Friedrich der Große
Betrachtungen über die militärischen Talente und den Charakter Karls XII.
Friedrich der Große

Friedrich der Große

Betrachtungen über die militärischen Talente und den Charakter Karls XII.

(1759)

Porträtbüste Karls XII. von Schweden.

Zu meiner eigenen Belehrung habe ich mir von den militärischen Talenten und dem Charakter des Schwedenkönigs Karl XII. ein deutliches Bild machen wollen. Ich urteile weder nach den übertriebenen Schilderungen seiner Lobredner noch nach den Zerrbildern seiner Tadler. Ich halte mich nur an Augenzeugen und an Tatsachen, in denen alle Bücher übereinstimmen. Mißtrauen wir all den Anekdoten, von denen die Geschichtsbücher wimmeln! Aus einem Wust von Lügen und Abgeschmacktheiten muß man die großen Ereignisse herausheben: diese allein enthalten Wahrheit.

Unter den Männern, die es unternommen haben, die Welt zu beherrschen oder umzuwälzen, ragen überlegene Geister hervor, deren Großtaten die Folge großer Entwürfe waren, Männer, die die Ereignisse benutzt oder sie selbst herbeigeführt haben, um die politische Gestalt der Welt zu ändern. So Cäsar. Seine der Republik geleisteten Dienste, seine Fehler und Tugenden, seine Siege – alles trug dazu bei, ihn auf den Thron der Welt zu heben. So auch der große Gustav Adolf, Turenne, Eugen, Marlborough in engeren oder weiteren Wirkungskreisen. Die einen ordneten ihre militärischen Operationen dem Ziel unter, das sie sich im Lauf eines Feldzuges gesteckt hatten. Die anderen knüpften ihr ganzes Wirken und mehrere Feldzüge an den Hauptzweck des unternommenen Krieges. Verfolgt man ihre bald bedächtigen, bald glänzenden Taten, so erkennt man aus ihnen das Ziel, dem sie zustrebten. So Cromwell, so Kardinal Richelieu, dem es durch Ausdauer gelang, die Großen des Reiches, die seine Einheit bedrohenden Protestanten und das Haus Österreich, Frankreichs Erbfeind, zu demütigen.

Es ist hier nicht der Ort, nachzuprüfen, mit welchem Rechte Cäsar die Republik unterdrückte, deren Mitbürger er war, ob Kardinal Richelieu im Laufe seiner Regierung Frankreich mehr geschadet als genutzt hat oder ob man Turenne tadeln soll, weil er zu den Spaniern überging. Es handelt sich hier nur um die an sich bewundernswerten Talente und nicht um den rechten oder tadelnswerten Gebrauch, den ihre Besitzer von ihnen machten.

Obwohl die politischen Berechnungen bei Karl XII. oft den heftigen Leidenschaften weichen mußten, denen er unterworfen war, ist er nichtsdestoweniger einer der außerordentlichen Männer gewesen, die in Europa am meisten Aufsehen erregt haben. Er hat die Augen der Kriegsmänner durch eine Fülle immer glänzenderer Taten geblendet. Er hat die grausamsten Schicksalsschläge erlitten, ist der Schiedsrichter des Nordens, Flüchtling und Gefangener in der Türkei gewesen. Ein so berühmter Feldherr verdient nähere Betrachtung. Für alle, die den Waffenberuf ergriffen haben, ist es nützlich, die Ursachen seines Mißgeschicks zu ergründen. Ich gedenke keineswegs, den Ruf dieses hervorragenden Kriegshelden zu schmälern; ich will ihn nur richtig würdigen und bestimmt wissen, in welchen Fällen man ihn unbedenklich nachahmen kann und in welchen man sich hüten muß, ihn zum Vorbild zu nehmen.

In jeder beliebigen Wissenschaft ist es ebenso lächerlich, sich ein vollkommenes Wesen auszudenken, wie zu wollen, daß Feuer den Durst löscht oder daß Wasser sättigt. Wer einen Helden eines Fehlers zeiht, erinnert nur daran, daß der ein Mensch ist. Könige, Staatsmänner, Heerführer, Schriftsteller, kurz alle, die durch ihre hohe Stellung oder ihre Talente die Augen des Publikums auf sich lenken, müssen sich dem Urteil ihrer Zeitgenossen und der Nachwelt fügen.

Karl XII. ist in vieler Hinsicht entschuldbar, wenn er nicht alle Vollkommenheiten eines Kriegsmannes in sich vereint hat. Eine so schwierige Wissenschaft wie die Kriegskunst wird keinem von der Natur eingeimpft. Mögen die angeborenen Anlagen noch so groß sein, es bedarf gründlichen Studiums und langer Erfahrung, um sich auszubilden. Entweder muß man seine Lehrzeit in der Schule und unter den Augen eines großen Feldherrn durchgemacht haben, oder man muß die Regeln nach vielen Fehlern auf eigene Kosten lernen. Die Fähigkeit eines Mannes, der mit sechzehn Jahren König ward, darf man füglich bezweifeln. Karl XII. sah den Feind nicht eher, als bis er zum erstenmal an der Spitze seiner Truppen stand.

Hierbei muß ich bemerken, daß alle, die in früher Jugend Armeen führten, sich eingebildet haben, die ganze Kunst bestände nur in Tapferkeit und Verwegenheit. Pyrrhus, der große Condé, selbst unser Held sind Beispiele dafür. Seit die Erfindung des Schießpulvers das System der gegenseitigen Vernichtung von Grund aus verändert hat, hat auch die Kriegskunst ganz andere Gestalt angenommen. Körperkraft, das Hauptverdienst der alten Helden, gilt heute nichts mehr. List siegt jetzt über Gewalt, Kunst über Tapferkeit. Der Kopf des Heerführers hat mehr Einfluß auf den Erfolg eines Feldzuges als die Arme seiner Soldaten. Klugheit bahnt dem Mute die Wege; die Kühnheit bleibt für die Ausführung aufgespart. Wer den Beifall der Kenner erringen will, muß noch mehr Geschicklichkeit als Glück haben.

Jetzt kann unsere sich dem Waffendienst zuwendende Jugend die Theorie dieses schwierigen Handwerks aus klassischen Büchern und aus den Betrachtungen alter Militärs erlernen. Der Schwedenkönig besaß solche Hilfsmittel nicht. Zu seiner Unterhaltung und um ihm Geschmack für Latein beizubringen, das er nicht liebte, ließ man ihn zwar den geistvollen Roman des Quintus Curtius übersetzen. Dies Buch mochte in ihm wohl den Wunsch wachrufen, es Alexander dem Großen gleichzutun, aber er lernte daraus nicht die Regeln, die das System der neueren Kriegskunst bietet, um Erfolge zu erringen.

Karl XII. verdankte der Kunst nichts, der Natur alles. Sein Geist war nicht gebildet, aber kühn, standhaft, schwungvoll, ruhmbegierig und imstande, dem Ruhme alles andere zu opfern. Seine Taten gewinnen bei näherer Prüfung ebensoviel, wie seine meisten Pläne verlieren. Seine Standhaftigkeit, die ihn über sein Geschick erhob, seine wunderbare Tatkraft und sein Heldenmut waren unzweifelhaft seine hervorragendsten Eigenschaften. Er folgte dem mächtigen Antrieb der Natur, die ihn zum Helden bestimmte. Sobald ihn die Habgier seiner Nachbarn zum Kriege zwang, entwickelte sich sein bisher verkannter Charakter sogleich. Folgen wir ihm denn in seinen verschiedenen Unternehmungen und beschränken wir uns auf seine ersten neun Feldzüge, die ein weites Feld zu Betrachtungen bieten.

Der König von Dänemark griff Karls XII. Schwager, den Herzog von Holstein, an. Statt seine Truppen nach Holstein zu schicken, wo sie den Fürsten, dem sie beistehen sollten, vollends zugrunde gerichtet hätten, läßt unser Held 8000 Mann in Pommern einrücken, schifft sich selbst auf seiner Flotte ein, landet auf Seeland, vertreibt von der Küste die Truppen, die sich seiner Landung entgegenstellen wollen, belagert Kopenhagen, die Hauptstadt seines Feindes, und zwingt den Dänenkönig binnen sechs Wochen zu einem für den Herzog von Holstein vorteilhaften Frieden. Das ist im Plan wie in der Ausführung bewunderungswürdig. Mit diesem Probestück stellt Karl sich Scipio gleich, der den Krieg nach Afrika hinübertrug, um Hannibals Abberufung aus Italien herbeizuführen.

Von Seeland folge ich dem jungen Helden nach Livland. Seine Truppen kommen mit erstaunlicher Schnelligkeit an. Auf diesen Zug paßt Cäsars veni, vidi, vici. Die edle Begeisterung, die den König beseelte, teilt sich seinen Lesern mit. Die Erzählung der Heldentaten, die dem großen Siege bei Narwa vorangingen und ihn begleiteten, ist hinreißend. Karls Handlungsweise war klug, zwar kühn, aber nicht tollkühn. Er mußte Narwa entsetzen, das der Zar persönlich belagerte; mithin mußte er die Russen angreifen und schlagen. Ihr zahlreiches Heer war nur eine Horde schlecht bewaffneter und undisziplinierter Barbaren ohne gute Führer. Die Schweden durften sich also den Moskowitern für ebenso überlegen halten wie die Spanier den wilden Völkerschaften Amerikas. Der Erfolg entsprach der Erwartung durchaus, und die Welt erfuhr mit Staunen, daß 8000 Schweden 80 000 Russen besiegt und zersprengt hatten.

Von dieser Stätte des Triumphes begleite ich unseren Helden an die Ufer der Düna, den einzigen Ort, wo er List angewandt hat, und zwar mit Geschick. Die Sachsen verteidigten das jenseitige Flußufer. Karl führte sie durch eine neue, von ihm erfundene Kriegslist irre. Unter dem Schutze künstlich hervorgebrachten Rauches, der seine Bewegungen verhüllt, geht er über den Fluß, noch ehe der alte Steinau, der die Sachsen befehligte, es merkt. Die Schweden sind ebenso schnell in Schlachtordnung gestellt wie ausgeschifft. Nach einigen Kavallerieattacken und schwachem Infanteriefeuer schlagen sie die Sachsen in die Flucht und zerstreuen sie. Welch bewundernswertes Verfahren beim Flußübergange! Welche Geistesgegenwart und Tatkraft, den Truppen gleich beim Landen ein geeignetes Schlachtfeld zu geben! Welche Tapferkeit, in so kurzer Zeit die Entscheidung herbeizuführen!

Solche mustergültigen Leistungen verdienen das Lob der Mit- und Nachwelt. Aber daß gerade die ersten Feldzüge Karls XII. seine vollkommensten Heldentaten sind, muß jedermann in Erstaunen setzen. Vielleicht verwöhnte ihn das Glück durch zu viel Gunst und verdarb ihn. Vielleicht glaubte er, die Kunst sei für den unnütz, dem nichts widersteht. Vielleicht auch verleitete ihn seine allerdings bewundernswerte Tapferkeit oft, bloß verwegen zu sein.

Bisher hatte Karl seine Waffen gegen den Feind gewandt, dessen Bekämpfung sein Interesse gebot. Seit der Schlacht an der Düna verliert man aber den leitenden Faden. Man sieht nur eine Menge Unternehmungen ohne Plan und Zusammenhang, freilich untermischt mit glänzenden Taten, aber nicht auf das Hauptziel gerichtet, das der König sich in jenem Kriege stecken mußte.

Der Zar war unstreitig Schwedens mächtigster und gefährlichster Feind. Gegen ihn hätte unser Held, wie es scheint, nach der Niederlage der Sachsen sofort vorgehen müssen. Die Trümmer der bei Narwa geschlagenen Armee irrten noch umher. Peter I. hatte in aller Eile 30 000 bis 40 000 Moskowiter zusammengerafft, die aber nicht viel mehr taugten als die 80 000 Barbaren, die vor den Schweden die Waffen gestreckt hatten. Er mußte den Zaren jetzt also mit aller Macht bedrängen, ihn aus Ingermanland vertreiben, ihm keine Zeit zum Erholen lassen und die Gelegenheit wahrnehmen, um ihm den Frieden zu diktieren.

August II. war vor kurzem (1697) ohne die Zustimmung des besseren Teiles der Republik, ja unter Widerspruch, zum König von Polen gewählt worden. Er saß also nicht fest auf seinem Thron und mußte, des Beistands der Russen beraubt, von selbst fallen, wenn Schweden überhaupt ein so großes Interesse an seiner Entthronung hatte. Statt aber solche verständigen Maßregeln zu treffen, schien Karl den Zaren und die in den letzten Zügen liegenden Moskowiter gänzlich zu vergessen, um irgend einem polnischen Magnaten nachzulaufen, der einer feindlichen Partei angehörte. Über solchen kleinen Racheakten vernachlässigte er die großen Interessen. Er unterwarf Litauen bald. Von dort ergoß sich seine Armee wie ein wütender Bergstrom nach Polen und überschwemmte das ganze Land. Der König war bald in Warschau, bald in Krakau, Lublin und Lemberg. Die Schweden breiten sich in Polnisch-Preußen aus, eilen dann wieder nach Warschau, setzen König August ab (1704), verfolgen ihn nach Sachsen und beziehen dort ruhig ihre Quartiere (1706). Man beachte wohl, daß diese Feldzüge, die ich nur summarisch wiedergebe, unseren Helden mehrere Jahre lang beschäftigten.

Ich verweile einen Augenblick, um Karls Verhalten bei der Eroberung Polens zu prüfen, und bemerke beiläufig, daß unter allen Schlachten, die er bei seinen fortwährenden Streifzügen gewann, die bei Klissow den Vorzug verdient; ihren Erfolg verdankte er einer geschickten Bewegung, mit der er den Sachsen in die Flanke kam. Karls Methode während des Krieges in Polen war sicherlich verkehrt. Die Republik besitzt bekanntlich keine Festungen und liegt nach allen Seiten offen, ist also leicht zu erobern, aber schwer zu halten. Sehr richtig bemerkt der Graf von Sachsen, daß es bei leicht zu erobernden Ländern desto größerer Anstrengung bedarf, um sie zu behaupten. Die von ihm vorgeschlagene Methode scheint zwar langwierig, ist aber, wenn man sicher gehen will, die einzig richtige. In seinem Ungestüm dachte der Schwedenkönig nie gründlich über die Natur des Landes nach, in dem er Krieg führte, und über die Wendung, die er den militärischen Operationen geben mußte. Hätte er sich zunächst in Polnisch-Preußen festgesetzt und sich dann Schritt für Schritt des Laufs der Weichsel und des Bugs versichert, indem er an den Zusammenflüssen und an den geeigneten Orten Waffenplätze anlegte, die er durch Feldbefestigungen sichern konnte, wäre er in gleicher Weise bei allen durch Polen laufenden Flüssen verfahren, so hätte er feste Stützpunkte gehabt, durch die er das bereits eroberte Land behaupten konnte. Sie hätten es ihm leicht gemacht, Kontributionen zu erheben und Lebensmittel aufzuspeichern. Das hätte den Krieg in geregelte Bahnen gelenkt und allen Einfällen der Moskowiter und Sachsen schnell Einhalt getan. Denn diese gut befestigten Waffenplätze hätten seine Feinde, wenn sie Fortschritte machen wollten, zur Unternehmung von Belagerungen in fernen Ländern gezwungen, wohin der Transport von Geschützen sich um so schwieriger gestaltete, als die Straßen dort schlecht und morastig sind. Selbst im Fall eines Mißerfolges brauchte der König, da sein Rücken gedeckt war, seine Lage nicht als verzweifelt anzusehen; denn jene Plätze hätten ihm Zeit gegeben, seine Verluste zu ersetzen und den siegreichen Feind aufzuhalten und zu beschäftigen.

Dadurch, daß Karl anders verfuhr, war er in Polen stets nur der Gegenden Herr, die seine Truppen besetzt hielten, und seine Feldzüge waren fortwährende Streifzüge. Bei der geringsten Schicksalslaune drohte ihm seine Eroberung wieder zu entgleiten. Er mußte viele unnütze Kämpfe bestehen und gewann durch seine glänzendsten Waffentaten nichts als den unsicheren Besitz einer Provinz, aus der er seine Feinde vertrieben hatte.

Wir nähern uns nun allmählich der Zeit, wo das Schicksal sich gegen unseren Helden zu erklären begann. Die für ihn ungünstigen Ereignisse will ich mit doppelter Vorsicht untersuchen. Man soll die menschlichen Pläne und Unternehmungen nie nach ihrem Ausgang beurteilen. Hüten wir uns, dem Mangel an Vorsicht Unglücksfälle zuzuschreiben, die aus unberechenbaren Ursachen entstehen, Ursachen, die das Volk Zufall nennt und die trotz ihres großen Einflusses auf die Wechselfälle des Lebens doch so vielfältig und verborgen sind, daß sie auch den weitblickendsten Geistern entgehen. Man darf also den Schwedenkönig nicht für alle ihm zugestoßenen Unglücksfälle verantwortlich machen. Vielmehr muß man sorgfältig zwischen denen unterscheiden, die aus einer Verkettung unglücklicher Umstände hervorgegangen sind, und denen, die er sich durch seine eigenen Fehler zugezogen haben kann.

Da ihn bei allen seinen Unternehmungen während des Krieges in Polen das Glück begleitete, so merkte er nicht, daß er oft gegen die Regeln der Kriegskunst verstieß, und da er für seine Fehler nicht gestraft wurde, so erfuhr er auch die schlimmen Folgen nicht, die daraus hätten erwachsen können. Das beständige Glück gab ihm zuviel Zuversicht, und er dachte gar nicht daran, sein Verfahren zu ändern. Bei den Feldzügen nach Smolensk und in der Ukraine (1708) scheint er jede Vorsicht vernachlässigt zu haben. Selbst wenn er den Zaren in Moskau entthront hätte, würde er nicht mehr Lob verdienen; denn sein Erfolg wäre nicht sein Werk, sondern das des Zufalls gewesen. Man hat eine Armee mit einem Gebäude verglichen, dessen Grundlage der Magen ist, da die erste Sorge eines Feldherrn der Ernährung seiner Truppen gelten muß. Was zum Unglück des Schwedenkönigs am meisten beitrug, war die geringe Sorgfalt für die Verpflegung seiner Armee. Wie kann man einen Feldherrn loben, wenn er von den Truppen verlangt, daß sie leben, ohne zu essen, daß sie unermüdlich und unsterblich sind? Man tadelt Karl XII., daß er den Versprechungen Mazeppas zu leichtfertig getraut habe. Aber der Kosakenhetman täuschte ihn nicht. Er selbst wurde durch eine Verkettung unberechenbarer Ursachen getäuscht, die man gar nicht vorhersehen konnte. Zudem sind Geister vom Schlage Karls XII. niemals argwöhnisch. Sie werden nicht eher mißtrauisch, als bis sie die Bosheit und den Undank der Menschen oft erfahren haben.

Doch kehrten wir zur Prüfung von Karls Feldzugsplan zurück. Ich kann zwar nicht wie Correggio sagen: »Son pittore anch' io«, wage aber doch eine Mutmaßung. Wollte der König damals, so scheint mir, den Fehler wieder gutmachen, daß er den Zaren zu lange vernachlässigt hatte, so mußte er zum Eindringen in Rußland den bequemsten Weg und zur Niederwerfung seines mächtigen Gegners die sichersten Mittel wählen. Der Weg ging aber sicher nicht über Smolensk noch durch die Ukraine. In beiden Fällen waren ausgedehnte Sümpfe, ungeheure Wüsteneien und große Flüsse zu passieren, und dann mußte er noch durch ein halbwildes Land ziehen, um nach Moskau zu gelangen. Durch diesen Marsch beraubte sich der König aller Hilfe aus Polen und Schweden. Je tiefer er in Nutzland eindrang, um so mehr war er vom eigenen Lande abgeschnitten. Zur Ausführung dieses Unternehmens bedurfte es mehr als eines Feldzuges. Woher sollte er Lebensmittel nehmen? Auf welchem Wege sollte er Nachschub erhalten? Welchen Kosaken- oder Moskowiterflecken konnte er zum Waffenplatz machen? Wo neue Waffen, Uniformen und alle jene ebenso gewöhnlichen wie notwendigen Dinge finden, die man zum Unterhalt einer Armee immerfort braucht und erneuern muß? Bei so vielen unüberwindlichen Schwierigkeiten war vorauszusehen, daß die Schweden bei jenem Zuge an Beschwerden und Hunger zugrunde gehen, ja, daß selbst ein Sieg sie aufreiben mußte. Und wenn schon Erfolge bei jenem Kriege so traurige Aussichten boten, was war erst im Fall eines Unglücks zu erwarten? Eine sonst leicht zu verwindende Schlappe wird zur endgültigen Katastrophe für eine Armee, die sich in ein wüstes Land ohne feste Plätze und folglich auch ohne Zufluchtsort hineinwagt.

Statt so vielen Schwierigkeiten und Hindernissen zu trotzen, bot sich ein viel natürlicherer Plan, bei dem sich alles wie von selbst ergab, nämlich der Marsch durch Livland und Ingermanland stracks auf Petersburg zu. Die schwedische Flotte und die Transportschiffe konnten der Armee längs der Ostseeküste zur Seite bleiben und ihr Lebensmittel liefern. Der Ersatz und aller sonstige Kriegsbedarf konnte zur See oder über Finnland zur Armee gelangen. Der König deckte seine schönsten Provinzen und blieb in der Nähe seiner Grenzen. Seine Siege waren glänzender, und Niederlagen konnten ihn nie in eine verzweifelte Lage bringen. Nahm er Petersburg, so zerstörte er die neue Gründung des Zaren, Rußlands Fenster nach Europa und die einzige Verbindung mit unserem Erdteil. Nach Beendigung dieses großen Zuges lag es in seiner Hand, seinen Vorteil noch weiter zu verfolgen. Was er aber auch tun mochte, der Friede, so scheint mir, war gesichert, ohne daß er ihn in Moskau hätte zu diktieren brauchen.

Zu meiner Belehrung will ich nun die Regeln, die uns die großen Meister der Kriegskunst hinterlassen haben, mit der Handlungsweise des Königs in jenen beiden Feldzügen vergleichen.

Nach diesen Regeln dürfen Armeen nie aufs Spiel gesetzt werden. Vor allem müssen die Feldherren weite Vorstöße von der Grenze vermeiden. Karl drang bis ins Gouvernement Smolensk, ohne die Verbindung mit Polen irgendwie zu sichern. Unsere Lehrmeister sagen, man müsse sich eine Operationsbasis schaffen, um sich den Rücken frei zu halten, seine Lebensmitteldepots zu sichern und sie durch die Armee zu decken. Die Schweden waren dicht bei Smolensk und hatten nur für vierzehn Tage Brot. Ihre ganze Kriegführung lief darauf hinaus, den Moskowitern auf den Fersen zu folgen, ihre Nachhut zu schlagen und ihnen auf gut Glück nachzujagen, ohne recht zu wissen, wohin der vor ihnen fliehende Feind sie führte. Die einzige Fürsorge, die der König für die Verpflegung traf, bestand darin, daß er den General Lewenhaupt der Armee mit einem starken Proviantzuge folgen ließ. Da man seiner so dringend bedurfte, mußte man ihn nicht so weit hinter sich zurücklassen. Ehe man in die Ukraine eindrang, mußte man auf Lewenhaupt warten; denn je weiter man sich von ihm entfernte, um so größeren Gefahren gab man ihn preis. Klüger wäre es gewesen, die Truppen nach Litauen zurückzuführen: der Zug nach der Ukraine bereitete der schwedischen Armee den Untergang.

Zu diesem planlosen Verhalten, das allein schon zum Scheitern des Zuges fuhren mußte, traten noch Unglücksfälle, die zum Teil vom Zufall herrühren mochten. Der Zar griff Lewenhaupt dreimal an und nahm den von ihm geführten Proviantzug weg. Der Schwedenkönig muß also von den Absichten und Bewegungen der Russen keinerlei Kenntnis gehabt haben. Geschah das aus Nachlässigkeit, so hatte er sich schwere Vorwürfe zu machen. Konnte er sich infolge unüberwindlicher Hindernisse keine Nachrichten verschaffen, so muß man diese Hindernisse einem unentrinnbaren Verhängnis zurechnen.

Führt man Krieg in halbbarbarischen und wüsten Ländern, so muß man, um sich darin zu halten, feste Stützpunkte anlegen. Das sind Neuschöpfungen. Die Truppen müssen bauen, Befestigungen errichten, Wege herstellen, Brücken und Dämme anlegen, an geeigneten Stellen Schanzen aufwerfen. Aber solche Zeit und Geduld erfordernden Arbeiten, solche langsame Methode paßte nicht zu dem ungestümen Charakter und dem ungeduldigen Geiste des Königs. Man sieht ihn bewunderungswürdig bei allen Gelegenheiten, wo es auf Tapferkeit und Schnelligkeit ankommt. Aber er ist nicht mehr derselbe, wo berechnete Maßregeln und Pläne erforderlich sind, die Zeit und Geduld zur Reife bringen müssen. Wie wahr ist es doch, daß der Krieger seine Leidenschaften bändigen soll, und wie schwer, alle Talente eines großen Feldherrn in sich zu vereinigen!

Ich übergehe hier das Treffen bei Holowczyn und viele andere Gefechte, die während jener Feldzüge stattfanden, weil sie für den Ausgang des Krieges ebenso unnütz wie für die dabei Geopferten verderblich waren. Unser Held hätte bei mancher Gelegenheit sparsamer mit Menschenblut sein können. Es gibt freilich Lagen, wo eine Schlacht kaum zu vermeiden ist. Man soll sich aber nur dann schlagen, wenn man weniger zu verlieren als zu gewinnen hat, wenn der Feind, sei es beim Lagern oder auf dem Marsche, fahrlässig ist, oder wenn man ihn durch einen entscheidenden Schlag zum Frieden zwingen kann. Überhaupt bemerkt man, daß die meisten Feldherren, die immer eine Schlacht liefern wollen, dies nur tun, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen. Statt ihnen das zum Verdienst anzurechnen, sieht man es vielmehr als ein Zeichen für die Unfruchtbarkeit ihres Geistes an.

Wir kommen nun zu dem unglücklichen Feldzuge von Pultawa. Die Fehler der Großen sind nachdrückliche Lehren für Leute von beschränkteren Anlagen. Europa hat wenige Feldherren, die nicht aus Karls XII. Mißgeschick Besonnenheit und Vorsicht lernen könnten.

Der verstorbene Feldmarschall Keith hat, als er in russischen Diensten in der Ukraine befehligte, Pultawa gesehen und untersucht. Er sagte mir, die Stadt hätte keine anderen Verteidigungswerke als einen Erdwall und einen schlechten Graben gehabt. Er war überzeugt, die Schweden hätten sie gleich bei ihrem Eintreffen im ersten Anlauf nehmen können, aber Karl XII. hätte die Belagerung eigens in die Länge gezogen, um den Zaren herbeizulocken und zu schlagen. In der Tat gingen die Schweden anfangs nicht mit ihrem gewohnten Ungestüm und Eifer zu Werke. Ferner muß man zugeben, daß sie nicht eher zum Sturm schritten, als bis Menschikow Sukkurs hineingeworfen und sich in der Nähe der Stadt, auf dem anderen Worskla-Ufer, gelagert hatte. Nun aber hatte der Zar in Pultawa ein beträchtliches Magazin. Mußten also die Schweden, denen es an allem fehlte, sich nicht so schnell wie möglich dieses Magazins bemächtigen, um den Russen ihre Vorräte zu nehmen und sich selbst Überfluß zu verschaffen? Karl XII. hatte zweifellos alle Ursache, die Belagerung zu beschleunigen. Er hätte sich jenes Nestes um jeden Preis bemächtigen müssen, bevor es Verstärkung erhielt.

Rechnet man die umherschweifenden Kosaken Mazeppas ab, die an einem Schlachttage bloß eine Last sind, so blieben dem König nur 18 000 Schweden. Was konnte ihn bei dieser Schwäche veranlassen, mit so wenig Truppen eine Belagerung zu unternehmen und zugleich eine Schlacht zu liefern? Beim Anrücken des Feindes mußte er die Belagerung entweder ganz aufgeben oder ein starkes Korps zum Schutze der Laufgräben zurücklassen. Das eine war schimpflich; das andere verringerte die Zahl der Kämpfer fast auf Null. Karls Plan lief also dem Vorteil der Schweden zuwider, gab dem Zaren leichtes Spiel und scheint unseres Helden unwürdig. Dergleichen traut man kaum einem General zu, der nie mit Überlegung Krieg geführt hat.

Suchen wir indes keine Feinheiten, wo keine sind, und schieben wir dem Schwedenkönig keine Pläne unter, an die er wohl nie dachte. Erinnern wir uns vielmehr, daß er über die Bewegungen seiner Feinde oft schlecht unterrichtet war. Es ist also wahrscheinlicher anzunehmen, daß er vom Anmarsch Menschikows und des Zaren keine Nachricht hatte und sich daher einbildete, es sei gar nicht eilig und er könne Pultawa in aller Gemächlichkeit einnehmen.

Hinzu kommt, daß Karl immer nur Feldkriege geführt hatte und im Belagerungskrieg ein völlig unerfahrener Neuling war. Bedenkt man ferner, daß die Schweden drei Monate vor Thorn lagen, dessen Festungswerke, beiläufig gesagt, nicht mehr taugen als die von Pultawa, so kann man von der Ungewandtheit der Schweden im Belagerungskrieg überzeugt sein. Wenn Mons und Tournai Plätze, die ein Coehoorn und Vauban befestigt haben, dem Angriff der Franzosen kaum drei Wochen standhielten, aber Thorn und Pultawa sich gegen die Schweden monatelang behaupten konnten, folgt daraus nicht, daß diesen die Kunst, Festungen zu erobern, fremd war? Keine Stadt widerstand ihnen, wenn sie sie mit dem Säbel in der Faust erstürmen konnten, aber das elendeste Nest hielt sie auf, sobald Laufgräben angelegt werden mußten. Reichen aber alle diese Beweise noch nicht hin, so füge ich noch hinzu, daß Karl XII. bei seinem ungestümen und heftigen Charakter die Stadt Danzig gewiß belagert und eingenommen hätte, um sie für einige Anlässe zur Unzufriedenheit zu bestrafen. Da er aber der Meinung war, daß das Unternehmen seine Kräfte überstieg, so ließ er davon ab und begnügte sich mit einer starken Geldbuße.

Kehren wir nun zu unserem Gegenstand zurück. Da die Belagerung von Pultawa nun einmal im Gange war, konnte sich Karl bei der Annäherung des Zaren und seiner Armee noch immer den geeignetsten Ort auswählen, um sich mit seinem Nebenbuhler im Ruhme zu messen. Er konnte ihn am Worskla-Ufer erwarten, ihm den Übergang streitig machen oder ihn gleich danach angreifen. Die Lage der Schweden erforderte einen raschen Entschluß. Entweder mußten sie über die Russen gleich nach ihrer Ankunft herfallen oder ganz auf eine Schlacht verzichten. Es war ein unverbesserlicher Fehler, dem Zaren die Wahl seiner Stellung zu überlassen und ihm Zeit zu geben, sich darin gut einzurichten. Er hatte schon den Vorteil der Überzahl: das war viel; Karl überließ ihm auch noch die Vorteile des Geländes und der Kunst: das war zu viel.

Wenige Tage vor der Ankunft des Zaren war der Schwedenkönig bei der Belagerung von Pultawa verwundet worden: diese Vorwürfe treffen also nur seine Generale. Indes scheint doch, daß er mit dem Augenblick, wo er sich zur Schlacht entschloß, seine Laufgräben hätte verlassen müssen, um dem Feinde mit voller Kraft entgegenzutreten. Er konnte sicher sein, daß Pultawa von selbst fiel, wenn er die Schlacht gewann; ging sie aber verloren, so mußte die Belagerung ohnedies aufgehoben werden. Eine solche Häufung von Fehlern auf schwedischer Seite verhieß für den Kampf, zu dem sich alles rüstete, nichts Gutes. Das Schicksal scheint schon im voraus alles zum Mißgeschick der Schweden vorbereitet zu haben. Die Verwundung des Königs, die seine gewöhnliche Tatkraft lähmte, die Nachlässigkeit der Generale, deren fehlerhafte Anordnungen beweisen, daß sie die Stellung der Russen gar nicht rekognosziert hatten oder sich doch eine falsche Vorstellung davon machten: das alles waren Vorspiele der Katastrophe. Auch durfte die Kavallerie in diesem Falle die Schlacht nicht eröffnen. Die Hauptaufgabe mußte hier der Infanterie und einer zahlreichen, geschickt aufgestellten Artillerie zufallen.

Die Russen hatten ein vorteilhaftes Terrain inne, das sie durch Befestigungen noch verstärkten. Vor dem einzigen zugänglichen Teil ihrer Front dehnte sich eine kleine Ebene, die vom Kreuzfeuer einer dreifachen Reihe von Redouten bestrichen wurde. Ihr einer Flügel war durch einen Baumverhau gedeckt, hinter dem sich eine Verschanzung erhob; vor dem anderen zog sich ein unüberschreitbarer Sumpf hin. Der verstorbene Feldmarschall Keith, der die so berühmt gewordene Gegend untersucht hatte, war überzeugt, daß Karl XII. den Zaren auch mit 100 000 Mann nicht aus seiner Stellung hätte vertreiben können. Denn die zahlreichen Hindernisse, die die Angreifer nach und nach überwinden mußten, hätten ihnen ungeheure Opfer gekostet, und schließlich werden selbst die tapfersten Truppen abgeschreckt, wenn sie nach langen, mörderischen Kämpfen immer wieder auf neue Schwierigkeiten stoßen. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde die Schweden sich in ihrer kritischen Lage auf ein so gewagtes Unternehmen einließen. Wurden sie durch die Notwendigkeit dazu gezwungen, so war es ein schwerer Fehler von ihnen, sich in eine Lage zu bringen, wo sie wider Willen und unter den ungünstigsten Verhältnissen eine Schlacht liefern mußten.

Kurz, alles kam, wie man es vorhersehen mußte. Eine durch Strapazen und Hunger, ja selbst durch ihre Siege geschwächte Armee wurde zur Schlacht geführt. General Creutz, der während des Kampfes den Russen in die Flanke fallen sollte, verirrte sich in den umliegenden Wäldern und erreichte sein Ziel nicht. So griffen denn 12 000 Schweden 30 000 Russen in ihrer furchtgebietenden, verderbenspeienden Stellung an. Und das war nicht mehr eine Barbaren-Horde wie die bei Narwa zersprengte, sondern es waren wohlbewaffnete, gut postierte Soldaten, von geschickten ausländischen Generalen geführt, durch starke Schanzen gedeckt und durch verheerendes Artilleriefeuer geschützt. Die schwedische Kavallerie attackierte die Batterien, mußte aber trotz aller Tapferkeit dem Geschützfeuer weichen. Die nun vorrückende Infanterie wurde durch das Feuer aus den Schanzen niedergeschmettert; trotzdem eroberte sie die beiden ersten. Aber die Russen griffen sie nun in der Front, in den Flanken und von allen Seiten an, warfen sie wiederholt zurück und zwangen sie schließlich, das Feld zu räumen. Nach und nach riß Verwirrung bei den Schweden ein. Der verwundete König konnte der Unordnung nicht steuern. Seine besten Generale waren schon zu Beginn der Schlacht gefangen genommen. Es war also niemand da, um die Truppen schnell genug wieder zu sammeln, und bald war die Flucht allgemein. Da man es verabsäumt hatte, die rückwärtigen Verbindungen der Armee durch Stützpunkte zu sichern, so hatte sie nun keinen Zufluchtsort und mußte sich, nachdem sie bis zum Dnjepr geflohen war, dem Sieger auf Gnade und Ungnade ergeben.

Ein höchst geistreicher Schriftsteller, der aber seine militärischen Kenntnisse nur aus Homer und Virgil geschöpft hat, scheint den Schwedenkönig zu tadeln, weil er sich nicht an die Spitze der Flüchtlinge stellte, die Lewenhaupt zum Dnjepr führte. Den Grund dafür sieht er in dem Wundfieber, an dem der König damals litt und das nach seiner Behauptung den Mut schwächt. Ich erlaube mir aber zu entgegnen, daß ein solcher Entschluß passend sein mochte, als man noch mit blanker Waffe kämpfte. Heutzutage jedoch fehlt es der Infanterie nach einer Schlacht fast stets an Pulver. Die schwedische Munition war bei der Bagage geblieben, und diese war vom Feinde erbeutet worden. Wäre also Karl XII. so toll und eigensinnig gewesen, an der Spitze der Flüchtlinge zu bleiben, die weder Pulver noch Lebensmittel hatten (weshalb sich beiläufig die festen Plätze ergeben müssen), so hätte der Zar bald die Genugtuung gehabt, den so sehnlichst erwarteten Bruder Karl eintreffen zu sehen. Der König hätte also auch bei voller Gesundheit unter so verzweifelten Umständen nichts Klügeres tun können, als seine Zuflucht bei den Türken zu suchen. Herrscher sollen zweifellos die Gefahr verachten, aber ihr Stand nötigt sie auch, sich sorgfältig vor Gefangennahme zu hüten, nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der verhängnisvollen Folgen, die daraus für ihre Staaten erwachsen. Die französischen Schriftsteller sollten sich erinnern, wie nachteilig für ihre Nation die Gefangennahme Franz' I. war. Frankreich spürt noch heute ihre Wirkungen. Der Mißbrauch der Käuflichkeit der Ämter, der damals zur Beschaffung des Lösegeldes für den König eingeführt werden mußte, ist ein Denkmal, das immerfort an jene schimpfliche Epoche erinnert.

In einer Lage, die jeden anderen überwältigt hätte, zeigte sich unser flüchtiger Held noch immer darin bewunderungswürdig, wie er nach Auswegen aus dem Unglück suchte. Während seines Rückzuges sann er auf Mittel, die Pforte gegen Rußland aufzustacheln. So wollte er sein Mißgeschick selbst dazu benutzen, um sein Los wieder zu wenden. Allerdings sehe ich mit Betrübnis, wie er sich in der Türkei zum Höfling des Großherrn erniedrigt und um tausend Beutel bettelt. Welcher Eigensinn oder welch unbegreifliche Hartnäckigkeit, im Lande eines Fürsten zu bleiben, der ihn nicht mehr dulden wollte! Ich wünschte, man könnte aus seiner Geschichte den romanhaften Kampf von Bender auslöschen. Wieviel Zeit ging da unten in Bessarabien in Wahnhoffnungen verloren, während der Hilferuf Schwedens und das Pflichtgefühl den König zur Verteidigung seiner Lande aufforderten, die in seiner Abwesenheit sozusagen verwaist waren und seit einiger Zeit ringsum von den Feinden verheert wurden.

Die Pläne, die man ihm seit seiner Rückkehr nach Pommern zuschreibt und die manche auf Rechnung von Görtz setzen, erscheinen mir so ausschweifend, so seltsam, so wenig der Lage und Erschöpfung seines Landes angemessen, daß man mir zur Schonung seines Ruhmes gestatten möge, sie mit Stillschweigen zu übergehen.

Der an Erfolgen und Mißerfolgen so reiche Krieg war von Schwedens Feinden begonnen worden. Karl war also gezwungen, sich ihrer Angriffe zu erwehren, und im Zustande berechtigter Verteidigung. Seine Nachbarn kannten ihn nicht und griffen ihn an, weil sie ihn wegen seiner Jugend geringschätzten. Solange er Glück hatte und furchtgebietend erschien, beneidete ihn Europa. Sobald aber das Glück ihn verließ, fielen die verbündeten Mächte über ihn her, um ihn auszurauben. Hätte unser Held ebensoviel Mäßigung wie Mut besessen, hätte er seinen Triumphen selbst ein Ziel gesetzt und sich mit dem Zaren verständigt, solange es noch in seiner Hand lag, Frieden zu schließen, er hätte die Mißgunst seiner Neider erstickt. Nun aber, wo er ihnen nicht mehr furchtbar erschien, wollten sie sich mit den Trümmern seines Reiches vergrößern. Doch Karl war in seiner Leidenschaft keiner Mäßigung fähig. Er wollte alles ertrotzen und über andere Herrscher despotisch schalten. Er wähnte, Könige bekriegen und entthronen sei eins.

In allen Büchern über Karl XII. finde ich prachtvolle Lobpreisungen seiner Mäßigkeit und Enthaltsamkeit. Trotzdem hätten zwanzig französische Köche, tausend Weiber in seinem Gefolge, zehn Schauspielerbanden bei seiner Armee seinem Lande nicht ein Hundertstel soviel geschadet wie sein brennender Rachedurst und die ihn beherrschende maßlose Ruhmbegierde. Beleidigungen wirkten auf sein Gemüt so lebhaft und stark, daß die letzte Kränkung stets den Eindruck der vorhergehenden völlig auslöschte. Begleitet man ihn an der Spitze seiner Heere, so sieht man die verschiedenen Leidenschaften, die seine unversöhnliche Seele so gewaltsam durchtobten, sozusagen eine nach der anderen aufblühen. Erst bedrängt er den König von Dänemark heftig; dann verfolgt er den König von Polen bis aufs äußerste; bald wendet sich sein ganzer Haß gegen den Zaren; schließlich hat sein Groll sich einzig auf König Georg I. von England geworfen. Er vergißt sich so weit, daß er den Todfeind seines Landes ganz aus den Augen verliert, um dem Phantom eines Gegners nachzujagen, der es nur gelegentlich oder besser gesagt, zufällig mit ihm verdarb.

Faßt man die verschiedenen Charakterzüge dieses eigenartigen Königs zusammen, so findet man, daß er mehr tapfer als geschickt, mehr tätig als klug, mehr seinen Leidenschaften unterworfen als seinem wahren Vorteil zugetan war. Ebenso kühn wie Hannibal, aber weniger schlau, mehr dem Pyrrhus als Alexander ähnlich, glänzend wie Condé bei Rocroy (1643), Freiburg (1644) und Allersheim (1645), aber niemals mit Turenne zu vergleichen, noch so bewundernswert wie dieser in den Schlachten bei Gien (1652), in den Dünen unweit Dünkirchen (1658), bei Kolmar und besonders in seinen beiden letzten Feldzügen.

Welchen Glanz auch die Taten unseres berühmten Helden verbreiten, man darf ihm doch nur mit Vorsicht nachahmen. Je mehr er blendet, desto geeigneter ist er, die leichtfertige, brausende Jugend irrezuführen. Ihr kann man nicht genug einschärfen, daß Tapferkeit ohne Klugheit nichts ist und daß ein berechnender Kopf auf die Dauer über tollkühne Verwegenheit siegt. Ein vollkommener Feldherr müßte den Mut, die Ausdauer und die Tatkraft Karls XII., den Blick und die politische Klugheit Marlboroughs, die Pläne, Hilfsmittel und Fähigkeiten des Prinzen Eugen, die List Luxemburgs, die Klugheit, Methode und Umsicht Montecuccolis mit der Gabe Turennes, den Augenblick zu erfassen, vereinigen. Aber ich glaube, dieser stolze Phönix wird nie erscheinen. Man behauptet, Karl XII. habe sich an Alexander gebildet. Trifft das zu, so hat Karl XII. den Prinzen Karl Eduard geschaffen. Sollte es der Zufall fügen, daß dieser einen anderen hervorbringt, so kann das höchstens ein Don Quichote sein.

Aber, wird man sagen, mit welchem Rechte wirfst du dich zum Richter der berühmtesten Krieger auf? Hast du, großer Kritiker, denn selbst die Lehren befolgt, die du so freigebig erteilst? Ach nein! Ich kann hierauf nur das eine antworten: Fremde Fehler fallen uns auf, aber die eigenen übersehen wir.