Die Mutter kränkelte seit Jahren. »Sie hat Heimweh, die Ärmste,« hatte der Vater geantwortet, als ihn Käthe eines Tages nach dem Grunde ihrer Leiden gefragt. »Sag nicht, daß wir es wissen,« hatte er hinzugefügt, »es ist besser, daß sie sich uns gegenüber zu beherrschen sucht.« – Ob er nicht ahnte, daß sie sich bei diesem Verschweigen und Vertuschen mehr und mehr voneinander verlieren mußten? – Käthe hatte die Empfindung dafür, noch ehe sie es mit dem Verstande begriff, und fühlte sich dadurch um so mehr getrieben, dem Vater alles zuzutragen, was sie bewegte und beschäftigte: jede Empfindung, jeden Gedanken, jedes kleine Erlebnis.

Auch von der einen Begegnung, die trotz ihrer Flüchtigkeit so tiefen Eindruck auf sie gemacht, hatte sie ihm erzählt, leider nur schriftlich, und was er darüber dachte, hatte sie nicht mehr erfahren. O, daß sie von ihm gegangen war, zum erstenmal im Leben! Aber er selbst hatte es so gewollt, vielleicht in Voraussicht dessen, was geschah.

Ein Bekannter, der mehrere Meilen landeinwärts eine Farm besaß, war gekommen, hatte Käthe, wie schon oft, aufgefordert, seine Frau und Tochter zu besuchen, und zu ihrer Überraschung hatte diesmal der Vater die Einladung für sie angenommen.

Sie wäre lieber zu Haus geblieben, aber der Vater bestand auf seinem Willen. »Eine Luftveränderung wird dir gut tun,« sagte er; »wenn ich irgend kann, hole ich dich in ein paar Wochen wieder ab.« So mußte sie denn gehorchen, gab sich Mühe, zu verbergen, wie schwer es ihr fiel, und bis der Augenblick des Abschieds kam, gelang es ihr. Nun aber war es mit ihrer Selbstbeherrschung zu Ende. In Tränen ausbrechend, wollte sie dem Vater um den Hals fallen; er schob sie jedoch sanft zurück, drückte ihr die Hand, sagte lächelnd: »Sei tapfer, mein braver Kamerad!« und hob sie in den Wagen. Noch einmal nickte er ihr zu; noch einmal sah sie in die leuchtenden, blauen Augen, aus denen plötzlich aller Glanz verschwand. Die Pferde zogen an. »Leb wohl, Kind!« rief er ihr nach; das war der letzte Gruß, den sie von der geliebten Stimme hören sollte.

Aber ahnungslos fuhr sie an der Seite ihres Gastfreundes dahin. Schon in der Unterhaltung mit ihm verklang die Wehmut des Abschieds, und dann kam sie in ein heiteres, kinderreiches Haus, wurde von alt und jung herzlich aufgenommen und lernte zum erstenmal die Schönheit des Landlebens kennen.

Einige Tage waren so vergangen, da klang Jubel durch das Haus. Der älteste Sohn war von seiner europäischen Tour zurückgekommen. Er brachte einen jungen Deutschen mit, den er während der Überfahrt kennen gelernt hatte; » The most glorious fellow«, wie er behauptete, und Käthe gab ihm recht. Sie fand etwas von ihrem Vater in dem hochgewachsenen, blonden Deutschen, mit dem ernsten, stolzen Munde und den hellen Kinderaugen.

Nur wenige Tage waren sie zusammen, dann mußte er fort nach Chicago, wohin ihn wichtige Geschäfte riefen. Sobald sie geordnet waren, wollte er wiederkommen. »Darf ich hoffen, Sie dann noch hier zu finden, Miß Brown?« fragte er beim Abschiednehmen. »Und wenn nicht, darf ich Sie dann in Ihrem elterlichen Hause aufsuchen?« – Sie hatte ohne Besinnen ja gesagt; erst als er fort war, fiel es ihr schwer aufs Herz, daß ihr Vater soviel als möglich jede Berührung mit seinen Landsleuten vermied. Nach dem Grunde zu fragen, hatte sie nie gewagt, aber sie wußte – woher hätte sie nie zu sagen vermocht; wahrscheinlich hatte sie es in frühester Kinderzeit aus unbewachten Äußerungen der Eltern erfahren – sie wußte, daß ihr Vater, wie so viele andere, im Jahre 1848 aus Deutschland geflüchtet und daß ihm die Mutter gegen den Willen der Ihrigen gefolgt war. Von der Vergangenheit hatten beide nie mit Käthe gesprochen; aber alle Märchen, welche die Mutter erzählte, spielten in Deutschland, und des Vaters liebste Erholung, als die Tochter heranwuchs, war, deutsche Bücher mit ihr zu lesen, ihr die Schönheit der Muttersprache – die reichste, seelenvollste, kräftigste Sprache der Welt nannte er sie – zum Verständnis zu bringen, und immer waren die Nachrichten aus Deutschland das erste, das er in jeder Zeitung las. So war eine Art Erbheimweh auf die Tochter übergegangen – ein Gefühl, das zwar nicht stark genug war, ihr die Sonne des fremden Landes zu verdunkeln, das aber doch ein festes Einwurzeln im fremden Boden verhinderte und den Träumen und Wünschen der jungen Seele die Richtung gab.

So glaubte sie denn anfangs auch, daß die Bewegung, die sie beim Anblick des jungen Deutschen gefühlt hatte und die mit jeder Stunde des Beisammenseins gewachsen war, nur dem fernen, gemeinsamen Vaterlande gelten könne, als dessen Verkörperung er ihr erschien, und mit zagendem Herzen fragte sie sich, ob der Vater auch ihm sein Haus verschließen würde?

Sie schrieb dem Vater ebenso rückhaltslos, wie sie mit ihm zu sprechen pflegte. Noch hatte sie keine Zeile von ihm erhalten – das Briefschreiben war ihm verhaßt –, aber nun mußte er antworten, oder er kam wohl selbst und holte sie heim. Sie hatte ihm gesagt, wie vereinsamt sie sich plötzlich unter den fremden Menschen fühle und wie sie danach verlange, wieder bei ihm zu sein.

Aber er kam nicht, schrieb auch nicht. Endlich wurde ihr ein Brief der Mutter gebracht, der nur die wenigen, mit zitternder Hand geschriebenen Zeilen enthielt:

»Dein Vater ist krank, und ich weiß mir nicht zu helfen. Er will nicht, daß du herkommst, solange er die Blattern hat, die hier fürchterlich wüten. Um dich davor zu bewahren, hat er dich fortgeschickt, und wenn ich mir vorstelle, daß auch du krank werden könntest, möchte ich verzweifeln. Dein Vater ist seit gestern bewußtlos; Dr. Harper zuckt die Achseln. Ich weiß nicht, was ich dir raten soll. Tue, was du für das beste hältst – krank werden darfst du aber nicht, also warte lieber auf den nächsten Brief deiner unglücklichen Mutter.«

Käthe konnte nicht warten! Vergebens suchten ihre Gastfreunde sie zurückzuhalten, sie bat so lange, bis der Hausherr anspannen ließ, und dann gab sie dem Kutscher, was sie an Geld besaß, damit er die Pferde schneller, immer schneller vorwärts trieb.

Es war umsonst! der Vater war tot, als sie ankam, und Mutter und Arzt ließen sie nicht über die Schwelle des Sterbezimmers. »Wenn du mich lieb hast, gehst du gleich mit mir fort,« bat die Mutter. »Dr. Harper wird hier alles besorgen – laß uns gehen. Du erfüllst damit den letzten Wunsch deines Vaters, der in seinen Fieberphantasien beständig wiederholte: ›Käthe soll nicht kommen – ich will es nicht!‹«

Käthe fügte sich. Nun sie den Vater entbehren mußte, war ihr alles andere gleichgültig. Sie zogen in ein Boardinghouse in Brooklyn, aber die Mutter hielt es dort nicht aus. Sehnsüchtiger als je verlangte sie nach der Heimat zurück. Auch der Verstorbene hatte in seinem Testamente die Übersiedelung nach Deutschland befürwortet; sobald die Vermögensverhältnisse geordnet waren, traten Mutter und Tochter die Reise an und waren Ende Oktober in Berlin.

»Ich glaube, daß du dich hier leichter einleben wirst als in einer kleinen Stadt,« sagte die Mutter; »um so mehr, da uns hier die besten Anknüpfungen geboten sind.« – Aber noch ehe sie ihre Empfehlungsbriefe abgeben konnten, wurde die Mutter krank, und so hatte Käthe von Berlin nichts kennen gelernt als einige Straßen und Plätze und die guten, freundlichen Menschen, die zufällig ihre Wirte geworden waren.

Das alles zog dem jungen Mädchen durch den Sinn, während sie in den verglimmenden Abendschein hinaussah, und dabei trat ihr, wie immer, wenn sie allein war, das Bild des blonden Deutschen, das sie über Meer und Land begleitet hatte, so lebendig vor Augen, als müßte sie die Hand nach ihm ausstrecken können und sagen: »Endlich, lieber Freund!« Überall, seitdem sie gelandet waren, hatte sie – den Einreden ihrer Vernunft zum Trotz – erwartet, ihm zu begegnen, und tat das auch hier in diesem abgelegenen Erdenwinkel. Es konnte ja nicht lügen, das mächtige Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sie bei seinem Anblick gehabt hatte; er mußte nach ihr suchen, wie sie nach ihm. Hätten nur ihre Namen besseren Anhalt gegeben: Käthe Brown, Friedrich Richter, das sagte so gut wie nichts. – Aber sie war jung und frischen Herzens, und voll des Glaubens, der Berge versetzt.

Auch die Mutter war, nachdem sie sich in ihrem Schlafzimmer eingeriegelt hatte, ans offene Fenster getreten. Bei der Ankunft hatte sie alles nur undeutlich wie durch einen Nebel gesehen; jetzt erkannte sie den kleinen Hafenplatz, an den sich für sie tausend Erinnerungen knüpften. Bis auf das Hotel gegenüber standen die alten Häuser noch genau so da wie vor langen, langen Jahren, als die Frau, die jetzt mit frühergrautem Haar und müden Augen hier oben am Fenster lehnte, noch die kleine Christine war, die so oft als möglich der beängstigenden Stille des Vaterhauses und der Aufsicht der grämlichen Wirtschafterin entschlüpfte, um sich den Spielen der Nachbarkinder anzuschließen.

Still, wie ausgestorben sah es noch immer aus, das stattliche, durch ein Quergäßchen vom Gasthofe getrennte Haus mit dem hohen, dem Hafenplatze zugekehrten Giebel, der geschlossenen Haustür und den tief herabfallenden, schneeweißen Vorhängen hinter den Spiegelscheiben. Ob die Menschen, die dort in den tiefen, düsteren Zimmern lebten, noch immer so ruhig nebeneinander hergingen? ihre Schmerzen und Leidenschaften noch immer so anstandsvoll verhüllten? – Lebten sie überhaupt noch, und würden sie der Langentfernten Herz und Haus wieder öffnen, wenn sie kam wie der verlorene Sohn im Evangelium? – Was hätte sie darum gegeben, ihnen jetzt gleich in die Augen sehen zu können und das Wort der Versöhnung von ihren Lippen zu hören!

Und warum sollte sie das nicht? Warum die Qual der Ungewißheit verlängern? Das beste war, augenblicklich zu tun, was getan werden mußte. Wenn es mißglückte, brauchte Käthe nichts davon zu wissen – aber vielleicht waren ihr Gott und Menschen gnädig und gaben ihr und ihrem Kinde die Heimat wieder.

Mit zitternden Händen griff sie nach Hut und Regenmantel, öffnete vorsichtig die nach dem Gange führende Tür und eilte die Hintertreppe hinunter, durch den menschenleeren Hof und das Quergäßchen in den Hof des Nachbarhauses hinüber.

Auch er war leer und still; nur der Hund schoß, mit wütendem Gebell an der Kette reißend, aus seiner Hütte, während sie, an der Hintertür des Hauses vorbei, an das nächste erleuchtete Fenster trat und hineinsah.

Es war noch das Kontor von ehemals, mit den drei Pulten, der alten Wanduhr, dem Ledersofa und dem Geldschranke. Aber vergeblich suchte sie nach den bekannten Gesichtern. Nur ein sehr alter Mann mit kahlem, eckigem Schädel saß über ein Kontobuch gebeugt. Jetzt hob er den Kopf; das fortgesetzte Bellen des Hundes mochte ihm auffallen. »Hellborn!« flüsterte die Lauschende und wendete sich hastig, um zu gehen; der Mut war ihr plötzlich gesunken.

Aber es war zu spät; der alte Mann trat aus dem Hause und war, noch ehe sie das Hoftor erreichen konnte, an ihrer Seite.

»Wünschen Sie etwas? – Suchen Sie jemand?« fragte er höflich.

Sie wendete sich um; einen Moment sah sie ihn mit tränenvollen Augen an, dann streckte sie ihm die Hand entgegen.

»Du kennst mich wohl nicht mehr, Onkel Hellborn?« flüsterte sie.

Auch er starrte sie an; eine jähe Röte flog über sein hageres, runzliges Gesicht.

»Stining! ist's denn menschenmöglich – unser Fräulein Stining!« rief er, ihre Hand fassend.

Sie schüttelte den Kopf.

»Eure Stining ja, aber nicht mehr euer Fräulein,« sagte sie; »ich heiße Mrs. Brown, bin Georgs Frau ... seine Witwe!« Bei diesen Worten brach sie in Tränen aus.

»Weinen Sie nicht so, weinen Sie nicht so!« bat der alte Mann. »Noch dazu hier auf dem Hofe ... wenn uns jemand sähe ... bitte, kommen Sie mit ins Kontor, da können wir ungestört miteinander sprechen.«

Ohne Widerstreben ließ sie sich von ihm führen. Immer noch weinend, setzte sie sich auf das Sofa; der Alte nahm auf seinem Schreibstuhl Platz und sah sie bekümmert an. Wie hatte sie sich verändert! und was konnte er sagen, um sie zu trösten? Ratlos drückte er die Hände zusammen. Endlich erhob sie den Kopf und trocknete die Augen.

»Sag mir, wie steht es hier im Hause,« fing sie an. »Wen finde ich noch von den Meinen? – Um Gottes Willen sag nicht, daß ich niemand finde!«

»Nein, nein!« antwortete der alte Mann. »Der Herr Konsul befinden sich wohl ... Sie sind, wie alle Abend, in den Klub gegangen.«

»Der Herr Konsul, ist das Bruder Anton?« fragte sie.

»Ei versteht sich, wer denn sonst! Seit zehn Jahren ... nein, es muß schon länger sein, seit zwölf oder dreizehn Jahren haben der Herr Anton das Konsulat für Südamerika.«

»Und meine Schwägerin?« fiel sie ihm ins Wort »Wie hat die arme Berta den Tod ihres Mannes ertragen? – Ach, Hellborn, wie schrecklich ist das alles! wie tritt es mir hier wieder nahe!« Sie brach aufs neue in Tränen aus. Der Alte rieb sich wie in Verlegenheit die Hände.

»Frau Berta,« sagte er nach einer Pause, »Frau Berta haben nach zwei Jahren oder so den Herrn Konsul geheiratet; Konsul sind sie damals aber noch nicht gewesen.«

Christine fuhr auf.

»Berta, meinen Bruder Anton geheiratet!« rief sie. »Aber er war ihr ja geradezu verhaßt!«

Der Alte sah sich ängstlich um.

»Davon weiß ich nichts ... geht unsereins auch nichts an,« sagte er abweisend. Sie beachtete das nicht.

»Wie, um des Himmels willen, ist denn diese Ehe geworden?« fragte sie; »können sich die beiden vertragen?«

»Ich habe nie was von Unfrieden gesehen,« antwortete Hellborn; »und als die Frau Konsul vor nun bald fünf Jahren gestorben sind, haben sich der Herr Konsul gar nicht zufrieden geben können.«

Christine wechselte die Farbe. »Berta tot!« flüsterte sie vor sich hin. Sie und die Schwägerin hatten sich nicht geliebt, aber es tat ihr doch weh, sie nicht wiederzufinden.

»Was ist aus den Kindern geworden?« fragte sie nach einer Pause.

»Die Töchter sind verheiratet, gut verheiratet,« gab Hellborn zur Antwort. »Die älteste in Hamburg, die zweite in Danzig und der junge Herr Friedrich sind hier im Geschäft – ein Prachtmensch, klug und schön, wie sein Herr Vater selig, und ebenso gut.«

Christinens Gesicht verdüsterte sich.

»Gut! Bruder Richard gut!« sagte sie bitter. »Gegen mich ist er das nie gewesen. Und schön? – Von der Mutter wird er die Schönheit haben; sie ist Braunecksches Erbgut. Auch meiner Tochter ist es zuteil geworden ... Aber ich muß fort,« fügte sie hinzu, indem sie aufstand. »Wenn Käthe meine Abwesenheit bemerkte ... Nur eins noch, Hellborn: wie denkt mein Bruder über mich? ist er versöhnlich gestimmt?«

Auch der alte Mann war aufgestanden.

»Ja, wer das zu sagen wüßte!« antwortete er mit traurigem Kopfschütteln. »Keiner hat jemals erraten können, wie der Herr Konsul denken, und gesprochen haben sie niemals von den alten bösen Geschichten ... nicht mit mir und nicht mit den Kindern. Die haben mich die erste Zeit schrecklich geplagt, daß ich ihnen sagen sollte, wo ihre Tante Stining geblieben wäre. Am meisten der Friedrich; der war ja schon zwischen fünf und sechs Jahre alt, als das Unglück passiert ist.«

Christine hatte ihm mit tränenvollen Augen zugehört; als er schwieg, faßte sie seine Hand.

»Du bist immer in diesem unglücklichen Hause der Freund der Kinder gewesen,« sagte sie. »Weißt du noch, wie auch ich in allen Bedrängnissen bei Onkel Hellborn Hilfe suchte? – Das tue ich jetzt wieder ... steh mir bei, ich bitte dich! ... sprich für mich mit meinem Bruder.«

»Ich!« rief der alte Mann mit dem Ausdruck des Schreckens. »Nein, Fräulein ... gnädige Frau wollt' ich sagen ... Sie werden das viel besser verstehen ... wissen viel besser die rechten Worte zu finden.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht eins, Hellborn, ich versichere dich,« unterbrach sie ihn. »Wenn ich mir vorstelle, wie mich die hellen, kalten, mitleidslosen Augen ansehen werden, erstirbt mir der Laut in der Kehle ... Lieber, bester, einziger Freund ... wirklich der einzige, den ich habe, du mußt nur zu Hilfe kommen.«

Er trocknete sich die Augen.

»Ja, was soll ich denn aber sagen?« fragte er mit gepreßter Stimme. »Damals, als das Unglück geschehen war, haben der Herr Konsul gedroht, mich auf der Stelle fortzuschicken, wenn ich mich unterstände, mit einer Menschenseele davon zu sprechen, oder wenn ich auch nur Ihren Namen oder den des Herrn von Brauneck über die Lippen brächte. Und nun sollt' ich mit dem Herrn Konsul selber ... Nein, nein! dazu hab' ich nicht das Herz ...«

»Du wirst es finden, mir zuliebe,« fiel sie dringend ein. »Besinne dich ..., du brauchst die alten, schrecklichen Erlebnisse nicht zu berühren. Sage meinem Bruder einfach, daß ich gekommen bin, alt und müde, um meine letzten Lebensjahre in der Heimat zuzubringen und meinem Kinde eine Familie zu geben. Sag ihm, daß ich Witwe bin, daß Georg als hochangesehener Arzt in Neuyork gelebt und gewirkt hat, daß ihm seine Tätigkeit, seine Güte, seine offene Hand, die Liebe aller erworben haben, mit denen er in Berührung gekommen, und daß er als ein Opfer seines Berufs gestorben ist ...«

In diesem Augenblicke klang ein schriller Glockenton durch die Stille des Hauses.

»Der Herr Konsul!« rief Hellborn. »Wenn Sie nun selbst mit ihm sprächen.«

Aber Christine stand schon an der Tür.

»Nein, nein, ich kann es nicht!« gab sie hastig zur Antwort. »Führe du meine Sache und bring mir Bescheid ... drüben im goldenen Anker, Mrs. Brown ...« Mit diesen Worten eilte sie hinaus.

Es war höchste Zeit; Hellborn, der ihr gefolgt war, hatte eben die Haustür hinter ihr geschlossen, als der Konsul, der den Eingang des Kontors erreicht hatte, mit scharfer Stimme fragte:

»Wer ging da fort?«

Hellborn kam langsam näher. Seine Knie zitterten; er rang vergebens nach Atem und blieb, nachdem er dem Konsul in das Kontor gefolgt war, an der Türe stehen.

»Nun, haben Sie meine Frage nicht gehört?« rief der Konsul, und sich umwendend, fügte er hinzu: »Wie sehen Sie denn aus? ... was gibt es denn?«

»Herr Konsul,« stammelte Hellborn, sich gewaltsam zusammennehmend. »Die Dame, die da eben fortging ... es war ... es waren des Herrn Konsuls Schwester!« und auf den nächsten Stuhl sinkend, trocknete sich der alte Mann den Angstschweiß von der Stirn.

Das blasse Gesicht des Konsuls wurde aschfarben und die hellen, kalten, vorquellenden Augen – Christine hatte sie mit Recht mitleidslose Augen genannt – schienen noch weiter aus dem Kopfe zu treten. »Ich habe keine Schwester!« sagte er hart, ging an sein Pult, nahm die dort liegenden, mit der Abendpost gekommenen Briefe zur Hand, sah die Adressen an und legte sie wieder hin.

»Was wollte die Person?« fragte er dann, ohne sich umzuwenden. »Eine Bettelei natürlich?«

»Das glaube ich nicht,« antwortete Hellborn.

Der Konsul drehte sich hastig um.

»Nun, was denn?« herrschte er den Alten an. »Nehmen Sie gefälligst Ihre Lebensgeister zusammen.«

»Erlauben der Herr Konsul,« bat Hellborn, »ich werde versuchen, mich genau auf das zu besinnen, was mir unser ... was mir die Dame aufgetragen hat. Ja, nun weiß ich's wieder ... ich sollte sagen, sie wäre gekommen, um ihre letzten Lebenstage in der Heimat zu beschließen und ihrer Tochter eine Familie zu geben ...«

Der Konsul lachte höhnisch auf.

»Nicht übel!« sagte er, »sich und ihre Brut hier in das warme behagliche Nest setzen ... und was weiter?«

»Ich sollte noch sagen,« fuhr Hellborn fort, »daß Herr Georg in Neuyork große Kundschaft als Arzt gefunden hat, und daß er in seinem Berufe gestorben ist ...«

»So! ist der Bursche tot!« sagte der Konsul mit leiser, tonloser Stimme, und ein boshaftes Lächeln zuckte um die schmalen, blassen Lippen; dann ging er, wie er zu tun pflegte, mit gebeugtem Kopfe und emporgezogenen Schultern, die Hände auf dem Rücken verschränkt, ein paarmal in dem langen, schmalen Zimmer auf und nieder. Plötzlich blieb er vor Hellborn stehen; der Alte, der mit auf die Knie gestemmten Händen, in Gedanken versunken, dasaß, fuhr in die Höhe.

»Was habt ihr weiter miteinander ausgemacht?« fragte der Prinzipal. »Wird die Person wiederkommen, mir vielleicht irgendwo auflauern? Daß Sie mir nicht zu solchen Dingen die Hand bieten, Hellborn, oder ...« Ein Blick vervollständigte die Drohung.

»Nein, Herr Konsul, gewiß nicht, es ist von dergleichen gar nicht die Rede gewesen,« antwortete der alte Mann noch verschüchterter als bisher. »Nur daß ich ihr Bescheid bringen sollte, hat sie gebeten; aber wenn der Herr Konsul nicht erlauben ...«

»Gewiß, Bescheid sollen Sie ihr bringen, und merken Sie auf, daß Sie ordentlich ausrichten, was ich Ihnen auftrage. Ich mache Sie dafür verantwortlich, wenn die Person mich weiter belästigt. Erfrecht sie sich noch einmal, mein Haus zu betreten, oder schreibt sie mir, oder sucht sie sich auf irgend eine andere Art an- und einzudrängen, so sind Sie auf der Stelle entlassen. Das sagen Sie ihr und sorgen Sie, daß die Person so bald als möglich von hier verschwindet.«

Hellborn war aufgestanden. »Herr Konsul,« begann er mit zitternder Stimme. Der Prinzipal ließ ihn nicht weitersprechen.

»Still, Hellborn; Sie haben nur anzuhören, was ich Ihnen auftrage ... Sie sagen der Person ... wo hat sie sich denn einquartiert?«

»Im goldenen Anker ...«

»Ich wußte es ja!« rief der Konsul. »Von dort aus kann sie mein Kommen und Gehen beobachten und wird mir nächstens in den Weg laufen. Aber das soll nicht sein, und ebensowenig gebe ich zu, daß sie, unter meinem Namen oder als Frau von Brauneck auftretend, die Zungen der Stadt in Bewegung setzt.«

»Sie nennt sich Mrs. Brown,« sagte Hellborn.

»So ... also hat sie's doch nicht gewagt!« murmelte der Konsul, indem er seine Wanderung wieder antrat. Hellborn sah ihm nach; das glattrasierte Gesicht mit den Fischaugen und dem zurückweichenden Kinn hatte wieder seinen gewöhnlichen Ausdruck frostiger Gleichgültigkeit und behielt ihn auch, als der Konsul abermals vor dem Alten stehen blieb.

»Merken Sie auf,« sagte er in scharfem Tone. »Sie werden Mrs. Brown erzählen, daß vor beinahe zweiundzwanzig Jahren der Mann, den meine Schwester abgöttisch liebte, sich eines Doppelverbrechens schuldig gemacht hat und geflüchtet ist. In Verzweiflung darüber hat sich das arme Mädchen den Tod gegeben. Ihr Hut ist am Ufer des damals hoch angeschwollenen Flüßchens, das unseren Garten begrenzt, gefunden worden, und ein Stück ihres Tuches hing an den Weiden am Ufer. Die ganze Stadt hat an dem Trauerfall teilgenommen, und wenn wir auch die Leiche nicht gefunden haben, weil sie von der heftigen Strömung ins Meer getragen ist, so steht doch der Name der Verunglückten auf der Gedenktafel unserer Familiengruft, und nur eine Betrügerin kann sich denselben anmaßen.«

Während dieser Auseinandersetzung hatte Hellborn den Prinzipal mit immer größer und ängstlicher werdenden Augen angesehen; als derselbe schwieg, sagte der alte Mann:

»Aber, Herr Konsul, das ist doch nur der Leute wegen so angestellt ... und ich habe doch aus Gothenburg den Brief bekommen und dem Herrn Konsul eingehändigt ... den Brief, in dem Fräulein Stining schrieben, daß sie mit Herrn Georg geflüchtet wären ... und daß ...«

»Unsinn!« fiel der Konsul ein, und seine Augen hefteten sich mit bösem Blick auf die des alten Mannes. »Ich weiß nichts von dem Briefe, will nichts davon wissen und rate Ihnen, reinen Mund zu halten, denn Sie haben nicht den mindesten Beweis für Ihre Behauptung. Machen Sie das Ihrer Fremden klar ... Gute Nacht!«

»Wünsche geruhsame Nacht!« antwortete Hellborn, indem er mit zitternder Hand nach der Türklinke griff; der Prinzipal rief ihn zurück.

»Sagten Sie nicht, daß die Fremde Georg Braunecks Witwe ist und daß sie ein Kind hat?« fragte er.

»Jawohl, Herr Konsul,« antwortete der Alte; »eine Tochter. Sie soll ein schönes Mädchen sein ... ihrem Vater ähnlich ...«

»Gut denn,« fiel ihm der Prinzipal ins Wort, »für dies Kind, die Bruderstochter meiner verstorbenen Frau, bin ich bereit, etwas zu tun. Aber nur unter der Bedingung, daß Mutter und Tochter sich verpflichten, unverzüglich nach Amerika zurückzukehren und sich nicht wieder hier sehen zu lassen, auch keinerlei Ansprüche mehr an mich oder meine Erben zu machen. Bieten Sie 3000 Taler, 5000 meinetwegen, aber sorgen Sie, daß die Sache schnell und in der Stille geordnet wird.«

Eine Handbewegung entließ den Alten, und wie im Traume stieg er die Treppe zu der Dachkammer hinauf, die er seit einigen vierzig Jahren hier im Hause bewohnte.

Am nächsten Morgen wurde Käthe gleich nach dem Frühstück von der Mutter aufgefordert, ins Freie zu gehen.

»Du sollst deine gute alte Gewohnheit wieder aufnehmen,« sagte sie; als Käthe zur Antwort gab, sie wolle damit warten, bis sich die Mutter in behaglicherer Umgebung befände, erklärte diese, sie fühle sich hier vollkommen wohl, und war über den sanften Widerspruch der Tochter so gereizt, daß sich das junge Mädchen augenblicklich zum Fortgehen rüstete.

»Bleib draußen, solange es dir gefällt, liebes Kind,« sagte die Mutter beim Abschied. »Du hast meinetwegen so lange im Käfig gesessen; nun sollst du wieder deine Freiheit haben wie sonst!«

Käthe vermochte sich eines Lächelns über die anbefohlene Freiheit nicht zu erwehren; aber als sie aus der dunkeln Einfahrt des Gasthauses in den Sonnenschein des frischen Maimorgens hinaustrat, gab sie der Mutter recht. Ja, sie hatte entbehrt und atmete auf wie lange nicht, während sie – ungewiß, wohin sie ihre Schritte lenken sollte – einen Augenblick stehen blieb. Gleichgültig streifte ihr Blick einen alten Mann, der aus dem Giebelhause zur Linken kam; er dagegen starrte sie an und riß, als er an ihr vorbeiging, um ins Haus zu treten, den Hut vom Kopfe. Sie dankte, freundlich-verwundert, wendete sich dann aber, ohne ihn weiter zu beachten, dem Hafen zu und ging raschen, elastischen Schrittes am Kai entlang.

Hellborn war stehen geblieben und sah ihr nach.

»Wie Frau Berta, als sie noch jung und glücklich war,« dachte er, und indem er, der Weisung des Kellners folgend, in die erste Etage hinaufstieg, fragte er sich selbst, ob es nicht möglich wäre, daß der Konsul durch die Ähnlichkeit des schönen Mädchens mit seiner verstorbenen Frau gerührt und bestimmt würde, sich mit der Schwester zu versöhnen. Jedenfalls wollte er sie auf diese Möglichkeit vertrösten. Sie ohne Trost und Hoffnung abzuweisen, brachte er nicht über das Herz. Vielleicht fanden sich Mittel und Wege, Onkel und Nichte zusammenzuführen. Er selbst konnte freilich, nach den gestrigen Drohungen des Prinzipals, nichts dazu tun; aber vielleicht wußte Stining, wie er sie noch immer nannte, einen Rat, oder ihre schöne Tochter, die mit so fröhlicher Zuversicht ins Leben zu sehen schien. Und nun stand er an der bezeichneten Tür und scheute sich zu klopfen: aber schon wurde sie von innen geöffnet.

»Endlich, Hellborn! was bringst du mir?« fragte eine blasse Frau mit grauem Haar, in welcher er noch schwerer als am Abend zuvor die Christine von ehemals wiederfand. »Nichts Gutes, wie ich sehe!« fügte sie schmerzlich hinzu, während er, ihren Blick vermeidend, über die Schwelle stolperte. Und dann drückte sie die Tür ins Schloß, und im Gange war nichts zu hören als leises Stimmengemurmel.

Als die Tür wieder geöffnet wurde, drückte Christine, die Hellborn das Geleit gab, das Taschentuch an die Augen. Der Alte blieb auf der Schwelle stehen.

»Weinen Sie nicht so ... o bitte, weinen Sie nicht so ... es kann ja noch alles gut, werden,« sagte er. »Sie ziehen nach Fischdorf, wo es viel schöner ist als in der Stadt, und wo Sie doch so nahe bleiben, daß Sie immer Bescheid haben können, wie es hier steht. Der Herr Konsul haben Zeit, den ersten Zorn und Schrecken zu verwinden, und vielleicht entschließen Sie sich, an unseren jungen Herrn zu schreiben. Wenn irgend jemand den Herrn Konsul herumkriegen kann, so ist's der Herr Friedrich ...«

»Laß es gut sein, lieber Hellborn,« fiel sie ihm ins Wort, indem sie sich die Augen trocknete. »Du willst mich trösten, aber im Grunde weißt du, daß alles umsonst ist. Oder hast du auch ein einziges Mal erlebt, daß mein Bruder eine Meinung geändert, einen Befehl zurückgenommen hätte?«

Hellborn nahm seufzend den Hut aus einer Hand in die andere und sah vor sich nieder.

»Siehst du wohl, du kannst mir nicht widersprechen,« fuhr sie in steigender Erregung fort, »Das einzig Richtige wäre, ich machte mich auf und ginge, so weit mich meine Füße tragen wollten ... Aber wie soll ich das meiner Käthe erklären? und wo sollen wir heimisch werden, nachdem Georg von uns gegangen ist, wenn nicht hier?... Was meinst du ... wenn ich nun ohne weiteres mit meinem Kinde hinüberginge?«

»Um Gottes willen nicht!« rief der alte Mann. »Sie hätten ja auch im letzten Augenblick nicht die Courage dazu ... und was sollte denn aus mir werden? – Nein, gehen Sie nach Fischdorf ... bitte, tun Sie das!«

»Du hast recht, ich muß auch an dich denken,« sagte sie mit bittrem Lächeln. »Ich gehe also nach Fischdorf; wenn du nicht zu viel dabei wagst, kommst du wohl mal heraus ... auf der Post kannst du meine Wohnung erfragen. Leb wohl und verzeih, daß ich dich belästigt habe.«

Sie wollte ins Zimmer zurücktreten, er faßte ihre Hand.

»Nein, nein, sprechen Sie nicht so, als ob Sie mich nicht mehr für Ihren alten, treuen Hellborn hielten,« bat er mit zitternder Stimme. »Es ist mir leid genug, daß ich so wenig tun kann ... Wenn Sie doch mal an Herrn Friedrich schreiben wollten ...«

»Um noch einen zu erschrecken, der sich vor Anton fürchtet!« fiel sie ihm ins Wort. »Laß nur, ich werde mich schon in die Dinge finden ...«

Auf der Treppe wurden Schritte hörbar. Sie nickte dem Alten noch einmal zu, schloß die Tür und er ging langsam, mit trauriger Miene fort. Sie war ungerecht; er hätte ihr ja gern beigestanden, aber was konnte er tun? und was konnte überhaupt aus der ganzen unglücklichen Geschichte werden? – Wenn sie sich doch entschließen wollte, dem jungen Herrn zu schreiben. Der war ebenso gut als klug, und was das Fürchten anbetraf – Hellborn lächelte trotz aller Betrübnis, als er sich das vorzustellen suchte – nein, sich fürchten konnte Herr Friedrich nicht; hatte das schon als Kind nicht getan; hatte aller Welt, auch dem finsteren Stiefvater, mit lachendem Freimut ins Gesicht gesehen. Und jetzt, nun er selbst ein Mann war, hatte der Konsul mehr Respekt vor ihm, als vor jedem anderen, und wenn ihn seine Tante Christine nur einmal sehen könnte, würde sie gewiß Vertrauen fassen. So aber ... Plötzlich atmete der Alte auf. Ja, das war ein guter Gedanke! wenn sie es nicht tun wollte, konnte er den jungen Herrn ins Vertrauen ziehen. Schade, daß derselbe von seinem Ausflug nach Berlin noch nicht zurückgekommen war, sonst hätte er der Tante noch vor der Übersiedelung nach Fischdorf ein Wort des Trostes sagen können. Aber morgen kam er gewiß nach Haus; vielleicht heute schon ... Und wenn auch er nichts erreichte, was bei dem Starrsinn des Konsuls immerhin möglich war, nun, so hatte doch Hellborn nicht mehr allein der armen Christine gegenüber die Verantwortung zu tragen.

Um vieles zuversichtlicher, als er gegangen war, kam er in das Giebelhaus zurück; der Konsul saß bereits im Kontor an seinem Pulte.

»Haben Sie meinen Auftrag ausgeführt?« fragte er, ohne aufzusehen, während der Alte Hut und Überzieher ablegte.

»Jawohl, Herr Konsul; die Damen werden noch heute abreisen,« gab er zur Antwort. Daß diese Reise nur bis nach Fischdorf ging, hielt er nicht für nötig zu sagen.

Der Konsul richtete sich auf. »Ich wußt' es ja!« murmelte er vor sich hin; und laut mit häßlichem Lächeln fügte er hinzu: »Wieviel verlangt die Person? – Sie können es gleich hinüberschaffen.«

Hellborn schüttelte mit stiller Schadenfreude den Kopf.

»Nein, Herr Konsul, von einer Abfindung hat unser ... hat die Dame nichts wissen wollen,« antwortete er. »Herr Georg hätte für sie und seine Tochter ausreichend gesorgt; sie wäre nicht als Bettlerin gekommen ...«

»Redensarten!« fiel »der Konsul ein. »Sie sind ungeschickt gewesen, Hellborn!... Ich wünsche nicht ... es soll nicht heißen ... Sie werden in Erfahrung bringen, wohin die Fremde von hier aus gegangen ist ... die Geldgeschichte muß durchaus geordnet werden: aber es hat keine Eile ... Sie können jetzt an Ihre Arbeit gehen.«

Mit diesen Worten beugte er sich wieder über seine Briefe. Hellborn, der in dem Gedanken Mut faßte, daß ihm auch in dieser neuen Schwierigkeit der junge Herr zu Hilfe kommen würde, setzte sich ebenfalls an sein Pult, und in beider Händen fuhren die Federn so gleichmäßig kritzelnd über das Papier, als ob alles im alten, gewohnten Geleise geblieben wäre.

Um so unruhvoller gestaltete sich der Tag für Christine und ihre Tochter. Als Käthe vom Spaziergange zurückkehrte, war der Wagen nach Fischdorf bestellt. Die Mutter erklärte, daß sie es nicht einen Tag länger hier auszuhalten vermöge; Käthe, die von jeher gewöhnt war, sich den Launen der kränklichen Frau anzupassen, tat, was in ihren Kräften lag, den Aufbruch zu beschleunigen, und als sie nach einstündiger Fahrt ihr Ziel erreicht hatten, begann ein langes Wohnungssuchen, bei dem die Mutter seltsam unentschlossen, beinahe zaghaft war.

»Wie sich Fischdorf verändert hat; es ist nicht wiederzuerkennen!« sagte sie mit sichtlichem Unbehagen, sobald sie in den Badeort einfuhren. »Von diesen großen Hotels, diesen eleganten Villen war nicht die Rede, als ich es kannte; damals war es ein Schiffer- und Fischdorf; jetzt ist es anspruchsvoll und langweilig geworden.« Und unfähig, den Nachklang der letzten schmerzlichen Erlebnisse ganz in sich zu verschließen, fügte sie hinzu: »Wären wir doch nie hierher gekommen!«

Käthe suchte sie zu beruhigen. Sie brauchten ja nicht mitten im Lärmen und Treiben der Badegesellschaft zu wohnen, sagte sie; in dem weitgedehnten Orte, dessen Häuser auf und zwischen schönbewaldeten Dünen zerstreut lagen, wären sicherlich auch Einsamkeit und Stille zu finden; danach wollten sie suchen.

Aber so viele stille Waldwinkel sie auch fanden, immer schien es der Mutter nicht einsam genug. Eine krankhafte Scheu, beobachtet, erkannt, ihrem Bruder verraten zu werden, war über sie gekommen. Jetzt war es noch ziemlich still in den Straßen; die meisten Läden waren noch geschlossen, an den meisten Häusern hingen noch die Wohnungszettel. Wenn aber erst alle diese großen und kleinen Gebäude bewohnt wurden, aus allen diesen Fenstern neugierige Augen sahen, konnte jeder Schritt durch die Dorfgassen neue Gefahren bringen. Was sie fürchtete, machte sie sich nicht klar; aber ebenso ungestüm, wie sie gestern danach verlangt hatte, dem Bruder zu begegnen, fühlte sie sich jetzt getrieben, sich und Käthe seinen Augen zu entziehen. Und Käthe war so auffallend in ihrer frischen, kraftvollen Schönheit, erinnerte so sehr an ihren Vater und seine Schwester Berta, die beide hier in der Gegend gewiß noch in vieler Menschen Erinnerung lebten. Wie war es möglich, daß sie das alles bis jetzt außer acht gelassen hatte?

»Du wirst sehen, wir finden keine Wohnung, in der ich mich behaglich fühlen kann,« sagte sie immer wieder. »Das beste ist, wir gehen fort von hier; es gibt eine Menge Seebäder in der Nähe.«

Aber Käthe, der Fischdorf von dem Berliner Arzte besonders empfohlen war, wurde nicht müde, weiter zu suchen.

»Nur Geduld, Mütterchen, es wird sich etwas finden!« gab sie immer wieder zur Antwort, ließ den Wagen bald hier, bald dort von den Hauptstraßen abbiegen und hatte wirklich den Triumph, das Haus zu entdecken, das allen Einsamkeitswünschen der Mutter genügen mußte. Am äußersten Ende des Badeortes, wo, von Buchen beschattet, alte kleine Fischerhütten stehen, lag es seitab, von Wald umgeben, die Fronte mit großen Veranden dem Meere zugewendet, traumhaft still in der Mittagssonne.

Der Wagen hielt. Von einem schwarzweißen Spitz umbellt, stiegen Mutter und Tochter die Freitreppe hinauf. Eine knixende Alte in blendend weißer Haube erschien. Sie wäre die »Kastellanin«, erklärte sie voll Selbstgefühl, Die oberen Zimmer, fügte sie hinzu, ständen den Damen zu Diensten; das Erdgeschoß müßte jederzeit für den Hauseigentümer, den Herrn Grafen, in Bereitschaft gehalten werden, obwohl er, alt und krank, seit Jahren nicht hier gewesen wäre und auch diesen Sommer schwerlich kommen würde. Die Einrichtung war eine der besten, die sie heute gesehen; für Bedienung wollte die Kastellanin sorgen. Es ließ sich durchaus kein triftiger Grund für das Nichthierbleiben finden. Die Wohnung wurde gemietet, und Käthe ging so emsig an das Auspacken und Einrichten, daß nach wenigen Stunden alles geordnet war.

Sie hatte das Talent, mit Büchern und Albums, ein paar Photographien in Stellrahmen, ihrem Schreibzeug, ihrem Arbeitskästchen, den Schlummerrollen und Fußkissen, Riechfläschchen und Lichtschirmen der Mutter, der fremden Umgebung ein behagliches Ansehen zu geben. Nur Blumen fehlten noch, als sie ihr Werk überschaute; die Mutter schien im Lehnstuhl auf der Veranda zu schlummern – leise schlich Käthe fort, auch für diesen Schmuck zu sorgen.

Die Mutter schlief jedoch nicht; sie hatte nur die Augen geschlossen, um ungestört ihren Gedanken nachzuhängen. Erst jetzt, nachdem ihre Hoffnung gescheitert war, wurde sie sich bewußt, wie fest sie auf die Versöhnung mit den Ihrigen gebaut hatte, und vergebens fragte sie sich selbst, wo sie, da ihr die alte Heimat verschlossen blieb, für sich und ihre Tochter eine neue suchen sollte.

Ein Klopfen an der Tür entriß sie ihren Gedanken, und auf ihr »Herein!« trat ein junger Mann ins Zimmer, faßte sie einen Moment scharf ins Auge, trat rasch auf sie zu und bot ihr die Hand.

»Sie sind ... du bist Tante Stining,« sagte er; »erkennst du mich nicht? ich bin dein wilder Fritz.«

Sie war aufgestanden; ihr blasses Gesicht war noch blasser geworden.

»Fritz!« wiederholte sie, indem sie seine Hand mit ihren beiden Händen umklammerte. »Fritz, ist es möglich!«

Er drückte die zitternde Frau mit sanfter Gewalt in ihren Sessel zurück und zog einen Stuhl an ihre Seite.

»Ich hätte dich vorbereiten sollen,« sagte er; »aber als ich von Hellborn hörte, was vorgefallen ist, ließ es mir keine Ruhe. Sobald ich ohne Aufsehen fort konnte, bin ich hergeritten. Von dem Kutscher, der dich gefahren hat, wußte Hellborn, wo ich dich finden würde ... und nun sei mir herzlich, herzlich willkommen!« Dabei faßte er wieder ihre Hand und sah ihr mit leuchtenden Augen ins Gesicht.

»Fritz, der kleine Fritz ... so groß geworden!« flüsterte sie, ihre Tränen trocknend. »Als ob es erst gestern gewesen wäre, steht mir alles vor Augen; die Kinderstube, du, deine beiden Schwestern, deine Mutter ...« Sie brach in Tränen aus.

»Weine nicht! auch du bist unvergessen,« sagte er. »Wie oft haben die Schwestern und ich von dir gesprochen und Hellborn ...«

»Hellborn,« fiel sie ihm ins Wort, »Hellborn ist alt und feigherzig geworden, und die Kinder, die ich lieb hatte, sind meinen Augen entwachsen, und in meinem Vaterhause ist kein Platz mehr für mich. Hast du es nicht gehört? ... Mein Bruder verleugnet mich ... verbietet mir, seine Schwelle zu betreten.«

»Das wird er zurücknehmen!« rief der junge Mann; »verlaß dich darauf, ich bringe ihn dazu.«

»Versuche das lieber nicht,« sagte sie; »du schadest dir, ohne mir zu nützen. Anton verzeiht es nicht, wenn man liebt, was ihm verhaßt ist. So war es mit mir und Georg, dem Hochverräter, wie er ihn verächtlich nannte.«

»Aber Onkel Georg ist nun tot,« antwortete Friedrich; »man wird doch sein Weib und Kind nicht für das büßen lassen, was er vor zweiundzwanzig Jahren getan hat?«

Sie schüttelte traurig den Kopf.

»Das ist es nicht allein,« sagte sie; »vergiß nicht, daß auch ich mich versündigt habe, indem ich, gegen den Willen der Meinigen, mit Georg in die Verbannung gegangen bin.«

»Dein Wiederkommen macht das gut!« rief der junge Mann. »Laß nur dem Vater Zeit, sich zu besinnen. Er ist weder so kalt noch so unbeugsam, wie er gewöhnlich erscheint. Den Tod meiner Mutter hat er noch immer nicht verschmerzt; die Einsamkeit unsres Hauses ist ihm unerträglich; er wird es dankbar empfinden, wenn mit dir und deiner Tochter wieder Leben in die verödeten Räume kommt. Aber wo steckt denn mein Bäschen? – Hellborn sagt, sie wäre wunderschön.«

»Da kommt sie eben,« antwortete Christine, indem sie, sich vorbeugend, in das Zimmer sah. Käthe war mit einem mächtigen Blumenstrauß hereingetreten.

»Mütterchen, sieh doch!« fing sie fröhlich an, verstummte aber, als sie auf der Veranda einen Fremden erblickte.

»Komm nur, dir steht eine Freude bevor,« sagte die Mutter. »Dein Vetter, Friedrich Richter ...«

Ein Jubelruf des jungen Mannes übertönte ihre Worte. Auf Käthe zustürzend, die den Blumenstrauß fallen ließ, faßte er ihre beiden Hände.

»Ist es möglich ... Sie, Sie Miß Kate!« stieß er hervor.

Sie schüttelte lachend den Kopf, während ihr Tränen ins Auge traten.

»Nicht Miß Kate, ein deutsches Fräulein Käthe,« sagte sie, sich gewaltsam bezwingend, und während sie ihm die Hände entzog, fügte sie, sich zur Mutter wendend, hinzu: »Ich habe dir von einem Deutschen erzählt, den ich bei Barkers in Oakwood-Farm kennen lernte – das ist er.«

Sie hatten sich viel zu erzählen, während sie auf der Veranda zusammensaßen: Käthe vom Tode des Vaters und allem, was darauf gefolgt war; Friedrich von seinen vergeblichen Anstrengungen, sie zu finden, da sie in der Betäubung des Schmerzes versäumt hatte, den Freunden in Oakwood-Farm von ihrem veränderten Aufenthalt Nachricht zu geben. Er hatte endlich nach Europa zurückkehren müssen, sich aber brieflich wiederholt nach ihr erkundigt und endlich erfahren, daß auch sie nach Europa gegangen war.

»Seitdem habe ich täglich auf eine Begegnung gewartet, denn wiederfinden mußten wir uns!« fügte er mit einem Aufleuchten der blauen Augen hinzu, vor dem Käthe die ihrigen niederschlug, während die Mutter beglückt von einem zum andern sah und sich selbst nicht gestehen wollte, welche Zukunftshoffnungen plötzlich in ihr erwachten. Dazu sang und klang es fern und nah von Vogelstimmen und Meeresrauschen; Sonnenlicht spielte durch frischbelaubte, leichtbewegte Baumwipfel und blitzte in Millionen Funken auf der blauen, wallenden Wasserfläche; eine Fischerflotte mit roten Segeln zog vorüber; Möwen wiegten sich in der Luft und auf den Wellen; ein frischer Hauch wehte vom Meere herüber und mischte sich mit dem würzigen Tannengeruch des nahen Dickichts und dem Duft des Blumenstraußes, den Käthe auf den Tisch der Veranda gestellt hatte ... Wer hätte in solcher Umgebung nicht von Liebe, Glück und »Frieden auf Erden« geträumt!

Aber von Dauer ist das Träumen nur für junge Herzen; die Frau im weißen Haar erwachte schnell wieder zum Gefühl der Wirklichkeit. Während Friedrich schilderte, wie er sich für das lange Suchen schadlos halten und wohin er Tante und Cousine zu Wasser und zu Lande führen wolle, wurden ihre Augen wie ihre Gedanken immer trüber, und endlich war sie nicht mehr imstande, sich zu beherrschen.

»Vergiß deinen Vater nicht,« sagte sie; »wenn er von deinem Verkehr mit uns erfährt, wird er ihm schnell genug ein Ende machen.«

Käthe sah verwundert, fragend auf; Friedrich widersprach.

»Liebe Tante, was sind das für melancholische Gedanken!« rief er. »Du wirst dich mit meinem Stiefvater versöhnen, davon bin ich überzeugt. Und selbst wenn ich mich täuschte, so bin ich doch kein Kind mehr und kann mir meine Freunde selber wählen.«

In Christines Augen kam wieder der ängstliche Ausdruck, den Käthe seit gestern schon mehrmals darin gesehen hatte.

»Er duldet es nicht, glaube mir, er duldet es nicht!« antwortete sie; »und wenn du seinem Willen Trotz bieten wolltest, ich könnte das nicht wünschen, für dich nicht und für uns nicht; ich habe schon zu schwer unter solchen Mißhelligkeiten gelitten.«

In dieser Stimmung blieb sie, trotz aller Mühe, die sich Friedrich gab, sie zu beruhigen. Als er beim Abschiednehmen sagte: »Ich komme morgen wieder und kann dir dann vielleicht schon gute Nachricht bringen,« bat sie seufzend, er möge sich keine Mühe geben, es wäre doch alles umsonst. Sie hätte seit der Botschaft von heute morgen jede Hoffnung verloren.

»Dazu ist noch kein Grund vorhanden,« sagte er. »Noch hast du ja so gut wie nichts versucht ... der alte Hellborn ist nicht zu rechnen. Denk an den Spruch: ›Man muß helfen, wenn Gott gutes Korn machen soll.‹ – Wir alle wollen helfen!«

Mit diesen Worten reichte er Mutter und Tochter die Hand; die Tante schlug zögernd, Käthe voll Zuversicht ein. Aber als er gegangen war, wurde auch sie verzagt. Was hatten alle die Anspielungen zu bedeuten, die sie nicht verstand? Was war der Mutter kürzlich widerfahren, das sie so mutlos gemacht hatte? und wie war es möglich, daß sie der Tochter etwas verschwieg, das so tief in ihr Leben einzugreifen schien?

Es war, als ob die Mutter ihre Gedanken erraten hatte; als Käthe zu ihr ins Zimmer trat, wo sie sich auf das Ruhebett gelegt hatte, sagte sie:

»Setze dich zu mir, ich will dir eine Geschichte erzählen, die du endlich wissen mußt. Deine verwunderten, fragenden Blicke haben mir heute mehr als einmal wehe getan.«

Käthe setzte sich, und die Mutter fing mit leiser, beinahe tonloser Stimme zu erzählen an.

»Hast du gestern oder heute das alte Haus bemerkt, das durch ein Quergäßchen vom Goldenen Anker getrennt ist und seinen verschnörkelten Giebel dem Hafenplatze zukehrt?« fragte sie. »Das ist mein Vaterhaus. Ich war ein Nachkömmling der Familie; meine Brüder, Richard und Anton, waren vierundzwanzig und dreiundzwanzig Jahre alt, als ich geboren wurde. Die Mutter starb wenige Monate nach meiner Geburt, der Vater, als ich drei Jahre alt war; von Mietlingen gepflegt, von den Brüdern kaum beachtet, an Liebe darbend, wuchs ich auf, bis ich das Glück hatte, Georg Brauneck zu begegnen.

»Als ob es gestern gewesen wäre, steht mir alles vor Augen, und doch werde ich damals nicht viel über sieben Jahre alt gewesen sein. Ich war, wie ich so oft zu tun pflegte, meiner Wärterin entschlüpft, um mich den Spielen der Nachbarkinder anzuschließen, war von der Hafenmauer ins Wasser gefallen und der zwölfjährige Georg, der zufällig des Weges kam, hatte mich gerettet.

»Von Stund' an gewann mein Leben eine andere Gestalt. Die unzuverlässige Wärterin, die zugleich meinen Brüdern die Wirtschaft führte, wurde entlassen, und Georgs Mutter entschloß sich, zu uns zu ziehen, um über mich und das Hauswesen Aufsicht zu führen.

»Sie stammte aus einer armen, altadeligen Familie, war eine Schönheit und machte eine sogenannte glänzende Partie, das heißt, sie heiratete den Erbherrn von Brauneck, einen jungen, schönen, reichen Kavalier, der sie sehr unglücklich machte und sich nach etwa zehnjähriger Ehe eine Kugel vor den Kopf schoß, nachdem er sein Vermögen in unwürdiger Weise vergeudet hatte. Seitdem lebte Frau von Brauneck in unserem Städtchen, stickte für Geld, um die paar tausend Taler, die ihren Kindern geblieben waren, nicht angreifen zu müssen, und nahm die Zuflucht, die ihr in unserem Hause geboten wurde, dankbar an.

»Ihre Tochter Berta dagegen, ein schönes, stolzes, damals schon erwachsenes Mädchen, war nicht damit einverstanden. Vom Morgen bis zum Abend saß sie in ihrem Giebelstübchen am Fenster und stickte. Sie wollte, wie sie sagte, weder reicher Leute Magd sein noch Almosen annehmen. Bei den Mahlzeiten saß sie stumm, mit niedergeschlagenen Augen, und gab, wenn sie angeredet wurde, kurze, abweisende Antworten. Meine Brüder behandelten sie mit großer Förmlichkeit, die bei Anton – wie das selbst meine Kinderaugen erkannten – etwas Spöttisches hatte. Ich habe nie ein Herz zu ihr fassen können, und sie beachtete mich kaum.

»Um so liebevoller, wahrhaft mütterlich behandelte mich ihre Mutter, eine sanfte, stille Frau mit schönen, traurigen Augen. Ich glaube, die schwärmerische Zärtlichkeit, die ich für ihren Liebling, ihren Georg, empfand, war das Band zwischen uns. Er war bei einem Lehrer in Kost gegeben, kam aber täglich in unser Haus, spielte mit mir, beaufsichtigte meine Schularbeiten, neckte mich, erzog und verzog mich. Wie er als Mann war: sprühend von Geist und Leben, gütig, zuverlässig, enthusiastisch, tatkräftig, so war er schon als Knabe. Meine Bewunderung für ihn kannte keine Grenzen. Als ich vom heiligen Georg, dem Drachentöter, hörte, war ich überzeugt, daß ihm mein Georg vollkommen ebenbürtig sei.

»Aber ich habe dir noch nichts von meinen Brüdern gesagt. In der ersten Kindheit blieben sie mir, wie ich schon angedeutet habe, fern und fremd, und auch später, als mit Frau von Brauneck eine Art Familienleben in unser Haus gekommen war, wurde mein Verhältnis zu ihnen kein erquickliches. Ihr ernstes, gemessenes Wesen bedrückte mich, und ihre beständige Mahnung: ›Christine, das schickt sich nicht!‹ nahm mir alle Unbefangenheit. Im ganzen kümmerten sie sich nur wenig um mich. Frau von Brauneck – Tante Julie, wie ich sie nannte – hatte freie Hand, mir alles zu gewähren, was der Tochter eines wohlhabenden Hauses zukam. Daß ein Kind der Liebe bedarf, ahnten sie nicht oder hatten nicht Zeit, sich darum zu kümmern. Sie galten für ausgezeichnete Geschäftsleute; man rühmte ihnen nach, daß sie den guten Namen ihrer Firma unter den schwierigsten Verhältnissen vor jedem Makel bewahrt und dabei ihr Vermögen von Jahr zu Jahr vergrößert hätten. So standen sie denn in hoher Achtung und bekleideten, trotz ihrer Jugend, schon damals allerlei Ehrenämter. Georg pflegte sie die Großväter der Stadt zu nennen. Bis er in unser Haus kam, hätte ich nicht für möglich gehalten, daß man anders als mit scheuer Ehrfurcht von meinen Brüdern zu sprechen vermöchte. Nun war es mir wie eine Erlösung, daß auch sie, wie andere Menschen, beurteilt, getadelt werden konnten. ›Dieser widerwärtige Anton mit seiner spöttischen Arroganz,‹ sagte Berta eines Abends zu ihrer Mutter, als sie nicht bemerkt hatte, daß ich im Zimmer war. ›Wenn Richard sich nicht so viel Mühe gäbe, die Impertinenzen seines Bruders gutzumachen, so wäre ich längst davongelaufen.‹ Ich habe diesen Ausspruch behalten, weil ich – so sonderbar dir das vorkommen mag – erst durch ihn auf die große Verschiedenheit der Brüder aufmerksam geworden bin. Richard war mit seiner stattlichen Größe, seinen schönen Haaren und Zähnen, dem wohlgepflegten Bart und der gesunden Farbe beinahe ein hübscher Mann zu nennen; er hielt auf elegante Toilette und hatte etwas Sicheres, Weltmännisches in Haltung und Benehmen. Anton dagegen war klein und dürftig von Gestalt, häßlich und der geborene Kleinstädter. Er war vielleicht nicht hochmütiger als Richard, nicht härter gegen seine Untergebenen, nicht schroffer in seinen Urteilen. Aber eine scharfe Stimme, ein spöttischer Zug um den großen Mund mit den eingekniffenen Lippen, vor allem der kalte Blick der vortretenden glanzlosen, hellgrauen Augen ließen ihn viel unliebenswürdiger erscheinen als den älteren Bruder.

»Jahre vergingen. Das Zusammenleben mit Georg wurde mir zur Gewohnheit. Daß es jemals anders werden konnte, kam mir nicht in den Sinn. Plötzlich hieß es, ein Vetter seines Vaters wolle die Sorge für ihn übernehmen, bis er als Offizier auf eigenen Füßen stehen könne. Die Mutter war überglücklich. Berta schien förmlich gewachsen; Georg aber erklärte, davon könne nun und nimmer die Rede sein. Das Leben des armen Offiziers wäre eine Kette von Entbehrungen; außerdem hätte er keine Lust zum Soldaten – er wolle und müsse Medizin studieren; sein kleines väterliches Erbteil würde dazu ausreichen. Die Mutter bat und weinte; Berta war empört. ›Du bist nicht wert, ein Brauneck zu sein; die unpassende Umgebung hat dich heruntergebracht,« sagte sie und war seitdem noch hochmütiger als bisher. Georg aber blieb dabei: er könne nicht anders, er müsse Medizin studieren. Das schrieb er auch seinem Verwandten und fügte auf dringendes Bitten der Mutter hinzu, daß er ihm für seinen Beistand auf diesem Lebenswege herzlich dankbar sein würde. Der Vetter war jedoch Bertas Ansicht und erklärte: ein Brauneck könne und dürfe nur Soldat sein, und damit waren diese Verhandlungen abgetan.

»Mit achtzehn Jahren ging Georg zur Universität. Mir war, als ob mir das Herz brechen sollte. ›Wie kannst du so vergnügt sein!‹ rief ich, unfähig, mich zu beherrschen, als er kam, um Abschied zu nehmen. ›Du bist ein falscher, kaltherziger Mensch, bist nicht wert, daß ich dich lieb habe.‹ Da sah er mich mit seinen leuchtenden Augen an und sagte: ›Du wirst schon ehen, daß ich deine Liebe verdiene; ich werde arbeiten, soviel ich nur kann, und wenn ich Doktor bin, heiraten wir uns.‹ Von Stund' an – ich war damals dreizehn Jahr alt – betrachtete ich mich als seine Braut, und ich weiß, daß er so wenig wie ich jemals auch nur einen Augenblick an dem Ernst unseres Verlöbnisses gezweifelt hat.

»Wir schrieben uns – unschuldige Kinderbriefe, die durch die Hände seiner Mutter gingen. Aber dann wurde sie krank; es war noch im ersten Semester seiner Studienzeit, und ehe wir nur zum Bewußtsein einer Gefahr gekommen, war sie tot. Georg kam zum Begräbnis – es war ein trauriges Wiedersehen –, und dann fragte er seine Schwester, was sie nun anfangen wolle? und sie antwortete, daß sie meinen Bruder Richard heiraten würde. ›Ich habe mich jahrelang gesträubt gegen seine Wünsche und gegen mein eigenes Herz,‹ sagte sie und weinte, wie ich nie geglaubt hätte, daß sie weinen könnte. – Sie ging dann auf einige Zeit zu der Familie eines Geschäftsfreundes der Brüder. ›Der Braut des reichen Kaufherrn stehen so und so viel Häuser offen; der armen Berta Brauneck würde sich niemand angenommen haben,‹ sagte sie bitter. Und dann war die Hochzeit, und Bertha saß fortan am Fenster der großen Wohnstube, trug Schmuck und seidene Kleider, und alle Honoratioren der Stadt erwiderten den Besuch des jungen Paares.

»Übrigens ging das Leben im alten Geleise fort. Mir und Bruder Anton kam Berta nicht näher, und selbst der Verkehr mit ihrem Manne blieb von einer Förmlichkeit, die mich beängstigte. Soviel als möglich hielt ich mich von dem Familienkreise fern, saß in meinem Stübchen oder später, als die Kinder geboren waren, in der Kinderstube, und die Geschwister schienen auch mich noch immer für ein Kind zu halten.

»Nach vierjährigen Studien machte Georg sein Doktorexamen; auch sein Militärjahr hatte er in diesem Zeitraume abgedient. In den Ferien war er fast immer bei uns gewesen – obwohl die Aufnahme, die ihm von Schwester und Schwager zuteil wurde, nicht die freundlichste war – und während der Trennungen schrieben wir uns. Lange wußte ich nicht, ob die Geschwister unser Verhältnis ahnten; aber eines Tages erzählte mir der kleine Fritz in aller Unschuld: Mutting hätte gesagt, Vating müßte mir das Briefschreiben verbieten; aber Vating hätte gemeint, es wäre ja nur dummes Zeug.

»Wie Richard dazu kam, an Georgs Ernst und Beharrlichkeit zu zweifeln, weiß ich nicht; aber ich verstand das maliziöse Lächeln, mit dem er die Nachricht aufnahm, daß Georg auf ein Jahr nach Paris gehen wolle. Die Mittel dazu hatte er durch eine Preisschrift erworben.

»Es war ein schwerer Abschied, aber Georg sagte, diese lange, letzte Trennung wäre für seine künftige Stellung im Leben von unberechenbarem Wert. So gab ich mir denn Mühe, tapfer zu sein; Georgs Briefe halfen mir dazu, und auch dies schwere Jahr ging zu Ende.

»Kurz vor Weihnachten kam er wieder – es war 1847. Aus seinen letzten Briefen wußte ich, daß in Paris Unruhe und Unzufriedenheit herrschten; aber da er zurückkam, kümmerte mich das nicht weiter. Und nun war er da – ganz der alte, schöne, herrliche Georg! – auch seine Liebe war die alte, und doch war etwas Fremdes in ihm, das mich erschreckte: ein leidenschaftliches Interesse für politische Fragen, von denen ich nichts verstand und über die er mit den Brüdern immer heftiger und heftiger in Streit geriet.

»Endlich kam es zu völligem Bruch. Am zweiten Weihnachtsfeiertage war es, während zur Kirche geläutet wurde. Die beiden ältesten Kinder spielten unter dem Weihnachtsbaume und hatten mich dazu gerufen. Plötzlich höre ich im Eßzimmer, wo die anderen noch beim Frühstück saßen, einen lauter und lauter werdenden Wortwechsel; Stühle werden gerückt, Bruder Anton bricht in sein häßliches, hämisches Lachen aus und als ich bestürzt herbeieile, stehen sich die Männer gegenüber, Richard noch kälter und hochmütiger als sonst, mit über der Brust gefalteten Armen, Anton mit höhnischem Lächeln die Hände reibend, Georg mit glühendem Gesicht und flammenden Augen, während Berta, sich über den Tisch beugend, mit kaltem Tone sagt: ›Du siehst wohl ein, Georg, daß hier kein Platz mehr für dich ist!‹ – ›Gewiß, es hätte deiner Mahnung nicht bedurft!‹ fällt ihr Georg ins Wort und geht hinaus. Ich folge ihm nach. ›Georg! Georg!‹ rufe ich außer mir, seinen Arm umklammernd; er aber macht sich von mir los. ›Nicht hier, Christine, nicht hier ... heute nachmittag vier Uhr in eurem Garten!‹ flüstert er mir zu, dann fällt die Haustür hinter ihm ins Schloß, und er hat unsere Schwelle nie mehr betreten.

»Wie ich den schrecklichen Tag verlebt habe und wie es mir gelungen ist, mich den Augen der Meinigen zu entziehen, weiß ich nicht mehr; aber um vier Uhr war ich in unserem Garten vor dem Tor. Georg wartete schon. Meinen Arm in den seinigen ziehend, führte er mich in dem beschneiten Wege längs der Mauer auf und nieder und sprach mir zu, wie nur er es konnte. Ich solle mich nicht grämen, sagte er; wenn wir fest blieben in unserer Liebe, würde alles gut. Er ginge jetzt nach Berlin, von dort würde ich weiteres von ihm hören. Wenn unserm Briefwechsel Schwierigkeiten in den Weg gelegt würden, solle ich mich an den Fischer Hans Hinrichs wenden, der hätte mit ihm in einem Regiment gestanden und würde sich freuen, ihm und mir einen Dienst zu leisten. – Als ich weinend fragte, wie er glauben könne mich zu erringen, wenn er mit den Meinigen verfeindet bliebe, küßte er mir die Tränen aus den Augen. ›Sei ruhig,‹ sagte er; ›um dich zu gewinnen, will ich versuchen, ob Versöhnung möglich ist; wenn nicht, so müssen wir warten, bis du mündig wirst.‹ ›Nein,‹ unterbrach er sich selbst, ›drei Jahre noch, das halt' ich nicht aus. Wenn sie dich mir nicht gutwillig geben, so kommst du heimlich, so entführe ich dich!‹ – Wer uns gesagt hätte, wie schrecklich sich dies übermütige Wort erfüllen sollte.

»Georg hatte sich nicht getäuscht, der Verkehr mit ihm wurde mir verboten; aber ich fühlte mich so ganz als sein Eigentum, hatte so gar kein Pietätsverhältnis zu den Brüdern, daß ich nicht einen Augenblick zu dem Bewußtsein eines Unrechts kam, als ich mit Hans Hinrichs' Hilfe unsern Briefwechsel fortsetzte.

»Nach wenigen Wochen schrieb mir Georg, daß er im Begriff sei, nach Wien zu gehen, wohin er als Assistenzarzt an ein großes Hospital berufen war und wo wir, wie er sich ausdrückte, unser Nest bauen könnten, ohne von dem Krähengezücht unserer nordischen Heimat gestört zu werden.

»Kaum war er fort, als in Frankreich die Februarrevolution ausbrach. Den Jubel, womit er dies Ereignis begrüßte, verstand ich nicht; denn wenn ich ihm auch diesmal, wie immer, aufs Wort glaubte, daß nun vieles besser werden würde, im Grunde hatte ich wenig Sinn dafür. Unsere Liebe, die Sorge für unsere Zukunft war mir das Wichtigste, und auch für Georg, glaubte ich, müßte das so sein.

»Aber Männer fühlen und denken anders. – Wer das Herz auf dem rechten Fleck hätte, schrieb Georg, müsse jederzeit bereit sein, alles für Vaterland, Recht und Freiheit hinzugeben. – Das war Mitte März, und beinahe gleichzeitig kam die Nachricht von dem Aufstande in Wien. Ich war in Todesangst, und meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht: Georg hatte mitgekämpft und gehörte nun zu denen, die neue, bessere Zustände zu schaffen suchten.

»Es war eine merkwürdige Zeit. – Dein Vater hat dir davon erzählt; aber wer sie nicht erlebt hat, kann sich keinen Begriff davon machen. Bald hier, bald da brach ein Aufstand los, und wo heute Blut geflossen war, wurden morgen Versöhnungsfeste gefeiert. – Und dann wurde das Frankfurter Parlament eröffnet; nicht nur enthusiastische Naturen wie Georg jubelten und hofften auf bessere Zeiten, auch ganz einfache Menschen, wie Hans Hinrichs, gingen mit Feuereifer in die Volksversammlungen. Partei nehmen mußte jeder.

»Meine Brüder waren natürlich gegen die Bewegung und sprachen sich, ohne daß Georgs Name genannt wurde, so gehässig und verächtlich über ihn aus, daß ich mich in meinem Vaterhause mehr als je vereinsamt und unglücklich fühlte. Dazu kam nur zu bald meine wachsende Sorge um Georg. Was ich fürchtete, hätte ich nicht sagen können; es lag auf mir wie Gewitterangst; ich fühlte das Unheil kommen.

»Im Oktober brach es herein. Wie ich es ausgehalten habe, dabeizusitzen, während die Brüder triumphierend vorlasen, was die Zeitungen von den Wiener Schreckenstagen berichteten, und wie ich die langen, einsamen Stunden, die grauenvollen Nächte überstanden habe, in denen ich alle Greuel des Straßenkampfes, der Belagerung, der kriegsrechtlichen Hinrichtungen vor Augen hatte, begreife ich nicht. Und dazu seit dem Ausbruch des Oktoberaufstandes keine Nachricht von Georg, als hin und wieder die Erwähnung seines Namens in den Zeitungen, wenn die Hauptanführer der Insurgenten genannt wurden – und dann auch das nicht mehr! Vielleicht war er verwundet, oder gefangen, oder tot. Ich erwartete jeden Augenblick das Schlimmste zu hören.

»Endlich, an einem nebligen Novembermorgen, geht Hans Hinrichs pfeifend an unserm Hause vorüber, ein Zeichen, daß er Nachricht für mich hat. Seine Mutter, die früher als Tagelöhnerin bei uns gearbeitet hatte, lag seit Jahren an der Gicht danieder, und meine Gewohnheit, sie zuweilen zu besuchen, kam nun Georg und mir zustatten. So ging ich denn auch jetzt zu ihr. Hans war nicht zu Haus, und unter dem Blumentopfe, wo ich sonst meine Briefe zu finden pflegte, lag nur ein Zettel mit den Worten von Hinrichs' Hand: ›Im Gartenhause sobald als möglich, Vorsicht!‹

»Das konnte nichts anderes heißen, als daß Georg gekommen war. Und nun dasitzen müssen und die endlosen Klagen der Kranken anhören und dann ruhigen Schrittes durch die Straßen gehen, wo mir aus so und so vielen Fenstern neugierige Augen nachblicken – und als ich endlich an der Gartentür stehe, ist sie verschlossen, und ich habe in meiner Sehnsucht und Ungeduld nicht an den Schlüssel gedacht.

»Aber als ich ratlos dastehe und nicht weiß, was ich beginnen soll, wird vorsichtig der Laden des Gartenhauses geöffnet. ›Komm ans Pförtchen!‹ ruft mir die geliebteste Stimme zu, und als ich atemlos, kaum fähig, mich aufrecht zu halten, die andere Seite des Gartens erreiche, geht die Pforte auf und Georg schließt mich in die Arme.

»Nun wußte ich nur noch, daß ich ihn wieder hatte; jubelnd und weinend hing ich an seinem Halse. Aber er war vorsichtiger als ich. ›Still, daß uns kein Vorübergehender hört!‹ sagte er, verriegelte die Pforte und bat mich, ihn in das Gartenhaus zu begleiten; wir hätten viel und Wichtiges zu besprechen. Unterwegs erzählte er mir, daß er, um seine Verfolger irrezuführen, auf den seltsamsten Kreuz- und Querzügen hergekommen sei. ›Du hättest überhaupt nicht hierher kommen sollen, wo dich jeder kennt!‹ rief ich von plötzlicher Angst erfaßt. ›Ich konnte nicht anders – ehe ich Deutschland und vielleicht Europa verlasse, mußte ich dich sehen und aus deinem Munde hören, ob du trotz alledem an mir festhältst,‹ antwortete er, und dabei sahen mich die treuen Augen so schmerzlich fragend an, daß ich, ihm abermals um den Hals fallend, versicherte, er dürfe nie, unter keinen Umständen an mir zweifeln. ›Was auch geschehen ist und noch geschehen kann, wir gehören zusammen,‹ fügte ich hinzu.

»Wir hatten das Gartenhaus erreicht. Es war ein Pavillon, in dessen Erdgeschoß Gartengerätschaften, Bänke, Leitern und dergleichen aufbewahrt wurden; der obere Teil, zu dem eine steinerne Freitreppe hinaufführte, enthielt ein dürftig möbliertes Zimmer und eine durch den Flur davon getrennte Küche. Auf der Mitte der Treppe blieb Georg plötzlich stehen. ›Was ist dir?‹ fragte ich. ›Nichts, man wird schreckhaft wie ein gejagtes Wild,‹ gab er zur Antwort, indem er mich die letzten Stufen hinaufführte; ›mir war, als ob ich beim Fortgehen die Tür zugemacht hätte, nun steht sie offen; ich muß mich wohl geirrt haben.‹ – Ich zögerte einzutreten; er lachte mich aus. ›Nun habe ich dich angesteckt, und wir fürchten uns wie Kinder im Walde,‹ sagte er, und in die müden Augen kam etwas von dem alten Übermut. ›Komm!‹ fügte er hinzu; ›sieh dir mal an, wie ich die Nacht kampiert habe; Hans Hinrichs wagte nicht, mich zu beherbergen.‹

»Er hatte die Zimmertür geöffnet und ließ mich vorangehen. Im ersten Augenblick sah ich nichts – die Läden waren geschlossen; aber Georg packte meinen Arm. ›Zurück!‹ rief er, sich vor mich drängend; eine Gestalt trat aus dem dunkeln Hintergrunde auf uns zu.

»›Also wirklich ... du erfrechst dich hierher zu kommen!‹ sagte Antons hämische Stimme, in demselben Moment knarrte hinter uns die Küchentür. Richard trat heraus und schnell auf uns zu.

»›Christine, schämst du dich nicht!‹ rief er, die Hand nach mir ausstreckend. Georg, der meinen Arm noch immer festhielt, wich zur Seite und zog mich mit fort. Aufrecht stand er da und seine Augen blitzten im Halbdunkel.

»›Sie hat sich nicht zu schämen,‹ sagte er mit zornig bebender Stimme. ›Auch wenn sie nicht meine Braut wäre.‹ – Er konnte nicht weitersprechen.

»›Deine Braut!‹ riefen die Brüder wie aus einem Munde; Anton lachte laut auf, und aus dem wüsten Durcheinander ihrer Anklagen, Beschimpfungen und Drohungen wurde mir nur noch einzelnes verständlich. Aus Habsucht sollte Georg meine Jugend und Unerfahrenheit benutzt haben, um mich an sich zu fesseln, aber er würde sich getäuscht sehen, sagten sie; Bettler und Hochverräter nannten sie ihn, wiesen ihn fort aus unserm Hause, das durch seine Gegenwart beschmutzt würde, und drohten, ihn verhaften zu lassen, wenn er sich nicht augenblicklich aus Stadt und Umgegend entferne.

»Mit flammenden Augen, ohne ein Wort zu sagen, hatte Georg die Brüder angehört. Jetzt rief er, verächtlich die Achseln zuckend: ›Nur zu, verratet mich, das ist eurer wert – und damit ihr nicht umsonst zu suchen habt, bei Hans Hinrichs bin ich zu finden!‹ Dabei ließ er mich los und wendete sich der Tür zu; aber ich warf mich an seine Brust. Was ich wollte, weiß ich nicht; ich war außer mir.

»›Geh nicht so, ich ertrag' es nicht!‹ bat ich weinend, indem ich ihn mit beiden Armen umklammerte. Er ließ sich nicht halten und zog mich fort. Richard sprang zu und trat uns in den Weg. ›Christine!‹ schrie er und riß mich zur Seite, daß ich halb besinnungslos hintaumelte ... und dann ...«

Die Erzählerin schwieg; sie hatte sich bei der Schilderung der letzten Szene aufgerichtet und mit weit offenen Augen vor sich hingestarrt. Jetzt schlug sie zusammenschaudernd die Hände vor das Gesicht, und ihr Aufseufzen war fast ein Stöhnen zu nennen.

Käthe sprang auf und umfaßte die Mutter. »Was ist dir?« rief sie erschreckt, »du darfst nicht weiter erzählen!«

Die Mutter machte sich von ihr los.

»Laß mich, laß mich – ich muß zu Ende kommen ... es ist bald geschehen,« sagte sie, und nach einer Pause fuhr sie, sich wieder in die Kissen lehnend, fort:

»Gesehen habe ich's nicht, wie das Schreckliche geschehen ist. Als mich Richard zu Boden geschleudert hatte, höre ich einen Schrei, dann noch einen, und als ich mich, noch halb betäubt, aufrichte, liegt Richard, der in seiner blinden Wut über die Schwelle gestolpert sein mußte, am Boden – sein Blut rieselt über die Steinplatten des Flurs – Anton und Georg knien neben ihm ... er war besinnungslos.

»Der eigenen Gefahr nicht achtend, lief Georg zum nächsten Arzt; dann schickte er Hinrichs mit ein paar anderen Männern, um den Verunglückten fortzuschaffen, er selbst kam nicht wieder. Richard wurde in die Stadt getragen; da lag er auf seinem Bette, besinnungslos, mit weit offenen Augen und warf den Kopf beständig hin und her. Gehirnerschütterung sagte der Arzt. Es war entsetzlich! und dazu die Vorwürfe, mit denen mich Anton und Berta überhäuften, und die Angst um Georg, dessen Anwesenheit, wie ich mir sagen mußte, nun nicht länger verborgen bleiben konnte. »Sie war jedoch schon vorher bekannt gewesen. Ich erfuhr, daß ein anonymes Billett die Brüder von Georgs Aufenthalt im Gartenhause benachrichtigt hatte. Darauf waren sie hingegangen, ihn fortzuweisen. Und wo war er jetzt? Was hätte ich darum gegeben, es zu erfahren! Aber ich wagte nicht, zu Hans Hinrichs zu gehen, wanderte ruhelos aus einem Zimmer ins andere und fühlte mich überall fortgetrieben, bald durch Bertas harte Worte, bald durch den herzzerreißenden Anblick des Kranken oder durch die ahnungslose Fröhlichkeit der Kinder.

»So war langsam, qualvoll der Tag zu Ende gegangen; eine finstere Nacht brach herein; ich stand am Fenster der Wohnstube; heulend fuhr der Wind über den Hafenplatz und peitschte ein Gemisch von Schnee und Regen gegen die Scheiben. Da klang plötzlich Hans Hinrichs Pfeifen vor dem Hause. – Ich war allein; niemand gab acht auf mich. Leise huschte ich aus dem Zimmer, der Flur war leer; leise öffnete ich die Haustür und eilte hinaus in das Unwetter, dem Pfeifenden entgegen, der eben zum zweiten Male am Hause vorübergehen wollte. Noch ehe ich fragen konnte, sagte er mir, daß Georg in Sicherheit sei und daß er ihn noch heute fortbringen werde, nach der schwedischen Küste hinüber. In seinem Auftrage wäre er gekommen, mir das mitzuteilen, sich zu erkundigen, wie es mit Richard stände und einen Abschiedsgruß für den Scheidenden zu erbitten.

»Ich aber klammerte mich an seinen Arm und beschwor ihn, mich zu Georg zu bringen. Anfangs weigerte er sich. Georg wäre nicht mehr in der Stadt, sagte er; und das Wetter wäre zu schlecht – ich hätte ja nicht einmal einen Mantel – und was die Meinigen sagen würden und wie ich allein bei Nacht und Nebel den Rückweg finden wolle? – Ich bat jedoch so lange, bis er sich erweichen ließ. Unter dem Kirchenportal mußte ich warten, während er den Mantel und ein Kopftuch seiner Mutter holte. So war ich unkenntlich, wenn uns jemand begegnete, und einigermaßen gegen Wind und Wetter geschützt.

»Wir eilten vorwärts, zur Stadt hinaus, an unserem Garten vorbei, die Chaussee entlang, dann rechts in den Wald, auf und ab, ohne Weg und Steg. Aber Hinrichs schien seiner Sache ganz sicher zu sein, und endlich, als wir wieder einen sandigen Abhang hinunterkletterten, hörte ich deutlich durch das Brausen des Windes das gleichmäßige Rauschen des Meeres; und dann sah ich Lichter schimmern, das mußte Waalbek sein.

»Wir steuerten darauf los; am ersten Hause – es war nur eine kleine elende Hütte – klopfte Hinrichs ans Fenster und nannte seinen Namen. ›Komm herein, alles klar!‹ rief eine rauhe Männerstimme. Hinrichs öffnete die Haustür, zog mich in den finsteren Gang und ließ mich dort stehen, während er in die Stube ging. ›Alles klar!‹ sagte auch er, als er wieder herauskam, faßte meine Hand und führte mich an das andere Ende des Ganges, wo er eine Tür aufstieß.

»›Ich bin's, Herr von Brauneck, und noch jemand,‹ sagte er; aber schon war ich an ihm vorbeigestürzt und warf mich aufschluchzend Georg ans Herz.

»›Christine!‹ rief er in einem Tone, den ich noch immer höre, ›du – du kommst zu mir!‹ und dann sank er, in sich zusammenbrechend, auf den nächsten Schemel und drückte die geballten Hände an die Stirn. ›Wenn ich es ungeschehen machen könnte, mein Leben wollte ich dafür geben!‹ murmelte er, und dann mußt' ich berichten, wie es mit Richard stand. Ich sagte, obwohl ich es selbst nicht glaubte, daß noch nicht alle Hoffnung verloren sei; und dann fragte Georg wie am Morgen: ob ich auch jetzt noch an ihm festhalten wolle? Und ich versicherte, wie das erstemal, daß wir – was auch geschehen sei – zusammengehörten. – Wenn ich noch hundertmal jenen Tag mit allen seinen Schrecknissen erlebt hätte, ich hätte hundertmal dasselbe gesagt wie damals und dasselbe getan.

»Georg wurde nach und nach ruhiger; er sagte mir, daß er – da es gefährlich sein würde, sich in einem deutschen Hafen nach Amerika einzuschiffen – vorläufig nach Schweden übersetzen und einen Universitätsfreund aufsuchen wolle, einen Gutsbesitzer, der in der Nähe von Gothenburg lebe. Vor der Zukunft bangte ihm nicht; wer seine Kräfte zu gebrauchen wisse, fände überall sein Brot, sagte er. »Hinrichs kam und mahnte zum Aufbruch. Die schwatzhafte Frau des alten Peter könne jeden Augenblick nach Haus kommen, die dürfe uns hier nicht finden, fügte er hinzu. Dem Alten aber dürfe ich vertrauen; der würde mich sicher nach der Stadt zurückbringen und nie ein Wort davon verraten.

»Georg stand auf; jetzt erst sah ich im matten Schein des Öllämpchens, daß er Schifferkleider trug. Hans Hinrichs betrachtete ihn von allen Seiten. ›Wie ein richtiger Seemann, Herr von Brauneck,‹ versicherte er; ›soll keiner verraten, daß ein Herr Doktor dahinter steckt – noch dazu, da Sie mit Ruder und Segel Bescheid wissen wie unsereins – diese Nacht können wir's gebrauchen.‹

»Georg hatte den Südwester aufgesetzt. Eine Weile stand er wie in tiefen Gedanken, dann faßte er meine beiden Hände und fragte: ›Christine, kannst du zurückgehen zu denen, die mich verabscheuen und verfluchen.‹

»Nein, das konnt' ich nicht! wie Todesangst überfiel es mich bei dem Gedanken.

»›Ich gehe mit dir! nimm mich mit!‹ gab ich zur Antwort; ›in Not und Kampf, wenn es sein muß, aber laß mich bei dir!‹

»›Komm!‹ sagte er einfach, hüllte mich wieder in den nassen Mantel und so gingen wir hinaus in die stürmische Regennacht, einer unsicheren Zukunft entgegen.

»Georgs Freund nahm uns gastfreundlich auf. In seinem Hause wurden wir getraut, und dann schrieb ich den Meinigen und bat sie, mir zu verzeihen. – Sie haben mir nicht geantwortet; nur Hellborn, ein guter, treuer Mensch, der schon zu meines Vaters Zeiten im Geschäft gewesen war, schrieb mir, ich würde für tot ausgegeben, die Meinigen sagten, ich wäre verunglückt; in der Stadt aber flüstere man sich zu, ich hätte mich aus Verzweiflung über Georgs Schicksal ertränkt.

»Wir gingen nach Amerika; Georgs schwedischer Freund hatte ihm die Mittel dazu vorgestreckt. Noch ehe wir abreisten, erfuhren wir, daß Richard gestorben war; aber erst seit gestern weiß ich, daß Berta meinen Bruder Anton geheiratet hat und daß auch sie seit Jahren tot ist ... und heute hat mir Anton sagen lassen, daß er mir nie vergeben hat und nie vergeben wird ... ich hätte nicht hierher kommen sollen.«

Sie drückte das Taschentuch an die Augen; Käthe umfaßte sie.

»Gib die Hoffnung nicht auf,« sagte sie tröstend. »Noch ist nichts verloren ... Friedrich hat versprochen, dir zu helfen.«

Die Mutter weinte still vor sich hin.

»Ich fürchte,« flüsterte sie wie mit sich selber sprechend, »ich fürchte, auch um Friedrichs willen hätten wir nicht kommen sollen!«

Käthe war am nächsten Morgen nicht so frisch und lebensmutig wie sonst. Die Geschichte der Mutter bedrückte ihr Herz, und beständig klangen ihr die Worte: »Auch um Friedrichs willen hätten wir nicht kommen sollen«, im Ohr und verbitterten ihr das Glück des Wiedersehens. Wußte sie doch nicht, ob dies Glück Friedrich wert genug war, um dafür den Kampf mit dem Stiefvater aufzunehmen. – Und stand nicht vielleicht Schwereres zwischen ihr und dem Freunde als der Haß und Starrsinn eines alten Mannes? Immer wieder stellte sie sich die Szene im Gartenhause vor und fragte sich, ob ihr die Mutter das letzte Wort darüber gesagt hätte. Aber dann stieg das Bild des Vaters vor ihr auf, und ihre Furcht erschien ihr wie eine Versündigung an seinem Andenken.

So innerlich hin und her geworfen, ging sie einsam den Strand entlang. Die Mutter hatte sie auch heute zum Morgenspaziergang fortgetrieben. Sonnenschein und Sonntagsstille lagen über Meer und Land, aber sie hatte keine Empfindung dafür.

Plötzlich klang aus der Ferne ein Ruf an ihr Ohr; achtlos ging sie weiter; aber nun klang es deutlicher: »Käthe, Käthe!« und als sie unwillkürlich den Kopf wendete, sah sie Friedrich mit raschen Schritten daherkommen.

Er hätte sie und die Tante zu einer Kahnfahrt abholen wollen, sagte er, so war's jedoch noch besser. Von der Kastellanin hätte er erfahren, daß Käthe an den Strand gegangen sei, und wäre ihr nachgeeilt, ohne erst die Tante zu begrüßen. »Und nun habe ich dich,« fügte er hinzu – die Mutter hatte gestern verlangt, daß sie sich du nennen sollten, und wie gern hatten sie es getan – »nun habe ich dich; aber was ist dir? Du bist nicht froh?«

Sie scheute sich von dem zu sprechen, was sie bedrückte, und doch war sie nicht imstande, zu leugnen oder eine ausweichende Antwort zu geben. Friedrichs Augen schienen ihr, wie einst die des Vaters, ins Herz zu sehen. An seiner Seite weitergehend, gab sie zur Antwort:

»Die Mutter hat mir gestern zum ersten Male von ihrer Jugend erzählt ...«

»Und hat dich mit ihren Befürchtungen angesteckt,« fiel er ein. »Mache dich davon los! Die Geschwister müssen sich ja versöhnen, und sie werden es um so leichter tun, wenn wir die Gespenster der vergangenen Zeiten ruhen lassen.«

»Glaubst du nicht, daß es Gespenster gibt, die ungerufen kommen?« fragte das junge Mädchen. »Ich fürchte, daß die Kinder dafür büßen müssen, wenn die Eltern ein Unrecht begangen haben.«

»Sagst du das in bezug auf uns?« fragte er.

Sie nickte; sprechen konnte sie nicht.

»Käthe, liebe Käthe, ich kenne dich nicht wieder!« sagte er. »Daß deine Mutter Georg Brauneck in die Verbannung gefolgt ist, hat die Ihrigen verletzen, kränken, erzürnen können, aber ein unverzeihliches Unrecht, für das wir noch büßen müßten, war es nicht.«

Käthe atmete schwer. Nach einer Pause fragte sie kaum hörbar:

»Hast du nie gehört, daß noch anderes geschehen ist? – Ich weiß es nicht ... ich fürchte nur ... habe vielleicht falsch verstanden.«

Sein Gesicht war sehr ernst geworden.

»Nein, Bestimmtes habe ich nie gehört,« antwortete er. »Eine Ahnung hat mich zuweilen beschlichen, aber ich habe nicht geforscht, ob sie begründet ist. Wozu auch? Dem Besten kann es widerfahren, daß er im Augenblicke der Leidenschaft tut, was im engeren Sinne nicht gutzumachen ist – aber im weiteren Sinne wird er es gutmachen. Seine Buße wird für alles, was ihn umgibt, zum Segen werden.«

Käthe atmete auf. Ein Segen für alles, das ihn umgab – ja, das war ihres Vaters Leben gewesen.

»Als ich dich in Hoboken suchte,« fuhr Friedrich nach einer Pause fort, »hörte ich, ohne Ahnung, daß er Georg Brauneck gewesen, wie unermüdlich dein Vater im Dienste aller Notleidenden war, ein Arzt des Leibes und der Seele. Wem ein solcher Nachruf bleibt, wem so die Armen und Hilfsbedürftigen nachweinen, der hat seinem Kinde nur Segen hinterlassen, was auch jemals geschehen sein mag.«

Käthe sah zu ihm auf; ihre Augen leuchteten durch Tränen.

»Ich danke dir!« flüsterte sie; »ja, so war er ... du hast ihn erkannt ... ich danke dir!«

Er zog ihren Arm in den seinigen, eine Weile gingen sie stumm nebeneinander hin; dann sagte er, und seine tiefe, klangvolle Stimme zitterte vor innerer Bewegung:

»Käthe, schon in Oakwood-Farm hatte ich die Überzeugung, daß wir zusammengehören, und weder die schnelle Trennung, noch die Schwierigkeit, dich wiederzufinden, hat mich auch nur einen Augenblick darin wankend gemacht. Nun habe ich dich wieder, ... habe ich dich wirklich?«

Er war stehen geblieben; sie sank an sein Herz, und ihre Augen und Lippen gaben stummselige Antwort; Sonnenschein lag über Meer und Land, und in der Ferne läuteten die Sonntagsglocken.

Als sie endlich zurückkehrten und hinter der Düne das Dach der Strandvilla auftauchte, warf ihm Käthe einen zaghaften Blick zu.

»Was wird die Mutter sagen?« fragte sie. »Ich fürchte, sie macht sich neue Sorgen.«

»So laß uns verschweigen, daß es zwischen uns zur Aussprache gekommen ist, bis sie und mein Vater versöhnt sind,« antwortete Friedrich. »Wie wir innerlich zueinander stehen, wird sie freilich doch erkennen, aber laß uns schweigen.« Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich hätte auch vielleicht noch nicht gesprochen, hätte dir Zeit gelassen, dich in die Verhältnisse zu finden, aber deine Andeutungen haben mich erschreckt. Ich fürchtete, daß man dich in eine falsche Ansicht der Dinge, wohl gar in ein falsches Pflichtgefühl hineinpeinigen würde. Darum mußte zwischen uns alles fest und klar sein. Versprichst du mir nun aber auch, dich durch nichts und durch niemand irremachen zu lassen?«

»Gewiß, das verspreche ich dir!« antwortete Käthe mit festem Händedruck.

Heiter kamen sie zu der Mutter.

»Gott sei Dank!« sagte diese zu sich selbst, »ich habe mich gestern nicht verraten.« Wie es oft geschieht, half ihr die eine Sorge die andere tragen. Als sie die Augen der Tochter wieder leuchten sah, schien ihr die eigene Last leichter geworden, und als sie von Friedrich erfuhr, daß ihr Bruder plötzlich nach Hamburg gereist sei, empfand sie die Frist, die ihr bis zu neuen Kämpfen gegeben wurde, wie eine Wohltat.

Auch Friedrich war glücklich darüber.

»Ich habe mich oft über Schwager Leopold geärgert, aber nun soll ihm alles, das Vergangene wie das Zukünftige, vergeben sein,« sagte er, »Leopold, der Mann meiner Schwester Berta, ist nämlich ein arger Projektenmacher; wenn er dabei ins Bodenlose gerät, fährt der Papa jedesmal hin, ihn zur Vernunft zu bringen, und das Ende vom Liede ist dann eine Reihenfolge jener Hamburger Diners, die nur ein Eingeborener ungestraft durchessen kann. – Das ist jedoch des alten Herrn eigene Sache. Wir wollen hier unsere Freiheit genießen, wie er es dort tut, und wenn er wiederkommt, ist unser verwandtschaftlicher Verkehr ein fait accompli, der sich nicht ungeschehen machen läßt. Also nicht wahr, liebe Tante – meine Geschäftsstunden muß ich selbstverständlich einhalten – aber nachmittags darf ich herauskommen?«

Es waren glückselige Tage! Der schöne Wald am schönen Meer; ein Mai, der wirklich einmal den Namen Wonnemond verdiente; überall sprossendes, blühendes, jubelndes Frühlingsleben, und in dieser Umgebung zwei junge Herzen, die sich immer inniger verstehen lernten.

Friedrich hatte richtig geahnt: die Mutter erkannte bald, wie er und Käthe zueinander standen. Zuweilen überfiel sie eine herzbeklemmende Angst vor den Schwierigkeiten, die sich den Wünschen der beiden entgegenstellten – aber was sollte sie tun? – An sich selbst hatte sie erfahren, daß die Liebe nicht zu lenken und zu löschen ist.

So ließ sie denn den Herzensfrühling der Tochter ungestört grünen und blühen, und das Schicksal schien dieselbe Nachsicht üben zu wollen, denn die Rückkehr des Konsuls verzögerte sich von einer Woche zur anderen.

»Schwager Leopold muß ihn mit seiner Projektenmacherei angesteckt haben,« sagte Friedrich. »Sie sind miteinander nach England gereist und versprechen sich Wunderdinge. Mir ist's recht; je länger der Vater ausbleibt, um so besser für uns.«

Der Mai verging, der Juni brachte Sommerwärme und Sommergäste. In allen Häusern und Häuschen Fischdorfs waren Fremde einquartiert; Damen mit aufgelöstem, nassem Haar wandelten am Strande in der Morgensonne; Scharen von Kindern spielten im feuchten Sande; Vergnügungsboote mit roten und weißen Segeln fuhren hin und her; im Kursaale gab es Table d'hôte, Konzerte, Reunions, und alle Seltsamkeiten der Mode wurden am Strande, im Wald und auf der Düne spazieren getragen.

Käthe und ihre Mutter hielten sich von dem allem fern; den größten Teil des Tages brachten sie auf der kühlen Veranda zu; erst wenn Friedrich kam, ging es ins Freie; auch die Mutter, die täglich kräftiger wurde, ging mit. Es gab noch einsame Plätzchen in Menge, und Friedrich hatte das Talent, sie zu finden. Da saßen sie dann, von grüner Waldesdämmerung eingehegt oder den Ausblick auf das blaue Meer genießend, erzählten von vergangenen Tagen, empfanden das stille Glück der Gegenwart und schienen die Zukunft vergessen zu haben. Es war, als lebten sie, der Wirklichkeit entrückt, im Lande der Märchen.

Aber, »es ist gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen«. Eines Nachmittags, es war schon in der zweiten Juliwoche, brachte Friedrich die Nachricht, daß der Stiefvater zurückgekommen war.

»Er ist mehr als je nach den Hamburger Diners mit seiner Leber brouilliert und daher sehr übler Laune,« sagte der junge Mann. »Ich habe ihm aus diesem Grunde noch keine Eröffnungen gemacht; er soll sich erst wohler fühlen.«

Aber Tag um Tag verging, ohne daß sich die Laune des alten Herrn gebessert hätte. Jeden Morgen nahm sich Friedrich vor, heute mit ihm zu sprechen; sobald er ihm jedoch gegenüber saß und die Falte zwischen den Brauen noch tiefer, die Züge um den Mund noch herber fand als sonst, gab er es wieder auf. Nicht aus Feigheit, aber weil es ihm unerträglich schien, Käthes Namen von diesen spöttischen Lippen nennen zu hören.

Endlich kam ihm der Stiefvater zuvor.

»Was hast du immer in Fischdorf zu suchen?« sagte er eines Mittags, nachdem die aufwartende Magd das Dessert auf den Tisch gestellt und sich entfernt hatte. »So oft ich nach dir frage, heißt es, du wärst hinausgeritten.«

»Ich wollte längst mit dir darüber sprechen,« antwortete Friedrich; »du hast gehört, daß deine Schwester Witwe geworden und wieder zurückgekommen ist; sie und ihre Tochter wohnen in Fischdorf.«

»So!« sagte der Konsul mit seiner harten, leidenschaftslosen Stimme, »Das nennt Hellborn, der alte Heuchler, abgereist sein! Natürlich hat er auch die Anknüpfung zwischen euch vermittelt.«

»Einer Vermittelung hat es nicht weiter bedurft,« gab Friedrich, der Hellborn nicht verraten wollte, ausweichend zur Antwort. »Schon die Pflicht der Verwandtschaft würde mich getrieben haben, die Tante aufzusuchen; außerdem war es mir eine große Freude, sie wiederzusehen.«

»So!« sagte der Konsul wieder; »und was soll nun weiter aus der Geschichte werden? – Du weißt, wir haben meine Schwester tot gesagt ...«

»Lieber Vater,« rief der junge Mann, »ich kann nicht darüber urteilen, ob die Komödie jemals nötig war. Jedenfalls kann sie nicht weitergeführt werden.«

Der Konsul zuckte die Achseln.

»Sollen unsere Familienangelegenheiten zum zweiten Male zu Skandal und Stadtgespräch Anlaß geben?« fragte er.

»Was käme darauf an!« antwortete Friedrich. »Übrigens weiß ich nicht, welchen Skandal du fürchtest. Es wäre ja möglich, daß wir bis jetzt an Tante Christinens Tod geglaubt hätten. Nun ist sie Witwe geworden, fühlt sich unglücklich in der Fremde und kommt zurück. Das alles liegt ganz einfach, wenn wir es nur einfach nehmen wollen.«

Der Konsul hob die kalten Augen vom Teller und starrte Friedrich an.

»Darüber kannst du nicht urteilen,« sagte er. »Nach dem, was geschehen ist, und wie Christine unser Haus verlassen hat, ist ihr Wiederkommen durchaus nicht so einfach, wie du annimmst. Ich werde ihr nie verzeihen, mich nie mit ihr versöhnen ... und selbst wenn ich es wollte ... es wäre unrecht gegen unsere Toten.«

»Unsere Toten!« sagte Friedrich, »unsern Toten schreiben wir aufs Grab: Hier ruhet in Frieden – wenn wir das glauben, dürfen wir auch annehmen, daß sie uns Frieden gönnen, soweit er auf Erden möglich ist.«

»Und weil ich ihn haben und behalten will,« rief der Konsul, indem er sich erhob, »schaffe ich mir die Ruhestörerin aus dem Wege ... Und nun genug; ich will nichts weiter davon hören!«

Auch Friedrich war aufgestanden.

»Nur ein Wort noch,« sagte er in seiner ruhig bestimmten Weise. »Außer der Gemütsfrage ist auch die geschäftliche in Betracht zu ziehen: wie steht es mit Tante Christinens Erbansprüchen?«

»Rückt sie nun doch damit heraus?« rief der Konsul spöttisch auflachend. »Natürlich hält sie sich für eine Erbin, wie man sie in der Stadt dafür gehalten hat. Aber laß dir von Hellborn sagen, wie es beim Tode unseres Vaters um uns stand. Nur der alte gute Namen der Firma Friedrich Anton Richter hielt uns noch. Hätte unser Vater mit seinem Gehenlassen, Zaudern und dann wieder tollkühn darauf Losstürmen die Leitung der Geschäfte nur noch drei Monate in der Hand behalten, so war der Zusammensturz unvermeidlich. Frage Hellborn, was wir fanden, als wir beiden, Richard und ich, das Geschäft übernahmen! – Schulden und unsichere Außenstände. – Nur Richards großem kaufmännischem Talent und unserer unermüdlichen Arbeit ist es zu danken, daß wir wieder dastehen wie in der ersten Glanzzeit der Firma. – Das Erbteil unserer Schwester aber war wie das unsrige gleich Null: Ansprüche an unsern Erwerb hat sie natürlich nicht zu machen. Trotzdem habe ich ihr durch Hellborn eine Geldsumme bieten lassen ... sie hat sie ausgeschlagen.«

»Das weiß ich von ihr selbst,« antwortete Friedrich, während der Konsul mit den Händen auf dem Rücken und gesenktem Kopfe im Zimmer auf und nieder ging. »Um Geld ist es ihr nicht zu tun, sondern um eine Heimat, um das alte Familiennest ...«

»Hat man sie daraus vertrieben, oder hat sie's aus freien Stücken aufgegeben?« schaltete der Konsul ein. Friedrich beachtete den Einwand nicht.

»Auch für uns würde das verödete Haus wieder heimisch werden, wenn Tante Christine und ihre Tochter darin wohnten,« fügte er hinzu.

»Für das verödete Haus sorge du nur selbst,« gab der Stiefvater zur Antwort. »Heirate endlich! Du weißt, ich wünsche das seit Jahren.«

Friedrich war ans Fenster getreten, jetzt wendete er sich um.

»Ich bin bereit, deinen Wunsch zu erfüllen,« sagte er mit einem leisen Beben der Stimme. »Die Schwiegertochter, die ich dir zuführen werde, ist aber deiner Schwester Kind. In Amerika schon habe ich sie kennen gelernt; damals nannte sie sich Miß Brown. Wir beide hatten keine Ahnung von unserer Verwandtschaft, haben uns aber damals schon geliebt ... «

»Daher pfeift der Wind!« fiel der Konsul ein, indem er vor dem Stiefsohne stehen blieb. »Und bis zur Erklärung ist's auch schon gekommen ... und meine saubere Frau Schwester hat wohl auch schon ihren Segen gegeben?«

»Wir haben sie noch nicht darum gebeten,« antwortete Friedrich; »wir wollten eure Versöhnung vorhergehen lassen.«

Der Konsul lachte leise vor sich hin.

»Rücksichtsvoll, sehr rücksichtsvoll!« sagte er. »Zum Dank dafür werde ich dir ohne Zaudern reinen Wein einschenken, dir von vornherein erklären, daß du auf meine Einwilligung zu dieser Heirat nie zu rechnen hast. Das ist freilich Nebensache; du bist mündig, kannst tun und lassen, was dir gefällt. Dem Stiefvater gegenüber ist ja ohnehin von Pflicht oder Pietät nicht die Rede ...«

»Ich glaube, lieber Vater, daß ich dir ein guter Sohn gewesen bin,« fiel Friedrich ein. »Aber vergiß nicht, daß mir auch meine Liebe Pflichten auferlegt.«

»Natürlich!« rief der Konsul im spöttischen Tone. »Das ist die beliebte neumodische Heuchelei. Man wirft nicht mehr – wie es ehemals die Jugend in Übermut, oder Leichtsinn, oder Leidenschaft zu tun pflegte – die unbequemen Fesseln einfach ab; man steckt sich vielmehr hinter allerhand neukreierte Pflichten, durch die man sich der alten enthoben fühlt. Bist du in den Selbstbetrug einmal hineingeraten, so wirst du darin immer weitergehen. Aber wie steht es denn mit dem Mädchen ... mit Christinens Tochter, meine ich ... hat sie die Mutter lieb? kennt und befolgt sie das vierte Gebot?«

»Lerne sie nur kennen,« antwortete Friedrich; »du wirst mit ihr zufrieden sein. Ihren Vater betet sie an, die Mutter trägt sie auf Händen ...«

Der Konsul lachte wieder vor sich hin.

»Nun denn, mein Junge,« sagte er, »so wird sie tun, was nötig ist, das heißt, sie wird dich aufgeben, denn die Einwilligung ihrer Mutter erhaltet ihr nie und nimmermehr, darauf kannst du dich verlassen ... Ich selbst werde Christine fragen, womöglich heute noch!«

Mit diesen Worten ging er hinaus und schlug krachend die Türe hinter sich zu.

Im ersten Augenblick war Friedrich über die Abweisung bestürzt; aber dann sagte er sich selbst, daß damit nicht das letzte Wort gesprochen sei und daß, wenn es ihm heute nicht gelungen war, den mehr als zweiundzwanzigjährigen Groll des Stiefvaters zu besiegen, er darum die Hoffnung nicht aufzugeben brauche, den alten Herrn nach und nach umzustimmen.

War es nicht schon ein Schritt zum Guten, daß er sich entschlossen hatte, die Schwester zu sprechen? Deutlich stand sie Friedrich vor Augen, wie sie vor der Katastrophe gewesen war: ein elfenhaftes Geschöpf mit schwärmerischen Vergißmeinnichtaugen, glänzenden braunen Locken und feinem, rosig angehauchtem Gesichtchen. Mußte nicht das Herz des Bruders weich werden, wenn er sie bleich und vergrämt wiederfand, mit tränenmüden Augen und weißem Haar? Und wenn er dann neben ihr die schöne lebensvolle Tochter sah, für die sie Schutz und Heimat bei ihm suchte, wie konnte er anders, als beide willkommen heißen? Je länger Friedrich darüber nachdachte, um so glaublicher erschien ihm diese Lösung.

Früher als gewöhnlich machte er sich heute auf den Weg nach Fischdorf. Er wollte dem Stiefvater zuvorkommen und Tante Christine auf seinen Besuch vorbereiten. Aber während er hinausritt, wurde ihm zweifelhaft, ob dies das Richtige sei. Möglicherweise hatte der alte Herr den im Zorn gefaßten Entschluß wieder aufgegeben; als Friedrich aufs Pferd gestiegen war, hatte er ihn im Kontor an seinem Pulte gesehen. Und selbst wenn er kam, war es vielleicht besser, die leichterregte Tante nicht im voraus zu ängstigen. Auch über sein eigenes Verhalten war Friedrich unsicher. Sollte er bleiben, bis der Stiefvater herauskam? – er hätte gern das erste Zusammentreffen beobachtet; aber vielleicht verdroß es den Vater, wenn er ihn fand. Friedrich beschloß endlich, den Augenblick walten zu lassen, und spornte den Braunen ungeduldig an.

Drückende Schwüle lag über Strand und Meer, als er sein Ziel erreichte. Käthe, die seinen Schritt auf der Treppe erkannt hatte, kam ihm winkend entgegen, schön wie der Sommertag, in ihrem weißen Kleide, eine weiße Rose im lockigen Haar.

»Leise, leise, die Mutter scheint zu schlafen,« flüsterte sie; »wenigstens ist sie noch in ihrem Zimmer. Komm auf die Veranda.

Arm in Arm traten sie hinaus, und für eine Weile war über das seltene Glück des Alleinseins alles andere vergessen.

Endlich riefen sie fröhliche Stimmen, die vom Strande heraufklangen, in die Wirklichkeit zurück: Käthe machte sich aus Friedrichs Armen los, und während die Spaziergänger vorüberzogen, sah er die Geliebte prüfend an, wie sie dem Stiefvater erscheinen würde. Mehr als je fiel ihm auf, wieviel sie von seiner verstorbenen Mutter hatte: es war dieselbe hohe, edle Gestalt, nur schlanker, elastischer; dieselbe freie Haltung des Kopfes, dasselbe leichtgelockte, dunkelblonde Haar. Auch die schönen Züge glichen denen seiner Mutter. Nur in Farbe und Ausdruck waren die Gesichter verschieden. Berta Brauneck war marmorweiß gewesen, der feine Mund, das große Auge stolz und kalt, während Käthes frisches Gesicht von Lebenslust und Wärme durchleuchtet schien. Gewiß, sie mußte auf den ersten Blick des Onkels Herz gewinnen, wenn es ihr nur möglich war, ihn unbefangen freundlich zu begrüßen. Friedrich bereute, ihr nicht mehr von dem Stiefvater erzählt zu haben. Durch ihre Mutter hatte sie sicherlich nur von seiner Härte, seinem Starrsinn, seiner scheinbaren Lieblosigkeit gehört, und sein Äußeres war ganz dazu angetan, jede vorgefaßte ungünstige Meinung zu bestätigen. Aber Friedrich kannte ihn anders, hatte von Kindheit auf in einem herzlichen Verhältnis zu ihm gestanden, und ebenso, davon war er überzeugt, würde sich Käthe zu ihm stellen können.

Eine leichte Hand strich über seine Stirn.

»Wo bist du mit deinen Gedanken?« fragte Käthe; in demselben Augenblick öffnete die Mutter ihre Tür und rief:

»Du bist da, Friedrich – bitte, komm einmal herein.«

Er gehorchte; verwundert sah ihm Käthe nach. Was war geschehen, daß die Mutter mit Friedrich Heimliches zu besprechen hatte?

Was ist geschehen? hatte auch er fragen mögen, als er der Tante in das bleiche, verstörte Gesicht sah. Sie kam ihm zuvor.

»Lies!« sagte sie, ihm ein Briefblatt reichend. Es war von seinem Stiefvater und enthielt nur die Worte:

»Ich habe mit dir zu sprechen; sage mir, ob ich heute nachmittag halb sechs Uhr kommen soll, das heißt, ob du mir versprechen kannst, daß wir dann allein sind und bleiben. Auch deine Tochter darf nicht da sein. Anton.«

»Was hast du geantwortet?« fragte der junge Mann.

»Daß er kommen soll,« erwiderte sie. »Ich zählte dabei auf dich, habe für fünf Uhr den alten Klaus mit dem Boote bestellt und bitte dich, Käthe zu begleiten, während ich Kopfschmerzen vorschützen und hierbleiben werde ... Wie habe ich ein Zusammentreffen mit Anton herbeigewünscht ... nun fürchte ich mich!«

Friedrich suchte ihr Mut einzusprechen, aber es war ihm selbst nicht wohl dabei. Daß der Stiefvater Käthes Entfernung verlangt hatte, warf alle seine Hoffnungen über den Haufen, und es fiel ihm schwer, unbefangen zu scheinen, während er mit der Tante auf die Veranda zurückging, um die Kahnfahrt zur Sprache zu bringen.

Anfangs sträubte sich Käthe, die Mutter, die ungewöhnlich leidend aussah, allein zu lassen. Das Boot könne fortgeschickt werden, sagte sie; es wäre ihr zu früh und zu heiß zur Wasserfahrt. Außerdem würde sie sich draußen fortwährend um die Mutter sorgen; auf der Veranda wär's am besten für sie alle. Erst Friedrichs leise Bitte, ihm die ungestörte Plauderstunde zu gönnen, besiegte ihren Widerstand. Das Boot kam; aber als Käthe beim Abschiednehmen fühlte, wie die Hand der Mutter zitterte und glühte, wurde sie aufs neue unsicher, ob sie gehen dürfe. Die Mutter trieb sie jedoch beinahe unfreundlich fort, und Käthe fügte sich.

Nun schien die Mutter wieder freundlich gestimmt; sie stand auf der Veranda, als der alte Klaus vom Ufer stieß, und winkte mit dem Taschentuche, bis ihr das Boot aus den Augen entschwand.

»Gott Dank, daß die Kinder fort sind!« murmelte sie, und doch war es ihr schrecklich, allein zu sein, wenn der Bruder kam. Sie fürchtete sich vor seinen Augen, vor dem Ton seiner Stimme, vor jedem Worte, das er sagen würde. Vielleicht kam er nicht; die von ihm bestimmte Stunde mußte längst vorüber sein.

Sie ging ins Wohnzimmer, nach der Uhr zu sehen. Eben kam ein schwerer Schritt über den Vorplatz. Jetzt wurde angeklopft. Konnte das Anton, sein?

Ja, er war es! Auf ihr »Herein« trat er ins Zimmer und blieb einen Augenblick an der Türe stehen, während sie sich zitternd an einen Tisch lehnte und ihn mit einer Mischung von Furcht und Rührung ansah: es war das harte, herbe Gesicht von ehedem, nur älter geworden.

Nach kurzer Pause kam er auf sie zu; sie streckte ihm die Hand entgegen; er sah es nicht oder wollte nicht sehen.

»Christine – ich hätte dich kaum erkannt,« sagte er, sie mit den kalten Augen fixierend; »du hast dich sehr verändert ...«

»Ich habe so viel gelitten,« antwortete sie; »erst am Heimweh ... und dann bin ich Witwe geworden!« Dabei brach sie in Tränen aus.

Er stand ruhig vor ihr mit dem Hute in der Hand; nach einer Pause sagte er:

»Rege dich nicht so auf und laß die Vergangenheit ruhen; wir haben genug mit der Gegenwart zu tun.«

Sie nahm sich gewaltsam zusammen.

»Setz dich!« bat sie, die Augen trocknend, indem sie selbst auf der Chaiselongue am Mitteltische Platz nahm; er setzte sich ihr gegenüber.

»Du weißt, es ist von jeher mein Grundsatz gewesen, die Dinge beim rechten Namen zu nennen,« fing er an. »Das tue ich auch jetzt und erkläre dir ohne sentimentale Umschweife, daß ich mit deiner Rückkehr sehr unzufrieden bin. Wie hast du dich nach allem, was geschehen ist, dazu entschließen können?«

»Ich sagte dir schon, ich hatte Heimweh,« gab sie schüchtern zur Antwort. »Außerdem hat es Georg gewünscht ...«

»Georg und immer wieder Georg!« fiel der Konsul bitter ein. »Da er es wünschte, mußtest du natürlich kommen. Wie mir dabei zumut ist – was geht's dich an!«

»O Anton!« rief sie weinend, »ich hoffte, du würdest mir verzeihen ... ich bringe dir meine Tochter ...«

»Deine Tochter!« unterbrach er die Schwester; »ihretwegen hauptsächlich muß ich mit dir sprechen, so gern ich dir und mir dies Wiedersehen erspart hätte! – Ein unglücklicher Zufall hat sie und Friedrich schon in Amerika zusammengeführt, und sie haben sich ineinander verliebt. Aber das weißt du natürlich, und ebensogut wird dir bekannt sein, daß sie hier weiterspinnen, was dort begonnen hat. Natürlich weißt du das?«

»Ich ... ich habe es wenigstens geahnt,« stammelte sie.

»Und läßt es gehen, protegierst es wohl gar?« fiel er ein. »Da hätten wir denn die alte Unglücksgeschichte zum zweiten Male! ... Aber täusche dich nicht – diesmal nimmt die Sache ein anderes Ende. Friedrich ist kein Mädchenentführer ... auch habe ich ein Mittel, ihn von deiner Tochter zu trennen, und ehe ich diese verbrecherische Neigung dulde ...«

»Anton, ich bitte dich!« rief die Schwester mit aufgehobenen Händen, und dann fügte sie mit erzwungener Ruhe hinzu: »Versuche doch die Sache anders anzusehen. Wenn sich die Eltern gegen euch vergangen haben, die Tochter macht es wieder gut, bringt wieder Glück und Freude in euer Haus ...«

»Glück!« fiel er mit spöttischem Auflachen ein. »Ich danke für das Glück, die Tochter Georgs tagtäglich vor Augen zu haben. – Aber meine Empfindung ist Nebensache. Den Hauptgrund, warum von einer Heirat zwischen dem Sohne Richards und Georgs Tochter nie und nimmer die Rede sein darf, kennst du so gut wie ich.«

»Hast du nicht Georgs Schwester geheiratet!« rief Christine.

»Gott sei's geklagt, das habe ich getan!« antwortete er, und zum erstenmal war auch sein Ton bewegt. »Meinst du, ich hätte es jemals überwunden, daß ich mir unser Familienunglück zunutze gemacht, um auch einmal glücklich zu sein! ... Warum siehst du mich so verwundert an? – Weißt du nicht, daß ich Berta schon vor ihrer Verheiratung mit Richard geliebt habe, und daß sie mich damals seinetwegen zurückgewiesen hat?«

Christine schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte sie, »das habe ich nicht gewußt; ich war so jung, so unerfahren ...«

»Und ich so häßlich!« fiel der Bruder ein, »Wer hätte glauben sollen, daß ein Menschenkind wie ich Liebe fühlen und auf Liebe Anspruch machen konnte? – Als sich Berta, nachdem sie Witwe geworden war, herbeiließ, meine Wünsche zu erfüllen, hat sie's – das ist mir nur zu bald klar geworden – allein um der Kinder willen getan. Ich sollte ihnen den Vater ersetzen, ihnen das Vaterhaus erhalten. Bertas Herz ist dem Toten treu geblieben; bis zu ihrer letzten Lebensstunde hat er zwischen ihr und mir gestanden, und es hat Zeiten gegeben, wo ich sie darum haßte und in ihr nur noch die Schwester des Mannes sah, der meinen Bruder ermordet hat.«

»Das hat er nicht!« schrie Christine auf. »Ich ertrage es nicht, daß du ihm das nachsagst ...«

»Aber daß er es getan hat, wissen wir, du so gut wie ich!« fiel der Konsul ein.

»Nein, das hat er nicht!« rief Christine wieder. »Richard hat mich von Georg fortgerissen, ist dabei ausgeglitten, gefallen ...«

»So wird es dargestellt,« sagte der Konsul kalt; »aber du weißt recht gut, daß Georg auf Richard zugestürzt ist, ihn gepackt und mit seiner Riesenkraft zu Boden geschleudert hat.« Christine drückte das Taschentuch an die Augen.

»Ich habe nichts gesehen,« antwortete sie, leise weinend. »Ich lag selbst am Boden.«

»Nun, so hast du gehört, daß ich Georg Richards Mörder nannte,« fiel der Bruder ein. »Hat er damals nur ein Wort dagegen zu sagen gewagt? ... Später wird er es freilich zurechtgelegt und anders gedeutet und seine Schuld abgestritten haben. Ist's nicht so? hat er das nicht getan?«

»Nichts hat er abgestritten,« antwortete sie, noch immer weinend. »Aber selbst wenn er ... wenn er am Tode Richards schuld gewesen wäre, ein Mörder ist er nicht ... Er hat ja das Entsetzliche nicht gewollt ... nur mich schützen wollte er ...«

»Sophistereien!« rief der Konsul.

»Und als das Schreckliche geschehen war,« fuhr Christine fort, ohne seinen Einwand zu beachten, »als es geschehen war, hat er sich selbst vergessen und deine Anklage überhört, und nur daran gedacht, dem Verunglückten beizuspringen. Ich sehe ihn noch, wie er neben Richard kniete, selbst bleich wie der Tod.«

»Wie das böse Gewissen, solltest du sagen,« schaltete der Bruder ein.

Sie beachtete das nicht und fuhr mit steigender Aufregung fort: »Und abends, als ich zu ihm ging, ihm Lebewohl zu sagen, wie war er da gebrochen! weder sich selbst noch mir hat er etwas abzuleugnen gesucht – er wäre, wie gern, an Richards Stelle gestorben ...«

»Was er dadurch bewiesen hat, daß er die Schwester des Sterbenden entführte, um mit ihr vergnügt weiterzuleben!« sagte der Konsul.

»Vergnügt!« wiederholte Christine. »Ach nein, nichts weniger als das! Wüßtest du, wie ich ihm mit Klagen und Selbstvorwürfen das Leben verbittert habe – und wie schwer die ersten Jahre in Amerika gewesen sind, ehe es ihm gelang, als Arzt festen Fuß zu fassen – und wie wir beide gelitten haben, als uns die ersten Kinder starben ...«

»Die Strafe des Himmels!« rief der Konsul. »Habt ihr euch das nicht gesagt?«

Sie brach aufs neue in Tränen aus.

»Ja, ja, ich habe mir das lange eingeredet,« antwortete sie; »und ich habe Georg damit gequält, bis unser drittes Kind, unsere Käthe, so herrlich gedieh, daß ich an keinen Fluch mehr glauben konnte. O Anton, Anton! seitdem habe ich gehofft, daß auch du vergeben könntest – mir vergeben, daß ich euch damals verlassen habe, und Georg, daß er mich mitgehen ließ, denn das andere war ein Unglück, keine Schuld ... O Anton! wenn du das einsehen könntest ... es glauben wolltest ...«

Er war aufgestanden und ans Fenster getreten; mit den letzten Worten ging sie ihm nach, aber im Begriff, die Hand auf seinen Arm zu legen, ließ sie dieselbe zaghaft wieder sinken.

»Und wenn ich es glaubte – aber ich glaube es nicht,« antwortete er nach einer Pause, indem er sich umwendete und sie mit bösen Augen ansah; »wenn ich es glaubte, was wäre damit gewonnen? Richards Tod trennt die beiden so wie so. Friedrich soll nicht, wie es mir geschehen ist, in seinen glücklichsten Stunden durch das Gespenst seines Vaters aufgestört werden.«

»Weiß er denn ...« fing Christine an; der Bruder fiel ihr ins Wort:

»Nein, noch weiß er nichts; ich habe mich bis jetzt nicht entschließen können, ihm die Gedanken zu vergiften. Aber ehe ich das Bündnis zwischen ihm und deiner Tochter zugebe, soll er alles erfahren ...«

»Anton, ich bitte dich!« rief Christine.

»Spare deine Bitten.« sagte der Konsul. »Du weißt, umzustimmen bin ich nicht. Ich gebe dies Bündnis nicht zu und würde – das versichere ich dich – Friedrich lieber tot im Sarge liegen sehen, als ihn an die Tochter meines Todfeindes zu verlieren. Solange ich denken kann, haben mich nur zwei Menschen lieb gehabt: der erste war Richard, der zweite ist Friedrich. Von frühester Kindheit an hat er sich mir vertraulich, herzlich angeschlossen. Für alle anderen – das hast du an dir selbst erfahren – bin ich mehr oder weniger ein Popanz gewesen.«

»War das nicht, zum Teil wenigstens, deine eigene Schuld?« fragte die Schwester.

»Natürlich!« rief er mit seinem spöttischen Auflachen. »Ich war ein so häßliches, ungeschicktes Kind, daß mich niemand leiden mochte und mir jede Unart schwerer angerechnet wurde als anderen. Als mich das menschenscheu und mißtrauisch machte, hieß es, ich wäre herzlos, boshaft – was weiß ich alles! ... So ist es fortgegangen. Nein, sage mir nichts dagegen! Respekt habe ich mir erzwungen, aber Zuneigung hat niemand für mich als Friedrich.«

»Käthe würde sie haben, würde mit Friedrichs Augen sehen,« warf Christine ein.

»Sehr unwahrscheinlich, da sie deine Tochter ist und, wie mir Friedrich sagt, ihren Vater anbetet!« rief der Konsul. »Aber genug von dem allem. Dies Hin und Her ist peinlich für uns beide und kann zu nichts führen. Es handelt sich einfach um die Frage: willst du mir helfen, Friedrich und deine Tochter zu trennen? – Es muß aber energisch und auf immer geschehen.«

»Das kann ich nicht!« sagte Christine.

»Gut, so muß ich können,« antwortete der Konsul. »Ich will dir ein paar Tage Bedenkzeit lassen; bist du dann nicht anderen Sinnes geworden, so muß ich Friedrich offenbaren, wie sein Vater gestorben ist – und glaube mir, er ist ein zu guter Sohn, um dann nicht seiner unglücklichen Herzensverirrung auf der Stelle zu entsagen. Da ich aber nicht will, daß er treulos und wortbrüchig erscheint, so muß auch deine Tochter wissen, warum er sie aufgibt. Ich werde sie darüber aufklären ...«

»Anton ... nein, das wirst du nicht tun!« rief Christine, indem sie, alle Scheu vergessend, den Arm des Bruders mit beiden Händen umklammerte. »Du hörst, daß Käthe ihren Vater anbetet. Du kannst ihr diesen Herzenskultus nicht rauben ... Du darfst es nicht ...«

Der Bruder hatte sich von ihr losgemacht, nun zuckte er die Achseln und sagte:

»Was ich tun darf, ist meine Sache, und was ich tun werde, das steht bei dir. Erkläre deiner Tochter, daß du zu der Heirat mit Friedrich deine Einwilligung nicht geben kannst, daß sie auch Georg nie gegeben hätte. Geh fort von hier, weit genug, um eine zufällige Begegnung zu vermeiden. Sorge, daß die jungen Leute keinerlei schriftlichen Verkehr unterhalten, und daß Friedrich eure Spur verliert – dann soll dein und deiner Tochter Götze unangetastet bleiben. Kannst du das nicht versprechen, so muß ich tun, was nötig ist ... ich muß, Christine! ganz abgesehen von mir selbst, glaube mir das! – Eine Ehe zwischen diesen beiden wäre geradezu eine Sünde gegen die Natur ... das werden deine Tochter und Friedrich selbst empfinden, wenn du mich zwingst, ihnen die Augen zu öffnen. Entschließe dich ... wähle den milderen Weg, sie zu trennen.«

Christine war auf den nächsten Stuhl gesunken, preßte die Hände zusammen und starrte vor sich nieder.

»Beides ist grausam – grausam und ungerecht!« rief sie. »Was haben die Kinder getan ...« »Sie büßen für Georg und dich!« sagte der Konsul hart. »Vergiß nicht, daß geschrieben steht, ›die Sünden der Väter will ich heimsuchen bis ins dritte und vierte Glied‹.«

Sie beugte den Kopf; ihre Tränen flossen auf die im Schoß gefalteten Hände. Einen Augenblick sah er sie schweigend an; sie tat ihm plötzlich leid; aber dann schämte er sich der weichen Regung, nahm seinen Hut und sagte kalt wie immer:

»Ich gehe jetzt und hoffe, daß du nach reiflichem Überlegen das Rechte erwählst – lebe wohl!«

Und ohne ihr die Hand zu reichen ging er hinaus. Sie brach aufschluchzend in sich zusammen.

Als das junge Paar zurückkam, hatte sich die Mutter niedergelegt. Friedrich, der vor Ungeduld brannte, etwas über die Unterredung mit seinem Stiefvater zu hören, ließ bitten, einen Augenblick zu ihr kommen zu dürfen, aber sie schlug es ab. Ihre Migräne wäre zu heftig, ließ sie ihm durch Käthe sagen; morgen hoffe sie jedoch ihn sprechen zu können.

»Für heute werde ich dich fortschicken müssen,« fügte Käthe hinzu. »Die Migräne scheint mir nur Vorwand zu sein ... es liegt der Mutter etwas auf der Seele, und sie wird am besten damit fertig, wenn ich mich zu ihr setze, daß sie sich ausklagen kann.«

Friedrich nahm Abschied und jagte nach der Stadt, um von dem Vater etwas zu erfahren; er fand nur Hellborn zu Haus.

»Der Herr Konsul sahen aus wie gewöhnlich, als Sie aus dem Wagen stiegen,« berichtete er, »und gesagt haben Sie über das Wiedersehen nicht ein Sterbenswörtchen. Sie sind dann noch in den Klub gegangen; es sollen ja schlimme Nachrichten gekommen sein ... die Leute reden von Krieg.«

Auch der Konsul sprach nur davon, als er spät abends nach Haus kam. Die Szene in Ems zwischen König Wilhelm und Benedetti wurde von allen Seiten in ihrer vollen Bedeutung aufgefaßt. Der Konsul hielt den Zusammenstoß zwischen Deutschland und Frankreich für unvermeidlich, und als Friedrich nach seiner Unterredung mit der Schwester fragte, sagte er kurz: er hoffe, daß sie zur Vernunft gekommen sei, und daß er mit dieser Geschichte nicht weiter belästigt würde, es gäbe jetzt Wichtigeres zu bedenken. Und dann erwog er, welche Schädigungen dem Handel im allgemeinen, sowie der eigenen Firma drohten, und welche Maßregeln getroffen werden müßten, um den eingegangenen Verpflichtungen vor einer möglichen Sperrung der Ostsee genügen zu können.

Friedrich war zu sehr Kaufmann, um nicht von der Bedeutung dieser Fragen erfaßt zu werden. Sein weiter Blick, sein schnelles Urteil, seine Tatkraft und Entschlossenheit waren wie immer auch heute des Stiefvaters Stolz und Freude; der junge Mann aber sah inmitten aller politischen und merkantilischen Berechnungen, wie Käthe mit angstvollen Augen am Bette der Mutter saß; in seine nächtlichen Träume folgte ihm das Bild, und als er am nächsten Morgen aus unruhigem Schlaf erwachte, war es wieder da.

Am liebsten wäre er gleich hinausgeritten, sich Nachricht zu holen, aber es gab ungewöhnlich viel zu tun. Briefe und Telegramme trafen in größerer Anzahl ein als sonst; Kaufleute, Reeder, Schiffsmakler, Landwirte erbaten sich Auskunft und Rat und brachten die widersprechendsten Nachrichten: der Krieg wäre erklärt; – die Franzosen ständen am Rhein; – sie hätten ihn bereits überschritten; – England würde mit Frankreich gehen, Italien mit Deutschland; – nein, umgekehrt; – Österreich hätte sich mit dem Feinde verbündet, Rußland würde uns zu Hilfe kommen und so weiter. An die Unvermeidlichkeit des Krieges glaubten alle – und alle waren kampf- und opferbereit.

In dies Berichten, Fragen, Beraten und Streiten fiel ein Brief aus Fischdorf. »Der Bote wartet,« sagte Hellborn, der Friedrich das zierliche Kuvert mit der schönen, klaren Handschrift brachte – den ersten schriftlichen Gruß, den Friedrich von der Geliebten erhielt. An sein Pult tretend, während der Vater die Unterhaltung weiterführte, durchflog er die engbeschriebenen Blätter. Sie lauteten:

»Lieber Friedrich! Nach unruhvoller, schlafloser Nacht ist die Mutter endlich in unruhvollen Schlaf gesunken. Sie fiebert und macht mir um so größere Sorge, da sie trotz ihres Unwohlseins darauf besteht, Fischdorf noch heut' im Tage zu verlassen.

Die Unterredung mit Onkel Anton ist jedenfalls sehr schmerzlich für sie gewesen. Sie klagt, er wäre härter als je; behauptet, ihre Rückkehr in die Heimat wäre ein Unrecht, eine Torheit, und will sobald als möglich wieder nach Amerika. Onkel Anton hat ihr gesagt, daß wir uns lieben, und nun erklärt sie, es ständen unüberwindliche Hindernisse zwischen Dir und mir; weder sie noch Onkel Anton könnten unsere Verlobung zugeben; auch mein verstorbener Vater würde niemals eingewilligt haben – wir müßten uns trennen. Wenn Du sie dabei gesehen hättest! es war, als ob sie sich totweinen, als ob ihr das Herz brechen müßte. Hätte ich's gelitten, sie hätte mir flehend die Hände geküßt.

Stundenlang haben wir hin und her gesprochen, und ich habe getan, was ich konnte, um unsere Herzensrechte zu verteidigen. Ich habe der Mutter gesagt, daß ohne Dich nicht nur von keinem Glück, sondern überhaupt von keinem Leben für mich die Rede sein könne; ich habe sie gefragt, wie sie, die alles für ihre Liebe getan und hingegeben hat, von uns Entsagung verlangen dürfe – es war umsonst. Sie geriet bei meinem Widerspruch in eine Aufregung, die mich das Schlimmste befürchten ließ, und so blieb mir endlich nichts übrig, als mich zu fügen, das heißt, in unsere Abreise zu willigen und für eine Weile jeden Verkehr mit Dir aufzugeben.

Du wirst mich hoffentlich nicht falsch verstehen, geliebter Friedrich! Ich weiß, daß der Versuch, mich von Dir loszureißen, vergeblich ist; aber um der Mutter willen muß ich ihn machen oder vielmehr den Anschein annehmen, als ob ich ihn machte, bis sie sich gefaßt und beruhigt hat. Jetzt ist sie krank vor Angst, daß Onkel Anton ausführen könnte, was er ihr oder vielmehr Dir und mir angedroht hat. Was es ist, will die Mutter nicht sagen; aber so groß ist ihre Furcht, daß ich sie kaum daran hindern konnte, bei Nacht und Nebel aufzubrechen, um sich den Augen des Bruders zu entziehen, und leider auch den Deinigen. Du müßtest unsere Spur verlieren, dürftest nie wieder von uns hören, sagte sie; das hätte Onkel Anton zur Bedingung gemacht.

Es ist vielleicht ein Unrecht gegen die Mutter, daß ich Dir das schreibe. Aber es wäre meinem Gefühl nach ein ebenso großes Unrecht, heimlich fortzugehen und Dich in der Qual der Ungewißheit zu lassen. Ach, Friedrich, Friedrich! ich weiß so nicht, wie ich es aushalten soll, auf unbestimmte Zeit von Dir getrennt zu sein und nicht einmal brieflich einen Liebesgruß mit Dir austauschen zu können. Wäre die Mutter nicht so ganz vereinsamt, ich hätte mich nicht dazu bringen lassen.

Später. Die Mutter ist erwacht; ihr Fieber ist stärker geworden und ebenso ihre Unruhe. Ich habe zum Arzt geschickt. Er erklärt, daß an Reisen nicht zu denken ist; aber die Kranke bleibt dabei, daß wir noch heute aufbrechen müßten. Geschieht es, so bekommst Du schriftlich oder telegraphisch Nachricht. – Ach! ich habe ja versprochen, den Verkehr mit Dir abzubrechen. Sag mir, was ich tun soll, sag mir, was recht ist – ich weiß es nicht mehr.

Leb wohl, die Mutter ruft. Wenn ich Dich jetzt nicht wiedersehe – der Mutter wegen muß ich auf Deinen Abschiedsbesuch verzichten –, so bleibe mir wenigstens in Gedanken nahe. – Leb wohl, leb wohl! Glaube an Deine Käthe.«

Friedrich antwortete in fliegender Eile:

»Wenn alles wäre wie sonst, meine Käthe, käme ich augenblicklich selbst statt dieser Zeilen, denn ich gestehe keinem Menschen weder das Recht zu noch die Macht, uns zu trennen. Aber es liegen heute so wichtige Aufgaben vor, daß ich mich nicht sogleich freimachen kann und Dich jetzt nur schriftlich bitte, alles zu tun, um Deine Mutter, wenigstens solange sie krank ist, von ihren Reiseplänen abzubringen. Das Weitere findet sich dann.

Ich glaube zu wissen, Geliebte, womit mein Vater Deine arme Mutter bedroht hat. Wenn ich es aber weiß, wenn wir es wissen und ich ihm das sage, so ist ihm die Waffe genommen. Sobald ich ihn allein habe, werde ich mit ihm sprechen. Auf Wiedersehen heute abend – ich hoffe Deine Mutter dann schon von den Gespenstern, die sie schrecken, befreien zu können. Fasse Mut, geliebtes Herz – auf Wiedersehen!«

Das sollte ihnen heute jedoch nicht zuteil werden. Die Kriegsnachrichten wuchsen von Stunde zu Stunde und mit ihnen sowohl die Aufregung in Stadt und Umgegend, wie das Zusammenströmen der Geschäftsfreunde im Hause des Konsuls. Selbst bei Tisch waren Vater und Sohn nicht allein. Friedrich mußte darauf verzichten, zur Sprache zu bringen, was ihm so sehr am Herzen lag. Es war schon viel, wenn er zu dem Ritt nach Fischdorf Zeit fand. Aber ehe er sie fand, kam ein zweiter Brief von Käthe, der ihn bewog, auf den Besuch zu verzichten.

»Lieber Friedrich!« schrieb sie, »wir bleiben vorläufig hier; die Mutter fühlt selbst, daß sie nicht reisen kann. Zu ihrer Beruhigung habe ich das dem Onkel geschrieben – Du glaubst nicht, wie schwer mir die paar Zeilen geworden sind! – Laß mich wissen, wie er sie aufnimmt, und ob ich hoffen darf, daß er die Mutter jetzt nicht weiter quält. Jede Gemütsbewegung, sagt der Arzt, könnte schlimme Folgen haben. Darum muß ich Dich auch, so weh es mir tut, inständig bitten, komm heute nicht! – ich darf die Mutter nicht verlassen, nicht auf eine Viertelstunde.

Du glaubst zu wissen, womit Onkel Anton die Mutter bedroht hat? Ist es das Ende der Gartenszene, das wir beide ahnen? – Meinst Du, daß Onkel Anton meinem Vater ...? Ich kann's nicht ausschreiben, und wenn ich mir vorstelle, daß es von anderen ausgesprochen werden könnte ... Friedrich! glaubst Du wirklich, daß wir diesen Erinnerungen Trotz bieten dürfen? – Haben nicht die Unserigen recht, wenn sie sagen, daß wir dadurch auf immer geschieden sind?

Da wurde ich abgerufen – ich schreibe mit immerwährenden Unterbrechungen – nun ist die Verzagtheit überwunden und ich glaube wieder, daß wir gegen das Verhängnis ankämpfen dürfen, das uns zu trennen droht.

So einfach, wie Du Dir vorstellst, wird es aber nicht zu besiegen sein. Wie soll ich, wenn sich das Schreckliche bestätigt, das wir ahnen, den Mut finden, der Mutter zu gestehen, daß ich die ganze Wahrheit kenne? – Mir ist, als ob sie daran sterben könnte, und jedenfalls würde sie durch diese Mitteilung noch einsamer und ärmer, als sie bis jetzt schon ist. Sie würde nicht glauben, daß meine Liebe und Verehrung für den Vater dieselben geblieben sind wie früher; würde nicht mehr in der alten Weise, als von einem Manne ohne Furcht und Tadel, von ihm zu sprechen wagen; würde gleichsam eine Schranke zwischen ihrer Empfindung und der meinigen fühlen, während wir bisher im Kultus unseres geliebten Toten ein Herz und eine Seele gewesen sind.

Die Mutter ruft und der Brief muß fort. Leb wohl! ich lege Dir meine Sorgen und Zweifel ans Herz – vielleicht findest Du einen Ausweg.«

Im ersten Moment war Friedrich in Versuchung, trotz Käthes Verbot nach Fischdorf hinauszureiten, um sie zu überzeugen, daß sie in der Rücksicht für die Mutter zu weit gehe; aber dann sagte er sich selbst, daß sie gewiß nicht ohne Not auf sein Kommen verzichtet hätte, und bezwang sein Verlangen. Wenn er gewußt hätte, wie oft sie ans Fenster trat, als die Stunde kam, die ihn sonst zu ihr brachte!

Aber er blieb gehorsam, und beiden verging der Abend in schweren Gedanken und wachsender Sehnsucht. Und dann kam eine qualvolle Nacht für Käthe und die Kranke, die in ihren Fieberphantasien immer wieder fragte: ob ihr Bruder noch nicht geschrieben hätte? oder ihn am Bette stehen sah, sich beschwerte, daß ihr seine Augen weh täten, und ungestüm fort verlangte. Erst gegen Morgen wurde sie ruhiger und schlief ein.

Käthe machte sich Vorwürfe, dem Ausspruch des Arztes nicht zuwider gehandelt und die Mutter in andere Umgebung gebracht zu haben. Wenn es irgend möglich war, wollte sie das im Laufe des heutigen Tages tun. Aber die Morgenpost brachte eine Antwort des Onkels, die Käthe dieser Aufgabe enthob.

Es war ein großes, an Mrs. Brown adressiertes, mit dem Konsulatssiegel geschlossenes Kuvert; das einliegende Briefblatt, ohne Anrede und Unterschrift, enthielt nur die Worte:

»Unter den jetzt eingetretenen Verhältnissen habe ich nichts dagegen einzuwenden, daß meine Schwester ihre Genesung in Fischdorf abwartet.«

Die Augen der Kranken leuchteten auf, als sie die Zeilen las.

»Nun bleiben wir, liebe Käthe,« sagte sie; »nun kann noch alles gut werden! Es tut Anton leid, so hart gegen mich gewesen zu sein ... dies ist der erste Schritt zur Versöhnung.«

Käthe schwieg; sie war anderer Ansicht, hatte eine andere Antwort erwartet. So schwer es ihr geworden war, an den Onkel zu schreiben, sie hatte sich doch bittend an ihn gewendet, sich als seine Nichte unterzeichnet, und nun ignorierte er sie so vollständig! Immer unfreundlicher erschien ihr das Bild des unbekannten Onkels, und wie unfreundlich war sein Brief! – oder hatte sie falsch gelesen? – Während die Mutter wieder einschlief und die bisherige Spannung ihrer Züge in ein sanftes Lächeln überging, nahm Käthe das Blatt und las noch einmal die wenigen, mit steifen, eckigen Zügen geschriebenen Zeilen:

»Unter den jetzt eingetretenen Verhältnissen habe ich nichts dagegen einzuwenden, daß meine Schwester ihre Genesung in Fischdorf abwartet.«

»Unter den jetzt eingetretenen Verhältnissen!« wiederholte Käthe. Was wollte der Onkel damit sagen? – was war anders geworden, seit er die Schwester gesehen hatte?

Plötzlich fuhr sie aus ihren Gedanken auf; war das nicht Friedrichs Schritt im Wohnzimmer? Geräuschlos eilte sie an die Tür, öffnete leise und lag im nächsten Augenblick in seinen Armen.

»Du! du!« mehr konnte sie nicht sagen; alle Angst und Qual der letzten Stunden schien noch einmal auf sie einzustürmen; das Gesicht an seine Schulter drückend, brach sie in Tränen aus.

»Geliebte, fasse dich!« bat er, sie zum Sofa führend, wo er sich an ihre Seite setzte; »für den Abschiedsschmerz ist später Zeit. In dieser letzten Stunde des Beisammenseins haben wir viel zu besprechen.«

Sie starrte ihn an.

»In dieser letzten Stunde,« wiederholte sie; »was soll das heißen?«

»Hast du es nicht erfahren? weinst du nicht darum?« fragte er; und sie an sich ziehend, fügte er hinzu: »Ich komme, dir Lebewohl zu sagen; es wird mobil gemacht ... Du weißt, ich bin Landwehroffizier ... morgen muß ich mich beim Regimente einstellen. Sei mein tapferes Herz!«

»Krieg!« rief Käthe; »ich habe bis jetzt nicht daran glauben können ... und du mußt mit?« – Wie in Todesangst krampfte sich ihr Herz zusammen, aber sie bezwang sich; Friedrich hatte recht – sie mußte tapfer sein, wie er es war. Alle Kraft und Selbstbeherrschung aufbietend, erzählte sie ihm von des Onkels Brief, dessen Bedeutung ihr jetzt klar wurde.

»Nur weil du fortgehst, läßt er uns hier,« fügte sie hinzu; »meine Mutter hatte schon große Hoffnungen auf diese Erlaubnis zum Hierbleiben gebaut.«

»Auch mir erleichtert sie den Abschied,« sagte Friedrich. »Mir ist, als wären wir uns näher, solange dich meine Gedanken in bekannter Umgebung aufsuchen können. Wenn es im Spätherbst und Winter nicht zu unwirtlich wäre, würde ich deine Mutter bitten, sich hier festzusetzen, damit ich euch bei der Rückkehr wiederfände.«

»Hältst du das für möglich?« fragte sie. »Wenn deine Rückkehr in Aussicht steht, werden wir sicherlich vom Onkel fortgetrieben, und wie weit die Mutter in ihrer Angst dann flüchtet ...«

»Dazu darf es nicht kommen,« fiel Friedrich ein. »Zur Aussprache mit dem Vater habe ich bis jetzt leider nicht Zeit gefunden, und es ist möglich, daß ich sie vor dem Abschied nicht mehr finde. Aber Hellborn, der um alles Bescheid weiß, wird ihm, wenn es not tut, die Eröffnung machen, daß auch wir beiden längst schon alles wissen.«

Käthe wechselte die Farbe. »Also ist es ... ist es wahr?« flüsterte sie; »woher weißt du das?«

»Hellborn hat es mir heute früh auf dringendes Verlangen eingestanden,« antwortete Friedrich. »Dein Vater hat dem treuen Menschen von Schweden aus, gleich nachdem mein Vater gestorben war, einen verzweiflungsvollen Brief geschrieben, durch den alle Anklagen seines Schwagers Anton bestätigt wurden ... Sieh nicht so unglücklich aus, Geliebte,« fügte er hinzu, indem er sie in die Arme zog. »Bedenke, es ist im Grunde nicht anders geworden ... Was wir Ahnung nannten, war schon mehr als das, war so gut wie Gewißheit. Hat sie bisher unsere Liebe nicht gestört, so soll sie das auch ferner nicht tun. Versprich mir, dich nicht wankend machen zu lassen, nicht einem falschen Pflichtgefühl unser Glück zum Opfer zu bringen ... versprich vor allem, daß du nicht – wie es deine Mutter verlangt – fortgehst, ohne mir Nachricht zu geben.«

»Gewiß nicht, du kannst auf mich bauen,« antwortete sie; ich werde dir schreiben, wo ich auch sein mag ... Aber du weißt, wie leicht in Kriegszeiten Briefe verloren gehen. So können wir uns doch aus den Augen kommen ...«

»Du hast recht, von den Zufälligkeiten der Feldpost darf unser Wiedersehen nicht abhängen,« sagte Friedrich, und nach einer Pause fuhr er fort: »Hellborn wird uns beistehen; er ist zwar feige, aber sonst zuverlässig und meint es gut mit dir und mir. Gib auch ihm Nachricht, wenn ihr den Aufenthalt wechseln solltet. Ich hoffe, daß es nicht geschieht – aber wenn du gehst, laß diese Vorsichtsmaßregel nicht außer acht.«

»Gewiß nicht, du kannst darauf rechnen, ich schreibe dem alten Herrn,« antwortete Käthe. »Wenn er mir, wie du sagst, freundlich gesinnt ist, tut er mir vielleicht auch etwas zuliebe ... Bitte ihn,« fügte sie, mit ihren Tränen kämpfend hinzu, »bitte ihn, mir gleich Nachricht zu geben, wenn dir ... wenn dir etwas zustoßen sollte ... wenn du verwundet wärst oder krank ... Onkel Anton würde das wohl gleich erfahren ...«

Friedrich hatte ihre Hände erfaßt: »Liebes Herz,« fing er an; aber mit einem Schreckensruf machte sie sich los, sprang auf und eilte auf die Tür des Nebenzimmers zu. Auf der Schwelle erschien ihre Mutter im langen, weißen Peignoir, mit blassem Gesicht und fieberheißen Augen.

»Mütterchen, wie konntest du aufstehen!« sagte Käthe, umfaßte die wankende Gestalt und wollte sie ins Schlafzimmer zurückführen; aber sie sträubte sich dagegen.

»Nein, nein, es kommt ein Gewitter, ich fühle es deutlich ... Du weißt, dann habe ich keine Ruhe ... laß mich hier bei euch,« bat sie, und zu Friedrich gewendet, der ebenfalls herangetreten war und die Kranke nach dem Ruhebett führen half, fügte sie hinzu: »Wie kommst du um diese Stunde nach Fischdorf? – bringst du mir etwa Botschaft von Anton?« Und während Käthe sie sorgsam in die Kissen bettete, sah sie mit erwartungsvollem Blick zu dem jungen Manne auf.

»Nein, liebe Tante, ich habe den Vater heute morgen kaum gesehen,« antwortete er. »Es gehen wichtige Dinge vor. Von der feindlichen Haltung Frankreichs hast du gelesen ... es wird mobil gemacht ... ich bin hier, um Abschied zu nehmen.«

»Hoffentlich nur blinder Lärm!« sagte die Tante.

»Schwerlich!« antwortete Friedrich. »Wie du jetzt das kommende Gewitter empfindest, so glaube ich den nahen Ausbruch des Krieges zu fühlen.«

Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er, Käthes Hand erfassend, mit bewegter Stimme fort:

»Ehe ich so ernsten Dingen entgegengehe, möchte ich hier alles geordnet haben. Mein Vater hat dir gesagt, daß wir uns lieben ... er sträubt sich noch gegen unseren Bund, aber du, ... gib du uns deinen Segen!«

Sie hatte sich aufgerichtet.

»Nein, nein!« sagte sie und streckte abwehrend die Hände aus; »ich kann es nicht ... es wäre kein Heil für euch. Vergiß nicht, daß geschrieben steht: ›Der Mutter Segen baut den Kindern Häuser, aber des Vaters Fluch reißt sie nieder.‹«

»Der Vater wird anderen Sinnes werden,« fing Friedrich an.

»Niemals!« fiel ihm die Tante ins Wort. »Diesen Morgen, als sein Brief kam, habe ich das auch gehofft, aber nun sehe ich, warum er uns hier läßt! ... Nein, nein, er ist unbeugsam ... meine arme Käthe ist ihm verhaßt ... lieber als dich an sie verlieren, sagte er neulich, würde er dich tot im Sarge sehen ...«

»Mutter!« rief Käthe vorwurfsvoll.

Die Kranke sank in die Kissen zurück.

»Ich hätte das wohl nicht sagen sollen?« fragte sie mit verstörter Miene. »Lieber Friedrich, du wirst doch keine schlimme Vorbedeutung darin sehen?«

»Sei ruhig!« bat der junge Mann; »ich habe keinerlei Aberglauben, und so schlimm, wie es klingt, hat es der Vater sicher nicht gemeint. Und wenn er es hätte ... darauf Rücksicht nehmen kann und will ich nicht. Wenn ich wiederkomme – Gott gebe, daß es in nicht zu ferner Zeit geschieht – dann, liebe Käthe, ›gehör' ich mein und dein‹, wie es im Volksliede heißt.«

Er wollte sie an sich ziehen, aber unfähig, ihre Tränen zurückzuhalten, machte sie sich los und eilte auf die Veranda.

Friedrich ging ihr nach, trat an ihre Seite und sah – während sie, an seine Schulter gelehnt, die Angst ihres Herzens ausweinte – in das schnell aufsteigende Gewitter hinaus.

Es war drückend schwül, jede Spur von Sonnenschein war verschwunden; das Meer lag in weißlich metallischem Glanze unter tiefdunklen, sich lautlos vordrängenden und durcheinander schiebenden Wolkenmassen. Fern am Horizonte entdeckten Friedrichs scharfe Augen ein Schiff, einen Dreimaster; er hatte die Segel eingezogen und schien nicht von der Stelle zu rücken. Kein Lufthauch war zu spüren, kein Blatt bewegte sich an Baum und Strauch, nur der Schrei der Möwen schrillte hin und wieder durch die unheimliche Stille. – Nun aber zuckte ein Blitz grellfarbig durch das Gewölk, ein Donnerschlag folgte, der Wind brach heulend los und aufrauschend antwortete das Meer, das plötzlich in breiten, dunklen, schaumgekrönten Wogen heranrollte, während eine Regenflut niederrauschte, ein Blitz dem andern folgte, der Donner krachte und vergrollte und vom wachsenden Wellengebraus verschlungen wurde, bis ein neuer Donnerschlag Wind und Wasser übertönte.

Aufatmend sah Friedrich in den Kampf der Elemente hinaus.

»Wie das wohltut!« sagte er; »nimmt es dir nicht den Druck von der Seele?«

»Nein,« antwortete sie, sich enger an ihn schmiegend; »es ängstigt mich ... die Mutter hat mich angesteckt ... sie hat vorhin schon von schlimmen Vorbedeutungen gesprochen ... was wird sie nun erst sagen!«

»So laß uns der guten Vorbedeutung trauen,« fiel Friedrich ein. »Sieh dort!« er deutete auf das Schiff, das jetzt unter dem Druck des Windes mit vollen Segeln schnell und sicher über die Wellen dahinflog.

»Kinder, wo bleibt ihr denn?« rief die ängstliche Stimme der Kranken.

»Wir kommen!« rief Friedrich zurück; dann schloß er Käthe in die Arme und küßte sie auf den Mund.

»So nehme ich Abschied von dir und so werde ich dich wieder begrüßen,« sagte er; »denk an meinen Spruch: Man muß helfen, wenn Gott gutes Korn machen soll.«

Sie sah durch Tränen lächelnd zu ihm auf; der alte, fröhliche Mut war wieder in ihren Augen.

»Du sollst mit mir zufrieden sein; ich will mich tapfer halten,« sagte sie; dann gingen sie zu der Mutter zurück.

Friedrich war fort; der Krieg war zum Ausbruch gekommen, und auch für Käthe hatte jenes schwere Tagewerk begonnen, das sie mit Hunderttausenden teilte: die Aufgabe, ihre Sorgenlast von Stunde zu Stunde, von Post zu Post zu tragen. Aber sie hielt Wort, sie blieb tapfer, auch als das Armeekorps, dem Friedrich angehörte, und das anfangs zur Verteidigung des Landes bestimmt gewesen war, nach dem Kriegsschauplatze berufen wurde. – Sie gab Friedrich recht, daß es ein Segen war, den Feind in Feindesland bekämpfen zu dürfen, statt ihm auf heimischem Boden zu begegnen. Mehr und mehr sah sie mit Friedrichs Augen, urteilte wie er, hoffte wie er und fühlte in jedem Worte, das er schrieb, seinen warmen, treuen Herzschlag.

Äußerlich gingen ihre Tage gleichförmig hin. Die Mutter wurde zwar besser, blieb aber schwach und kleinmütig. Käthe verließ sie nur, um auf der Post Briefe und Zeitungen gleich nach der Ankunft in Empfang zu nehmen. Und dann eilte sie an den einsamen Strand hinunter – die meisten Badegäste waren nach Haus zurückgekehrt – und las, langsam den Rückweg verfolgend, die Liebesgrüße des geliebten Mannes oder die Zeitungsberichte über die Waffentaten unserer Heere.

So hatte sie in Sonnenschein und Regen, bei Wind- und Wellenbrausen von den Kämpfen bei Saarbrücken und Spicheren, der Erstürmung des Geisbergs und der Entscheidungsschlacht bei Wörth gelesen, die den Elsaß an Deutschland zurückgab. Dann war, nach Tagen vergeblichen Wartens, einmal wieder ein Brief von Friedrich gekommen, aus einem kleinen französischen Grenzorte datiert. Er schrieb, daß sein, im eiligen Vormarsch begriffenes Korps sich in den nächsten Tagen mit der zweiten Armee zu vereinigen und endlich in die Aktion einzutreten hoffe. Dann wurde am 16. August die Schlacht von Mars-la-Tour mit dem furchtbaren Waldgefecht von Vionville geschlagen, und zwei Tage später kam der heiße, blutige Tag von Gravelotte, zu dessen siegreichem Ausgang – wie die Telegramme berichten – zuletzt noch die Pommern entscheidend mitgewirkt hatten.

So war denn Friedrichs Wunsch erfüllt, er hatte im Feuer gestanden! Wie im Fieber las Käthe, was die Zeitungen in den nächsten Tagen von den Episoden der Schlacht erzählten, in der auf allen Seiten mit Heldenmut gekämpft worden war, und mit quälender Deutlichkeit zeigte ihr die Phantasie, was sie gelesen hatte, so daß es wie die Erinnerung an Selbsterlebtes vor ihr stand.

Am schlimmsten war es nachts, wenn sie, plötzlich aus dem Schlafe aufschreckend, dalag und lauschte. Dann klang es durch das Rauschen der Meereswogen wie das Getöse einer fernen Schlacht, das näher und näher kam, bis sie die einzelnen Stimmen der gewaltigen Todessymphonie unterscheiden konnte: den Donner der Kanonen, das Knattern des Gewehrfeuers, Trommelwirbel, Trompetensignale, Wutgeschrei und Todesröcheln.

Dabei stiegen im Dämmerschein der Sommernacht Bilder um Bilder auf; ein nebelhaftes Durcheinanderdrängen unfaßbarer Schemen, das sich nach und nach zu festumrissenen Gestalten, Gruppen und Szenen verdichtete. Bald war es die Einnahme von Ste. Marie aux Chenes, bald der hartnäckige Kampf um den Wald von Genivaux oder die Erstürmung von St. Privat und der Höhen von Armanvillers. Am deutlichsten aber sah oder vielmehr durchlebte sie die letzte Episode der Schlacht, den Kampf der Pommern bei Gravelotte, dessen Beschreibung sich ihr bis auf jede Einzelheit eingeprägt hatte.

Zwischen bewaldeten Höhen, durch den engen Taleinschnitt der Mance stürmen sie heran, über die Brücke von St. Hubert, dem mörderischen Feuer der Mitrailleusen und Chassepots entgegen, womit sie der Feind von der Höhe des Plateaus Moscou-la-ferme begrüßt. »Festgeschlossen, Leute, vorwärts!« rufen die Offiziere; die Tambours schlagen Sturmmarsch, die Hornisten blasen »schnell avancieren«, ans allen Reihen erschallt nicht endendes Hurra!

So geht es die Höhe hinan, während die feindlichen Kugeln verderbenbringend in die Reihen der Anstürmenden einschlagen und ihre eigene Korpsbatterie über ihre Köpfe hinweg das Plateau beschießt. Ein mörderischer Kampf beginnt. Die Sonne geht unter, die Dunkelheit bricht herein; auf allen Punkten des weiten Schlachtfeldes wird es ruhig – nur hier oben dauert das wütende Ringen noch Stunde um Stunde fort, beleuchtet durch die Flammen des brennenden Gehöftes von Point du jour, und das immer wieder ausbrechende Mitrailleusen- und Chassepotsfeuer des Feindes, der langsam, jeden Fuß breit Erde verteidigend, zurückweicht, und endlich, endlich, nach einer abermaligen Massensalve, plötzlich verstummt. – Auch dies Stück des Schlachtfeldes ist unser! und nun wird es auch hier oben still – nur das Ächzen der Verwundeten steigt zu dem dunklen Nachthimmel auf. Ist Friedrichs Stimme darunter? oder liegt er, auf immer verstummt, unter den Haufen von Leichen, die den blutgetränkten Boden bedecken? – Mit einem Angstschrei fährt Käthe empor – und plötzlich ist der Spuk verschwunden, nur das gleichmäßige Rauschen der See ist zu hören, und der stille Dämmerschein der Sommernacht liegt über Meer und Land.

Und dann kam der Morgen wieder, und das Hoffen und Warten von Post zu Post begann aufs neue. – Und endlich – Käthe war zumut, als hätte sie seit Monaten vergebens gewartet – wurde ihr am Postschalter ein Kuvert mit der geliebten Handschrift gereicht. Sie mußte allein sein, ehe sie lesen konnte, und eilte, achtlos für alles, was sie umgab, zum Strande hinunter. So sah sie auch nicht, daß am Gasthause ein alter Herr, der eben einem Einspänner entstiegen war, Miene machte, auf sie zuzutreten.

Erst am Meere unten hemmte sie den Schritt und erbrach den Brief; aber ihre Erwartung wurde getäuscht – er war vor der Schlacht von Gravelotte geschrieben und enthielt nur die Worte:

»Eben haben wir Befehl erhalten, in den Kampf mit einzugreifen. Wir alle sind von dem Verlangen erfüllt, unsere Pflicht zu tun, und von der Hoffnung begeistert, endlich auch zum Siege unserer Waffen helfen zu dürfen. Laß dich in dieser ernsten, schönen Stunde innig grüßen, meine Käthe, und vergiß nicht, daß wir im Leben wie im Tode in Gottes Hand sind.«

»Im Leben wie im Tode!« wiederholte Käthe, während sie mit zitterndem Herzen über das ruhig wallende, von Sonnenlichtern überstreute Meer hinaussah. War es möglich, daß er, dessen Bild ihr so lebensvoll vor der Seele stand, nicht mehr in dies schöne, sonnige Leben hineingehörte?

Eine fremde Stimme, die ihren Namen nannte, entriß sie ihren Gedanken; sich hastig umsehend, erblickte sie einen alten, hageren, kahlköpfigen Mann, der mit dem Hut in der Hand ehrfurchtsvoll wiederholte:

»Miß Kate Brown, nicht wahr? ... Ich bin Hellborn,« fügte er hinzu.

Käthes Herz stand still.

»Sie haben Nachricht ... er ist tot?« fragte sie kaum hörbar.

»Nein, Gott sei Dank, so schlimm ist es nicht!« antwortete Hellborn; »nur verwundet ist der junge Herr ... der Herr Konsul haben heute früh die Nachricht bekommen.«

»Verwundet!« wiederholte Käthe, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, obwohl diese Kunde nach dem, was sie einen Augenblick gefürchtet hatte, wie Erlösung klang. Das sagte sie sich auch selbst, und sich gewaltsam zusammennehmend, fügte sie hinzu: »Was wissen Sie sonst noch? ist er schwer verwundet? – wo ist er? – bitte, sagen Sie mir alles!«

Hellborn schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht viel mehr, als was ich schon gesagt habe,« gab er zur Antwort. »Der Herr Konsul haben mich den Brief nicht lesen lassen, den ein Kamerad des jungen Herrn geschrieben hatte; auch den Ort, wo sich das Feldlazarett befindet, haben der Herr Konsul nicht genannt ...«

»Aber die Art der Verwundung kennen Sie doch wohl?« fiel Käthe ein.

»Ja, eine Beinwunde ist's,« antwortete Hellborn; »ob aber leicht oder schwer, weiß ich nicht zu sagen. Nur daß Herr Friedrich starkes Wundfieber hat, steht noch in dem Briefe, und daß sich die Anverwandten nicht ängstigen möchten – seine gute Natur würde gewiß alles überwinden, und für die rechte Pflege wäre gesorgt ... so wollen wir denn das Beste hoffen!« Der alte Mann trocknete sich die Augen.

»Das wollen wir!« sagte Käthe, ihm die Hand reichend. »Und nun kommen Sie mit zur Mutter. Sie hat oft von Ihnen gesprochen und wird sich freuen, Sie einmal wiederzusehen.«

Hellborn hatte zögernd Käthes Hand erfaßt und schnell wieder losgelassen. Er sah noch verschüchterter aus als gewöhnlich.

»Mitgehen ... sehr gern ... es wird mir eine Ehre sein!« antwortete er, an ihrer Seite hinschreitend. »Ich wäre gern schon mal gekommen, aber der Herr Konsul hätten es nicht gern gesehen ...«

»Um so gütiger ist es von Ihnen, daß Sie mir heute Nachricht gebracht haben,« sagte Käthe, als Hellborn plötzlich abbrach. Er nahm den Hut ab und trocknete sich die Stirn.

»Nein, ich kann's nicht aushalten, daß Sie mich darum loben!« rief er; »und wenn Sie mich dabei mit den guten Augen so freundlich ansehen ... nein, lieber will ich's gleich eingestehen, daß ich nicht aus Freundschaft für Herrn Friedrich gekommen bin und auch nicht, um Ihnen was zuliebe zu tun, sondern weil mich der Herr Konsul hergeschickt haben.«

»Onkel Anton!« sagte Käthe und ihre Augen leuchteten auf. »Hat ihn die Sorge um Friedrich versöhnlich gestimmt?«

Hellborn schüttelte den Kopf.

»Ach nein, Fräulein Käthe, der Herr Konsul sind nicht von denen, die im Unglück demütig werden,« antwortete er; »im Gegenteil, Sie steifen sich dann erst recht auf und wollen nichts von Nachgeben wissen ... Hierher haben Sie mich auch nicht aus gutem Herzen geschickt ... Sie haben mir vielmehr einen Auftrag gegeben ... ich hätte ihn gar nicht annehmen sollen ... Aber der Herr Konsul haben eine Art zu befehlen und einen dabei anzusehen ...«

»Hat er plötzlich wieder Lust, uns hier fortzutreiben?« fragte Käthe. »Wenn Sie das etwa der Mutter sagen sollen ...«

»Durchaus nicht!« fiel Hellborn ein. »Im Gegenteil – wenn ich den Herrn Konsul richtig verstanden habe, so liegt ihm gerade daran, daß Sie hier bleiben. Ich sollte nämlich ausspionieren, ob Herr Friedrich auch Ihnen Nachricht geschickt hätte, und ob Sie etwa daran dächten, hinzureisen, um ihn zu pflegen ... Der Herr Konsul würden dann Schritte tun, um dies zu verhindern.«

»Die Mühe kann sich der Onkel ersparen,« sagte Käthe halb bitter, halb verächtlich. »Auch spionieren zu lassen, ist nicht nötig. Sagen Sie ihm, daß ich keine Nachricht von Friedrich habe, daß ich nicht weiß, wo er ist, aber auch, wenn ich's wüßte, der Mutter wegen nicht daran denken dürfte, zu ihm zu gehen ... Nachgesonnen, wie es möglich zu machen wäre, wenn er verwundet werden sollte, und mich gesehnt, es zu können, habe ich, seit ich weiß, daß er im Kampfe gewesen ist ... Und wenn es schlimmer mit ihm werden sollte, wenn er je nach mit verlangte ...«

Ihre Stimme versagte; eine Zeitlang gingen sie schweigend weiter.

»Fräulein Käthe!« fing Hellborn endlich schüchtern an; sie schrak zusammen, ihre Gedanken waren weitab gewesen. »Fräulein Käthe, ich möchte mich Ihnen hier empfehlen,« fuhr er fort. »Sie haben eine schlechte Meinung von mir gefaßt ... Sagen Sie mir nichts dagegen, es ist nicht anders möglich! Und nun zu der Frau Mutter zu gehen und bei jedem Worte denken zu müssen, Sie könnten das wieder für ein Aushorchen halten ...«

»Kommen Sie nur,« sagte Käthe, die mit dem alten verängstigten Manne Mitleid fühlte. »Kommen Sie, die Mutter wird sich freuen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Heute nicht!« bat er in einem Tone, der Käthe zu Herzen ging. »Mir ist zu schlecht zumut ... ein Kreuz ist's, wenn man keine Courage hat! Wenn ich nur einmal zu dem Herrn Konsul sagen könnte: das tue ich nicht! – Aber wenn Sie mich mit den strengen Augen ansehen ... in ein Mauseloch möcht' ich mich verkriechen. So habe ich auch diesmal den Auftrag angenommen ... Das muß ich erst gutmachen, damit Sie Vertrauen zu mir haben können.«

»Das habe ich jetzt schon,« sagte Käthe und reichte ihm die Hand. »Ich habe ja gesehen, daß Ihre Liebe sogar die Furcht vor Onkel Anton überwindet.«

»Wie gut Sie sind!« rief Hellborn. »Ganz wie Herr Georg, der wußte einen auch immer aufzurichten ... wenn ich nur mal was für Sie tun könnte!«

»Das können Sie,« sagte Käthe; »geben Sie mir Bescheid, wenn Nachricht von Friedrich kommt ... sagen Sie mir alles, auch das Schlimmste.«

»Gewiß und wahrhaftig, Sie sollen alles hören, was ich erfahre,« gelobte Hellborn. »Vor dem Schlimmsten wird uns ja Gott der Herr in Gnaden behüten.«

So schieden sie und Käthe ging zu der Mutter, ihr die eben empfangene Nachricht mitzuteilen. Christine brach in Tränen aus.

»Meine arme Käthe,« sagte sie, »du wirst ihn verlieren; mache dich nur gleich darauf gefaßt! Ich habe das gewußt, sobald ich erfuhr, daß er mitmußte ... Wir sind nun einmal zum Unglück auserlesen ... wenn wir nur nicht hierher gekommen wären.«

In dieser Stimmung blieb sie, und ihre Verzagtheit machte Käthes Aufgabe noch schwerer. Aber sie gab sich redlich Mühe, auch jetzt noch tapfer zu bleiben, und wenn ihre Kraft zusammenzubrechen drohte, wiederholte sie sich Friedrichs Worte, die letzten vielleicht, die er für sie geschrieben hatte: »Vergiß nicht, daß wir im Leben wie im Tode in Gottes Hand sind.«

Endlich, nach langem, bangem Warten bekam auch Käthe Nachricht von dem Verwundeten. Er war mit einem der ersten Transporte in ein Heidelberger Hospital gebracht und befand sich, wie er Käthe durch einen Leidensgefährten schreiben ließ, in bester Pflege. Die Heilung der Wunde nahm erwünschten Verlauf, nur die Kräfte wollten nicht wiederkommen. Er hatte starken Blutverlust gehabt und eine ganze Nacht hilflos auf dem Schlachtfelde gelegen. Käthe solle sich aber nicht sorgen, fügte der Briefschreiber hinzu, er hatte ohne Friedrichs Vorwissen den Arzt gefragt und die tröstlichsten Zusicherungen erhalten. Briefe dürfe Friedrich empfangen und sehne sich sehr danach.

So war denn wieder ein Verkehr von Herz zu Herzen hergestellt! Käthe schrieb dem Geliebten lange, glückselige Briefe, und schon dem nächsten Krankenbericht waren von Friedrichs Hand ein Paar Worte beigefügt. Aus den Worten wurden Zeilen, endlich kam ein Brief, der nur noch von fremder Hand adressiert war.

Friedrich schrieb, es gehe ihm so viel besser, daß sein Weitertransport in Aussicht genommen sei; wahrscheinlich würde er nach Berlin gebracht, und dort hoffe er die Geliebte zu sehen. Sobald er Bestimmtes wüßte, sollte sie Bescheid haben.

Käthe war selig. Wenn sie Friedrich wieder hatte, war alles gut – was weiter geschehen würde, fragte sie nicht.

Die Mutter erklärte sich zu der Übersiedelung nach Berlin bereit; der Aufenthalt in Fischdorf war ihr längst unbehaglich, nur vor der Reise ins Unbestimmte, Zweck- und Ziellose hatte sie sich noch immer gescheut.

»Ich bin mit allem einverstanden, was dir Trost und Freude geben kann,« sagte sie; »aber hoffe nicht zu fest ... du sollst sehen, es kommt noch etwas dazwischen.«

Diesmal sollte sie recht behalten; in der Abenddämmerung des nächsten Tages – Käthe hatte ein Telegramm erhalten, das Friedrichs Abreise von Heidelberg meldete, und war schon mit Packen beschäftigt – kam ein expresser Brief von Hellborn. Auf die Nachricht, daß Friedrich nach Berlin geschafft werden solle, schrieb der alte Mann, wäre der Konsul, wahrscheinlich in der Besorgnis, daß seine Schwester und Käthe dorthin gehen könnten, heute nachmittag abgereist, um den Verwundeten nach Haus zu holen.

Nach Haus! damit war Käthe von ihm abgeschnitten, wenigstens von dem persönlichen Verkehr mit ihm, und dazu bestand die Mutter darauf, trotz dieses Zwischenfalles die beabsichtigte Übersiedelung nach Berlin auszuführen.

»Du wirst es leichter ertragen, Friedrich nicht zu sehen, wenn du durch eine weitere Entfernung von ihm geschieden bist,« sagte sie. »Überhaupt wirst du dir deine Liebe aus dem Sinn schlagen müssen, armes Kind! – Je schneller und energischer du es tust, um so besser für uns alle.«

Aber Käthe hoffte noch immer – auf was, hätte sie freilich nicht zu sagen gewußt – und bestürmte die Mutter so lange, bis sie wenigstens einen Aufschub der Reise erlangte. »Ich will ja nur hören, wie Friedrich den weiten Transport überstanden hat,« sagte sie, und dann schrieb sie an Hellborn und bat ihn dringend, ihr alles mitzuteilen, was er von dem Kranken erfahren würde.

Am nächsten Morgen bekam sie die Nachricht, daß Friedrich in Berlin angekommen sei. Hellborn schrieb, der Konsul hätte telegraphiert, daß er dem Verwundeten einen Ruhetag geben müsse; erst zu dem Nachmittagszuge des folgenden Tages sollte der Wagen nach dem Bahnhofe geschickt werden. Sobald Friedrich angekommen wäre, fügte Hellborn hinzu, würde er telegraphieren und später ausführlich schreiben oder mündlich Nachricht bringen.

In der ganzen Trennungszeit war Käthe keine Nacht so lang und schwer geworden wie diese. Wie sie es ertragen sollte, Friedrich so nahe zu wissen, ohne ihn zu sehen, begriff sie nicht, und ebenso unmöglich schien es ihr, den Willen der Mutter zu erfüllen und abzureisen. Die abenteuerlichsten Pläne, wie sie sich unter irgend einer Verkleidung in das Haus des Onkels wagen und Zutritt im Krankenzimmer erlangen könnte, gingen ihr durch den Sinn, aber im nüchternen Tageslicht gab sie dieselben wieder auf. Sie dachte auch daran, dem Onkel zu schreiben, ihn um eine, wenn auch noch so kurze Unterredung mit Friedrich zu bitten, war jedoch schon im nächsten Augenblick von der Erfolglosigkeit dieses Versuchs überzeugt.

Und dann kam die Zeit, in der Friedrich von Berlin abfahren mußte. Immer größer wurde Käthes Unruhe, ihre Sehnsucht, von ihm zu hören, und die Sorge um ihn.

Aber »die Stunde rinnt auch durch den rauhsten Tag« – und so kam auch die Zeit heran, in welcher Friedrich das Vaterhaus erreicht haben mußte und das versprochene Telegramm eintreffen konnte. Warum kam es nicht! Wieder und wieder sah Käthe nach der Uhr, las Hellborns Brief und studierte das Kursbuch; aber es blieb dabei: Hellborn hatte gleich nach Friedrichs Ankunft zu telegraphieren versprochen, und der Nachmittagszug mußte längst angekommen sein. Endlich hielt es Käthe nicht mehr aus; sie kam auf die Vermutung, das Telegramm könnte liegen geblieben sein, und machte sich auf den Weg, danach zu fragen.

In Gedanken verloren eilte sie vorwärts und trat, als ihr in der engen Dorfgasse ein Wagen begegnete, ohne aufzusehen beiseite; aber eine bekannte Stimme rief ihren Namen, der Wagen hielt und Hellborn stieg aus, mit so verstörter Miene, daß Käthe, schon ehe er sprach, auf Schlimmes gefaßt sein mußte.

»Was ist geschehen?« fragte sie, schnell herantretend, während er ihr die zitternde Hand entgegenstreckte.

»O Fräulein Käthe ... das Unglück!« rief er. »Aber der Herr Konsul sind selber schuld – hätten Sie Herrn Friedrich in Berlin gelassen ...«

»Was ist geschehen?« wiederholte Käthe; ihr Gesicht war marmorweiß, sie war wie versteinert vor Angst und Schrecken.

»Die Wunde ist wieder aufgebrochen,« antwortete Hellborn. »Man hat Herrn Friedrich nicht bis nach Haus bringen können ... er liegt im Bahnwärterhäuschen an der Waldstation ... ein Herr, der bis dahin mit im Coupé war, hat mir Bescheid gebracht. Zum Glück ist unter den Reisenden ein junger Arzt gewesen, der ist dort geblieben ... aber unser Herr Medizinalrat fährt auch noch mit dem nächsten Zuge hin ...«

»Ich fahre mit!« fiel Käthe ein. Hellborn sah nach der Uhr.

»Wenn Sie nur noch hinkommen,« sagte er; »ich habe eine halbe Stunde verfahren, ehe ich den Herrn Medizinalrat antraf. Aber später geht noch ein Packzug ...«

»Warten kann ich nicht!« fiel Käthe wieder ein. »Geben Sie mir Ihren Wagen, lieber Hellborn, und gehen Sie zur Mutter, ihr Bescheid zu bringen ... Vielleicht kommen Sie mir nach ... Wie heißt die Station?«

»Waldstation ... es ist die zweite von hier ab,« antwortete Hellborn, und ihre Hand erfassend, fügte er ängstlich hinzu: »Sie können doch nicht allein hinfahren ... fürchten Sie sich denn nicht vor dem Herrn Konsul?«

Sie sah ihn mit großen Augen an.

»Nein!« sagte sie, »ich fürchte nur ...« Damit brach sie ab. machte sich los und stieg in den Wagen. »Schnell nach der Stadt zurück, nach dem Bahnhofe!« rief sie dem Kutscher zu, und während dieser umlenkte, sah Hellborn, wie sie, die Hände im Schoß gefaltet, unbeweglich dasaß und vor sich hinstarrte.

»Die stirbt Herrn Friedrich nach, wenn wir das Unglück haben sollten!« sagte Hellborn zu sich selbst und schlug schweren Herzens den Weg zur Strandvilla ein.


»Lebt er noch?« fragte sich Käthe, als sie im stillen, goldigen Herbstsonnenschein dahinfuhr. Aber während sie nichts anderes denken konnte, und jeder Schlag ihres Herzens diese bange Frage wiederholte, blieben ihre Sinne für jeden Eindruck empfänglich. Sie spürte den kräftigen Geruch des Tannenwaldes, den die Straße durchschneidet; sie sah, wie in der klaren Luft weiße Fäden hinzogen und wie die Ebereschen zur Seite des Weges im roten Beerenschmuck prangten; sie hörte das süße Singen der Stare, die hin und wieder auf den Bäumen rasteten, das Krächzen einer vorüberfliegenden Krähenschar und das langgezogene Rauschen der Tannenwipfel.

Und dann kam sie an freies Feld; ein Schäfer trieb seine Herde darauf hin. Und dann kamen Gartenhecken und kleine Häuser, und eine Gartenmauer mit eisernem Gittertor, und ein Pavillon mit geschlossenen Fensterläden. Das war der Schauplatz jener Unglücksszene, die Onkel Antons Antipathie zum Haß gesteigert hatte und vielleicht heute noch – nach beinahe zweiundzwanzig Jahren – ein neues Opfer forderte.

Und nun rasselte der Wagen über das Pflaster der Stadt; da war der Hafenplatz wieder, dort das Fenster, an dem Käthe an jenem Maiabend gesessen und von Friedrich geträumt hatte; da war sein Vaterhaus ... ob er es jemals wiedersah?

Weiter ging es, zur andern Seite der Stadt hinaus, und endlich war der Bahnhof erreicht. Der Zug stand da, und bald saß auch Käthe in einem der Coupés – wie sie dahin gekommen war, wußte sie nicht – und die teilnehmend-neugierigen Blicke der Mitreisenden taten ihr weh, und der Lärm der Abfahrt drang betäubend auf sie ein; und während sie wieder jede Einzelheit unterschied: das Laufen und Rufen der Schaffner, das Rollen der Gepäckkarren, das Zuschlagen der Türen, den grellen Klang der Perronglocke, das Zischen, Puffen und Pfeifen der Maschine, horte sie immer das schreckliche: »Lebt er noch?« – und dann bildeten die rasselnden Schläge des schneller und schneller fortschießenden Zuges die taktmäßige Begleitung dazu, während Felder, Wälder und Dörfer auftauchten und verschwanden, und immer neue Felder, Wälder und Dörfer – – stundenlang, tagelang, eine Ewigkeit – wie es ihr schien – und immer dasselbe taktmäßige Rasseln und Schlagen zu der Frage: »Lebt er noch? – lebt er noch?«

Endlich hieß es: »Waldstation!« Käthe stand auf dem Perron und der Zug brauste weiter. Da war eine kleine, offene Wartehalle, ein kleines Gelaß für den Billettverkauf und jenseit eines Fahrweges, der sich zur Rechten und Linken der Bahn im Walde verlor, ein Wärterhäuschen.

Sich gewaltsam aufraffend, ging Käthe darauf zu; ein korpulenter Herr in mittleren Jahren, der mit ihr ausgestiegen war, überholte sie und trat hinein.

»Der Medizinalrat!« sagte sie zu sich selbst. Jetzt hatte auch sie die offene Tür erreicht; Stimmengemurmel war zu hören. »Lebt er noch?« schrie ihr Herz, und die Hände zusammenpressend, trat sie über die Schwelle.

Der enge Raum war ganz erfüllt von Sonnenlicht; es überströmte auch das Lager, auf dem Friedrich gebettet war; bleich, regungslos, mit geschlossenen Augen lag er da. Der Medizinalrat und ein junger, dunkelhaariger Mann – wahrscheinlich der Arzt, der, wie Hellborn erzählt hatte, zum Beistande des Verwundeten hiergeblieben – waren um ihn beschäftigt. Der Konsul – Käthe ahnte, daß er es war – stand, ihr den Rücken zuwendend, am Fußende des Bettes.

Käthe blieb atemlos lauschend am Eingange stehen, und wieder sah und hörte sie alles, was vorging, obwohl ihre ganze Seele von der tödlichsten Angst um Friedrich erfüllt war.

»Der Blutverlust ist schon während der Fahrt sehr bedeutend gewesen, und ich habe Mühe gehabt, ihm Einhalt zu tun,« sagte der junge Arzt. »Jetzt ist der Verband wieder in Ordnung, aber ...«

»Sie haben doch keine ernsten Befürchtungen, Herr Medizinalrat? – Herr Doktor?« fiel der Konsul ein, und die sonst so harte, kalte Stimme bebte.

Der Medizinalrat zuckte die Achseln. Er prüfte nochmals Puls und Herzschlag, dann richtete er sich auf und sagte dem jüngeren Kollegen ein Paar lateinische Worte, die Käthe nicht verstand.

»Wenn ich nur einen jungen, kräftigen Menschen herbeizuschaffen wüßte,« antwortete der jüngere Arzt. »Ich möchte eine Transfusion vorschlagen ... die nötigen Instrumente habe ich zufällig im Handkoffer. Aber die nächste Ortschaft ist, wie ich höre, anderthalb Stunden weit, und der Bahnwärter kann seiner Funktion wegen nicht fort.«

Transfusion – das Wort mußte Käthe vom Vater gehört haben ... ja, sie besann sich auf die Bedeutung desselben: in die Adern des an Erschöpfung Hinsterbenden sollte Blut eingespritzt werden.

Aufatmend trat sie heran – »Gott Dank, daß ich zur rechten Zeit gekommen bin!« sagte sie zu sich selbst und laut fügte sie hinzu: »Ich bitte Sie, mein Blut zu nehmen.«

Überrascht sahen sich die drei Männer nach ihr um, sie aber beugte sich, alles andere vergessend, über den Geliebten.

»Friedrich ... lieber Friedrich!« flüsterte sie; er schien sie nicht zu hören; die Augen blieben geschlossen, die Hände lagen wie leblos auf der Decke, sein Atem war kaum zu spüren.

Käthe richtete sich auf; die kostbare Zeit durfte nicht mit Klagen verschwendet werden.

Der Konsul trat auf sie zu; sein böser Blick lag fest auf ihr; sie hielt ihn aus.

Seine Absicht war, das junge Mädchen zurückzuweisen; aber war es die Sorge um Friedrich, die ihn lähmte, oder scheute er sich, den neuen Familienzwist vor Fremden zu zeigen, oder rührte ihn Käthes Anblick, die heute ihres Vaters Schwester ähnlicher sah als je – er konnte nicht und ließ es geschehen, daß Käthe seine Hand ergriff.

»Lieber Onkel, gestatten Sie den Versuch,« fing sie an; der junge Arzt fiel ihr ins Wort.

»Es ist die einzige Möglichkeit der Rettung,« sagte er dringend. Der Konsul wendete sich zu dem Medizinalrat. »Ihre Meinung, lieber Doktor?« fragte er mit erstickter Stimme.

Der Medizinalrat schüttelte den Kopf.

»Ich habe wenig Hoffnung,« sagte er; »aber wir können es versuchen ... Es fehlt hier freilich an allen Hilfsmitteln: Gefäßen zum Aufsaugen des Blutes, warmem Wasser, Leinwand zum Verbinden.«

Es wurde alles herbeigeschafft. Der Bahnwärter, der sich wie gerufen in diesem Augenblicke einfand, stellte zur Verfügung, was er an Tellern und Tassen besaß, holte Wasser und machte Feuer in seinem kleinen Ofen, während Käthe einige Taschentücher des jungen Arztes zu Binden zerschnitt, und er selbst seine Instrumente auspackte und instand setzte. Nach kurzer Zeit war alles in Bereitschaft.

»Ich bemerke nochmals, daß ich wenig Hoffnung habe,« sagte der Medizinalrat. Aber Käthe wiederholte in Gedanken die Worte Friedrichs: »Im Leben wie im Tode sind wir in Gottes Hand«, und reichte vertrauensvoll den Arm hin zum Öffnen der Ader.


Wieder kam es dröhnend, rasselnd, keuchend auf dem Schienenwege heran. Es war der Güterzug. Die Fahne in der Hand, stand der Bahnwärter auf seinem Posten und sah voll Erstaunen, daß der Zug, der sonst vorüberbrauste, anhielt, um einen alten, hageren Mann und eine schwarzgekleidete Frau absteigen zu lassen.

Sie kamen auf das Häuschen zu, der Bahnwärter ging ihnen entgegen.

»Liegt nicht bei Ihnen ein Verwundeter?« fragte der Mann.

»Ist nicht eine junge Dame gekommen?« fiel ihm die Frau ins Wort.

»Jawohl, jawohl, die Herrschaften sind alle da,« antwortete der Bahnwärter. »Spazieren Sie nur gefälligst hinein, wenn noch Platz ist ... Der junge Herr ist glücklich wieder zum Leben gekommen und das Fräulein ...«

Christine hörte nicht weiter; sie eilte der offenen Türe zu. Noch immer war der kleine Raum von Sonnenschein durchleuchtet. Im Hintergründe lag Friedrich mit blassem, stillem Gesicht, die Augen auf Käthe gerichtet, die neben ihm auf einer Bank saß, dem einzigen Sitz des ärmlichen Gemaches. Aber was war ihr geschehen? – Halb ohnmächtig in sich zusammengesunken, lehnte sie an der Schulter des Onkels, der sie sorglich stützte, während ein Unbekannter mit blutbefleckter Binde ihren Arm umwand.

Die Mutter stürzte auf sie zu.

»Käthe! um Gottes willen, sie stirbt!« rief sie und wollte die Tochter umfassen, der Bruder hielt sie zurück.

»Sei ruhig, Christine,« sagte er, ihre Hand ergreifend, und nie – solange sie denken konnte – hatte sie seine Stimme so weich und freundlich gehört. »Sei ruhig ... Dein Kind hat Friedrich gerettet ... wenn er gestorben wäre durch meine Schuld!« ... Seine Stimme versagte, aber nach kurzer Pause fügte er, den Kopf erhebend, leise hinzu: »Die Vergangenheit ist ausgelöscht, ich hoffe, sie werden füreinander leben und glücklich sein.«


Die Hoffnung des alten Herrn ist in Erfüllung gegangen. Friedrich, seit Jahren der einzige Inhaber der Firma Friedrich Anton Richter, ist wieder frisch und kräftig wie vor dem Kriege und glücklich im Besitz der geliebten Frau und seiner drei schönen, begabten Kinder, die von Großmutter Christine und dem alten Hellborn um die Wette verzogen werden.

Der Konsul hat, nachdem er sich aus dem Geschäft zurückgezogen, lange den Plan gehabt, nach Hamburg überzusiedeln. Er kann sich in das neue, fröhliche Leben im alten Giebelhause nicht recht einfügen, und zwischen ihm und Christine sind, trotz aller guten Vorsätze, die Schatten der Vergangenheit geblieben. Aber Käthe hat es ihm angetan, obwohl er das nicht zugibt und mehr förmlich als herzlich mit ihr verkehrt; daß es ihm schwer fallen würde, Friedrich zu entbehren, gesteht er jedoch selbst, und seitdem sich zu dem blonden Schwesternpaare Berta und Christine ein kleiner Anton gesellt hat, ist das Hamburger Projekt so gut wie aufgegeben.

»Wer weiß,« sagt der alte Herr hin und wieder zu Hellborn, »wer weiß, wie bald ich aus dem lauten Hause in das allerstillste übersiedeln darf. So will ich denn die kurze Spanne Zeit noch aushalten.«

Im Grunde wünscht er, daß diese Spanne nicht zu kurz sein möge.