Karl Emil Franzos
Unser Hans
Karl Emil Franzos

Karl Emil Franzos

Unser Hans

Das hat wohl die Mailuft getan, du lieber, treuer Mensch, daß ich in den letzten Tagen jählings wieder so oft habe deiner gedenken müssen – diese lieblich tückische Frühlingsluft, welche Sieche tötet und Kinder fröhlich gedeihen läßt und in jedem geprüften Herzen dieselben seltsam wechselnden Stimmen weckt, welche einst um diese Jahreszeit geheimnisvoll die Haine von Hellas durchtönte: die wildaufjauchzenden, todesbang schluchzenden Sänge der Adonisfeier... Ach, wie eigen geschieht es dem Herzen in diesen Tagen, da allerwärts süßkräftiger Duft ist und freudiges Blühen; gern jauchzt es mit, sein kühnstes Hoffen dünkt ihm nicht mehr töricht, und sein Geschick will es nur nach dem messen, was es noch zu gewinnen träumt – und siehe! vielleicht dieselbe Stunde weckt tiefe Wehmut in demselben Herzen, und es muß seiner Toten gedenken und sein Geschick nach dem messen, was es bereits verloren! ... Das hat wohl die Mailuft getan, stiller Hans, daß ich wieder deiner gedenke.

Was könnte es auch sonst gewesen sein? Noch liegt mir ja die eigene Jugend nicht ferne genug, um in der Erinnerung gern immer wieder auf jene engen Pfade zurückzuflüchten, welche so kühl und schattig waren, weil sich die Palmen der Ideale darüber wölbten und rechts und links das Baumwerk der Jünglingsträume aufschoß, hoch, in den Himmel hinein. Und du selbst, Hans, du hast mich nicht wieder an dich erinnert, seit langen zehn Jahren, seit jenem häßlichen Herbsttage, da wir dich zur Grube senkten – du hast mir kein Zeichen geschickt, Hans, obwohl du es versprochen, feierlich versprochen mit Wort und Handschlag. Und weil du hier, unter uns, immer ein ehrlicher Worthalter gewesen bist, so vermute ich, daß dein Schweigen triftige Gründe hat und daß wir uns nimmer wiedersehen, nicht hüben, nicht drüben!

Nimmer – und es ist gut so! Wer den Gedanken der Unsterblichkeit tröstlich findet, gleicht dem Kinde, welches sich an dem blanken Dolche erfreut, weil er sein Bild zurückstrahlt. Aber die glänzende Klinge ist deshalb doch kein harmloser Spiegel, sondern eine verwundende Waffe – die Unsterblichkeit der Seele wäre die Unsterblichkeit des Schmerzes...

Ich weiß wohl, was Triftiges sich dagegen sagen ließe. Nicht etwa der flache Gemeinplatz, daß die Unsterblichkeit der Seele auch die Unsterblichkeit der Wonnen wäre. Denn es gibt keine glücklichen Menschen – der eine empfindet den Schmerz der Kreatur allerorts und allimmer, wie eine graue Wolkendecke, die über der Erde hängt; der andere empfindet ihn nur dann, wenn aus diesen Wolken der Blitz auf sein eigenes Haupt niederfährt – das ist aber auch der einzige Unterschied zwischen dem Feinfühligen und dem Rohen; empfinden muß ihn jeder. Aber man könnte mir einwenden, daß es Schmerzen gibt, an welche man in der Folge mit Stolz zurückdenkt, die man, wenn sie durchlitten, aller Welt als Schmuck zeigen darf, wie etwa der Invalide die Kugel, die ihn getroffen, in goldener Fassung an seine Uhrkette hängt. Und ferner könnte man mir sagen, daß es auch hehre, heilige Schmerzen gibt, welche wir freilich im tiefsten Herzen bergen, die sich jedoch allmählich klären und verklären und endlich sogar sanftes Licht ausstrahlen, wie die Wolke, die den Tag über grau und düster am westlichen Himmel gestanden, mit sinkender Sonne rosig zu strahlen beginnt und tröstlich fortleuchtet in die Dämmerung hinein. Ja! es gibt stolzes und heiliges Menschenleid, aber so düster ist diese Erde, daß selbst solches Leid spärlich gesät ist – die meisten Schmerzen sind widrig und gemein, sind häßlich und, was das Schlimmste, oft auch lächerlich. Von solcher Art ist dein Weh gewesen, mein armer Hans, und darum ist es gut, daß du es nicht mehr nachfühlst, und darum war es vielleicht sogar gut, daß du dir selbst die Zeit abgekürzt, wo du es nachfühlen mußtest...

Vielleicht! Denn nur ein allgerechter Gott könnte über den Selbstmord richten, und unter den Menschen wagen es nur engherzige Toren. Wir sind ja allesamt so furchtbar einsam und wissen allesamt so wenig voneinander – wie könnte da der eine sich's herausnehmen, dem andern die letzte Rechnung nachzuzählen und seinen Befund darunter zu schreiben? Ich will nicht entscheiden, ob du recht getan, Hans, ich will nur erzählen, wie dich das Leben gestaltet und dann zernichtet.

... Wer noch vor kurzem in der Dämmerstunde die Währinger Straße zu Wien hinabschritt, dem fiel zur Rechten aus dem Erdgeschosse eines alten Hauses heller Lichtglanz ins Auge, und er vernahm laute Tanzmusik, dazwischen heiseren Gesang und Gläsergeklirre – »Walhalla« stand in Flammenschrift über der Tür, und aus den Fenstern guckten arme, freche Walküren mit heißen oder müden Augen auf die abendliche Straße. Es war ein Haus, wo der Fusel der Freude ausgeschenkt wurde, und wer da vorbeiging, mochte traurig werden bei dem Gedanken, wieviele Tausende von Menschen dahinsterben, die nur solchen Fusel verkostet und nie den klar goldigen Wein der Freude. Oder er mochte mitleidig darüber lächeln, in welcher sonderbaren Art die armen toten, ohnmächtigen Götter unsterblich bleiben unter den Menschen – »Walhalla«, »Olymp«, »Elysium«, wer weiß, welche neue Namen für solche Vergnügungslokale noch nach zweitausend Jahren hinzutreten werden?... Aber wer vor etwa zehn Jahren Student zu Wien gewesen und nicht so entartet, sich des Kneipens zu enthalten, der hatte, wenn ihn sein Weg später an der »Walhalla« vorbeiführte, die besondere Empfindung, die ihm niemand neiden wird: der sah eine Stätte seiner Jünglingsjahre, um welche ihm die Erinnerung leuchtende Schimmer gewoben, mit Unrat besudelt. Denn in derselben Halle, wo unsaubere Lippen die jüngsten, frechsten Gassenhauer krächzten, da sind einst die schönen kräftigen Lieder erklungen, welche Karl Follen, Arndt und Schenkendorf deutscher Jugend gedichtet – hier war einst die besuchteste Studentenkneipe des Wiener »Lateinischen Viertels«, der Alservorstadt.

Das Gemüt hat doch wohl ein besser Gedächtnis als der Verstand: mein Romanum aus jener Zeit habe ich so ziemlich vergessen, selbst die berühmte Novella CXVIII geht nur zuweilen noch, wie ein schrecklicher Alb, durch meine Träume, aber wie's in jener Kneipe aussah und herging, das weiß ich noch, als wäre ich heute dort gewesen. Wer von der Straße eintrat, hatte zuerst die »Schwemme« zu durchschreiten, einen dunklen, behaglichen Raum, dem es nie an stillen und lauten Zechern fehlte. Die Lauten waren einige Fiaker, welche hier den Staub der Straße hinabschwemmten und, wie die Zahl der Gläser bewies, leider insgesamt vom Schicksal verdammt waren, immer nur die staubigsten Straßen Wiens durchfahren zu müssen; die Stillen aber einige Kleinbürger aus der Nachbarschaft, feuchte und nachdenkliche Männer, welche hier vom frühen Morgen bis zum späten Abend in stillen Seufzern den Niedergang des Kleingewerbes beklagten und sich mit sanfter Ergebung dem Armenspittel nähertranken. Zwischen den Tischen aber wandelte des Vormittags eine mächtige, lieblich gerötete Nase hin und her, und des Nachmittags leuchtete sie dunkelrot hinter dem Schenktisch, bis sie sich mit dem sinkenden Abend immer tiefer neigte und endlich am Estrich lag. Das war der alte Herr Andreas, unser freundlicher Wirt, den törichte, engherzige Menschen einen Gewohnheitstrinker nannten, obwohl er nur ein Held und Märtyrer seiner Geschäftsehre war. Denn was ihm so oft das Glas an den Mund führte, war seine feste Überzeugung, daß nur dort das Bier gut sei, wo man täglich mehrere Male ein frisches Fäßlein auflegen könne, und nach dieser Überzeugung handelte er, still, rastlos und mutig. Übrigens ist es immerhin möglich, daß er zu ehrgeizig war, denn ich wenigstens habe den alten Herrn niemals nüchtern gesehen. Das Hauswesen nahm deshalb doch seinen stillen, geordneten Gang; dafür sorgten Schwester, Tochter und Gattin des eifrigen Greises.

An die »Schwemme« schlossen sich zwei kleine, lichte Stuben, in welchen einladend weiß gedeckte Tische standen, aber diesem Winke ist meines Wissens nie ein Mensch gefolgt. Nur zwei lebende Wesen hab' ich all die langen Monde in den freundlichen Räumen hausen sehen: die alte graue Hauskatze und die junge blonde Haustochter, die Nanni, die hier im guten Lichte über einer Weißnäherei gebückt saß oder auch mit geröteten Wangen über einem Wiener Volksroman. Die Gäste aber, die zahlreichen und allezeit getreuen Stammgäste, waren anderswo zu finden: in der mächtigen, gewölbten, breit und weit gestreckten Halle, welche das ganze Erdgeschoß des rechten Hofflügels füllte. Nur im Hochsommer war der riesige Raum der Kühle wegen behaglich; sonst lag darin wie festgeballt eine kalte, dumpfe, schwere Luft, die Fenster gaben spärliches Licht, und an den rissigen, grauen Tapeten saß grünlicher Anflug. Und doch waren wir wohl an die Hundert, die sich hier pünktlich zusammenfanden: Leute mit bunten Mützen oder spießbürgerlichen Zylindern, mit goldgestickten Cerevis oder fadenscheinigen Hüten, Studenten aller Fakultäten. Denn das Bier war gut, das Essen billig, und das wichtigste: hier waren immer gute Gesellen zu finden, von der zehnten Morgenstunde an, wo die Fleißigsten zum Frühschoppen anrückten, bis in die tiefe Nacht hinein, wo noch die »Edleren« zusammenrückten und eine »würdige Tafelrunde« bildeten, »nachdem sich der Schwarm verlaufen hat«.

Die fröhlichen Lieder, die guten Gesellen! Wenn ich ihrer gedenke, dann scheint mir jener düstere Raum der schönste, in dem ich je geweilt, und mich reut jedes Wort, welches ich zu seinem Tadel gesprochen. Nein, es war eine frischkräftige Luft, in der wir dort gesungen, gestritten und gekneipt, und licht war's um uns, so licht wie später nirgendwo im Leben! Die guten Gesellen! Mir ist's, als träte ich wieder, wie einst, in die Halle und spähte nach dem Tische, um den ich sie versammelt weiß – er ist der vierte Tisch rechts von der Tür, und er steht in einer halbdunklen Nische; aber heute sehe ich mir die liebvertrauten Züge deutlich entgegenleuchten, so deutlich, als begegnete ich ihnen im klarsten Sonnenlichte.

Da sitzt der dicke blondlockige Eduard mit dem großen Durste und dem tiefen Gemüte, welcher damals Geschichtsschreiber werden wollte und heute in der Tat neueste Geschichte schreibt, in einer alten Ostseestadt und für ein altes Blatt; der schwarze Max, der schon damals viel auf seine Kleidung hielt und heute der eleganteste Frauenarzt dieser Erde ist; der wilde Georg, der sich fast allnächtlich so große Verdienste um die Glasermeister und Schildermaler der Residenz erwarb und heute in einem Winkel Böhmens still und sanft den Cornelius Nepos interpretiert; der braune, trotzige Fritz, der nach Texas gegangen und dort verdorben und gestorben ist; der kleine Wilhelm mit dem Knabengesichte, der doch so männlich und energisch war und heute diese Energie dazu braucht, um als Bezirksrichter den wilden Huzulen im Karpatenwalde Respekt vor der k. k. Themis beizubringen – und endlich du, geliebtester von allen, mein lieber, treuer, unglücklicher Hans! Ich sehe dein schönes, ruhiges, vornehmes Antlitz, in welchem der Mund so selten lacht, seltener als die klaren, blauen Augen; ich höre den tiefen, leise vibrierenden Ton deiner Stimme. ... Aber wie ich so starr vor mich hinblicke, das Bild der Erinnerung festzuhalten, da ändern sich deine Züge: die Augen sind geschlossen, das Antlitz fahl, und wie festgemeißelt liegt darauf ein entsetzlicher Ausdruck: tiefer Ekel, furchtbare Müdigkeit. So habe ich dich gesehen, ehe wir den Sarg schlossen und dich hinausgeleiteten, ein Häuflein Gefährten, ohne Priester und Gebet...

Hans v. M. war der letzte Sprosse eines alten deutsch-böhmischen Geschlechtes, welches einst reich begütert gewesen, dann langsam hinabgeglitten und schließlich von all seinen Burgen nur noch jene besaß, die weder verkauft noch verpfändet werden konnte: das weiße Mauerwerk im blauen Schilde, welches ihm Karl IV. als Wappen verliehen. Mit wehmütigem Lächeln wußte uns der junge Mann von den Resultaten einer Ferienreise zu erzählen, welche er darauf gewendet, in den Adels- und Stadtarchiven Böhmens Spuren seines Geschlechtes aufzusuchen. Nicht fruchtlos! – hier hatte er einen Tauschvertrag gefunden, wonach ein Ahn für ein Fäßchen Tokaier eine Mühle hingegeben, dort die Quittung, daß ein anderer seine Spielschuld durch ein halbes Dorf eingelöst – und was solcher ruhmvoller Taten mehr waren. »Es war ein großer Durst in meinen Ahnen«, pflegte er zu sagen, »auch in meinem Vater, nur daß dieser freilich nicht nach Met und Tokaier dürstete.« Wenn er von seinem Vater sprach, dann zitterte seine Stimme, und aus den Worten voll rührender Liebe, die sich, wie jedes echte Gefühl, nur selten, halb verhüllt und wie verschämt äußerte, trat uns eine Gestalt entgegen, wie sie so fleckenlos und edel wohl nur selten über die Erde gegangen. Friedrich v. M. war ein unglücklicher Mensch gewesen, ein gehetztes Wild vor dem Jäger Not, hilflos aller Unbill des Schicksals und, was noch tausendmal schlimmer, aller Unbill der Menschen hingegeben – aber sein Herz war dennoch gut geblieben und sein Sinn hochstrebend. Das klingt nicht stolz und gehört doch zu dem Höchsten, was von einem Menschen ausgesagt werden kann. Denn das Unglück ist der schlimmste Herzverderber, und wer eine schwere Last auf dem Nacken trägt, ist selten stark genug, den Blick dennoch zu den Sternen zu heben und nicht, wie die grausame Last es will, zum Schlamm sinken zu lassen.

Friedrich v. M. war so stark; durch die Wüste ging sein Pfad, aber er bepflanzte ihn mit Rosen und labte sich an ihrem Duft, obwohl die Klugen dieser Erde sein Gärtlein verhöhnten und für eitel Unkraut hielten. Von der Ahnen Art war nichts auf ihn gekommen, weder ihr Durst noch ihr Leichtsinn, nicht einmal die reckenhafte Gestalt. Ein blasser, verschüchterter Knabe, war er in dem verfallenden Schloß an der Eger aufgewachsen, das Wissen war sein einziger Trieb, seine einzige Freude, und der rohe, gutmütige Vater respektierte dies, er schaffte ihm gute Lehrer und Bücher. Noch konnte es der alte Rittmeister aufbringen, denn er hatte nach seiner Heimkehr aus dem Franzosenkriege mit seinem Besitze getan, wie man mit einer ausgetrunkenen Flasche tut: man stellt sie auf ihren Hals, und siehe, aus dem anscheinend geleerten Gefäße fließt noch eine ganze Menge Tropfen hurtig hintereinander, als sollt' es kein Ende nehmen. Aber das Ende kommt jäh: ein unheimliches Glucksen, ein letzter Tropfen, und die Flasche ist nun wirklich leer, ganz leer.

Als dieser unheimliche Ton durch das Schloß seiner Väter ging, weilte der Jüngling, wie bereits seit mehreren Jahren, auf der Berliner Hochschule, tief vergraben in das Studium altdeutscher Sprache und Dichtung. Eilends kehrte er heim, den Vater traf er tot, die spärlichen Reste des Besitzes in fremden Händen. Betäubt, fühllos vor Übermaß des Fühlens, verbrachte er die nächsten Wochen, wie der Wanderer, vor dessen Fuße der Blitz eingeschlagen, versteinert dasteht! Und als nun allmählich seinem geistigen Auge die Sehkraft wieder kam – wie weh ward ihm! Sein Studierzimmer war ihm die friedliche Insel gewesen, in welche nur halbverweht das Geräusch des Lebens gedrungen, wie sanft bewegter, harmonischer Wellenschlag; nun war die Insel versunken, und die erzürnten Wogen trieben mit dem Hilflosen ihr Spiel. Nicht um Brot zu gewinnen, hatte er das Feld des Wissens durchpflügt, nicht regelrecht, wie ein Berufsmensch, die Furchen gezogen – nun mußte er gleichwohl zu erwerben suchen, nicht bloß des eigenen Unterhaltes willen, sondern um die Schulden zu tilgen, die der Vater hinterlassen. Nicht das Gesetz, nur sein eigen Herz legte ihm diese Verpflichtung auf, und eben darum war sie ihm heilig. Und so ergriff der weiche, verwöhnte, weltfremde Jüngling einen Beruf, der so viele innere Würde fordert und dabei verzichtet auf jegliche äußere: er ward Hauslehrer, zuerst bei einem reichen Hopfenhändler der Saazer Gegend, dann bei einem Braumeister an der Elbe, einem Gastwirte in Teplitz – der Ärmste kam aus dem Bierdunste gar nicht heraus und, was noch schlimmer, aus dem Dunste hoffärtiger Gemeinheit. Das Martyrium dieses Standes ist noch nie von einem großen Dichter wahr und erschöpfend dargestellt worden, der Erzieher im Romane ist entweder der Liebhaber der Haustochter oder ein komisch ungelenker Kauz – wollte sich einmal ein echter Poet gütigen Herzens zu diesem armen Taglöhner des Geistes neigen, von welchen Leiden könnte er erzählen, von welcher Kraft des Entsagens, aber dabei auch von welchen schönen, stillen Freuden! Friedrich v. M. war dreißig Jahre lang Hauslehrer; hundertfach von Undank oder Roheit verwundet, von keiner Hoffnung gelabt, übte er Tag um Tag seine harte Pflicht, stets gleich freudvoll, weil sein Herz unergründlich gut war und weil er's der Not abtrotzte, einige Stunden täglich jenen Studien zu leben, denen seine Jugend geweiht war. Dies war kein Glück für die Wissenschaft, wohl aber für ihn. Heil dem, der sich täglich, eine andere Art Antäus, von der Erde hinweg in eine höhere Region erheben kann und daraus Kraft schöpft zur mühevollen Wanderung auf der Erde!

Erst mit ergrauendem Haare fand der Mann auch ein anderes Glück; er war zuletzt Erzieher im Hause eines reichen, kurz vorher geadelten Mannes in einer größeren deutschböhmischen Stadt gewesen, und neben ihm seufzte und erzog ein blasses, alterndes Mädchen. Die Einsamen fanden sich. Die Liebe ward ihnen nicht zum schäumenden Göttertrank, wie sie es der Jugend ist, aber doch zum klaren, frischen Quell, aus dem sie Hoffnung tranken und den Mut, auch einmal um ihretwillen zu leben, nicht bloß für andere. So gründeten sie in jener Stadt ihr eigen Heim; er gab seine Sprachstunden weiter, sie ihre Klavierlektionen; aber die Not kam nicht über ihre Schwelle und das Glücksgefühl nicht aus ihren Herzen.

Dieser Eltern Sohn war unser Hans und ihre Eigenart der Schlüssel zu der seinen. In dem engen Hauswesen der Provinzstadt, wo so wenig Geld zu finden gewesen und so viele ideale Weltanschauung, war er geworden, wie er uns entgegentrat, rein, gut und hochstrebend. Ein Original wurde er häufig genannt, wohl nur deshalb, weil er bereits als Jüngling, was sich naturgemäß so selten findet, ein festgefügter Charakter war, und anders gefügt, als es die meisten später werden. Fleißige, ernste Jünger der Wissenschaft gibt es überall, darum auch in Wien, wenn auch hier vielleicht seltener als an kleineren Hochschulen; aber die einen werden durch die Notwendigkeit gespornt, die anderen durch den Ehrgeiz; selbstlos um des Wissens willen, hat unter denen, die ich gekannt, nur er gestrebt.

Gleich seinem Vater hatte er sich germanistischen Studien ergeben, gleich diesem mit größter Ausdauer und mit besonderer Vorliebe für wenig begangene Seitenpfade, aber auch gleich ihm nicht in der Hoffnung, durch das mühsam Erworbene einstens glanzvoll dazustehen vor den Menschen. Über das bescheidene Amt eines Gymnasiallehrers gingen seine Hoffnungen nicht hinaus, und auch dies Ziel hielt er nur deshalb fest, weil ihm des Vaters Geschick warnend vor Augen stand. Wer ihm näher trat, konnte nur ein einziges Nebenmotiv gelten lassen, um sich die Ausdauer zu erklären, mit der er seine guten, doch keineswegs außerordentlichen Gaben der erwählten Wissenschaft zuwendete – das flammende Nationalgefühl, welches ihn spornte, dem Dichten und Denken seines Volkes in entlegener Vorzeit nachzuspüren... Und ferner: brave und sittenreiche Jünglinge gibt es überall, gab es auch in unserem Kreise, aber es war keiner darunter, der so glühend wie er jede Frivolität und Pflichtvergessenheit haßte, dem jede Zote so gründlich ekel war, der sich mitten in der leichtlebigen Großstadt so rührenden Respekt vor dem Weibe bewahrte. Es ist schwer, einen Charakter durch Vorführung seiner einzelnen Elemente glaubhaft und lebensvoll hinzustellen; wer das Gesagte zusammenfaßt, wird vielleicht an blanken Marmor denken, an eine kalte, klare Idealgestalt, ein anderer gar nur an einen pedantischen Stubenhocker und Sittenprediger. Von beiden hatte unser Hans keinen Zug, weil er ein schlichtbescheidener, warmherziger Mensch war, weil eine harmlose Gutmütigkeit den strengen Adel seines Wesens menschlich und selbst dem Sünder erträglich machte. All meine Tage bin ich keinem Menschen wieder begegnet, dessen Vorzüge andere so wenig drückten. So war er jedem zur Freude, keinem zum Verdruß, und unter den vielen, mit denen ich später über ihn und sein Ende gesprochen, ist kaum einer gewesen, der nicht gesagt hätte: »Er ist mir eine Lichtgestalt meiner Jugend, und sein häßlicher Tod ist mir noch heute unfaßlich!« Häßlich? Vielleicht! Aber unfaßlich? Wenige Taten auf Erden lassen sich so leicht verstehen wie jener Schuß in ein edles, von einem furchtbaren und doch zugleich lächerlichen Schmerze durchwühltes Herz...

... Mit Freuden ist noch niemand von dieser schönen Stadt geschieden, und wer je Student in Wien gewesen, denkt sein ganzes Leben wehmütig an diese hohe Schule anmutiger Heiterkeit zurück. Aber die ersten Wochen nach der Ankunft sind keinem angenehm. Da steht der arme Junge aus der stillen Provinz verschüchtert mitten im tollen Treiben der Weltstadt, und sein junges Herz weiß kaum, wie es sich vor Bangen und Staunen fassen soll. Die himmelhohen Häuser, das Dröhnen und Tosen der Wagen, das Hasten der Menschen, die teuren Preise bedrücken das Gemüt, und der verschüchterte Jüngling ist froh, wenn ihn sein Weg an einem Garten vorbeiführt; die Bäume mindestens sehen nicht anders aus als drüben im kleinen stillen Neste, in dem er flügge geworden. Wohl hat er sicherlich viele Schicksalsgenossen – aber wie sollt' er sie erkennen? Bunte Kappen tragen die wenigsten, und an die traut er sich gar nicht heran, denn erstens sehen sie so herausfordernd drein, und zweitens hat ihm sicherlich irgend ein Onkel schauerliche Geschichten von den »Couleurs« erzählt. Was aber die ungeheure Mehrzahl, die »Finken« betrifft, so sind sie eben gleich ihm versprengte Tropfen in diesem Menschenmeere. Erst in den Kollegien knüpfen sich die ersten Bekanntschaften, aber bis dahin – lächelt nur, die ersten Wochen sind bitter. Ich spreche aus Erfahrung, das bängliche Gefühl jener ersten Oktobertage ist mir unvergeßlich, und es milderte sich nicht, als ich nach acht Tagen die erste Bekanntschaft eines Kollegen machte.

Das war freilich ein seltsamer Kommilito, dieser Herr Severin B. Ich lernte ihn im Stadtparke kennen, der damals noch von Natur war, was er heute durch weise Gärtnerkunst wieder geworden ist: schattenlos nämlich. Aber gerade in jenen Tagen konnte man das leicht vertragen; es war ein kühler Herbst, und die Sonne ließ nur zuweilen ihre Strahlen auf die entlaubten Bäume und auf die zärtlichen Paare fallen, die auf den Bänken beisammen saßen. Die glücklichen Liebesleute hatten keine Wärme nötig, manchen wäre sogar eine künstliche Abkühlung heilsam gewesen, mich aber fror es, auch im Innern. Und während ich so betrübt dasaß, strich besagter Severin an mir vorbei, blickte mich prüfend an und setzte sich zu mir. »Sie sind auch Student?« fragte er. »Auch!« Es klang mir wie Gesang der Cherubim! Binnen zehn Minuten wußte er von mir, was sich irgend über mich berichten ließ, und ich von ihm, daß er Jurist im letzten Jahrgange und aus Böhmen gebürtig sei. Dieses letztere hätte ich mir nach dem Dialekte selbst sagen können, aber die Würde eines akademischen Bürgers war dem gefälligen Menschen wahrhaftig nicht anzumerken. Denn nicht der sanctus spiritus der Wissenschaft hatte seinen Stempel auf die Züge gedrückt, sondern ganz gemeiner Sprit.

Sah etwas bedenklich aus, der Herr Kollege, ein wenig verlumpt und verkommen. War aber gleichwohl ein Kollege, kein Zweifel! denn er wußte alle Professoren der juridischen Fakultät zu nennen, von Arndts und Pachmann bis zum jüngsten Dozenten herab, und fügte jedem Namen eine Kritik bei, die von imponierender Unabhängigkeit des Urteils zeugte. Ich atmete erleichtert auf, als er damit fertig war und menschlicher wurde, so menschlich, daß er mich zum »Marokkaner« begleitete. Dort aßen wir vergnügt zu Abend, und weil der Vater ihm das Monatsgeld noch nicht geschickt hatte, so zahlte ich für uns beide. »Wissen Sie«, erklärte er mir, »mein Alter ist so vergeßlich!«

Das ging so einige Tage fort, ohne daß sich der »Alte« erinnert hätte. Mein Beutelchen wurde immer schwindsüchtiger und mein Herz immer ahnungsvoller, denn obgleich es sehr vergnüglich war, mit einem so kundigen Führer allabendlich ein anderes Bier zu verkosten, so stiegen mir doch bezüglich der sonstigen Qualitäten dieses fidelen Menschen stille Bedenken auf. Und an einem Abend beim »goldenen Engel« wurden diese Bedenken zur Gewißheit.

Es war dies eine alte, gemütliche Bierstube auf der Landstraße, die längst samt dem Hause, das sie beherbergt, vom Erdboden verschwunden. Heute öffnet sich dort die Seidlgasse. Es ließ sich dort gut sitzen in den lauschigen Nischen, und wer nicht übermäßig schrie, wurde von den Nachbarn in der nächsten nicht gehört. Nun war aber der gute Severin an jenem Abend zu geräuschvollen Mitteilungen aufgelegt: er schimpfte mit Stentorstimme auf die gesamte Menschheit und die Vergeßlichkeit seines »Alten« insbesondere.

Da – plötzlich – verstummte er, wurde bleich und erhob sich respektvoll. Ich faßte es nicht, denn vor uns stand ja nur ein junger Mensch, offenbar ein Student wie wir. Seine blauen Augen blitzten in zorniger Glut, aber er hob die Stimme nicht, als er sagte: »Severin! Du bist und bleibst ein unverbesserlicher Lump. Die Lektion, die ich dir im vorigen Semester abgetreten, hast du nicht gegeben, warst auch gar nicht inskribiert!«

»Hans«, stammelte mein Begleiter, »verzeih!«

»Wir beide sind fertig miteinander! Aber ich kann nicht ruhig zusehen, wie du jemanden beschwindelst. Du bist kein Student mehr, du hast von niemand Geld zu hoffen, also trolle dich!«

»Das ist mein Freund!« sagte Severin trotzig.

»Das ist ein Grüner, an den du dich gehängt, um ihm die Taschen zu leeren!« –

Wie mir bei diesem Zwiegespräch zumute war, läßt sich unschwer vermuten; zu einer Äußerung kam ich erst, als Severin wirklich gegangen war und der andere freundlich sagte: »Verzeihen Sie die Störung. Aber es ist so, wie ich vermutet?«

»Ja!« sagte ich kleinlaut. Meine Miene mochte wohl große Verlegenheit und Betrübnis offenbaren. Denn der Student lächelte abermals so recht gütig und teilnahmsvoll, holte sich sein Glas vom nächsten Tische und setzte sich zu mir.

»Hans v. M.«, stellte er sich vor. »Ich bin Student der Philologie. Sie erlauben mir wohl, Ihnen eine Weile Gesellschaft zu leisten. Es ist ja gewissermaßen meine Pflicht, Ihnen die verlorene Gesellschaft zu ersetzen und eine bessere Meinung von Ihren Kommilitonen beizubringen.« Dann erkundigte er sich um meine Studien, erzählte mir von jenem Severin, der trotz großer Begabung schon damals auf schlimmen Wegen war und, nebenbei bemerkt, später auf die abscheulichsten geraten ist, die ein Mensch gehen kann, und orientierte mich über die studentischen Verhältnisse der großen Stadt. So hob sich meine gedrückte Stimmung bald, und ich taute auf.

Das war mein erster fröhlicher Abend in Wien und der erste, den ich mit Hans verbracht...

Es sind ihm noch viele gefolgt, sehr viele, aber ich will nicht des breiteren davon erzählen. Denn was mir jene Stunden unvergeßlich macht, da ich unter Guten und Glücklichen gut und glücklich war, da mir jedes Menschen Pfad als eine schön gebahnte, nicht zu verfehlende, von der Sonne des Ruhms beglänzte Straße zum Höchsten schien, und nicht als das, was diese Wanderung in Wahrheit ist: ein mühseliges Emporklimmen im Zwielicht und an schauerlichen Abgründen vorüber – was mir jene Stunden bedeutsam macht, gilt nicht für andere: es ist jene heiße, wehmütige Liebe, mit der jeder von uns die eigene Jugend liebt – und nicht um meinetwillen schreibe ich diese Blätter... Freilich wäre noch anderes von den Kneipgesprächen dieser Zeit zu berichten: sie waren kräftiger, tiefer und erregter als jene, die unsere nächsten Vorgänger und Nachfolger geführt. Wer in den Jahren zwischen Königgrätz und Sedan an deutsch-österreichische Hochschulen gekommen, hat da eine sonderbare, fast berauschende Luft eingesogen; sie hat aus manches Jünglings Hirn die trüben Nebel des Kosmopolitismus hinweggefegt und ihn auf jenen Platz gestellt, den jeder rechte Mann nie verlassen soll: als treuer Kämpfer für sein Volk... Wir wußten, in welcher großen Zeit wir lebten, und das gab unserem Denken größere Tiefe, unserem Fühlen größere Wärme, als sie vielleicht zu anderer Zeit zu finden gewesen, es war ein guter Geist, der in jener düsteren Halle der Währinger Straße regierte.

Dort fanden wir uns, wie erwähnt, des Abends zusammen, obwohl mancher auf den Hin- und Rückgang eine gute Stunde wenden mußte, darunter ich, der ich mich in einem Stübchen der Gärtnergasse eingemietet. Er fiel mir oft hart, dieser Weg durch die Winternacht, von den Weißgerbern gegen Lichtental und wieder zurück, aber gleichwohl fiel mir nie bei, anderswo einzukehren. Denn gutes Bier und lustige Gesellen waren wohl auch in anderen Kneipen zu finden – aber unser Hans nur eben in jener Halle. Denn es ging auch mir mit ihm wie allen anderen; wer ihm näher getreten, liebte ihn und empfand es als einen Stolz, zu seinen Freunden gerechnet zu werden. Wie sich dies erklärt, habe ich bereits angedeutet, so weit es sich eben erklären läßt; ein Überschuß des Rätselhaften bleibt immer übrig, wo ein einzelner auf seine Umgebung nur durch seine Persönlichkeit stärkste Wirkung übt. Aber wie dem auch gewesen: wir liebten ihn und achteten ihn, und sein Wort galt uns als Evangelium, mit einziger Ausnahme dessen, was er über die Liebe sagte und dachte. Wir hörten es ruhig an, was er gelegentlich an puritanischen Sprüchen darüber vorbrachte, bekehrten ihn nicht und ließen uns nicht von ihm bekehren.

Man darf aber hiebei an nichts Böses denken oder doch zum mindesten an nichts Schmutziges. Denn in einem ist Wien einzig: in der Art, wie hier das junge Herz seine Maienblüte erlebt, in der Art und Form der Liebe; einzig freilich nur vor anderen deutschen Städten. Denn wie Liebe in Wiens lateinischem Viertel wird und wächst, lacht und weint, welkt und stirbt, das erinnert lebhaft an den Brauch des »quartier latin« drüben an der Seine. Auch Wien hat seine »Grisetten«; die verwandte geistige Atmosphäre hat eine ähnliche Frucht gezeitigt, eine ähnliche, nicht die gleiche. Nini und Fifine sind doch ganz andere Mädchen als die Kathi und die Mali. Besonders ersetzt sich hier die wilde Grazie durch einen anderen Zauber: die Gemütlichkeit, wohl auch zuweilen durch einen edleren, ein tiefes Gemüt. Die Hauptzüge aber sind dieselben: um ein bißchen Liebe schenkt sich die Kleine hin, aber so gar nicht um ein großes Stück Geld; sie ist überaus genügsam; ein Band fürs Haar, ein Ausflug ins Grüne, ein durchtanzter Abend macht sie für Wochen hinaus selig, und endlich: hier wie in Paris wird nichts tragisch genommen, gar nichts, weder wenn dem Pärchen das Geld, noch sogar wenn ihm die – Liebe ausgeht. Leicht knüpft sich das Band, auf der Straße, bei einem Tanzkränzchen, durch die Nachbarschaft oder in sonniger Stunde auf irgend einem Pfade des Wienerwaldes, und sie lieben und küssen und machen einander so selig, als sie's vermögen, und wenn die Trennung dazwischentritt oder ein Erkalten der Gluten – nun, dann geht's wohl nicht ohne Tränen ab, aber sicherlich ohne tiefstes Herzeleid, ohne Reue und Vorwurf... Werte Herren und gestrenge Damen! Ich weiß nicht, was ihr dabei denkt und in welche strenge Falten ihr eure Gesichter legt, aber so haben wir's gehalten, und ich denke, wir haben alle miteinander keinen sittlichen Schaden dabei genommen...

Unser Freund hielt es anders, und nicht bloß seines gesetzten, im ganzen wortkargen Wesens wegen, sondern auch im Hinblicke auf diese einsame Lebensführung hieß er uns der »stille Hans«. Wir respektierten dies gegenseitig; er predigte uns keine strenge Moral, und wir ihm keinen holden Leichtsinn. Wohl aber war es natürlich, daß wir darüber grübelten, aus welchen Gründen der hübsche, starke Jüngling dahinlebte wie ein Mönch. »Er hat eine heimliche Beziehung«, meinten die einen, »und ist nur eben nicht so offenherzig wie wir.« – »Er trägt eine reine, heiße Liebe im Herzen«, vermuteten die anderen, »und darum scheint es ihm Sünde, ein loses Band zu knüpfen.«Das letztere schien wahrscheinlicher, denn er war auch sonst nicht danach geartet, seine Empfindungen in kleiner Münze auszugeben. Und es kam die Stunde, wo mindestens ich dies klar erkennen sollte...

Es war dies an einem heißen Julitage, dem letzten, den ich in Wien verbringen durfte. Mein zweites Semester war zu Ende, ich mußte heim und schied mit der Gewißheit, daß ich meine Studien an einer anderen Hochschule würde fortsetzen müssen. Um vieler Ursachen willen fiel mir der Abschied schwer, und nicht die geringste darunter war eine kleine, rundliche Ursache, die blonde Zöpfe trug; aber am schwersten fiel es mir doch, von meinem Hans zu lassen. Darum hatte ich mit ihm verabredet, den letzten Tag gemeinsam zu verbringen, und wir wanderten schon in der Morgenfrühe in den Prater.

Wir sprachen wenig, und auch unter den Bäumen war es recht still und wurde immer stiller, je weiter wir von den gebahnten Wegen ab dem Donauufer zustrebten. Da ließen wir uns nieder und – schwiegen fort. Es war eine lauschige Stelle; hoch und dicht stand das Laubwerk zu unseren Häupten, kein Sonnenstrahl stahl sich in diese grün-goldige Dämmerung, aber fern auf dem Spiegel des Stromes, der zwischen den Stämmen zu uns hinüberlugte, spielten seine blendenden Lichter...

An dieser Stelle nun, und ohne daß eine Anspielung, eine Frage vorangegangen, trat ihm plötzlich sein Geheimnis über die Lippen, nicht in leiser, verschämter Andeutung, sondern so stark und klar wie sein Empfinden selbst. Mich rührte diese jähe Enthüllung aufs tiefste; ich fühlte, in welchem Sinne sie gemeint war; die anderen hatten mir zum Abschied ihr Bild gegeben oder einen bemalten Pfeifenkopf; dieser treue Mensch schenkte mir das Beste, was er zu gewähren hatte: den Einblick in sein Herz.

Ich lauschte teilnahmsvoll; aber so jung und weltfremd ich damals war, rechte Freude konnte ich an dem, was er mir erzählte, nicht haben.

Er liebte ein junges, schönes Mädchen seiner Heimat, eine Enkelin des Mannes, in dessen Hause einst Friedrich v. M. seine Lebensgefährtin gefunden, die Tochter seines ältesten Schülers. Hans kannte sie seit seiner Kinderzeit, und fast ebenso lange war sie ihm teuer. Das war alles, denn wie er von ihr erzählte, den Ton, den Blick, den Ausdruck seiner Züge kann ich doch nicht wiedergeben. Wie klang das anders als jene Geständnisse, die ich bisher vernommen oder selbst von mir gegeben – zum erstenmal erkannte ich es, beschämt und ahnungsvoll durchschauert, daß es doch ein ander und groß Ding sein müsse um eine echte Liebe.

»Ist sie so schön?« fragte ich verwirrt.

Er zog ein Bild hervor und hielt es mir vor die Augen, in Aquarell gemalt, offenbar von keiner sonderlich geschulten Hand, aber die herrliche Natur blickte sieghaft durch den trüben Schleier, den diese Künstlerei darum gewoben. Mir war's, als ob ich all meiner Tage kein schöneres, stolzeres Mädchenantlitz gesehen – »wie eine Königin!« rief ich unwillkürlich. In der Tat hatte der Ausdruck dieser Züge etwas Gebietendes, die großen braunen Augen blickten fast herrisch, und die schweren Flechten des dunklen Haares legten sich wie ein Diadem um die freie Stirne.

»Sie ist wohl sehr stolz?« fragte ich.

»Sie ist, wie man sie erzogen«, erwiderte er, »und wozu sie ihre Schönheit macht. Die einzige Tochter eines hochmütigen Mannes, unseres ›Krösus‹, und ohne ebenbürtige Rivalin in der kleinen Stadt – wie hätte sie demütig werden sollen? Aber – ihr Herz ist gut, ich weiß es!«

»Und liebt sie dich?«

»Sie weiß um meine Liebe und ist von ihr gerührt, mehr ist von einem verwöhnten achtzehnjährigen Mädchen nicht zu verlangen!«

»Und ihre Eltern?«

»Die Mutter ist tot. Der Vater aber ahnt meine Verlobung und ist heftig dagegen; was liegt daran?«

»Wie?«

»Was liegt daran?! Ich kann nicht dafür, daß sie reich ist. Ich werde um sie kämpfen, wie eben ein Mann um sein Lebensglück zu kämpfen verpflichtet ist. Bin ich ihrer Liebe sicher, so kann uns keine Gewalt trennen. Denn sie ist tapfer und mutig und wird nach ihrem Willen handeln!«

Das war alles, was er mir in jener bewegten Stunde sagte, ich mochte nicht weiter fragen. Denn wie die Verhältnisse lagen, konnte ich mir selbst ausmalen. Die stolze, herrische Tochter des Krösus und der Sohn des armen Erziehers, der stille Jüngling, der sich für einen bescheidenen Wirkungskreis ausbildete – es war ein Paar, so ungleich, wie es nur ein Romandichter zum Entzücken empfindsamer Leserinnen ersonnen. Die Romanhelden siegen immer; aber, fragte ich mich bang, wie wird es diesem stillen, ernsten, ein wenig ungelenken Menschen ergehen?

Wir schieden.

Bald darauf ging auch er in seine Heimat. Als ich im Oktober auf der Durchreise nach Graz einen Tag in Wien verweilte und ihn aufsuchte, war er noch nicht zurück. Einige Wochen später erhielt ich einen Brief von ihm. Ich habe dieses Blatt mit den kleinen, festen lateinischen Zeichen, das einzige, welches ich von seiner Hand besitze, treulich aufbewahrt und setze einige Zeilen hierher: »Denke nur, ich bin ehrgeizig geworden! Du weißt, wie meine Absichten nicht über das Lehramt an einer Mittelschule hinausgegangen, nun will ich Doktor werden, Dozent, Professor. Ich habe mich mit der Geliebten verständigt, ich bin es ihr schuldig, ihr den Kampf mit dem Vater nach Kräften zu erleichtern. Auch denke ich, es wird gehen. Professor Tomaschek hat mich sehr ermuntert und meint, es könne mir gar nicht fehlen.«

Es gelang wirklich, so viel an ihm lag. Als ich ihn im nächsten Juli wieder sah, hatte er das Doktorat gemacht und das erste Heft einer gelehrten Schrift publiziert, welche in Fachblättern sehr günstig rezensiert wurde.

Seine Augen leuchteten freudig, als er mir diese Blätter vorwies. »Wie wird mein Vater jubeln!« sagte er. »Aber ich will mich nicht besser machen, als ich bin, und wenn's eine Sünde ist, so nehme ich sie auf mich: – mehr als um meiner Eltern willen freut mich dieser kleine Erfolg, weil er mich der Geliebten näher bringt!«

»Du hast nun bestimmte Hoffnungen?«

»Mehr als dies: Gewißheit! Malvine liebt mich! Ich denke mir in den nächsten Wochen ihr Jawort zu holen. Du sollst der erste sein, der die Verlobungsanzeige empfängt.«

Aber diese Anzeige traf nicht ein; der Herbst kam und ging, der Winter brach ein, Hans ließ nichts von sich hören. Ich wagte nicht zu fragen, mir ahnte Schlimmes, und mit Recht.

Im Februar 1870 begegnete ich auf dem historisch gewordenen »Dreieck« vor der Universität zu Graz einem gemeinsamen Freunde, der als Gerichtspraktikant in jener böhmischen Stadt lebte und nach Graz gekommen war, seine Rigorosen zu machen.

»Der arme Hans!« sagte er. »Es ist eine alte Geschichte, man könnte sogar keine Novelle mehr daraus machen. Die stolze Malvine hat ihn als Spielzeug benützt, bis sie ein anderes fand, das ihrem Hochmute besser gefiel. Sie denkt an den stillen Gelehrten nicht mehr, sondern an einen Kavallerieoffizier, der sehr laut und daneben Graf ist. Ältester Reichsadel, Titel ›Erlaucht‹ – das blendet. Aber eben darum ist es fraglich, ob er die Tochter des geadelten Fabrikanten wird heiraten mögen. Ich meinerseits gönne es dem herzlosen Geschöpf, daß es in Schimpf und Schande sitzen bleibt!«

»Und Hans?«

»Ist unglücklich und sucht seinen Trost in der Arbeit. Im übrigen – du kennst ja dies große Kind! Weil er selbst ohne Falsch ist, glaubt er auch anderer Falschheit nicht. Er ist noch immer fest überzeugt, daß sich das Mädchen nur scheinbar dem Willen des Vaters fügt. Nun – er wird unsanft erwachen, aber das wird ihm heilsam sein.«

Etwa zwei Monate waren seit jener Begegnung vergangen, als ich eines Tages ein Schreiben erhielt, dessen Adresse endlich wieder jene kleinen lateinischen Buchstaben aufwies. »Armer Junge!« dachte ich, »er wird sich das Herz erleichtern wollen.« Aber wie erstaunt war ich, als mir aus dem Blatte keine eigenhändigen Schriftzeichen entgegensahen, sondern die lithographierten Zeilen: »Ich beehre mich, Sie zu meiner Trauung mit Fräulein Malvine v. B. einzuladen, welche am 16. April 1870, nachmittags 4 Uhr, in der römisch-katholischen Pfarrkirche zu S. stattfinden wird. Dr. Hans v. M.«

»Gottlob!« dachte ich erfreut. »So hat sich denn das ›große Kind‹ diesmal doch scharfsichtiger erwiesen als ihr weltklugen Leute!« Und in dieser Herzensfreude eilte ich heim und schrieb einen langen, langen Glückwunschbrief.

Am 5. September 1870, drei Tage nach Sedan, führte mich eine studentische Angelegenheit wieder nach Wien. Wir Grazer Studenten hatten eine Siegesfeier veranstalten wollen, waren auf Hindernisse gestoßen, und es galt den Versuch, dieselben »höheren Orts« zu beseitigen. Es gelang nicht; müde und mißgestimmt trat ich mit sinkender Dämmerung den Weg in die Währinger Straße an, um nachzusehen, ob sich vielleicht in der »Halle« einer der alten Kumpane finden lasse.

Auf der »Freiung«, mitten im Gedränge, tauchte plötzlich eine wohlbekannte Gestalt vor mir auf.

»Hans!« rief ich.

Er wendete sich nicht um, zweifelnd suchte ich ihn einzuholen, die Gestalt war dieselbe, aber die Bewegungen ganz anders, das Haupt gebeugt, der Gang müde und schleppend. Ich trat dicht an ihn heran – er war's doch, und seine Züge belebten sich, als er mich erkannte. Ich aber erschrak, als ich ihm ins Antlitz blickte, wie furchtbar hatte er sich verändert! Tiefe Furchen lagen um den Mund, die Augen blickten trüb aus ihren tiefen Höhlen, die Wangen waren hager und fahl.

»Hans!« rief ich, »warst du krank?«

»Sehr krank«, erwiderte er; »bin's noch, hoffe aber bald zu genesen!«

»Was ist's denn?«

»Ein Herzleiden!«

»Oh! Du warst doch kerngesund?! Und wie geht es dir sonst? Ist deine Frau mit hier?«

»Nein, daheim!« Er wurde rot und gleich wieder noch fahler als bisher.

»Und du?« fragte er dann. »Was tust du hier?«

Ich sagte es ihm.

»Ja, es ist eine große Zeit!« erwiderte er. »Es wäre schön, in dieser Zeit einen ehrlichen Tod für sein Volk zu sterben! Mir ist's nicht gegönnt, ich habe nicht die Kraft dazu!«

»Hans!« rief ich, »was ist dir? Du bist sehr unglücklich?«

»Es wird durch Klagen nicht besser«, erwiderte er. »Wohin gehst du?«

»Ich wollte in der Halle nachsehen...«

»Das ist ja jetzt eine schmutzige Kneipe.«

»Das tut mir leid, es befleckt mir die schöne Erinnerung!«

»Ja«, sagte er, »es ist ein großer Schmerz, mit Unrat befleckt zu sehen, was man einst heilig gehalten hat.«

Er sagte es im Tone tiefsten Wehs; es kam mir überschwenglich vor angesichts der doch nur geringfügigen Veranlassung, und ich blickte ihn verwundert an.

Er schien es nicht zu verstehen. »Der Fritz und der Wilhelm kneipen nun allabendlich im ›Riedhof‹«, sagte er. »Da triffst du sie.«

»Du gehst nicht mit?«

»Nein, verzeih – aber – mein Herzweh meldet sich wieder!«

Er drückte mir die Hand und verschwand im Gedränge. Erstaunt und betrübt setzte ich meinen Weg fort, nun zum »Riedhof«. Da saßen richtig der braune Fritz und der kleine Wilhelm mit dem Knabengesicht.

»Was ist's mit Hans?« fragte ich.

»Eine traurige Geschichte«, erwiderten sie. »Seine Frau...«

»Nun?«

»Hat einen Knaben geboren, vor drei Wochen!«

»Oh!« rief ich entsetzt, »er wird die Schmach nicht überleben!«

»Doch! In den ersten Tagen war er furchtbar erregt, aber nun ist er ruhiger.«

Ich schüttelte den Kopf, mir wollten die Anspielungen nicht aus dem Sinne, die ich jetzt erst verstand.

Am nächsten Morgen gegen die elfte Stunde saß ich ungeduldig in einem Cafe am Schottentor und harrte auf Fritz, der mir da ein Stelldichein gegeben. Eben wollte ich gehen, als er hastig hereinstürzte, todbleich und zitternd.

»Komm«, sagte er, »du wirst ihn noch einmal sehen wollen.«

»Wen?«

»Unseren Hans. Er hat sich heute nacht durchs Herz geschossen...«

Nur ein allgerechter Gott könnte über den Selbstmord richten, und unter den Menschen wagen dies nur engherzige Toren. Ich wollte nicht entscheiden, ob du recht getan, Hans, ich wollte nur erzählen, wie dich das Leben gestaltet und dann zernichtet. Ave, pia anima! Du hast es nicht verdient, daß dich der häßliche Schmutz der Erde beflecke, und du hast ihn weggespült mit deinem Blute.

Ave, ave, pia anima!