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Renate Franken

Glaube mir ...

Mit strahlendem Lächeln winkte Ulrike Fahrenkamp lebhaft ihren Gratulanten und Bewunderern zu und entfernte sich mit schnellen Schritten vom Sattelplatz.

Eilig strebte sie dem Zelt zu, in dem sich die Garderobe für die an dem Turnier teilnehmenden Damen befand.

Gott sei Dank – es war niemand drin! Sie warf sich auf eine der Liegebänke und riß sich die schwarze Samtkappe vom blonden Haar.

Ah – das tat gut, ein wenig Ruhe!

Hinter der Zeltwand wurden Stimmen laut. Einige Herren tauschten ihre Ansichten über das Rennen aus, bei dem teilweise großartige Leistungen gezeigt worden waren.

Unwillkürlich lauschte Ulrike interessiert. Aha – jetzt kam das Springen der Damen an die Reihe – und da fiel auch schon ihr Name.

»Die kleine Fahrenkamp hat sich ja ein tolles Stückchen geleistet, wie sie den störrischen Gaul zwang. Das Mädel hat den Teufel im Leib«, sagte jemand anerkennend.

»Da haben Sie durchaus recht, mein Lieber, es war eine beachtliche Leistung, die allerdings mit edlem Sportsgeist kaum noch etwas zu tun haben dürfte«, antwortete eine sonore Stimme. »Ich schätze nun einmal Frauen nicht, die den Teufel im Leib haben und aus sportlichem Ehrgeiz ein Tier so unerhört quälen können.«

Ulrike fuhr empört auf, während eine dunkle Röte in ihr Gesicht stieg.

Hätte sie etwa auf den Sieg verzichten sollen, als sie merkte, daß Erlkönig bockte?

Unruhig schritt Ulrike Fahrenkamp im Zelt hin und her. – Der ekelhafte Kerl hatte ihr tatsächlich die ganze Freude an ihrem Sieg verleidet. Wer mochte es wohl sein?

Hastig griff sie nach ihrer Mütze und verließ hochaufgerichtet das Zelt, mit unbewegtem, hochmütigem Gesicht an den beiden Herren vorüberschreitend, die betroffen zur Seite wichen und einander peinlich berührt anblickten.

»Dumme Sache, lieber Wischhusen – wer konnte aber auch ahnen, daß die kühne Amazone sich hier im Zelt aufhält ...«

»Das ist nun nicht mehr zu ändern, lieber Simmern, und – im übrigen«, der Sprecher richtete sich auf, »vielleicht schadet es gar nichts, wenn die junge Dame einmal hört, daß es Leute gibt, die ihr Verhalten als unsportlich mißbilligen.«

»Na, jedenfalls gebe ich Ihnen den guten Rat, sich heute abend beim Ball von dem schönen Kind fernzuhalten – ein ausgewachsener Korb wäre Ihnen sicher.«

*

Ulrike Fahrenkamp war zum Sattelplatz gegangen, obgleich sie sich am liebsten in ihren Wagen gesetzt und ins Hotel gefahren wäre. Maßlos erschrocken war sie, als sie in den beiden Kritikern zwei bekannte und erfolgreiche Herrenreiter erkannte, die schon manchen ehrenvollen Sieg errungen hatten.

Dieser Wischhusen würde sicher nicht mit seiner Meinung hinter dem Berge halten! Und dabei hatte sie diesen Mann, den sie aus vielen Zeitschriften kannte, immer bewundert, zumal seit er einmal einen Artikel geschrieben hatte über das Verhältnis zwischen Reiter und Pferd. Ganz begeistert war sie darüber gewesen, weil er so warme Worte für den vierbeinigen Kameraden des Menschen fand.

Sie biß sich auf die Lippen, es war peinlich – aber nicht mehr zu ändern. Scheinbar unbekümmert lachte und scherzte sie mit den Sportkameraden, und nahm dann mit der ihr eigenen Anmut den Siegespreis entgegen, als die Reihe an sie kam.

Dann aber verließ sie fast fluchtartig den Turnierplatz, sie konnte nun wirklich nichts mehr hören, und sehnte sich nur danach, allein zu sein.

*

In den festlich erleuchteten Gesellschaftsräumen des Hotels herrschte schon reges Leben, als Vater und Tochter Fahrenkamp Arm in Arm eintraten.

Freiherr von Simmern, der mit Dr. Wischhusen an einem Tisch unmittelbar neben der zum Tanzsaal führenden Tür saß, blickte interessiert dem eleganten Paar nach und schaute dann verschmitzt seinen Sportkameraden an.

»Tut es Ihnen nun nicht doch leid, mein lieber Wischhusen, daß Sie sich den Zorn eines Engels zugezogen haben?«

»Sie könnten beinahe recht haben, lieber Simmern«, sagte er langsam, »aber wir haben ja schon einmal festgestellt, daß es Schönheit allein nicht tut – Außerdem – in diesem duftigen Gewand würde selbst des Teufels Großmutter wie ein Engel aussehen.«

Simmern lachte laut auf. »Sie sind köstlich, mein Bester, man könnte beinahe denken, Sie hätten aller Schönheit abgeschworen aus Angst, daß sich hinter dem Engelsgesicht der Teufel persönlich verbirgt.«

»Nehmen Sie getrost an, es sei wie Sie sagten«, gab Wischhusen leicht zurück, während er sich nach dem Tanzsaal umwandte, aus dem soeben lockende Musik erklang.

Er fuhr aber sogleich wie von der Tarantel gestochen zurück, denn im Türrahmen lehnte die junge Dame, von der sie soeben gesprochen hatten, und die zweifellos Wort für Wort gehört hatte.

Donnerwetter, das war mehr als unangenehm! Daß ihm so etwas passieren konnte, nachdem er heute doch schon einmal eine Lehre empfangen hatte, daß man mit allen Äußerungen vorsichtig sein mußte.

Vorsichtig drehte er den Kopf etwas zur Seite – er atmete auf, der Platz neben der Tür war leer.

Mißmutig und unzufrieden mit sich selbst erhob er sich.

Mit suchendem Blick überflog er die Tanzenden – aber nirgends war das junge Mädchen zu entdecken, das er so schwer gekränkt hatte. Wenn er auch seine Meinung nicht ändern konnte, so war es doch nicht unbedingt notwendig, daß sie es auf diese Weise erfuhr, ja, jetzt erschien es ihm beinahe richtiger, wenn er ehrlich als älterer Sportskamerad mit ihr über das Unschöne ihres Verhaltens gesprochen hätte. Aber dazu war es nun zu spät. –

Ulrike war inzwischen auf ihr Zimmer geeilt, nachdem sie ihrem Vater erklärt hatte, daß sie eine Bekannte suchen wolle.

Sie hatte Wort für Wort verstanden! – Ihr Vater hatte in seiner lebhaften Art mit einem Herrn geplaudert, der unglücklicherweise Wand an Wand mit Wischhusen und Simmern neben der Tür saß und bei der Begrüßung mit ihr und dem Vater aufgesprungen war. Stehend hatten dann die Herren ein paar Worte miteinander gewechselt, während sie schweigend danebenstand.

Und so war sie Zeuge der sie auf tiefste kränkenden Unterhaltung geworden.

Hastig warf sie sich einen leichten Mantel über und eilte wieder hinunter, durch einen Nebenausgang des Hotels ungesehen die Straße erreichend. Schnell ließ sie sich die Garage öffnen und fuhr in jagendem Tempo dem Turnierplatz zu, wo die Pferde der auswärtigen Reiter untergebracht waren.

Überrascht blickte der Stallbursche auf, der für das Wohl der Tiere verantwortlich war, als die junge Dame erschien, deren langes Abendkleid unter dem Mantel hervorschaute.

»Ich will nur noch einmal nach meinem Pferd sehen«, sagte Ulrike Fahrenkamp hastig, »es gefiel mir heute gar nicht.«

Mit zärtlicher Stimme ihr treues Tier anrufend, betrat sie die Box.

Sie legte ihren Kopf schmeichelnd an den Hals des Tieres, während ihre Hand zärtlich durch die Mähne fuhr.

»Sei mir nicht mehr böse, Erlkönig, daß ich dich heute so gequält habe, du Treuer – ich weiß ja selbst nicht, was mit mir los war – Ich wollte doch nicht, daß sie uns auslachen – deshalb habe ich dir so weh getan. – Wir werden auch kein Rennen mehr zusammen reiten – nie mehr, Erlkönig – das verspreche ich dir«, sprach sie schluchzend auf das Tier ein, das seinen Kopf der weinenden Herrin zugewendet hatte.

Erst nach langer Zeit richtete sich das junge Mädchen auf und gab den Hals des geduldig wartenden Tieres frei.

Liebkosend klopfte Ulrike noch einmal den Hals des Pferdes und fuhr dann ins Hotel zurück. –

Schnell beseitigte sie in ihrem Zimmer die Tränenspuren – richtete das Haar und begab sich dann wieder in die Festräume.

Mit lebhaften Zurufen wurde sie von einigen Klubkameraden begrüßt – man hatte sie schon sehr vermißt.

Mit strahlender Fröhlichkeit beantwortete sie die ihr immer noch reichlich dargebrachten Komplimente – und niemand ahnte, daß die junge Siegerin das Ende des Festes herbeisehnte. Wurde sie doch jedesmal, wenn im Gewühl der Tanzenden die hohe Gestalt Wischhusens auftauchte, an die erlittene Kränkung erinnert – die deshalb so schwer wog, weil sie nicht unberechtigt war, wie sie ehrlich eingestehen mußte.

Durch die widerstreitendsten Gedanken abgelenkt, hatte sie gar nicht darauf geachtet, daß ein Tanzspiel angesagt war.

In unverhohlenem Entsetzen blickte sie daher den Mann an, der sich plötzlich mit unbewegtem Gesicht vor ihr verneigte und, ehe sie zur Besinnung kam, den Arm um sie legte und mit ihr davontanzte.

Aber dann hatte sie begriffen, der weiche Mädchenkörper wurde starr in den Armen des Tänzers – er spürte, wie sich das erregte Mädchen aus der losen Umschlingung befreien wollte.

Wischhusen zog die zarte Gestalt fest in seine Arme.

»Ich möchte Sie bitten, jedes Aufsehen zu vermeiden, gnädiges Fräulein, wenn ich auch gut verstehen kann, daß Sie nicht entzückt sind, mit mir tanzen zu müssen.«

»Führen Sie mich augenblicklich auf meinen Platz zurück«, befahl Ulrike, wütend über die Überrumpelung.

»Sofort, gnädiges Fräulein – aber erst möchte ich Ihnen noch sagen, daß ich es außerordentlich bedauere, Sie mit meinen Worten gekränkt zu haben. Es wäre besser gewesen, wenn ich Ihnen kameradschaftlich offen gesagt hätte, wie ich über Ihren Sieg denke, aber das läßt sich nun leider nicht mehr ändern«, sagte Wischhusen mit tiefer Stimme, die wohl verriet, daß auch er nicht so ruhig war, wie es schien.

»Wie großmütig«, kam es unendlich bitter von den blassen Mädchenlippen, »aber Sie konnten sich diese Entschuldigung ruhig sparen; ich lege keinen Wert darauf. Und im übrigen muß ich Sie nun ernstlich bitten, sofort diesen Tanz zu beenden, wenn Sie nicht wollen, daß ich Sie stehen lasse. Ich dächte, Sie kennen meine Rücksichtslosigkeit, und des Teufels Großmutter fragt nun einmal nicht nach dem Urteil der Menschen«, schloß Ulrike Fahrenkamp in eisigem Hohn.

Wischhusen blieb stehen und ließ seine Arme sinken, während er sich stumm verneigte. Nur mit den Fingerspitzen berührte Ulrike den Arm, den Wischhusen ihr bot, als er sie aus dem Tanzsaal führte, und verabschiedete ihn mit einem hochmütigen Neigen des Kopfes, als sie das Nebenzimmer erreicht hatten.

*

Heller Sonnenschein lag auf der Terrasse der Villa Fahrenkamp, als Frau Regina Fahrenkamp den Morgenkaffee zu sich nahm.

Die immer noch sehr jugendliche, mädchenhaft zarte Frau seufzte leise. So war das nun immer, nur selten tranken sie morgens gemeinsam Kaffee, und abends glänzte der Hausherr auch häufig durch Abwesenheit. Und das nicht, weil er durch ein Übermaß an Arbeit abgehalten wurde, sondern weil er es vorzog, die Abende in lustiger Gesellschaft zu verbringen.

Vermutlich war es gestern wieder sehr spät geworden, und deshalb mußte er heute wieder den herrlichen Morgen verschlafen. – Gerade faltete sie die Zeitung auseinander, als ein leichter, sporenklirrender Schritt erklang,

»Da bin ich Mutti, guten Morgen!« sagte Ulrike Fahrenkamp, die Mutter herzlich küssend. »Habe ich einen Hunger!«

»Guten Morgen, mein Kind«, kam es freundlich Zurück, »ich denke, gegen deinen Hunger gibt es ein Mittel.«

»Herrlich war es heute, Mutti! – Es gibt doch nichts Schöneres als so einen Morgenritt, wenn der Tau noch in den Gräsern funkelt. Schade, daß du nicht mehr reitest – es würde dir sicher besser bekommen, als den ganzen Tag im Büro zu sitzen und dich in der Fabrik herumzuärgern.«

»Ganz meine Meinung, mein Töchterchen«, erklang hinter ihr die Stimme des Vaters, der unbemerkt von den Damen die Terrasse betreten hatte.

»Nanu, Papa, schon auf?« fragte Ulrike neckend. »Was treibt dich so früh hinaus?«

»Na warte, du Racker«, lachte Fahrenkamp, und fuhr ihr zausend durch das goldig schimmernde Haar, »ich werde dir helfen. Willst du dich über deinen alten Vater lustig machen?«

Ein übermütiges Lachen war die Antwort, während Robert Fahrenkamp seine Gattin begrüßte und am Kaffeetisch Platz nahm.

Frau Regina erhob sich.

»Ich muß euch bitten, mich zu entschuldigen. Ich muß jetzt hinüber, Merkel erwartet mich, er hat schon angerufen. Kommst du nach, Robert?«

Mit Unbehagen blickte Fahrenkamp seine Frau an. »Ich weiß nicht, Regina«, begann er zögernd, »ich habe eigentlich eine Verabredung. Ist es denn unbedingt notwendig, daß ich komme?«

Frau Regina unterdrückte eine bittere Bemerkung:

»Nun, es geht vielleicht auch so. Ich denke nur, es wäre besser, wenn du dich mehr im Werk sehen ließest,«

»Ach, fang doch nicht immer wieder damit an. Ich bin oft genug drüben und weiß was los ist – und im übrigen, Merkel ist lange genug im Betrieb, und weiß, was zu tun ist.«

»Ich finde wirklich, Papa hat recht, Mutti«, mischte sich Ulrike ein, »es kann dir doch wahrhaftig keinen Spaß machen, dich drüben abzuschinden.«

»Du redest, wie du es verstehst, mein Kind –«

»Nein, Mutti – so ist es nicht«, fiel die lebhafte Ulrike der Mutter ins Wort. »Verzeih, daß ich dich unterbreche, aber ich finde, daß Vati es viel besser versteht als du, das Leben etwas zu genießen. Du sitzt immer hinter deinen Büchern und sorgst dich ums Geld und dabei beschäftigt unser armer Vater tausend Menschen in seiner Fabrik. Es ist wirklich köstlich.«

»Ja – und diese tausend Menschen wollen alle bezahlt sein!« erwiderte Frau Regina mit schwerem Ernst – »aber es ist sinnlos, mit euch darüber zu sprechen«, und grüßend das Haupt neigend schritt sie davon.

Etwas betroffen schaute Ulrike der Mutter nach, die schmal und Zierlich wie ein junges Mädchen durch den parkartigen Garten schritt, an dessen Ende eine Pforte in die Fabrik führte, von der man hier jedoch nichts sehen und hören konnte.

So furchtbar ernst, fast wie eine angstvolle Mahnung hatten die Worte der Mutter geklungen.

*

Wie sie es gesagt hatte, wurde Regina Fahrenkamp in der Fabrik schon von dem alten Direktor Merkel erwartet.

»Ich weiß wirklich nicht, was wir da machen sollen, gnädige Frau«, sagte der alte Herr bekümmert, »Hanke & Co. schreiben uns, daß sie den Auftrag zurückziehen, wenn wir die Lieferfrist nicht einhalten können.«

»Darauf dürfen wir es nicht ankommen lassen, lieber Herr Merkel«, gab Frau Regina erregt zurück. »Sie wissen besser als ich, was auf dem Spiel steht. Wir brauchen diesen Auftrag.«

»Das ist ja auch meine Ansicht – aber ich sehe keinen Weg, den Liefertermin einzuhalten, nachdem uns nun schon die zweite Maschine ausgefallen ist. Man sollte eben neue Maschinen kaufen können, die anderen entsprechen ja auch in keiner Weise mehr den Anforderungen.

»Ja – man sollte neue Maschinen kaufen können«, sagte Frau Fahrenkamp mit unendlich müder Stimme – »aber wir haben ja kein Geld dafür, lieber Merkel.«

»Und weshalb haben wir kein Geld, gnädige Frau?« fragt« der alte Herr grollend, – »Weil immer nur aus dem Betrieb herausgezogen wird. Weil nicht daran gedacht wird, daß man die Kuh auch füttern muß, wenn man sie melken will.«

»Sie haben ja so recht, mein Lieber, – aber kann ich es ändern?«

Mit einem Blick, aus dem ihre ganze Hoffnungslosigkeit sprach, schaute Regina den alten Herrn an, dessen gutes altes Gesicht vor innerem Zorn dunkel gerötet, war. Sie nahm ihm die offene Sprache nicht übel, der alte Herr hielt der Firma Fahrenkamp nun schon seit fast vierzig Jahren die Treue, und hatte mit all seiner Kraft immer nur für das Werk gearbeitet, das unter der Leitung des verstorbenen Schwiegervaters einen ungeahnten Aufschwung genommen hatte – und nun in steiler Kurve dem Abgrund zustrebte, wenn nicht ein Wunder geschah.

Und der eigentliche Chef des Unternehmens verschloß sich allen Vorstellungen, wollte nichts sehen und hören – schlug alle Mahnungen in den Wind und lebte lustig drauflos.

»Es stimmt ja leider alles was Sie sagen – lieber Herr Merkel, aber wir müssen doch wenigstens versuchen, das Werk mit allen Mitteln zu halten. Besteht denn gar keine Möglichkeit, die beiden Maschinen wieder instand zu setzen? Sprechen Sie doch noch mal mit Wiegand – der Mann hat doch schon manches schwierige Kunststück fertiggebracht, vielleicht findet er doch noch einen Weg die Maschinen noch rechtzeitig zu reparieren.«

Voller Mitleid schaute Direktor Merkel in das schöne Frauengesicht, sah die großen blauen Augen angstvoll auf sich gerichtet.

»Ich werde mit Wiegand sprechen, gnädige Frau – es wäre ja möglich, daß er noch einen Ausweg findet«, sagte der alte Herr.

Regina hatte dem Getreuen noch freundlich zugenickt, als er ihr Arbeitszimmer, denselben Raum, in dem ihr Schwiegervater rastlos gearbeitet hatte, dieser so überaus fleißige und pflichtbewußte Mann, der seine Schwiegertochter bereits vier Jahre vor seinem Tode in die Geschäfte der Firma eingeweiht hatte, weil er wußte, daß sein Sohn den Betrieb nicht würde halten können. –

Regina stiegen die Tränen in die Augen, als sie an den ständigen Kummer des alten Herrn dachte. »Du tust mir ja von Herzen leid, Regina«, hatte er ihr einmal gesagt, »daß du einen Mann geheiratet hast, dessen Faulheit und Leichtsinn ich ihm als Vater auszuprügeln versäumte.«

Aufseufzend schüttelte Frau Regina die folternden Gedanken ab – es hatte ja doch alles keinen Zweck – man mußte eben versuchen, so lange als möglich auszuhalten, – und zu arbeiten. Arbeit half über vieles hinweg – auch über ein verpfuschtes Leben. –

*

Dr. Hansgeorg Wischhusen war irgendwie verändert, seit er von dem Rennen zurück war, stellte Schwester Helene, wie schon öfter in den letzten Tagen fest, als sie mit ihm jetzt über eine besonders schwierige Patientin sprach.

»Aber Sie hören ja gar nicht zu, Herr Doktor«, sagte Schwester Helene vorwurfsvoll, »wo sind Sie nur immer mit Ihren Gedanken?«

Sie durfte sich diese Frage erlauben, denn sie war nun schon einige Jahre in der Klinik und arbeitete eng mit dem jungen Arzt zusammen.

»Verzeihen Sie, Schwester Helene, ich war in der Tat nicht bei der Sache«, antwortete Wischhusen, und strich mit der Hand über die hohe Stirn – als wollte er dort etwas fortwischen. Einen Gedanken – der ihn nicht losließ und ihn quälte –, ein hochmütiges, schönes Mädchengesicht, das sich immer wieder vor sein inneres Auge stellte und ihn mit zürnenden Augen ansah.

»Hm – das habe ich gemerkt«, versuchte die Schwester zu scherzen, und fuhr dann mit ihren Erklärungen fort. Dabei forschten ihre dunklen Äugen aufmerksam in dem Gesicht des Mannes, der sie nicht nur als Arzt interessierte. Eifrig sprach sie auf den nun aufmerksam Lauschenden ein.

»Ja, Schwester Helene, das war sehr umsichtig von Ihnen, daß Sie die Frau Neumeyer verlegt haben. Es ist schon in Ordnung so, Schwester Helene. Sie tun doch immer das Richtige.«

Die Schwester errötete bei dem Lob des Arztes und sah ihm mit aufleuchtendem Blick nach, als er weiterging und sein Zimmer aufsuchte.

Nachdenklich blieb Schwester Helene noch ein Weilchen auf dem langen Gang, der sich an dieser Stelle zu einer großen Nische erweiterte, wo zwischen einigen Sesseln hohe Blattpflanzen standen, stehen. Die noch jugendliche Schwester, welche mit ihrer hohen, ebenmäßigen Figur, den dunklen seidigen Haaren, fast schön zu nennen war, war stark beunruhigt durch das Verhalten des Arztes. Da stimmte doch etwas nicht, das stand fest bei ihr. Diese Rennen, zu denen er gelegentlich fuhr, sofern sie nicht hier stattfanden, waren ihr wie seine Vorliebe für das Reiten überhaupt, ein Dorn im Auge. –

Dr. Wischhusen saß inzwischen unschlüssig an seinem Schreibtisch, die Augen sinnend ins Leere gerichtet.

Vor ihm lag ein ganzer Stoß Krankenberichte, die er zu bearbeiten hatte – aber er vermochte sich nicht auf seine Arbeit zu konzentrieren. Immer wieder überlegte er – ob es einen Sinn habe, der jungen Dame zu schreiben, sie noch einmal schriftlich um Entschuldigung zu bitten, denn es störte ihn empfindlich, daß er sich wie ein übler Schwätzer benommen hatte. Dann aber verwarf er diesen Plan wieder; wahrscheinlich war sie gar nicht so sensibel und dachte überhaupt nicht mehr an die erlittene Kränkung.

Welches ist denn nun eigentlich ihr wahres Gesicht? dachte er voller Zorn, von dem er nicht wußte, wem er galt.

Das Läuten des Telefons riß ihn aus seinen unerfreulichen Gedanken. Sein Onkel, der Chefarzt und Eigentümer der chirurgischen Klinik war, beorderte ihn zu sich. –

*

Eine unerträgliche Hitze lag über dem ganzen Land und ließ die Menschen nach kühlen Wäldern oder erfrischender Seeluft lechzen.

Frau Regina Fahrenkamp litt sehr unter der glühenden Hitze, zumal sie durch die vielerlei Sorgen, die sie bedrängten, nachts kaum schlief. Unablässig bestürmten sie die kleinen grauen Geister – ließen ihr keine Ruhe mehr – denn da die Firma Hanke & Co. ihren Auftrag zurückgezogen hatte – auch der Chefingenieur Wiegand hatte die ausgefallenen Maschinen nicht wieder in Betrieb setzen können – waren unübersehbare Schwierigkeiten aufgetreten. Als das Schlimmste empfand es die sozial denkende Frau, daß es sich nicht vermeiden lassen würde, einen großen Teil der Arbeiter zu entlassen. Das bedeutete aber für diese Menschen bittere Not, denn in der kleinen Stadt waren die Verdienstmöglichkeiten nicht sehr groß.

Und daheim wurde weiter lustig drauflos gelebt – all ihren Vorstellungen und Ermahnungen zum Trotz. Wie ein Tanz auf dem Vulkan – der jeden Augenblick zur Eruption kommen konnte, erschien ihr das augenblickliche Leben.

Sie brauchte nur in ihr privates Kontobuch zu schauen, dann hatte sie die Bestätigung dafür. Immer wieder erschien eine Eintragung: Robert 1000 DM, Robert 50 DM – ach – sie konnte Seite um Seite wenden – auf jeder stand mindestens einmal der Name ihres Gatten, der immer häufiger der Familie fernblieb.

Solange der Schwiegervater noch gelebt hatte, blieb es noch in erträglichen Grenzen, denn vor dem alten Herrn hatte der Sohn doch etwas Furcht gehabt, aber seit dessen Tod waren die Ansprüche Roberts ins Ungemessene gestiegen und damit auch die Entfremdung der Ehegatten.

Achtunddreißig Jahre alt war jetzt Frau Regina – noch immer eine junge Frau – und was war ihr Leben? Unausgesetzte Arbeit – Sorge und – was noch schrecklicher war – die große Einsamkeit, die sie umgab und die immer schlimmer wurde. Früher – da hatte sie ihr Kind, ihre kleine Ulrike, noch mit ihrer Zärtlichkeit und kindlichen Liebe beglückt, und für alles Leid entschädigt – seit sie jedoch erwachsen war – hatte das eine starke Trübung erfahren. Ulrike wendete sich mehr und mehr dem Vater zu.

Das war schließlich auch gar kein Wunder – der Vater hatte eben immer Zeit – unterstützte alle Wünsche des Töchterchens und dessen jugendliche Torheiten – kein Wunder, daß Ulrike in jungem Unverstand sich von der Mutter abwendete.

Dabei war Ulrike nicht leichtfertig – eine ernste Aussprache mit ihr würde sicher genügen, um sie zu überzeugen, daß die Handlungsweise der Mutter richtig und notwendig war. Aber dazu hätte Frau Regina ihren Mann in den Augen der Tochter herabsetzen müssen – und das widerstrebte der Vornehmen, feinfühligen Frau.

Wenn sie sich nur nicht so entsetzlich elend fühlen würde! Durch den Mangel an ausreichendem Schlaf war sie schon am Morgen wie zerschlagen – und wenn dann die Mittagshitze brütete, konnte sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen.

Das Richtigste wäre es wohl, wenn sie jetzt ausspannen würde, Kräfte sammelte für das, was unweigerlich und drohend auf sie zukam.

*

Schon am nächsten Tag, beim Mittagessen, gab Frau Regina dem Mann und der Tochter ihre Absicht bekannt.

»Die Geschäfte gehen jetzt ohnehin ruhig, ich kann also ganz gut einige Zeit fortgehen«, erklärte sie in ihrer ruhigen, bestimmten Art, die sie sich zwangsläufig angewöhnt hatte.

»Das ist eine gute Idee, Mutti – du wirst ja direkt leichtsinnig. Sonst mußte man immer erst lange reden, ehe du Urlaub nahmst.«

»Wie ist es, Kind«, wandte sie sich liebevoll der Tochter zu, »hast du nicht Lust, mich zu begleiten? Es wäre doch hübsch, wenn wir zusammen Ferien machten. Dann habe ich doch auch einmal Zeit für dich – das bedauerst du doch sonst immer so sehr.«

Etwas verlegen senkte Ulrike den Blick.

»Wärst du sehr böse, Mutti, wenn ich nicht mitkomme?«

»Und weshalb willst du nicht mit mir fahren, Ulrike?« fragte Frau Regina schmerzlich überrascht.

»Weil – weil...« Es ist doch sehr unangenehm, die Mutter enttäuschen zu müssen, dachte Ulrike und fuhr fort: »Ich hatte die Absicht, mit Naumanns nach Norderney zu gehen. Helga hatte mich darum gebeten – und – und eine ganze Menge Bekannte vom Klub werden auch dort sein.«

»Nun ja – es mag dir wohl lieber sein, mit deinen jungen Freunden die Ferien zu verbringen«, sagte Frau Regina müde, mit einem leisen Beben in der Stimme.

Etwas beschämt blickte Ulrike die Mutter an.

»Wenn du dich entschließen könntest, nach Norderney zu gehen – Mutti?« fragte das junge Mädchen zaghaft.

»Nein, mein Kind – dazu kann ich mich auf keinen Fall entschließen. Ich möchte nicht mit allen möglichen Bekannten zusammensein. Einmal möchte auch ich Mensch sein und nicht dauernd an daheim erinnert werden«, sagte sie wider Willen mit großer Bitterkeit.

»Sollte es für dich keine andere Möglichkeit geben, Mensch zu sein, als irgendwo allein in der Welt herumzufahren?« fragte Fahrenkamp ironisch.

»Ja! – Aber wenn dich meine Formulierung stört – dann kann ich ja auch sagen, daß man auf Reisen einmal etwas anderes sehen will als die gewohnten Gesichter. So sagt man ja wohl im allgemeinen«, gab Frau Regina etwas erregt den Hieb zurück.

»Ach so – deshalb hast du es wohl auch gar nicht in Betracht gezogen, daß ich dich vielleicht begleiten könnte?« stichelte Fahrenkamp, der vermutlich durch die große Hitze und ihre drückende Schwüle etwas reizbar war, weiter.

»Auf den Gedanken bin ich allerdings nicht gekommen, Robert«, erwiderte Frau Regina mit unverhohlenem Erstaunen. »Du hast es in all den Jahren doch stets für amüsanter gehalten, wenn Eheleute ihre Ferien getrennt verbringen. Daran habe ich mich nun gewöhnt.«

»Dann sollst du auch meinetwegen nicht auf eine Gewohnheit verzichten, die dir anscheinend lieb geworden ist«, erklärte Fahrenkamp, der in Wirklichkeit gar nicht daran dachte, seine Gattin zu begleiten.

Außerdem konnte er auch nicht die Stadt verlassen, zarte Bande hielten ihn zurück. Seine augenblickliche Freundin bekam leider erst später ihren Urlaub, den sie gemeinsam auf Capri verbringen wollten.

Flüchtig schossen ihm diese Gedanken durch den Kopf, während er fortfuhr:

»Es ist ja auch besser, wenn ich erst später fahre, damit hier jemand nach dem Rechten sieht, während du fort bist, Regina.«

»Ganz wie du willst, Robert – du brauchst mit deinen Reiseplänen auf mich durchaus keine Rücksicht zu nehmen, Merkel ist ja da.«

»Auf einmal ist Merkel da – kann Merkel allein verfügen – und sonst machst du mir immer Vorwürfe, daß ich alles Merkel überlasse«, kam es schon wieder angriffslustig zurück.

Ulrike hob verwundert den Kopf. Was der Papa heute nur hatte – er war doch sonst nicht so? Aber vermutlich hatte er sich geärgert, weil Mutti ohne ihn fahren wollte. Daß sie auch immer so abweisend sein mußte. Ulrike verstand das nicht ganz. Eine Frau mußte sich doch dem Mann anpassen, und das verstand die Mutti gar nicht.

Prüfend musterten die jungen Augen das Gesicht der Mutter. Frau Regina fing den Blick der Tochter auf – und ein bitteres Lächeln umspielte den noch immer schönen Mund. Sie konnte sich lebhaft die Gedankengänge ihres Kindes vorstellen – aber es hatte keinen Sinn, jetzt etwas dazu zu sagen. Wenn es nur nicht so entsetzlich weh tun würde – und man nicht so furchtbar allein wäre!

*

Nun war es soweit, Frau Regina stand im hellen Leinenrock und einer flotten Sportbluse mit dem Gatten und der Tochter in der weiten Diele von Villa Fahrenkamp und verabschiedete sich.

Mit kühler Freundlichkeit reichte sie dem Gatten die Hand, die er höflich an die Lippen zog, die einzige zärtliche Geste, die ihm Frau Regina noch gestattete.

Herzlicher war der Abschied zwischen Mutter und Kind. Zwar mußte Regina gewaltsam ein bitteres Gefühl unterdrücken, und Ulrike spürte deutlich die Mahnung des Gewissens, die sie daran erinnerte, wie sehr sie die Mutter enttäuscht haben mochte. Deshalb umarmte sie die Mutter auch stürmischer als sonst in letzter Zeit.

Und die Mutter verstand ihr Kind. »Komm, mein Mädel, nun sei nicht traurig. Wir sehen uns doch bald wieder – und dann werden wir beide so viel Schönes erlebt und uns einen ganzen Packen zu erzählen haben«, sagte sie liebevoll und küßte Ulrike zärtlich.

Dann schritt sie hinaus, wo auf der Straße schon der kleine Sportwagen stand, den sie während des Urlaubs benutzen wollte.

Ihr Ziel war der Bodensee, dessen heitere, anmutige Landschaft sie außerordentlich liebte – wo sie alles hatte, was man sich für erholsame Ferientage wünschen konnte, Wasser, Wald und Berge.

Gelegentlich – an besonders reizvollen Stellen hielt sie an und genoß die immer schöner werdende Landschaft. In stillem Glück saß sie dann bisweilen an einem Waldrand, ließ versonnen die Augen über Wald und Feld schweifen, atmete in tiefen Zügen die reine Luft und lauschte dem jubelnden Gesang der Vögel.

Mit einem leisen Seufzer erhob sie sich, schüttelte einige Gräser von dem weiten Rock und setzte sich wieder in den Wagen.

Und nun rollte der Wagen wieder über stille Straßen, durcheilte schmucke, verträumte Dörfer mit uralten Häusern, die in blühenden Gärten lagen.

Aber was war das? Wollte Fritze, so hatte Ulrike den Wagen getauft, der eigentlich ihr gehörte, etwa streiken? Das wäre ja nun nicht gerade schön.

Danach fragte jedoch der gute Fritze nicht, ob seine Herrin seine Handlungsweise schön fand oder nicht, er machte noch ein paar ruckartige Stöße nach vorn – und dann stand er. Stand unverrückbar fest auf der Landstraße – wo weit und breit kein Haus, geschweige denn ein Dorf zu sehen war.

Da gab es nichts weiter als Warten – warten, bis irgendein Mensch kam, der ihr Hilfe aus dem nächsten Dorf herbeiholte.

Etwas unsanft aus ihrer Verzauberung herausgerissen, versuchte Regina noch alles, was ihr als Fehlerquelle möglich erschien, zu untersuchen.

Nichts zu machen – Fritze bockte – und gab keinen Laut von sich, der darauf schließen ließ, daß er sich auf seine Pflicht besinnen wollte.

Sich aufrichtend strich sich Regina das blonde Haar aus der Stirn, ohne zu bedenken, daß ihre Hände Spuren hinterlassen könnten. Wie ein hilfloses Kind schaute sie suchend die Straße entlang – klang da nicht ein leises Motorengeräusch, das sich zu nähern schien?

Richtig – jetzt erschien ein Wagen an der Waldecke, welche sich in die Landstraße schob. Ein schwerer Personenwagen, anscheinend Mercedes – die waren ja immer ganz gut mit allerlei Handwerkszeug ausgestattet, vielleicht konnte der sie wieder flottmachen.

Schnell ergriff sie das seidene Kopftuch und winkte dem Fahrer entgegen.

Bremsen knirschten – der Wagen hielt unmittelbar vor ihrem Fahrzeug.

»Kann ich Ihnen helfen, gnädige Frau?« fragte eine sonore Männerstimme, während sich der Fahrer auch schon erhob und aus dem Wagen stieg.

Regina kam die Stimme des Mannes bekannt vor, dessen Gesicht durch eine große Sonnenbrille jedoch fremd wirkte.

»Wenn es Ihnen möglich wäre – oder Sie mir wenigstens Hilfe aus dem nächsten Dorf schickten, wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar.«

Aber da fühlte sie sich auch schon an den Händen gepackt, und eine erregte Stimme sagte:

»Regina – du? Welch ein sonderbarer Zufall!« Und im gleichen Augenblick rief auch schon die junge Frau:

»Andreas! Ist das möglich?« Völlig überrascht – und zugleich mächtig ergriffen, sahen sich die beiden Jugendfreunde, die sich fast zwei Jahrzehnte nicht gesehen hatten, stumm an.

Dr. Andreas Eggebrecht hatte die Sonnenbrille abgenommen, fragend hingen beider Augen ineinander – nach vertrauten Zügen suchend.

Eggebrecht faßte sich zuerst.

»Du hast dich wenig verändert, Regina – bist noch genau solch ein zierliches Geschöpf wie damals, als ich dich zuletzt sah.« Ein leiser Schatten huschte dabei über das charaktervolle Männergesicht.

»Laß gut sein, Andreas – ich bin trotzdem älter geworden – zwanzig Jahre gehen nicht spurlos an einem vorüber. – Aber du siehst gut aus, Andreas, ganz so habe ich mir dich vorgestellt, wenn ich an dich dachte.«

»Hast du denn manchmal an mich gedacht, Regina?« fragte er hastig.

»Aber natürlich, Andreas – alle meine schönsten Jugenderinnerungen sind doch aufs engste mit dir verknüpft«, gab Regina mit großer Selbstverständlichkeit zurück.

»Ach, so ist das – ja freilich, Regina«, erwiderte Eggebrecht – und es war, als klänge seine Stimme etwas enttäuscht.

Frau Regina errötete leicht – es war, als ahne sie, was in dem Freund vorging. Und sonderbar – fast empfand sie eine leise Freude darüber.

Aber fast gewaltsam den Bann abschüttelnd, der über ihnen lag, versuchte sie, das allzu Persönliche auszuschalten und eine unbefangene Unterhaltung anzubahnen, in dem sie auf ihr Auto wies.

»Dem guten Fritze da verdanken wir also unser Wiedersehen, Andreas. Wenn er nicht gestreikt hätte, stünden wir jetzt nicht hier zusammen. Und ich war ihm schon böse, weil er mich im Stich gelassen hat.«

»Kein Benzin mehr?« fragte Eggebrecht, auf ihren unbefangenen Ton eingehend, sachlich.

»Doch – genügend, es muß ein Motorschaden vorliegen, die Zündkerzen sind auch in Ordnung – und sonst verstehe ich nicht allzuviel davon, obgleich ich mir alle Mühe gab, den Fehler zu finden.«

»Das sehe ich, Regina«, sagte Eggeblecht lachend.

»Wieso?« fragte sie verblüfft.

Andreas zog sie an der Hand zu dem äußeren Rückspiegel des Wagens und ließ sie hineinblicken.

»Da, schau, wie früher, als du noch die kleine Regina Herzberg gewesen bist und mit uns Buben herumgetobt hattest.«

Wieder stieg ein leichtes Rot in dem feinen Frauengesicht auf – wie sah sie auch aus? Von der Stirn zog sich über das linke Auge ein dicker schwarzer Streifen.

»Habe ich nicht recht gehabt, als ich feststellte, daß du dich nur wenig verändert hast?« fragte Eggebrecht mit jungenhaftem Lachen, das sehr an den Andreas von einst erinnerte.

»Ich kann es nicht leugnen – im Augenblick magst du wirklich recht haben«, gab Frau Regina ebenfalls lachend zu, während sie versuchte, die schwärzlichen Ölspuren, die ihrem Gesicht einen lustigen Ausdruck gaben, mit Kölnisch Wasser zu beseitigen.

»Tja – was machen wir nun mit deinem Wagen?« fragte Eggebrecht. »Ich muß gestehen, daß ich mich auf die Innereien eines Autos nicht sonderlich gut verstehe, sondern in der Hinsicht mehr auf Menschen eingestellt bin.«

»Ja – ein Auto kann man nicht gut aufschneiden – mein lieber Doktor«, lachte Regina fröhlich. »Wäre es aber nicht möglich, daß du mir aus dem nächsten Dorf Hilfe schicktest? Da müßte es doch sicher eine Reparaturwerkstatt geben.«

»Das wäre wohl das beste«, gab Eggebrecht zu, »aber du sagst das so, als erwartest du, daß ich dir jetzt das Händchen schüttele, auf Wiedersehen sage – und dann meine Fahrt fortsetze, als hätten wir uns gar nichts weiter zu sagen, Regina.«

Ein leichter Vorwurf klang in der Stimme des Mannes auf. Regina wehrte sofort hastig ab.

»Aber nein, Andreas, so war das nicht gemeint. Ich würde mich im Gegenteil sehr freuen, wenn wir irgendwo gemütlich sitzen und miteinander plaudern könnten.«

»Zeit habe ich, Regina – wahrscheinlich mehr, als dir lieb sein wird. Ich bin ja gerade im Begriff, nach Langenargen zu fahren, Ferien zu machen ...«

»Nach Langenargen?« fragte Regina gedehnt.

»Was wundert dich daran?« erkundigte sich Eggebrecht, durch den Ton ihrer Stimme aufmerksam geworden.

»Weil ich da auch hinfahren will«, sagte Regina langsam, während ihr Herz ein paar schnelle Schlage tat.

»Das ist freilich ein sonderbarer Zufall«, sagte Eggebrecht, während ein nachdenklicher Zug auf seinem Gesicht lag. Schließlich fragte er, sein gespanntes Interesse geschickt verbergend, während er sich umständlich eine Zigarette anzündete: »Ist deine Familie auch in Langenargen – oder fährst du allein?«

»Ich fahre allein, Andreas«, sagte Regina zögernd, fürchtete sie doch, daß der Freund daraus Schlüsse ziehen konnte, die ihm das Unglück ihrer Ehe offenbar werden ließen; denn in einer wahrhaft glücklichen Ehe verbrachten Eheleute doch auch ihre Ferientage gemeinsam.

»Weißt du – mein Mann konnte nicht fort – die Fabrik – und Ulrike will mit ihrer Freundin und deren Eltern an die Nordsee fahren«, suchte sie ihm zu erklären, daß sie allein war.

Aber der erfahrene Arzt hatte einen scharfen Blick, um in den Gesichtern anderer Menschen zu lesen. Er wußte genug, sagte aber, gleichmütig mit dem Kopf nickend:

»Das übliche in unserer modernen Zeit, Regina – Geschäft und Arbeit gehen vor, da muß alles andere zurücktreten.«

Regina atmete auf. Er war also völlig arglos und hatte nicht gemerkt, daß in ihrer Ehe etwas nicht stimmte – Gott sei Dank! Aber daß er auch allein fuhr? Sie gab diesem Gedanken Ausdruck.

Eggebrecht sah sie mit einem ernsten Blick an.

»Ich habe nicht geheiratet, Regina«, sagte er schwer.

Betroffen von dem fast traurigen Ernst seiner Stimme, senkte Regina den Kopf. »Das – wußte – ich nicht«, sagte sie leise.

»Das Leben hatte unsere Wege weit auseinander gefühlt, Regina«, erwiderte Eggebrecht ruhig und fuhr, sich zusammenraffend, mit leichter Stimme fort: »Aber nun werden wir Gelegenheit haben, alles nachzuholen, Regina – und unsere alte Freundschaft zu erneuern.«

»Ja, Andreas – das wollen wir tun«, antwortete Regina bereitwillig.

*

Robert Fahrenkamp sprang erregt aus seinem Sessel auf und trat mit drohendem Gesicht auf seinen alten Prokuristen zu, der ihn furchtlos, ja sogar mit leiser Verachtung anblickte.

»Also Sie wollen da einfach behaupten, daß Sie mir kein Geld geben könnten, weil unser Konto bei der Bank angeblich überzogen ist und die Bank sich weigert – noch weitere Kredite zu bewilligen?« fragte er zornig.

»So ist es, Herr Fahrenkamp«, gab Merkel ruhig zurück, »ich kann nur mit äußerster Anstrengung noch die Löhne am Freitag auszahlen.«

»So – also dafür haben Sie Geld, nur für mich nicht! Das schlägt dem Faß doch den Boden aus! Sie sind doch schon recht alt geworden, Merkel«, stieß Fahrenkamp aufgebracht hervor, »Sie werden den Arbeitern das Geld hinwerfen und Ihren Chef darben lassen? Köstlich ist das – großartig!«

»Von Hinwerfen kann wohl keine Rede sein, die Leute haben sich das Geld redlich verdient«, gab Merkel erregt zurück.

»Sparen Sie sich doch diese Redereien – damit können Sie auf mich keinen Eindruck machen. Sie werden mir das Geld geben – und damit basta!«

»Ich werde das nicht tun, Herr Fahrenkamp, denn ich möchte nicht, daß man mit Fingern auf den alten Namen Fahrenkamp zeigt, der einmal einen guten Klang hatte. Es bliebe nämlich nicht verborgen, wenn Sie jetzt dem Werk zehntausend Mark für private Zwecke entziehen und die Arbeiter am Freitag ohne ihren erworbenen Lohn nach Hause gehen müßten.«

»Sie werden unverschämt, Merkel!« brauste Fahrenkamp auf, »und im übrigen«, fuhr er ironisch fort, »da tut ihr immer so tüchtig, Sie und meine kluge Frau, arbeitet und arbeitet – und alles ist für die Katz! Was habt ihr denn nun geschafft, ihr zwei? Das ganze Werk in Grund und Boden gewirtschaftet – das ist der Erfolg eurer Tüchtigkeit!«

In dem alten Prokuristen wallte eine glühende Empörung auf – bis unter das weiße Haar sah man eine dunkle Röte aufsteigen. Nur mühsam konnte er sich beherrschen.

»Sie wissen wohl besser als ich, wer das Werk Ihres Vaters dahin gebracht hat, wo es heute ist. Nicht Ihre Gattin und ich – sondern einzig und allein Sie, Herr Fahrenkamp.«

»Welche Sprache erlauben Sie sich, Merkel?« schrie ihn Fahrenkamp jetzt aufs äußerste gereizt an. »Ich werde Sie hinauswerfen!«

»Das werden Sie nicht, Herr Fahrenkamp – denn Ihr Vater hat in seinem Testament verfügt, daß ich auf Lebenszeit unkündbar angestellt bin. – Aber ich kann Ihnen sagen, daß ich von allein schon lange gegangen wäre – wenn ich nicht der gnädigen Frau zuliebe geblieben wäre. Ihretwegen hätte ich mich sicher nicht abgeschunden und abgesorgt, das dürfen Sie mir getrost glauben!«

»So ...«, lachte Fahrenkamp mißtönend, »der gnädigen Frau zuliebe blieben Sie. Wie rücksichtsvoll! Und dabei ist es ja gerade die von Ihnen so verehrte Frau, die sich jetzt irgendwo schöne Tage macht und sich amüsiert und mich mit dem ganzen Dreck hier allein läßt!«

Mit einem langen Blick maß Merkel den Sprecher, dann wandte er sich mit unsäglicher Verachtung ab und sagte, jedes Wort betonend:

»Sie sind nicht nur, wie ich bisher dachte, grenzenlos leichtfertig – sondern Sie sind auch ebenso schlecht, Herr Fahrenkamp!«

Wortlos, ohne sich zu verabschieden, schritt Prokurist Merkel zur Tür hinaus.

*

Ulrike Fahrenkamp saß im weichen Dünensand und schrieb, den Schreibblock auf den Knien haltend, einen Brief an ihre Mutter.

Allerdings entsprach es nicht ganz der Wahrheit, als sie berichtete, daß sie sich vollkommen glücklich fühle.

Gewiß schwamm sie munter mit den anderen im Strudel des Badelebens, war fröhlich mit den Fröhlichen – aber es gab doch manche Stunde, wo sie sich von den anderen absonderte und allein am Strand spazierenging – oder weitab von dem lauten Betrieb, wie eben jetzt, im weichen Sand lag.

Dann verfolgte sie immer wieder das Gesicht eines Mannes – sie hörte ihn wieder harte Worte sprechen – es schien, als könne sie der Erinnerung an diesen Mann und jenen unglückseligen Tag des Pferderennens nicht mehr entrinnen. Leine dunklen Augen ließen sie nicht los – immer wieder sah sie die stahlgrauen Männeraugen auf sich gerichtet.

So dachte die junge Ulrike manchmal in bitterer Selbstqual, während es Tage gab, an denen sie dem Mann in Gedanken die bittersten Vorwürfe machte, ihn bei sich einen unausstehlichen Tugendbold nannte und voller Trotz auf die Gelegenheit wartete, ihn wiederzusehen.

Diese Gelegenheit kam schneller, als sie dachte. Eines Tages, sie kam mit etwas Verspätung in den Tanzsaal des Kurhauses, da sie in der Garderobe noch etwas an ihrer Toilette lichten mußte, stand Wischhusen im Kreise ihrer Freunde und Freundinnen vor ihr.

Wie rasend begann ihr Herz zu klopfen, als sie ihn sah – und, ohne ihm die Hand Zu reichen, erwiderte sie seine Verbeugung nur mit einem hochmütigen Neigen des Hauptes. Dann wandte sie sich fast allzu lebhaft Dr. Marwitz zu, der sich während ihres Hierseins auffallend um sie bemühte.

»Kommen Sie, Herr Marwitz, diesen Rumba dürfen wir nicht auslassen – Sie wollten mir doch noch einige Figuren zeigen«, forderte sie den jungen Herrn auf, während ihre Augen zornig aufsprühten, als sie ein spöttisches Lächeln auf dem strenggeschnittenen Gesicht Wischhusens entdeckte.

Erfreut bot Marwitz ihr seinen Arm und führte sie hinweg, ihn beglückte der kleine Gunstbeweis der« schönen Ulrike Fahrenkamp, die sonst eigentlich immer sehr spröde war, sehr zu seinem Leidwesen,

Nicht allein, daß Ulrike dem Dr. Marwitz außerordentlich gut gefiel, ja er liebte sie sogar auf seine Alt – sondern daß sie die alleinige Erbin der bekannten Fahrenkamp-Werke war, machte sie ihm besonders anziehend.

Marwitz besaß kein Vermögen, hatte nur eine mühsame Laufbahn im Staatsdienst vor sich.

Deshalb setzte er alles daran, sich die Liebe Ulrike Fahrenkamps zu erwerben, und da er, wie er genau wußte, sehr gut aussah, hoffte er, daß es ihm gelingen würde.

Keinen Tanz ließ Ulrike Fahrenkamp jetzt aus, flog aus einem Arm in den anderen, wenn auch Marwitz an diesem Abend ihr erklärter Ritter blieb.

Dabei trug sie eine übersprudelnde Lustigkeit zur Schau, unterhielt die ganze Gesellschaft mit ihren vor Übermut schäumenden Einfällen, das selbst ihre alten Bekannten überrascht waren.

Helga Naumann zog die Freundin, als sie nach einem Tanz sich an den Tisch setzen wollte, besorgt zur Seite,

»Ulrike, was ist denn nur mit dir los? Du tanzt wie – wie eine Wilde«, sagte sie mit einem leisen Tadel, »und dann lachst du so laut, daß man schon auf uns aufmerksam wird.«

Ulrike machte ihre Hand frei und sah die Freundin spöttisch an.

»So ist's richtig, Helga, nun fang du auch noch an, Moral zu predigen. Hat man dich etwa damit beauftragt?« fragte sie scharf, daß die in der Nähe Sitzenden verwundert aufblickten.

»Aber Ulrike – was fällt dir ein? Ich verstehe dich wirklich nicht«, sagte Helga.

»Nun, dann laß mich gefälligst in Ruhe – ich amüsiere mich blendend. Und dazu bin ich schließlich hier, nicht wahr?«

Peinlich berührt hatte die übrige Gesellschaft ihre Unterhaltung wieder aufgenommen – aber irgendwie war die Stimmung gestört.

Helga Naumann hatte ihrem Bruder etwas zugeflüstert – der verständnisvoll mit dem Kopf nickte und dann einen Blick auf seine Uhr warf.

»Wo ist nur die Zeit geblieben? Meine Herrschaften«, rief er laut mit gutgespielter Überraschung, »ich denke, es ist allerhöchste Zeit, ins Bett zu gehen, wenn wir morgen für unsere Segelfahrt frisch sein wollen.«

Seine Worte fanden lebhafte Zustimmung – nur Ulrike wollte aufbegehren, fügte sich aber ohne Widerspruch dem allgemeinen Beschluß.

Es war gut, dachte sie noch vor dem Einschlafen, daß es am Wochenende wieder nach Hause ging, sehr gut war das.

Vielleicht wate es doch besser gewesen, die Mutti zu begleiten. Mütter verstehen ihre Kinder, sind immer lieb und wissen immer Rat, wenn man nicht aus noch ein weiß.

*

Sehr lange lag Ulrike am nächsten Morgen im Bett, unschlüssig, was sie tun sollte, und froh wiederum, daß sie einen Tag für sich hatte. Dem für heute geplanten Ausflug auf benachbarte Inseln hatte sie sich mit Trotz und Beharrlichkeit entzogen.

Nachdem sie ein verspätetes Frühstück eingenommen hatte, ging sie zum Baden.

Am Strand herrschte durch die Ankunft von Reisegesellschaften ein so lebhafter Betrieb, daß sie es vorzog, sich abseits ein stilles Plätzchen zu suchen, wo sie ungestört war.

Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Rasch zog sie sich den Strandanzug aus und ging ins Wasser, stürzte sich mit ausgebreiteten Armen hinein und ließ sich auf dem Rücken hinaustragen, weiter, immer weiter.

Herrlich war es, sich so von den Wellen tragen zu lassen, mit geschlossenen Augen auf das Rauschen des Wassers zu hören – ganz allein, als gäbe es keine anderen Menschen auf der Welt, die einem nur wehe taten.

Sie änderte ihre Lage und schwamm nun mit weiten, kräftigen Stößen immer weiter hinaus, ohne an etwas anderes zu denken als an die Freude der Bewegung und die Größe der sie umgebenden Natur, die eindringlich zu dem jungen Menschenkind sprach.

Allmählich wurde sie müde und wendete. Ein wenig erschrocken war sie, als sie feststellte, daß die Insel in weiter Ferne ziemlich klein vor ihr lag.

Aber tapfer sprach sie sich selbst Mut zu und begann, in weiser Einteilung ihrer Kräfte, in ruhigen Zügen zu schwimmen. Da sie aber den Wellen, die sich am Ufer brachen, entgegenschwamm, kam sie nur langsam voran, viel langsamer, als sie hinausgeschwommen war.

Himmel – kam denn das Ufer immer noch nicht näher? Angst stieg in ihr auf – sie spürte schon deutlich ein Erlahmen ihrer Arme. Sich auf den Rücken legen und wieder treiben zu lassen, ging auch nicht – die Wellen würden sie nur noch weiter hinaustragen.

Freundlich und einladend grüßten von weitem die Fischerhütten – ob sie wohl noch einmal die Insel erreichen würde? Und wenn nicht – was würde die Mutti, was der Papa sagen?

Sie mußte einfach durchhalten – Mutti sollte nicht wegen ihres Leichtsinns Kummer haben. Verbissen kämpfte sie gegen die Wellen an.

Da – war dort nicht ein Mensch am Ufer? Es schien, als hielte er Ausschau. Ob er sie etwa bemerkt hatte?

Sie hob den Arm und versuchte zu winken, sich bemerkbar zu machen, auf der glitzernden Fläche war sie sicher kaum zu erkennen.

Schließlich riß sie die Badekappe ab und schwenkte sie hoch – aber das konnte man nicht lange tun, man mußte ja schwimmen – schwimmen ...

Jetzt schien es, als habe der Mensch am Ufer sie entdeckt. Hob er nicht winkend den Arm?

Und jetzt, lief er fort? Hatte er sie etwa doch nicht gesehen? Eine tiefe Mutlosigkeit erfaßte das junge Geschöpf, das nur noch mechanisch, ohne Kraft, die Schwimmbewegungen ausführte, sich nur noch über Wasser hielt, statt voranzukommen.

Warum mußte sie nur immer so unbedacht sein? fragte sie sich in bitteren Selbstvorwürfen.

Aber jetzt – was war das? O Gott – der Mensch kam an einer anderen Stelle des Ufers wieder zum Vorschein – oder war es ein anderer, der jetzt anscheinend ein Boot ins Wasser schob?

Wieder erhob sie winkend einen Arm – und mit der gleichen Geste antwortete der Mensch am Ufer.

Es war, als durchströme die einsame Schwimmerin neue Kraft, als sie sah, daß sich Hilfe nahte, denn das Boot steuerte unfehlbar auf sie zu. Nur noch kurze Zeit würde sie aushalten müssen – dann war sie gerettet.

Immer näher kam das Boot – mit gleichmäßigen, kräftigen Ruderschlägen trieb es der Mann voran. Jetzt konnte sie auch schon seine Umrisse besser erkennen – jetzt – mein Gott! – der Herzschlag setzte ihr aus. War das nicht – ja, das war kein Fischer, wie sie angenommen hatte – das war der Mann, dem sie am wenigsten ihre Rettung verdanken wollte – Wischhusen!

Mußte er überall sein, um im Bewußtsein der eigenen Vollkommenheit sie immer zu kränken und zu demütigen? Er und immer er – dieser, dieser arrogante Mensch!

Sie machte eine fluchtartige Wendung und änderte ihren Kurs. Lieber untergehen, als sich von diesem Menschen helfen zu lassen!

Mit ein paar Ruderschlägen war Wischhusen unmittelbar neben ihr und zog die Ruder ein.

»Kommen Sie – reichen Sie mir ihre Hand – Sie Trotzköpfchen – damit ich Sie ins Boot ziehen kann«, sagte er ruhig und beinahe weich zu ihr.

»Ich denke nicht daran, ich finde es herrlich im Wasser und möchte noch weiter schwimmen«, rief sie ihm zu, während ihr Atem nur noch stoßweises Sprechen zuließ.

»Dann gehen Sie zum Teufel!« schrie der Mann jetzt ehrlich empört, blieb aber trotzdem beharrlich an ihrer Seite.

Jäh und verbissen kämpfte sich das junge Geschöpf voran. Ach – ging es wirklich voran? Immer wieder schätzte Ulrike die Entfernung zum Ufer – aber es kam und kam nicht näher!

Mit Ingrimm sah Wischhusen, wie das von blindem Trotz besessene Mädchen lieber zugrunde gehen wollte, als seine Hilfe anzunehmen.

»Lassen Sie es genug sein, Fräulein Fahrenkamp, denken Sie an Ihre Eltern«, bat er noch einmal mahnend.

Sie antwortete nicht, konnte es auch nicht mehr – machte nur noch einige hilflose Stöße, und dann ...

Wischhusen sah sie versinken. Mit einem Satz war er aus dem Boot und schwamm mit kräftigen Stößen auf die Stelle zu, wo Ulrike verschwunden war.

Mit schnellem Griff packte er die zarte, reglose Gestalt und zog sie mit sich fort mit der Sicherheit des geübten Rettungsschwimmers.

Es erschien ihm sinnlos, zu versuchen, das Boot, das sofort von der Strömung erfaßt und abgetrieben war, zu erreichen, zumal es wenig wahrscheinlich war, daß es ihm gelingen würde, die Ohnmächtige und sich selbst ohne weitere Hilfe in das Boot zu bekommen.

In welche Situation bringt einen diese unberechenbare kleine Person, dachte er ärgerlich, während er dem Ufer zustrebte, was selbst für ihn, den kräftigen Mann, eine ungeheure Anstrengung war.

Nur noch mit übermenschlicher Anspannung aller Kräfte konnte er sich und das hilflose Mädchen über Wasser halten. Aber gottlob, das Ufer rückte näher und näher – jetzt, noch ein paar kräftige Stöße – es war erreicht!

Aufatmend ließ er sich neben der reglosen Gestalt einen Augenblick in den warmen Sand fallen.

Dann aber sprang er schnell wieder auf – jetzt war noch keine Zeit zum Ausruhen – nicht bevor das törichte Kind wieder zur Besinnung gekommen war. Vielleicht würde es dann einmal darüber nachdenken, wie unverantwortlich es war. erst sich selbst – und dann noch andere in Lebensgefahr zu bringen.

Sorglich prüfte er den Puls und begann mit den Wiederbelebungsversuchen. Glücklicherweise hatte sie ja nicht viel Wasser geschluckt.

Er vermochte, während er mit gleichmäßigen Bewegungen die künstliche Atmung durchführte, seinen Blick kaum von dem lieblichen, keuschen Gesichtchen zu lösen – ein Rätsel war ihm dieses Mädchen – ein unbegreifliches Rätsel.

Langsam kräftigte sich der Puls – der Atem wurde stärker – ein leichter Anflug von Farbe trat wieder in das Gesicht. Wischhusen setzte sich ruhig wartend neben das junge Menschenkind.

Ein zitternder Atemzug riß den Mann aus seinen Gedanken – er schaute auf seinen Schützling und sah ein paar tiefblaue Augen mit einem so weichen Ausdruck auf sich ruhen, daß es ihn erschütterte. Eine ganze Weile erwiderte er schweigend diesen Blick – bis der mißtönige Schrei einer Möwe die beiden Menschen aus ihrer Versunkenheit riß.

Jäh wechselte der Ausdruck von Weichheit in dem jungen Gesicht, es wurde abweisend und hochmütig, so, wie es Wischhusen sonst kannte, und jenes Funkeln trat wieder in ihre Augen, das ihn immer in Zorn versetzte.

»Nun haben Sie es also doch geschafft!« sagte auch schon eine spröde Stimme, während das junge Mädchen versuchte, sich aufzurichten.

Sein Schweigen reizte sie.

»Da muß ich mich ja wohl bei Ihnen bedanken ...«

»Nicht nötig, Gnädigste«, gab Wischhusen abweisend zur Antwort.

»Doch – seinem Lebensretter muß man danken«, sagte Ulrike langsam, um dann erregt fortzufahren: »Ich möchte bloß wissen, weshalb das Schicksal mir immer ausgerechnet Sie in den Weg schickt – daß ich nirgends vor Ihnen sicher bin? Da bin ich extra nicht mit den anderen gegangen, um ...« Sie sprach nicht weiter.

»Beruhigen Sie sich, aus demselben Grunde bin ich auch hiergeblieben«, sagte er trocken.

Verblüfft sah sie ihn an. Dann zog ein wahres Lausbubenlächeln über ihr Gesicht, während sie erstaunt sagte:

»Ach nee – da wären wir uns dann wohl mal zum erstenmal einig gewesen.«

Wischhusen, der sich erhoben hatte, sah sie mit einem sonderbaren Blick an.

»Wissen Sie, was ich mir wünschte?« fragte er sie mit einem undeutbaren Lächeln.

»Und das wäre?« erkundigte sie sich.

»Das ich Ihr Vater wäre«, gab er mit einem Lachen zurück, das sein strenges Gesicht ganz verändert erscheinen ließ.

Ulrikes Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Dann würde ich Sie nämlich einmal gründlich durchhauen – ich glaube, dann könnte noch etwas aus Ihnen werden!« erklärte er seinen Wunsch.

Und ehe das verdutzte Geschöpf ein Wort zu erwidern vermochte, verneigte er sich mit jener kühlen Höflichkeit, die sie an ihm kannte, und schritt davon.

*

Regina Fahrenkamp lag auf dem Balkon ihres Zimmers und hielt Mittagsruhe. Träumerisch blickte sie hinunter auf den See, von dessen jenseitigem Ufer der Säntis herübergrüßte.

Eigentlich sollte es kein gutes Zeichen sein, wenn man ihn so greifbar nahe sah – es hieß, daß dann schlechtes Wetter zu erwarten war.

Nun, noch schien die Sonne – und sicher würde sie ihnen heute noch treu bleiben, wo sie hinüber nach Bregenz und auf den Pfänder fahren wollten. Aber jetzt mußte sie erst einmal den Brief lesen, den Ulrike geschrieben hatte – die nun auch schon zwei Wochen an der Nordsee war.

Regina öffnete den Umschlag und las, nachdem sie den hellblauen Bogen auseinandergefaltet hatte.

Meine liebe Mutti!

habe Dank für Deinen Brief, über den ich mich besonders deshalb so sehr gefreut habe, weil Du mir nicht ein bißchen böse bist, daß ich Dich nicht begleitet habe, sondern mit Helga nach Norderney ging. Ich bin ja so froh – daß Du so zufrieden schreibst und Dich anscheinend nicht nur gut erholst, sondern auch Deine Ferien richtig genießt.

Hier ist es ganz herrlich – und ich bin schon braun wie ein Kaffernmädchen. Wir faulenzen fast den ganzen Tag am Strand und im Wasser – und unser Hauptspaß ist es, zu segeln. Zum Tennisspiel ist es zu heiß – denn auch hier brennt die Sonne glühend auf uns herab. Ich habe auch nichts dagegen, wenn es noch einige Zeit so bleibt.

Von Papa habe ich bisher erst eine Postkarte bekommen. Na, er ist ja immer etwas schreibfaul. Der Ärmste sitzt also noch immer allein zu Hause. Aber er wird das schon nachholen, da ist mir bei unserem lebenslustigen Papa nicht bange.

Nun, liebe Mutti, grüße und küsse ich Dich herzlich. Deine Ulrike

N. S. Bleibe weiter so vergnügt und schreibe bald – und erhole Dich gut.

Mit einem leisen Lächeln faltete Regina Fahrenkamp den Brief ihres Kindes wieder zusammen und legte ihn auf das neben ihr stehende Tischchen.

Nun, über ihre Tochter konnte sie beruhigt sein. Ulrike war gesund und fühlte sich wohl. Vielleicht war es doch gut gewesen, daß sie mit den Freunden reiste – denn sonst ... Regina errötete leicht vor dem Gedanken, der in ihr aufstieg – und bei dem ein gütiges, gebräuntes Männergesicht vor ihren geistigen Augen auftauchte. Sie hatte das Gefühl, sich selbst auf einem Unrecht ertappt zu haben, und doch waren ihre Beziehungen zu Andreas so, daß sie nicht das Licht zu scheuen hatten.

Unbeschreiblich schöne Tage lagen hinter ihr, Tage – in denen sie sich nach langen Jahren wieder einmal als Frau, als behütete, umsorgte Frau fühlte.

Unermüdlich war Andreas Eggebrecht im Ersinnen von allerlei Überraschungen und Aufmerksamkeiten für sie. Wie einen lindernden Balsam empfand die versorgte Frau seine ritterliche Fürsorge, unter der sie sichtlich aufblühte. Es tat ihr ja so wohl, einmal nicht entscheiden zu müssen, sondern daß da jemand war – der für sie dachte und sorgte.

Regina streckte sich wohlig, wie sie das dachte – wunderschön war das, sich einmal so ganz loszulösen. Sie kam sich so geborgen vor wie lange, lange nicht. Und dieses Gefühl wurde dadurch verstärkt, daß Andreas Eggebrecht sie nie, weder durch einen Blick noch durch ein Wort beunruhigte.

Sie wohnten nicht im gleichen Hotel, Eggebrecht war im »Schiff« untergebracht und sie im »Seehof«, der still und abseits von dem lebhaften Treiben, das im Sommer hier herrschte, lag.

Überlegend stand sie eine ganze Weile vor ihrem Kleiderschrank. Dann mußte sie über sich selbst lachen. Sie wurde tatsächlich wieder eitel wie ein junges Mädchen! Es war schon toll.

Und ebensoviel Zeit verbrachte sie vor dem Spiegel, nachdem sie sich für ein helles Sommerkleid entschieden hatte, das sie gut kleidete.

Nun noch schnell den leichten Sommermantel genommen, denn unten hörte sie schon Andreas hupen – das bekannte Signal.

Nach fröhlicher Begrüßung ging es dann auf der herrlichen Uferstraße am See entlang nach Lindau – und weiter nach Bregenz. Mit der Drahtseilbahn fuhren sie zum Pfänder und genossen mit frohen Augen die herrliche Aussicht, die sich ihnen bot. Greifbar nahe lag zu ihren Füßen der See mit all den vielen Ortschaften an seinen Ufern. Sogar Konstanz war klar zu erkennen.

»Das will mir gar nicht recht gefallen«, beantwortete Eggebrecht die dahingehende Bemerkung, »wenn die Sicht so klar wird, dann ist meistens mit schlechtem Wetter zu rechnen.«

»Mag das Wetter kommen, Andreas, es wird wieder vergehen! Noch scheint die Sonne!« sagte Regina fröhlich.

Mit einem eigenen Blick sah der große Mann auf die zierliche Frau herunter, die ihm nur knapp bis zur Schulter reichte.

»Du hast recht, Regina – noch scheint die Sonne ...« Eggebrecht sagte es mit etwas unfreier Stimme, wahrend sie sich zum Gehen wandten und abwärts, durch den Wald schritten. Und dann setzte er unvermittelt hinzu: »Noch fünf Tage – dann ist die goldene Ferienzeit vorbei.«

Erschrocken blieb Regina stehen.

»Nur noch fünf Tage, Andreas?« Eine unklare Angst erfaßte die Frau.

Eggebrecht schwieg – was sollte er auch sagen? Eine dumpfe Stimmung hatte ihn erfaßt. Ihn quälte der Gedanke an die kommende Trennung von der Frau, die er mit seinem ganzen Herzen liebte, immer schon geliebt hatte, solange er denken konnte – und derentwegen er einsam geblieben war, weil er immer noch auf ein Wunder gewartet hatte.

Und war es nicht schon da, das Wunder? Schritt sie nicht an seiner Seite – so frisch und mädchenhaft jung, daß man fast die einsamen Jahre hätte vergessen und glauben können, sie beide seien wieder jung wie einst?

Aber da waren zwei Menschen, die auf sie warteten – ihr Mann, ihr Kind! Beide hatten heilige, verbriefte Rechte an die geliebte Frau – beide erwarteten ihre Rückkehr, und er selbst stand da – mit gebundenen Händen!

Eggebrecht verhielt den Schritt. Auch Regina blieb stehen, die Augen ernst zu ihm aufgeschlagen.

»Regina ...« Ganz rauh klang die Stimme des Mannes. »Ich habe dich nie danach gefragt, aber sage mir nur eins – bevor wir auseinandergehen in wenigen Tagen: Bist du glücklich geworden in deiner Ehe?«

Die Frau wich seinem Blick aus.

»Warum fragst du mich das, Andreas?« antwortete sie traurig.

»Bitte – weiche mir nicht aus, Regina, ich – ich mache mir große Sorgen um dich«, stieß er hervor.

»Das solltest du nicht tun, Andreas. Mir hilft es doch nicht – und dich bedrückt es nur.«

»Also doch!« unterbrach er sie ungestüm. »So bist auch du elend geworden, Regina – so ist auch an dir das Glück vorbeigegangen. Zwanzig Jahre Sehnsucht umsonst – weißt du, was das heißt? Zwanzig Jahre – o Regina – wenn du wenigstens glücklich geworden wärst – wie gern hätte ich sie ertragen. Aber so?«

»Andreas!« Warnend klang die Stimme der Frau, mahnend.

»Nein, Regina – einmal laß es mich sagen, daß ich dich geliebt habe, so lange ich denken kann«, brach es aus dem erregten Mann, der seine maßvolle Ruhe völlig verloren hatte, hervor. Beide Hände der geliebten Frau ergreifend, fragte er, sich mühsam zur Ruhe zwingend: »Sag, Regina – liebst du deinen Mann – noch heute? Bitte, sprich!«

Regina senkte den Blick vor den eindringlich fragenden Männeraugen.

»Nein, Andreas – das – das ist lange vorbei«, kam es unhörbar von den blassen Frauenlippen.

»Oh, Regina – warum hast du mich nicht lieben können – so glücklich wäre ich gewesen – hätte dich gehütet und gehegt wie ein Heiligtum«, stöhnte Eggebrecht schmerzlich auf.

»Warum?« kam es leise zurück. »Warum erkennt man immer erst zu spät, wo das Glück wartete, Andreas? Was weiß man denn, wenn man jung ist – wenn man sich von einem Augenblick fortreißen läßt? Wie kann man ahnen, welche Bedeutung die Entscheidung eines Augenblickes, weniger flüchtiger Stunden für ein ganzes, langes Leben haben kann?«

»So glaubst du, daß bei mir das Glück auf dich gewartet hat, Regina? Hast du dich in all den Jahren nach mir gesehnt – so wie ich mich nach dir?« fragte Eggebrecht drängend, von einer winzigen Hoffnung erfaßt.

Offen sah die Frau zu ihm auf.

»Nein, Andreas – so war es nicht. Wohl habe ich öfter an dich gedacht, als den lieben, schmerzlich entbehrten Freund aus der Jugendzeit – aber erkannt, was du mir hättest sein können, habe ich erst jetzt, in diesen Wochen.«

»Jetzt also liebst du mich, Regina?« fragte der Mann, erschüttert in die leidvollen Augen Reginas schauend.

»Ja, jetzt liebe ich dich, Andreas – jetzt, wo es zu spät ist«, gestand sie mit klagender Stimme.

»Es darf nicht zu spät sein, Regina«, widersprach Eggebrecht heftig.

»Ich bin gebunden, Andreas«, mahnte die Frau, »vergiß das nicht.«

»Ja, du bist gebunden – und dein Mann – hat er nur ein einziges Mal danach gefragt, daß er gebunden ist?« unterbrach sie Andreas Eggebrecht erregt.

»Du weißt?« Eine dunkle Röte überzog das feine Frauengesicht – schämte sie sich doch, das Elend ihrer Ehe offenbart zu sehen.

»Ich weiß, daß Fahrenkamp deiner unwert war, Regina – daß er dir skrupellos die Treue brach«, gab Eggebrecht ruhig zurück und fuhr fort: »Ich hätte niemals gewagt, dir von meiner Liebe zu sprechen, wenn ich den Eindruck gehabt hätte, daß du glücklich, daß Fahrenkamp deiner würdig ist. Er hat sich aber nach meiner Ansicht jedes Anrecht auf dich verscherzt – und deshalb bitte ich dich, Regina, löse das Band, das dich an ihn knüpft, mache dich frei für mich. Es kann kein Unrecht sein!«

»Das möchte ich selbst glauben, Andreas, hat er doch selbst unsere Ehe zerbrochen, aber ...« Sie schwieg.

»Aber? Sprich weiter, Regina!« drängte Eggebrecht.

Frau Regina zögerte, dann sagte sie langsam:

»Selbst wenn ich mich zu einer Scheidung entschließen könnte – ich muß gestehen, daß ich zuweilen daran gedacht habe –, so bin ich doch nicht mehr jung genug, um noch einmal zu heiraten.«

»Regina – Kind – was denkst du nur? Ich bin auch kein Jüngling mehr«, unterbrach sie Eggebrecht lebhaft.

»Das mag sein, Andreas – aber ich werde bald vierzig Jahre alt – das ist für eine Frau viel, für einen Mann nichts; du bist, obgleich du einige Jahre älter bist als ich, dennoch jünger.«

»Hattest du vor zwanzig Jahren daran gedacht, für mich zu alt zu sein?« fragte Eggebrecht ernst.

»Nein, Andreas – damals war ich ja auch noch jung.«

»Nun – so bist du auch heute nicht zu alt für mich, du Liebe. Und deshalb bitte ich dich noch einmal – mache dich frei!« bat der Mann mit warmer Stimme, die seine ganze Liebe verriet.

Von den widerstrebendsten Empfindungen gepackt, kämpfte Frau Regina den schwersten Kampf ihres Lebens. Auf der einen Seite lockte noch einmal das Glück, winkte ein Leben in Geborgensein und Ruhe an der Seite eines ehrenhaften Mannes, dessen ganzes Wesen dem ihren verwandt war – und auf der anderen Seite stand ehern die Pflicht – kalt und streng – wartete dunkel und hoffnungslos die Zukunft.

»Regina!« bittend klang Eggebrechts Stimme an das Ohr der Sinnenden. »Ich weiß, was du jetzt denkst – wie du dich fürchtest, deine Pflicht zu verletzen – aber vergiß nicht, daß auch ich vielleicht ein Recht an dich erworben habe und daß mich dein Nein härter treffen würde als Fahrenkamp eine Scheidung. Bedenke, daß auch ich ein Recht auf Glück habe – und daß ich jetzt elender würde denn zuvor, Regina. Jedes Opfer muß auch einen Sinn haben, du aber würdest dich völlig sinnlos aufopfern.« Die letzten Worte Eggebrechts hallten in Regina nach.

Aufatmend hob sie den feinen Kopf, sah mit einem langen Blick in die fragenden Männeraugen.

»Ja, Andreas«, sagte sie fest, »ich werde mich frei machen – für dich.«

»Oh, Regina – wie soll ich dir nur danken – du Liebe, Liebste du!« sagte Eggebrecht in überströmender Dankbarkeit. »Laß mich nur nicht so lange warten, Regina.«

»Nicht länger als unbedingt notwendig, Andreas – ich habe ja selbst Sehnsucht nach Klarheit – und nach dir«, fügte sie scheu hinzu.

»Regina, Liebste.« Ergriffen sah Eggebrecht in das immer noch schöne Frauengesicht, blickte bittend auf den feingeschwungenen Mund, als er die Frau in seine Arme zog – und Regina verstand – hielt ihm mit einem liebevollen Aufleuchten ihrer Augen den Mund entgegen, den Eggebrecht voll zarter Andacht küßte.

*

Robert Fahrenkamp dachte gar nicht daran, auf seine Reise nach Capri zu verzichten, nachdem ihm der alte Prokurist das Geld dazu verweigert hatte.

Am Abend vor seiner Abreise fuhr er in die nahe gelegene Großstadt in seinen Klub, denn seine Freundin hatte ihm erklärt, daß sie keine Zeit für ihn habe, weil sie packen müsse.

In ihrer temperamentvollen Art hatte sie ihn nur kurz und heftig geküßt und dann zur Tür ihrer kleinen Appartementswohnung hinausgeschoben, wobei ihm der Racker noch eine allerliebste Nase gedreht hatte. Die Kleine kann einem schon einheizen, dachte Fahrenkamp und schmunzelte.

»Na, mein Guter, wem galt denn dieses zärtliche Lächeln?« fragte eine lachende Stimme neben ihm.

»Ihnen sicher nicht, Neuhaus«, gab Fahrenkamp lustig zurück. »Im übrigen, Sie wissen doch ...« Er schwieg.

»Ich weiß«, lachte Neuhaus, »darüber spricht man nicht! – Sie sind doch einfach unverwüstlich!«

»Na, Gott sei Dank – anders wäre es auch nicht zu ertragen!« erwiderte Fahrenkamp.

»Sagen Sie das nicht – Sie sind ja immerhin ...« Neuhaus blickte ihn, während sie die Treppe zum Klubhaus emporschritten, prüfend an. »Immerhin um die Fünfzig, stimmt's?«

»Ich wage nicht zu widersprechen, Verehrtester.«

»Na also – das ist immerhin ein Alter, in dem man langsam zurückschalten muß, wenn man nicht eines Tages eine unangenehme Überraschung erleben will.«

»Hach, Neuhaus – ich glaube wirklich, Sie wollen ulken – jeder ist so alt, wie er sich fühlt – und ich fühle mich noch außerordentlich jung!« widersprach Fahrenkamp optimistisch.

»Tja – Ihnen kann man das wohl glauben«, gab Neuhaus zu, wurde aber unterbrochen, da jetzt ein anderer Herr aus einem Klubzimmer kam, der lebhaft auf Fahrenkamp zueilte.

»Mensch, Fahrenkamp, gut daß Sie heute kommen – ich muß Sie nämlich dringend sprechen. Hatte schon bei Ihnen angerufen, aber Sie waren bereits ausgeflogen.«

»Na – dann werde ich Sie nicht stören, meine Herren«, sagte Neuhaus und zog sich mit einer leichten Verbeugung zurück.

»Gehen wir in die Bibliothek, da ist im Augenblick niemand«, schlug Eugen Keidel vor, der Besitzer eines großen Gutes war.

»In Ordnung, mein Lieber!« stimmte Fahrenkamp zu, und dann setzten sie sich in einen der gemütlichen Winkel, deren es in dem großen Raum viele gab, jeder einzelne nur durch eine Stehlampe mild erhellte

»Ich befinde mich in einer scheußlichen Klemme, Fahrenkamp.«

»Um Gottes willen, Sie wollen mich doch nicht anpumpen, Keidel?« Fahrenkamp hob in drolliger Verzweiflung die Hände. Ich verfüge im Augenblick selbst über nicht allzuviel Bargeld.«

»Es muß nicht unbedingt bares Geld sein, Fahrenkamp – mir wäre schon damit gedient, wenn Sie für mich gutsagen würden.«

»Hm – eine Bürgschaft also.«

»Ja – das würde genügen.«

»Wieviel?« fragte Fahrenkamp gleichmütig.

»Hunderttausend«, gab Keidel zurück, dem bei der Höhe der Summe allerdings nicht ganz wohl zumute war.

»Menschenskind! Sind Sie verrückt geworden?« fragte Fahrenkamp nun doch etwas erschrocken. »Das ist ja ein Vermögen!«

»Leider – aber unter dem ist nichts zu machen«, erklärte Keidel gedrückt.

Fahrenkamp sog heftig an seiner Zigarre – das war selbst dem in Gelddingen äußerst großzügigen Mann zuviel.

»Wie ist denn das bloß möglich, Keidel – ich hielt Sie doch für ganz gut betucht?« fragte er endlich, während Keidel in ungeheurer Spannung neben ihm saß.

»Das wäre auch durchaus der Fall – wenn ich nicht Pech gehabt hätte. Bei mir ist doch im vergangenen Herbst die gesamte Ernte verbrannt, dazu noch die Scheunen und allerlei Gerät – und seither sitze ich fest, weil die Feuerversicherung bisher noch nicht gezahlt hat, sondern alle möglichen Schwierigkeiten macht. Ich habe nun einen Prozeß angestrengt, der zweifellos zu meinen Gunsten entschieden werden wird. Sie können die Akten einsehen«, sagte er mit einem schnellen Blick in das unbewegte Gesicht Fahrenkamps, der abwinkte.

»Verschonen Sie mich mit dem Aktenkram, mein Bester!«

»Da ich aber noch vor der neuen Ernte die Scheunen wiederaufbauen mußte, bin ich in große Schwierigkeiten geraten. Jetzt will die Baufirma nicht länger warten und das Gut zur Versteigerung bringen«, berichtete Keidel weiter.

»Eine dumme Geschichte – das gebe ich zu. Aber da ist doch mit einer Bürgschaft kaum geholfen?« fragte Fahrenkamp.

»Doch, die Leute behaupten, daß es ihnen dann möglich sein würde, sich Geld zu verschaffen, bis die Feuerversicherung gezahlt hat, was in Kürze der Fall sein wird. Aber bis dahin ist der Bauunternehmer kaputt, wie er sagt.«

»Na, wenn es so ist ...« Fahrenkamp paffte mächtige Rauchwolken in die Luft.

»Sie gehen bestimmt kein Risiko ein, Fahrenkamp«, sagte Keidel mit mühsam verborgener Spannung, ging es doch für ihn um Sein oder Nichtsein – und nur bei dem leichtsinnigen Fahrenkamp bestand die Aussicht, eine Bürgschaft zu erlangen – jeder andere würde davor zurückschrecken, das wußte Keidel genau.

»Hm – wenn ich Ihnen also mit einer Bürgschaft helfen kann ...« Fahrenkamp richtete seine Augen auf den Freund mancher vergnügter Stunden. »An mir soll es nicht liegen, daß Sie koppheister gehen. Aber ich bitte Sie um eins – lassen Sie mich bloß nicht sitzen, den Schlag würde auch ich nicht vertragen«, mahnte Fahrenkamp eindringlich.

»Wo denken Sie hin, Fahrenkamp – das ist doch Ehrensache.«

»Das denke ich«, gab dieser zurück. »Na, dann wollen wir die Sache mal perfekt machen. Ich glaube, unser guter Rechtsverdreher ist auch da – der könnte uns ja gleich ein bißchen dabei helfen.« Und völlig sorglos ging er mit dem erleichterten Keidel auf die Suche nach dem Notar.

Nur noch einen Tag hatten Frau Regina und Eggebrecht miteinander in Langenargen verbracht, dann nahmen sie Abschied voneinander in der beglückenden Hoffnung, einander bald angehören zu dürfen.

Zuvor hatten sie noch eine lange, inhaltsschwere Aussprache miteinander gehabt, bei der Eggebrecht erschüttert Einzelheiten über das traurige, entsagungsreiche Leben der geliebten Frau erfuhr.

»Ich glaube – wir brauchen uns wirklich keine Vorwürfe zu machen, du Liebes«, sagte Andreas warm, als sie geendet hatte, »dieser Mann hat jedes Recht auf dich verwirkt – und wie du ja auch sagst, legt er keinen Wert mehr darauf. Eure Ehe hat doch nur einseitig – nur mit einer Verpflichtung für dich bestanden, und deshalb hast du ein unbedingtes Recht, sie auch zu lösen.«

In gläubigem Vertrauen sah Regina zu dem geliebten Mann auf.

»Wenn du es sagst, dann wird es richtig sein, Andreas – ich weiß, du würdest mir nichts raten, was du nicht voll und ganz verantworten kannst, würdest lieber auf eigenes Glück verzichten.«

»Ich danke dir, Regina, daß du mir so voll vertraust«, erwiderte Eggebrecht mit bewegter Stimme und zog behutsam mit großer Zärtlichkeit ihre Hand an seine Lippen.

Nun war Frau Regina wieder daheim und wartete voller Unruhe auf die Heimkehr des Gatten, wollte sie doch ohne eine Aussprache mit ihm die Scheidung nicht einleiten.

Als sei nichts geschehen, ging sie wieder Tag für Tag in die Fabrik. Aber wie anders war alles geworden!

Wahl verrichtete sie die gewohnten Arbeiten, beriet mit dem treuen Merkel, wie man das Ende noch aufhalten könnte.

Aber irgendwie war ihr der ganze Betrieb ferngerückt, als sei sie gar nicht mehr daran beteiligt, als sei es eine andere, die dort schaffte und arbeitete.

Sie hatte gerade eine Besprechung mit ihrem treuen Helfer beendet und saß nun in Gedanken versunken dem alten Herrn in der Sitzecke ihres Büros gegenüber.

Endlich hob sie den Blick und sah den alten Herrn unsicher an.

»Ich – ich hätte gern einmal etwas Persönliches mit Ihnen besprochen, lieber Herr Merkel,«

»Sie wissen, daß ich immer stolz darauf war, Ihr Vertrauen zu besitzen«, gab der alte Herr zurück.

Ein tiefer Atemzug hob die Brust Reginas, dann sagte sie unvermittelt:

»Ich will mich scheiden lassen!«

Der alte Prokurist nickte mit dem Kopf, als bestätige er sich selbst etwas.

»Das dachte ich mir, Frau Regina.«

Verblüfft sah ihn die Frau an.

»Wie ist das möglich?« rief sie fragend.

Ein Lächeln zog über das alte, faltige Gesicht, ein gutes, fast verschmitztes Lächeln.

»Wenn eine Frau in Ihrem Alter so auffallend verjüngt und in ihrem ganzen Wesen verändert zurückkommt, verzeihen Sie, wenn ich das offen ausspreche, dann muß schon etwas Besonderes die Veranlassung dazu sein.«

Ein tiefes Rot überzog das schöne Frauengesicht, während Regina, mit dem Zeigefinger drohend, halb schelmisch, halb verlegen sagte:

»Ich glaube, vor Ihren scharfen Augen muß man sich hüten, lieber Freund«, was Merkel mit einem vergnügten Schmunzeln bestätigte.

Wieder ernst werdend, setzte Frau Regina das Gespräch fort:

»Sie wissen ja selbst, lieber Freund, wie meine Ehe aussieht, und daß ich auf meinen Mann nun wirklich keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Aber ich habe solch ein unangenehmes Gefühl, als könnte man mit einigem Recht sagen, die Ratten verlassen das sinkende Schiff.«

Merkel machte eine abwehrende Geste. »Nein, Frau Regina, wer das sagen würde, kennt Sie und – Ihren Gatten nicht und weiß nicht, daß Ihr ganzes bisheriges Leben ein einziges Opfer war. Man könnte doch ebensogut annehmen, daß Sie nun endlich die Zwecklosigkeit Ihrer unausgesetzten Bemühungen, das Werk zu halten, eingesehen haben. Es ist ja doch allgemein bekannt, daß Ihr Gatte Ihnen durch seine maßlosen Ansprüche immer entgegengearbeitet hat. In solch einem Falle ist es doch wahrhaftig zu verstehen, daß Sie eines Tages genug haben und den sinnlosen Kampf aufgeben.«

»Ist das wirklich Ihre Überzeugung, Herr Merkel?« fragte Regina zaghaft.

»Aber gewiß, gnädige Frau – ich denke, Sie hatten noch nie den Eindruck, daß ich aus meinem Herzen eine Mördergrube gemacht habe. Wenn Sie mich nach meiner Meinung fragen, dann kann ich nur wiederholen, es ist absolut richtig, was Sie vorhaben, und wenn Ihnen irgendwo ein neues Glück winken sollte, dann greifen Sie zu. Das Leben ist Ihnen ohnehin viel schuldig geblieben.«

Frau Regina erhob sich und streckte ihrem treuen Berater beide Hände entgegen.

»Sie lieber alter Freund, ich danke Ihnen – Sie haben mir wirklich Mut gemacht, denn ich war sehr verzagt. Was sollte ich nur tun, wenn ich Sie nicht hätte?« fragte sie, ihn dankbar anblickend.

»Ich freue mich, wenn ich Ihnen raten konnte, Frau Regina«, erwiderte Prokurist Merkel schlicht und zog behutsam die schmale Frauenhand an seine Lippen.

*

Sinnend saßen Mutter und Tochter auf der Terrasse von Villa Fahrenkamp, den schönen Sommerabend genießend.

Regina hatte wieder einen Brief von Andreas Eggebrecht bekommen, aus dem seine ganze Liebe und Sehnsucht sprachen. Es tat so gut, zu wissen, daß da ein Mensch war, der sie liebte und auf sie wartete.

Eine laute Männerstimme ließ sie zusammenfahren. Das war doch ... ? Ihr Herz tat ein paar schnelle Schläge. Auch Ulrike wurde aufmerksam.

»Der Papa!« sagte das junge Mädchen und schritt schnell ins Haus, während ihr die Mutter langsam folgte.

Nun. da die Entscheidung nahte, war es ihr, als wären ihre Füße wie Blei so schwer.

Es schien, als sei Fahrenkamp nicht gerade in bester Stimmung heimgekommen, denn der im allgemeinen immer liebenswürdige Mann schimpfte ziemlich unwillig mit den Dienstboten, weil auf sein heftiges Klopfen nicht sofort jemand gekommen war.

»Wir hatten ja keine Ahnung, daß du heute schon kommst, Robert«, versuchte Frau Regina zu beschwichtigen, »die Leute sahen bei dem schönen Wetter auch ein bißchen im Garten.«

»Das ist alles kein Grund«, unterbrach sie Fahrenkamp, »man hat immer bereit zu sein. Das wäre ja noch schöner, wenn sich der Hausherr erst anmelden müßte, wenn er in sein Haus will!«

»Oh, Papa, was hast du für schlechte Laune aus deinem Urlaub mitgebracht«, lachte Ulrike und hängte sich an den Arm des Vaters, während Regina, den unfreundlichen Ton, in dem der Gatte gesprochen hatte, überhörend, den Dienstboten leise einige Anweisungen gab, damit der höchst ungnädige Hausherr schleunigst mit einem guten Imbiß beruhigt würde.

Der schritt inzwischen die Treppe zu seinem Zimmer hinauf, nachdem er sogar seinen Liebling Ulrike ziemlich unwirsch abgeschüttelt hatte.

»Verstehst du das, Mutti?« fragte sie leise.

Die Mutter zuckte nur mit den Schultern, dann sagte sie in ihrer allezeit begütigenden Art:

»Wer weiß, worüber sich dein Vater geärgert hat. Vielleicht war er auch sehr lange unterwegs – das ist bei der Hitze kein Vergnügen. Er sieht etwas angegriffen aus.«

Wie konnte Frau Regina auch ahnen, daß Robert Fahrenkamp, der allezeit von den Frauen verwöhnte Mann, mit einer schweren Enttäuschung heimgekommen war.

Was ihm noch nie passiert war, hatte er jetzt zum ersten Male erlebt: Eine Frau hatte ihm den Abschied gegeben! Seine kleine Freundin hatte ihn in Capri einfach sitzenlassen – war mit einem alten, dicken Amerikaner auf und davon, weil der, wie sie Fahrenkamp höhnisch gesagt hatte – ihr doch etwas zu bieten hatte und nicht so ängstlich knauserte wie Fahrenkamp.

Das war eine bittere Pille gewesen, an der Fahrenkamp noch immer schwer schluckte.

Es war deshalb auch verständlich, daß sich Frau Reginas Erwartungen nicht erfüllten. Der leckere Imbiß vermochte den enttäuschten Mann auch nicht zu besänftigen. Er aß im Gegenteil sehr wenig und lehnte sich mißmutig in den Sessel zurück, Frau und Tochter mit grimmigem Spott musternd.

»Na – euch scheint es ja ganz gut gegangen zu sein, meine Teuren«, stellte er schlecht gelaunt fest, »ist ja auch kein Wunder – ihr konntet euch ja auf meine Kosten vergnügte Tage machen. Der Alte muß dann eben mit dem kümmerlichen Rest zufrieden sein – da heißt es, daß kein Geld für ihn da ist, wie dein famoser Merkel behauptete«, wandte er sich an seine Gattin, die mit ziemlicher Empörung zugehört hatte. Der Ton, den er anzuschlagen beliebte, gefiel ihr absolut nicht. Er war bisher trotz allem immer höflich gewesen.

Ulrike saß ganz entgeistert da – so kannte sie ja den Vater noch gar nicht, ihren immer fröhlichen Papa.

Das Schweigen seiner Damen reizte den verärgerten Mann nur noch mehr. Seine Augen musterten unstet Frau Regina. Ein häßliches Grinsen entstellte das immer noch hübsche Männergesicht, als er spöttisch sagte:

»Ich muß dir übrigens ein Kompliment machen, Regina – du siehst tatsächlich blendend aus. Deine Ferien vom Ich – oder sagen wir besser von deinem Mann«, sagte er zynisch, »haben dich merkwürdig verjüngt.«

Er musterte die Gattin mit einem scharfen Blick aus halbgeschlossenen Augenlidern, welcher ihr ein dunkles Rot der Empörung in die Wangen jagte.

»Merkwürdig«, fuhr er fort, »höchst merkwürdig! Wozu solch eine Trennung doch manchmal gut ist. Da gehen einem plötzlich mal die Augen auf, welchen Schatz man daheim hat.«

»Ich glaube, du weißt nicht, was du sprichst«, unterbrach ihn Frau Regina, durch seine Worte und fast mehr noch durch den abschätzenden Blick angewidert, so daß es ihr kaum möglich war, sich noch länger zu beherrschen. »Es ist wohl besser, wir beenden unsere Unterhaltung heute und gehen schlafen.«

Dabei erhob sie sich und forderte Ulrike auf:

»Sage deinem Vater gute Nacht, Kind, es ist auch für dich Zeit zu schlafen.«

*

Wie zerschlagen erhob sie sich am nächsten Morgen aus ihrem Bett und ging zeitig in die Fabrik hinüber. Arbeit war immer noch das beste Mittel, trübe Gedanken zu verscheuchen, dachte sie.

Während sie eifrig über ihre Bücher gebeugt saß, klingelte das Telefon. Der Pförtner meldete ihr, daß sie Herr Rechtsanwalt Kolbe zu sprechen wünsche.

»Schicken Sie den Herrn zu mir«, sagte Regina und überlegte unruhig, was dieser Rechtsanwalt mit ihr besprechen wollte. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung.

Mit der ihr eigenen Ruhe empfing sie den Herrn, ihm mit einer leichten Handbewegung Platz anbietend.

»Was führt Sie zu mir, Herr Rechtsanwalt?« fragte Regina, das Gespräch eröffnend, während sie sich setzten.

»Leider ist es keine sehr angenehme Mission, die mich zu Ihnen führt«, sprach der Anwalt weiter, was ihm angesichts dieser sympathischen Frau nicht leicht fiel. »Ihr Gatte hat vor kurzem für den Gutsbesitzer Eugen Keidel eine Bürgschaft übernommen und wird nunmehr dafür eintreten müssen, da Herr Keidel absolut zahlungsunfähig ist. Auch eine Versteigerung des Gutes, die ohnehin erfolgen wird, kann Ihren Gatten von seiner Zahlungsverpflichtung nicht befreien, denn das Gut ist bereits mit alten Verpflichtungen überlastet.«

In starrem Entsetzen hatte Frau Regina zugehört. Das war doch beinahe undenkbar!

Mühsam suchte die erschrockene Frau ihre Haltung zu bewahren.

»Um welche Summe handelt es sich, Herr Rechtsanwalt Kolbe?« fragte sie sachlich.

Der Mann scheute sich fast, die Summe auszusprechen.

»Es tut mir aufrichtig leid, Ihnen Sorgen bereiten zu müssen, verehrte gnädige Frau«, sagte er fast herzlich, »aber die Summe ist leider erschreckend hoch. Einhunderttausend Mark!«

Mit weitaufgerissenen Augen blickte ihn Frau Regina an.

»Das – das ist doch nicht möglich«, stammelte sie hilflos.

»Und doch ist es so, gnädige Frau!« erwiderte der Rechtsanwalt ernst. »Ich war selbst überrascht, als mir die Firma Wilhelm Jäger diese Sache übertrug, denn ihr schuldete Herr Keidel diese Summe. Es erschien mir fast unglaublich, daß Herr Fahrenkamp für einen Menschen, wie es Herr Keidel ist, mit einer derartig hohen Summe bürgen konnte. Es war doch allgemein bekannt, daß Keidel total verschuldet und ein berüchtigter Lebemann war.«

»Das erklärt mir vieles«, sagte Regina bitter und fuhr dann fort: »Das beste ist wohl, wir ziehen unseren Prokuristen hinzu. Herr Merkel ist mein treuer Berater und bestens in die Belange unserer Firma eingeweiht. Allerdings wird er Ihnen auch keine anderen Auskünfte geben können als ich«, erklärte Frau Regina, während sie an ihren Schreibtisch ging und Merkel telefonisch herüberbat.

Mit prüfenden Blicken begrüßten die Herren einander, und dann vernahm der alte Prokurist das, was der alten Firma den Todesstoß versetzen mußte.

Er war nicht minder entsetzt als Frau Regina.

Als der Rechtsanwalt nach kurzer Zeit gegangen war, standen sich die beiden Arbeitskameraden einen Augenblick schweigend gegenüber.

»Nun dürfte das Ende da sein, lieber Freund«, sagte Regina langsam, während ein paar Tränen über ihre Wangen rollten.

*

Mit schwerem Herzen ging Regina gegen Mittag hinüber in die Villa – ihr graute vor dem Kommenden. Voller Unruhe suchte sie ihr Zimmer auf – sie mochte jetzt weder Ulrike und noch weniger ihren Mann sehen. Es erschien ihr auch ratsamer, bis nach dem Mittagessen zu warten mit der unumgänglich notwendig geworbenen Aussprache.

In gedrückter Stimmung nahm die kleine Familie das Mittagsmahl ein. Ulrike ließ immer wieder ihre Blicke verstohlen prüfend zwischen den Eltern hin und her gehen, sie war immer noch sehr stark mit den Vorgängen des gestrigen Abends beschäftigt.

Gleich nach dem Essen folgte Regina dem Gatten in sein Zimmer und bat ihn um eine Unterredung. Argwöhnisch sah Fahrenkamp seine Frau an. Wollte sie ihm etwa eine Szene machen wegen gestern?

»Du hast für einen Herrn Keidel eine Bürgschaft über einhunderttausend Mark übernommen, Robert?«

Vollständig verblüfft, daß seine Frau darum wußte und nichts Gutes ahnend, versuchte er, durch eine Gegenfrage Zeit zu gewinnen.

»Wie kommst du darauf, Regina?«

»Ein Rechtsanwalt Kolbe war im Auftrage der Firma Wilhelm Jäger bei mir, um mir mitzuteilen, daß dieser Herr Keidel zahlungsunfähig ist und du nunmehr auf Grund der Bürgschaft für ihn einzutreten hast.«

Fahrenkamp fuhr erregt auf. »Das ist doch – das ist doch«, stotterte er und dann, in jäh ausbrechendem Zorn: »Wie kommst du überhaupt dazu, dich in meine Angelegenheiten zu mischen!« schrie er unbeherrscht. »Mußt du denn deine Nase in alles stecken?«

Mit großen Augen blickte Regina den Mann an, dessen Gesicht vor Zorn dunkelrot geworden war und der seine Augen vor ihrem sprechenden Blick niederschlug.

»Da du ja nie drüben bist, habe ich den Herrn wie alle anderen auch empfangen müssen. Ich hatte ja nicht die leiseste Ahnung, was ihn zu mir führte.«

»Versuche doch nur nicht, dich herauszureden. Du hast ja in deinem Geltungsbedürfnis nur zu gern diesen Rechtsanwalt empfangen, es ist ja so schön, sich als Herrin der Fahrenkamp-Werke aufzuspielen! Vielleicht kannst du tüchtige Frau mir auch sagen, wie du die Sache zu regeln gedenkst. Du hast doch sicher schon mit deinem Freund Merkel darüber gesprochen!« höhnte er.

Ein fast verächtlicher Blick traf ihn.

»Da ist nicht viel zu sprechen, Robert, wir sind fertig!«

»Was willst du damit sagen?« brüllte Fahrenkamp auf, am ganzen Körper vor Wut bebend, hinter der er die Angst verbarg.

»Daß wir nicht zahlen können!« sagte Regina hart. »Wir bekommen keinen Kredit mehr – der Konkurs ist unvermeidlich!«

»Du – du – du wagst das zu sagen?« schrie Fahrenkamp mit einer Stimme, die sich vor Wut fast überschlug. »Du – du ...« Es schien, als wolle er sich auf die zarte Frau stürzen, aber dann, mit einem röchelnden Laut, sank er zusammen, schlug dumpf auf dem Teppich nieder.

»Robert!« Entsetzt hatte es Frau Regina gerufen und eilte mit wankenden Knien auf die reglose Gestalt zu.

Hastig öffnete sie den Kragen und hob den Kopf hoch, sah voller Grauen in die halbgeöffneten Augen, die mit ausdruckslosem, stierem Blick kein Zeichen von Leben gaben.

Sie hatte gar nicht bemerkt, daß sich bei ihrem Aufschrei die Tür geöffnet hatte und Ulrike mit geisterhaft blassem Gesicht auf die Eltern schaute.

An allen Gliedern bebend, kam das junge Mädchen näher.

»Was ist – mit Papa – Mutti?« drang es leise zu Regina, die nach dem Puls des Mannes fühlte.

»Ich weiß es nicht – Kind«, kam es klanglos zurück. »Geh, rufe einen Arzt herbei – ich glaube, dein Vater hat einen Schlaganfall – aber er lebt.«

Bange Minuten vergingen bis zum Eintreffen des Arztes.

Der Arzt bestätigte ihre Vermutung – es war ein ziemlich schwerer Schlaganfall, der den bisher kerngesunden Mann getroffen hatte. Man konnte noch nicht sagen, wie er ausgehen würde.

»Wir müssen abwarten und hoffen, gnädige Frau«, glaubte der Arzt die bleiche, zarte Frau trösten zu müssen.

Mit ruhiger Selbstverständlichkeit nahm sie ihren Platz am Lager des Kranken ein. Sie wollte sich mit der Pflegerin, die der Arzt schicken würde, in die Pflege des Kranken teilen. Stunde um Stunde saß sie in schweres Sinnen verloren am Krankenbett, achtete sorgsam auf die leiseste Veränderung des Schwerkranken und fühlte sich unsagbar elend.

*

Das Mittagessen nahmen Eggebrecht und sein Neffe Jörg stets gemeinsam ein, wie sie auch beide das hübsche Haus bewohnten, das am Ende des Parks, der zur Klinik gehörte, lag.

Der frühere Besitzer der Klinik hatte es sich für seine Familie bauen lassen und einen Garten, der vom Park durch einen Zaun abgetrennt war, angelegt.

Obgleich es für ihn viel zu groß war, hatte es Eggebrecht bezogen und war froh, als der Neffe zu ihm kam. Es war nun nicht mehr gar so einsam für ihn.

Seine Privatpost pflegte Eggebrecht immer erst daheim in seinen vier Wänden zu lesen, die heute nur aus einem Brief von Regina bestand. Aber etwas Besseres hätte ihm der Briefträger gar nicht bringen können.

Eggebrecht brach mit glücklichem Lächeln seinen Brief auf.

Das glückliche Lächeln machte jedoch bald einem ernsten Ausdruck Platz – das frische Gesicht Eggebrechts wurde blaß, und eine grenzenlose Enttäuschung breitete sich darüber aus.

Ein schwerer Seufzer brach aus seiner Brust, als er die Hand mit dem Briefblatt sinken ließ. Jörg Wischhusen schaute aus seiner Lektüre auf – sah besorgt den tiefe Traurigkeit verratenden Ausdruck im Antlitz seines väterlichen Freundes.

»Hast du schlechte Nachrichten, Onkel Andreas?« fragte er behutsam.

»Die denkbar schlechtesten, mein Junge«, erwiderte Eggebrecht und versank dann wieder in finsteres Grübeln.

Wischhusen wagte nicht mehr zu fragen. Er dachte an seine Unterredung mit dem Onkel am Morgen, als er selbst abgelehnt hatte über das, was ihn bedrückte, zu sprechen.

Aber nach einiger Zeit fing Eggebrecht zu erzählen an – langsam, nur schwer, kamen die Worte von seinen Lippen.

»Warum soll ich es dir nicht erzählen, Hansjörg«, begann er, und dann hörte der aufmerksam Lauschende die Geschichte von der großen und einzigen Liebe Andreas Eggebrechts, der als junger Mann mit ansehen mußte, wie ein anderer ihm das Mädchen, das er liebte, wegnahm, ein Mann, der nur ein hohler Blender gewesen war.

Oh, wie gut verstand Wischhusen den Onkel und das, was er damals gelitten hatte! Heute gestand er es sich selbst ein – daß er genauso an einer hoffnungslosen Liebe litt wie der Onkel.

Als jener davon sprach, daß er während der Ferien jene Frau und damit sogar sein Glück endlich wiedergefunden zu haben glaubte, horchte Wischhusen auf. Ob er auch so bereit sein würde, zu vergeben und zu vergessen?

»Ich glaubte, daß mir nun noch einige glückliche Jahre, vereint mit Regina, beschieden sein würden, und erhalte nun eben die Nachricht, daß ihr Mann am Schlaganfall erkrankt ist und deshalb vorläufig von einer Scheidung keine Rede sein kann. Du weißt, was das »vorläufig« bedeuten kann – der Mann kann noch jahrelang leben, womöglich siech und hilflos – und wie ich Regina kenne, wird sie ihn dann niemals verlassen, sondern aushalten und ihre Pflicht tun, zumal er gleichzeitig ein Bettler geworden ist«, schloß Eggebrecht sein Bekenntnis in tiefer Hoffnungslosigkeit, ohne jedoch den vollen Namen Reginas zu nennen. –

*

Regina war im Begriff, ins Krankenzimmer zu gehen, um die Pflegerin, welche Nachtwache gehalten hatte, abzulösen. Vorher betrat sie aber erst noch das Zimmer ihrer Tochter, die sie heute noch nicht gesehen hatte. Sie fand Ulrike auf dem Bett liegend und heftig schluchzend.

Besorgt trat Frau Regina auf ihr Töchterchen zu, es liebevoll streichelnd.

»Aber Ulrike, Kind, warum weinst du denn so verzweifelt«, fragte sie mit ihrer weichen, warmen Stimme.

Erschrocken hob Ulrike den Kopf.

»Ach Mutti – es ist alles so schrecklich jetzt«, suchte sie der Mutter ihre jammervolle Verfassung zu erklären – »verstehe doch bitte – daß sich für mich so vieles verändert hat. Ich – weiß doch kaum noch, daß ich einmal sorglos und glücklich war. Es ist ja nicht nur Papas Erkrankung – sondern auch alles andere – wie er zurückkam – und dann, ehe er den Anfall bekam, ich – ich habe doch alles mit angehört.«

»Das hast du gehört, mein Kind?« fragte Regina erschrocken.

»Ja – Mutti, ich war im Nebenzimmer – ich hatte plötzlich solche Angst – und dann hörte ich den Papa so schrecklich laut schreien und mit dir schimpfen –«

In erbarmender Liebe zog Frau Regina ihr Kind fester in ihre Arme:

»Du Liebes, Armes du – das mag dich vielleicht erschreckt haben! Aber sieh, Papa war sicher schon, als er kam, nicht mehr gesund – daher diese unerklärliche Reizbarkeit«, suchte sie das Verhalten des Gatten zu entschuldigen, damit dessen Bild wieder rein und ungetrübt im Herzen ihres Kindes erstehen sollte.

Mit einer unendlich müden Gebärde winkte Ulrika ab.

»Laß nur, Mutti, du meinst es gut – und es mag ja auch zutreffen, daß Papa sich schon nicht mehr wohl fühlte. Aber als er die Bürgschaft übernahm ...«

»Es ist leider nur allzu wahr«, begann Frau Regina, jedes Wort überlegend, »daß wir durch diese Bürgschaft dem Nichts gegenüber stehen – aber wir hatten ohnehin mit Schwierigkeiten zu kämpfen – es war nur noch eine Frage der Zeit, mein Kind, und so ist es –«

»Gib dir doch keine Mühe, Mutti, irgend etwas zu beschönigen, so anständig ich es von dir finde, Papas Leichtsinn – ja, Leichtsinn«, sagte das Mädchen heftig, als die Mutter protestieren wollte, »zu entschuldigen. Ich weiß aber nur zu gut, daß du immer gebeten hast, sparsamer zu sein – und daß Papa sich nicht darum kümmerte, sondern deine Sparsamkeit als lächerliche Knauserei hinstellte. Und ich – ich habe das mitgemacht, habe dir durch meine Ansprüche auch immer mehr Sorgen aufgepackt –« Wieder brach ein heißes Schluchzen aus der jungen Brust.

»Riekele, Riekele!« Der Kosename aus der Kinderzeit kam über Reginas blasse Lippen, angesichts der bitteren Selbstanklage ihres Kindes, beschwichtigend wie einst, wiederholte die Mutter diesen fast vergessenen Namen.

»Oh, Mutti – weshalb hat Papa nie auf dich gehört? Weshalb hat er sich nicht um die Fabrik gekümmert? Warum mußtest du tun, was seine Arbeit gewesen wäre?« ungestüm fragte es Ulrike.

»Er hat es wohl nicht so übersehen«, versuchte sie zu beschönigen.

»Das kann keine Rechtfertigung sein – du hast es doch übersehen, Mutti? Und warum? Weil du drüben gearbeitet hast und Papa nicht, wie es seine Pflicht gewesen wäre! Und deshalb hast du auch nie Zeit für mich gehabt wie andere Mütter, und ich ...«

Dem erregten Mädchen versagte die Stimme.

Erschüttert sann Frau Regina dem Gehörten nach.

Was sollte sie auch gegen die unerbittliche Logik des jungen Menschenkindes sagen?

Alles Kindliche hatte das junge Mädchen in dieser Stunde abgestreift – es war ein ernster, verantwortungsbewußter Mensch geworden, wenn es dabei auch von einem Extrem ins andere fallend, über das Ziel hinausschoß.

Nach längerem Schweigen richtete sich die Mutter auf und versuchte ihr Kind auf die nächstliegenden Erfordernisse zu lenken.

»Riekele, wir müssen es durchstehen, und das können wir nur, wenn wir uns noch fester zusammenschließen. Willst du das?«

Da nickte das Mädchen heftig und fiel der Mutter aufschluchzend um den Hals.

*

Eine Zeit brach nun für Frau Regina an, deren ungeheure Schwere die zarte Frau fast zu zerbrechen drohte. Von allen Seiten stürmte es auf Regina ein – daß sie manchmal nicht aus noch ein wußte.

Wohl versuchte ihr Merkel so viel als möglich abzunehmen – aber alles konnte er ihr nicht ersparen. Und was der rüstige alte Herr sonst nie gespürt hatte, jetzt fühlte er, daß er alt war. Der Untergang der Fahrenkamp-Werke fraß an ihm und machte ihn müde. Deshalb trieb er mit letzter Kraft die notwendigen Verhandlungen voran, um das traurige Geschäft, das ihm noch verblieben war, schnellstens abzuwickeln. Er wollte endlich seine Ruhe haben.

Und nun war es vorüber – die Fabrik war von einem großen Konzern übernommen worden. Es war auch gelungen, alle Verpflichtungen zu erfüllen; in einem sauberen, ehrenhaften Konkurs war die alte Firma untergegangen, und das war es, was Frau Regina und ihr Getreuer noch dankbar empfanden.

Allerdings war nur ein kleiner Betrag gerettet worden, den Frau Regina zum Notgroschen bestimmte. Im Augenblick bewohnten sie noch die Villa, da der neue Besitzer mit Rücksicht auf die schwere Krankheit des Hausherrn nicht auf Räumung drängte. Sowie er jedoch transportfähig würde, sollte die Übersiedlung nach dem neuen Wohnort der Familie erfolgen.

Regina Fahrenkamp war es mit Hilfe eines Geschäftsfreundes, welcher die tapfere Frau außerordentlich schätzte und bedauerte, gelungen, eine sehr gutbezahlte Stellung in einer großen Fabrik als Sekretärin des Inhabers zu bekommen. Sie hoffte, mit ihrem Einkommen für sich und den kranken Mann sorgen zu können. Freilich, Ulrike würde auch einen Beruf ergreifen müssen, denn für drei würde das Geld nicht reichen.

Robert Fahrenkamp hatte sich erholt und die schwere Krankheit lebend überstanden. Aber was war aus dem lebensvollen Mann geworden! Ein hilfloser, siecher Greis, der einseitig vollständig gelähmt war. Es bestand auch kaum Hoffnung, daß sich sein Zustand noch weiter bessern würde.

Das Siechtum Fahrenkamps schloß für Regina selbstverständlich jeden Gedanken an eine Scheidung aus. Eine ungeheure Bitterkeit erfüllte sie, und sie wünschte fast, sie hätte den alten Freund nie wiedergesehen, nie mehr auf ein Glück gehofft, um es, bevor sie es festhalten konnte, wieder zu verlieren. Es wäre dann leichter für sie gewesen – so aber trug sie nicht nur das eigene, sondern auch das Leid des geliebten Mannes auf ihren Schultern, die ohnehin genug zu tragen hatten.

Sie hatte an Eggebrecht einen langen, lieben Brief geschrieben, der ihm erklärte, weshalb sie weiterhin zum Verzicht gezwungen seien. Sie wußte, er würde sie verstehen, so schwer es ihm auch fallen mochte.

Seine Antwort bestätigte es ihr. Er schrieb: Du wärest nicht meine, trotz allem meine Regina, wenn du anders handeln würdest –

*

Fröstelnd schritten Onkel und Neffe durch den Park der Klinik ihrem Heim zu, das mit seinem hellen Licht Wärme und Geborgenheit verheißend vor ihnen lag.

Ein feiner Regen rieselte vom Himmel herab, der schwer und dunkel, über ihnen hing.

»Es wird Herbst, Hansgeorg –«, sagte Eggebrecht müde – und es war, als meinte er nicht nur den Herbst, der im Wechsel der Jahreszeiten jetzt auf die Menschen zu kam und sie mit stiller Resignation an vergangenes Sommerglück zurückdenken ließ.

Ohne zu antworten ging Wischhusen neben dem Älteren, und der schien auch keine Antwort zu erwarten. –

Wohltuend empfanden die beiden Herren die Wärme des Hauses, in das sie eintraten und gingen schnell in das behagliche Zimmer des Hausherrn, um sich bis zum Abendessen noch ein wenig auszuruhen.

Beide drängte es nicht, sich leichte Zerstreuungen zu verschaffen, besonders Wischhusen wich allen geselligen Veranstaltungen aus, fürchtete er doch immer, dem Mädchen zu begegnen, das er nie wieder zu sehen wünschte.

Und als ahne der Onkel die Gedanken seines Neffen, sagte er jetzt tadelnd:

»Junge, du bist der reinste Einsiedlerkrebs geworden.«

Wischhusen blickte aus seiner Versunkenheit auf. »Wie kommst du darauf, Onkel Andreas?«

»Aber Jörg, es ist ja schließlich keine Hexerei, das festzustellen. Abend für Abend sitzt du hier bei mir, arbeitest bis in die späte Nacht. Du solltest dich nicht so abschließen, dir hat das Leben noch allerhand zu bieten.«

Nachdenklich ließ Wischhusen diese Worte in sich nachklingen. Ein Ausdruck von Qual huschte über das charaktervolle Gesicht.

Prüfend beobachtete der alte Arzt die Wirkung seiner Worte – sah die Unruhe des Jüngeren und sagte ganz behutsam, wohl wissend, daß jedes falsch gewählte Wort mehr schaden als nützen könnte: »Es ist eine Frau, der du nicht begegnen willst, Jörg?« fragte Eggebrecht.

»Ja, Onkel«, kam es knapp zurück.

Hm – Eggebrecht dachte noch einmal über seinen Entschluß, der eigentlich schon feststand, nach.

»Na, mein Junge«, begann er in fast gemütlichem Ton, »dann werde ich dir mal eine kleine Luftveränderung vorschlagen. Was hältst du davon? Wir Doktersch sind doch immer für dieses probate Mittel bei unseren Patienten. Überlege nicht lange, vom Zaudern ist noch niemand gesund geworden, und vom Wühlen in alten Wunden auch nicht.«

»Ich glaube, Onkel, du übertreibst«, versuchte Wischhusen abzuwehren – »mache ich denn solch einen erbärmlichen Eindruck – bin ich solch ein Waschlappen, dem man gleich an der Nasenspitze ansieht, wenn er mal Kummer hat?«

»Durchaus nicht, mein Junge. Im Gegenteil, du frißt alles in dich hinein, und wer dich nicht früher gekannt hat, würde kaum merken, was du für ein finsterer Bursche geworden bist. Also du fährst ...«

»Das ist ja beinahe ein Hinauswurf, Onkel Andreas«, bemühte sich Wischhusen zu scherzen, »und ich dachte, ich wäre dir ein bißchen notwendig –«

»Nun sei so gut, Junge, soll ich dir etwa auch noch eine Liebeserklärung machen?« fragte Eggebrecht neckend, um dann ernster weiterzusprechen:

»Ich glaube, wir brauchen uns nicht gegenseitig zu versichern, was wir einander geworden sind, mein Junge. Du weißt, daß ich dich sehr vermissen werde – aber du kommst ja wieder, wenn es an der Zeit ist. Und ich werde inzwischen Gelegenheit haben endlich meinen Plan zu verwirklichen, und mein Operationsverfahren bei Schädeloperationen in einem Buch zusammenzufassen, du weißt, man wartet schon lange darauf. So ist uns beiden geholfen.«

Da gab Wischhusen sein Sträuben auf – er kannte diesen Plan des Onkels und wußte, daß dieser ihn bei der Arbeit wenig vermissen würde.

So war es beschlossene Sache, das Wischhusen, zunächst für ein Jahr, den Onkel verließ. –

*

Nun war auch das vorüber, der Abschied von dem Haus, das ihnen so lange ein Heim gewesen war. Ohne noch einen Blick zurückzuwerfen, hatte es Frau Regina verlassen.

In München erwartete die Familie eine angenehme Überraschung, denn die Regina zugesicherte Dienstwohnung bestand aus einem kleinen Siedlungshäuschen, das mit vielen anderen für die Werksangehörigen gebaut worden war. Zwar war es eins von den schmalen Reihenhäusern, aber man war für sich allein.

Im Erdgeschoß befanden sich eine Küche, Wohnzimmer und Eßnische, im Obergeschoß zwei Schlafzimmer, Raum genug für die drei Menschen, welche so bescheiden geworden waren.

Da es jedoch unmöglich sein würde, den Gelähmten täglich die Treppen hinauf und hinunter zu schaffen, in das Schlafzimmer, entschied Regina, daß er unten, in dem kleinen Eßraum neben dem Wohnzimmer schlafen sollte.

Mit großem Eifer unterstützte Ulrike die Mutter beim Einrichten des kleinen Häuschens, so wie sie auch bei dem ganzen traurigen Geschäft des Auflösens ihres einstigen Heimes geholfen hatte.

»Es ist doch nun alles noch besser geworden, als wir dachten«, sagte Frau Regina einige Tage später, als sie nach dem Abendessen noch ein Weilchen zusammensaßen.

»Du hast gut reden –«, nörgelte Fahrenkamp.

»Nun, Robert, es hätte schlimmer kommen können«, begütigte seine Frau, »freilich bist du jetzt noch nicht gesund, aber warte nur, wenn das Frühjahr kommt – dann wird es schon besser werden.«

»Das glaubst du ja selber nicht«, war die unfreundliche Antwort.

Ulrike versuchte das Gespräch auf eine andere Ebene zu bringen.

»Ich werde mich nun auch umsehen müssen, wo ich einen Arbeitsplatz finde«, sagte sie ablenkend.

»Darf ich auch fragen, was du zu tun beabsichtigst, mein Kind?«

Eine unwillige Röte ergoß sich über das blasse Mädchengesicht:

»Ich will Krankenschwester werden, Papa –«

»So, großartig, meine Tochter will Krankenschwester werden – will fortlaufen und andere pflegen, statt sich um ihren kranken Vater zu kümmern«, sagte er grämlich und schloß mit einem heiseren Lachen.

Ein warnender Blick der Mutter ließ Ulrike die heftige Antwort, die sie auf den Lippen hatte, zurückhalten.

Frau Regina sagte nichts dazu, obgleich sie der Entschluß ihres Kindes überraschte und eigentlich auch etwas erschreckte.

Erst später, als die beiden Frauen ihre Schlafzimmer aufsuchten, die sie sich sehr wohnlich eingerichtet hatten, setzte sich die Mutter zu Ulrike aufs Bett und fragte sie ernst.

»Ist das dein fester Entschluß, Krankenschwester zu werden, Ulrike?«

»Ja, Mutti – ich würde mich freuen, wenn du es erlauben würdest«, war die entschiedene Antwort.

»Ist es aber auch nicht eine Art von Weltschmerz, der dich dazu treibt, den Schwesternberuf zu ergreifen, Ulrike?«

»Wirklich nicht, Mutti – was mich eigentlich auf den Gedanken brachte – ich weiß es nicht – ich stelle es mir eben wunderschön vor, helfen zu können und – falls ich einmal nicht heirate, habe ich einen Beruf, der mich ausfüllen würde. Ich könnte einfach nicht mein ganzes Leben mit irgendwelchem Schreibkram verbringen.«

Frau Regina spürte mit ihrem eigenen Feingefühl, daß es zwecklos war, weiter in diese junge Seele dringen zu wollen. Zweifellos schleppte sich Ulrike mit irgendeinem Erlebnis herum, über das sie noch nicht sprechen wollte. Es war wohl das Beste, man lies; ihr den Willen, wenn ihr der erwählte Beruf zu schwer würde, dann war es immer noch Zeit, einzugreifen.

*

Unaufhaltsam ging das Leben weiter – seit vier Wochen trug Ulrike Fahrenkamp die weiße Schwesternhaube. Sie war als Lernschwester in einem großen Krankenhaus angenommen worden.

Zwar hatten die Oberin und der Chefarzt erst einige Bedenken gehabt, ob das elegante, schöne Mädchen für den schweren Beruf einer Schwester geeignet sei, aber sie glaubten den offenen, ernsten Augen vertrauen zu können.

Sehr glücklich und zufrieden war Ulrike an jenem Tage nach Hause gekommen, sie konnte es gar nicht erwarten, bis die Mutter heimkam.

Frau Regina hatte schon seit einiger Zeit ihre Tätigkeit aufgenommen. Fast hatte sie bei ihrer Arbeit das Gefühl, als habe sich nichts verändert, denn auch hier ruhte sehr viel Verantwortung auf ihr, und ihr Chef war ein alter Herr, der sie zuweilen an den treuen Merkel erinnerte.

Man kam ihr mit größter Hochachtung entgegen, so daß sie den Unterschied zwischen einst und jetzt wenig spürte und kaum das Gefühl hatte, nur eine von vielen Angestellten zu sein.

Schwieriger war es daheim. Robert Fahrenkamp fühlte ein trauriges Schattenleben, zumal er es nie verstanden hatte, sich mit sich selbst zu beschäftigen.

Dazu litt er sehr unter dem vielen Alleinsein, denn tagsüber war nur eine ältere Frau bei ihm, die den kleinen Haushalt und den Kranken versorgte, seit Ulrike nicht mehr zu Hause war.

Das war für den einsamen Mann das Schlimmste gewesen, als Ulrike in das Krankenhaus übersiedelte und nur noch in ihrer Freizeit die Eltern besuchen konnte.

Böse Worte bekam Frau Regina dann oft zu hören, weil sie ihm auch das Letzte, woran sein Herz hing, fortgenommen hatte, wie er behauptete. Er machte der armen Frau das Leben recht schwer – so daß sie froh war, wenn sie an ihrem Schreibtisch im Büro sitzen konnte. –

Ulrike hatte sich ganz gut im Krankenhaus eingelebt.

Sie arbeitete zunächst in der Frauenabteilung der chirurgischen Station und mußte sich sehr bald an den Anblick von Blut und Wunden gewöhnen, denn wenn sie auch noch nicht zu den Operationen hinzugezogen wurde, so mußte sie doch häufig beim Verbandwechsel dabeisein.

Das war nicht leicht – und so ganz hatte sie es noch nicht überwunden, daß ihr der Anblick großer Wunden einen Schauer über den Rücken jagte.

Durch das häßliche Wetter, es war bereits Anfang Dezember, und es regnete beständig, waren mehrere Schwestern erkrankt, so daß die junge Lernschwester mehr als bisher zu deren Arbeiten angestellt wurde, denn die Stationsschwester hatte genügend andere Arbeit.

Sie erschrak, als jetzt Dr. Oberleitner den Verband bei einer älteren, ziemlich dicken Frau entfernte und einen großen Bauschnitt freilegte. Fast war Schwester Ulrike dem Umsinken nahe.

Als sie mit dem Arzt das Zimmer verlassen hatte, verhielt dieser den Schritt. bevor sie weitergingen.

»Alle Achtung, Schwester Ulrike, Sie haben sich tapfer gehalten«, sagte er herzlich und legte mit kameradschaftlicher Geste den Arm leicht auf ihre Schulter, die über das Lob erfreut mit glücklichen Augen zu dem Arzt aufsah, während ein leises Rot in die so blassen Wangen stieg.

Er setzte sich wieder in Bewegung und die Schwester schob den Wagen zum nächsten Zimmer.

»Na – trauen Sie sich das Kunststück noch einmal zu, Schwesterchen?« fragte er vorsorglich, »Sonst müßte schließlich die Oberschwester – allerdings – es sind nur kleinere Sachen hier –«

»Dann werde ich es ja wohl auch schaffen, Herr Doktor«, erwiderte Ulrike zuversichtlich, das Lob des Arztes hatte ihr neue Kräfte verliehen.

»Also – gehn mer halt«, verfiel dieser gut gelaunt in den heimischen Dialekt und öffnete die Tür, seiner Helferin höflich den Vortritt lassend.

Mit klopfendem Herzen schaute Regina Fahrenkamp auf den Brief, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag und die kraftvollen Schriftzüge Andreas Eggebrechts trug. Was mochte er von ihr wollen?

Es wurde ihr fast schwer, den Brief zu öffnen – stieg doch jedesmal wenn sie an Andreas dachte, das Leid um verlorenes Glück und namenlose Sehnsucht riesengroß in ihr auf, daß sie glaubte, aufschreien zu müssen.

Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, als sie zu lesen begann und es dauerte eine ganze Weile, bis sie die Wortbilder erkannte.

Eggebrecht schrieb:

Meine liebe Regina!

Verzeih, wenn ich Dir schreibe, obgleich wir übereingekommen waren, das nicht zu tun. Aber in mir ist eine so grenzenlose Unruhe, ich sorge mich so sehr um Dich, daß ich es nicht mehr aushielt und zur Feder greifen mußte.

Unablässig beschäftigt mich der Gedanke, wie Du zartes Menschenkind Dein jetziges Leben in ungewohnter Abhängigkeit, beschränkten Verhältnissen und all das andere, über das ich nicht sprechen möchte, erträgst. Gerade Du hättest ein leichteres Los verdient – aber es scheint im Leben nun einmal nicht immer nach Verdienst zu gehen.

Aber nicht das wollte ich Dir schreiben, wir wissen, was wir voneinander halten – sondern ich wollte Dich bitten, schreibe mir wenigstens gelegentlich. Bitte, tue es, Regina – es kann kein Unrecht sein, wenn Du mir von Zeit zu Zeit, einen kurzen Bericht nur, über Dein jetziges Leben gibst. Es würde mich so sehr beruhigen und mir wohltun, denn ich bin jetzt auch völlig einsam, da mein Neffe für etwa ein Jahr an ein anderes Krankenhaus geht. Laß mich teilhaben an Deinem Leben und an Deinen Sorgen, Regina – ich weiß, Du bist dort auch völlig fremd – Deine Tochter ist noch sehr jung – und manchmal wird es Dich nach einer Aussprache verlangen. Dann schreibe mir, Regina, wälze Deine Last durch ein offenes Wort ab – ich werde Dir tragen helfen.

Ich glaube nicht, daß dadurch andere Rechte geschmälert werden würden, sonst würde ich diese Bitte nicht an Dich richten.

Bedenke, daß mich ein paar Zeilen von Deiner Hand sehr glücklich und ruhig machen würden.

In alter Treue Dein Freund

Andreas Eggebrecht

Heiße Tränen rannen über das blasse, schmal gewordene Gesicht Reginas, in dem nichts mehr daran erinnerte, daß es im Sommer aufgeblüht war unter dem Glanz einer Verheißung, die sich nicht erfüllen konnte.

So gut und warm klangen die Worte des Freundes – es war, als sähe sie das geliebte Gesicht vor sich, die gütigen Augen – und hörte die tiefe, ruhige Stimme Andreas Eggebrechts. Er hatte ja so recht – es mußte eine Wohltat sein – könnte man sich einmal die ganze Last vom Herzen sprechen.

*

Schwester Ulrike hatte für eine Kranke in der Teeküche den ärztlich verordneten Bohnenkaffee gekocht und füllte ihn in die kleine Schnabeltasse, denn die Patientin konnte sich beim Trinken nicht aufrichten.

Eilig verließ sie die Teeküche und sah sich dem Chefarzt gegenüber, der im Begriff war, mit seinen Assistenzärzten Visite zu machen.

Nun, vor dem gestrengen Chefarzt fürchtete sich Schwester Ulrike nicht mehr – aber das – war doch? Entsetzt ließ sie die Hände sinken – wobei der Kaffee sofort aus der Tülle schoß, direkt an die weißen Hosen des Chefs.

Ohne es zu bemerken, starrte Ulrike noch immer mit weitaufgerissenen Augen, geisterhaft bleich, auf die hohe Gestalt im weißen Kittel, die neben dem Chefarzt stand. Erst die Stimme Professor Breunings riß sie aus ihrer Erstarrung.

»Aber Schwester Ulrike – ist Ihnen nicht wohl?« und ehe sie noch etwas sagen konnte, fügte er mit einem Blick auf seine Hosen hinzu:

»Im übrigen lieben meine Hosen als einzige Flüssigkeit Seifenwasser, von Bohnenkaffee, auch wenn er noch so gut ist, sind sie gar nicht entzückt.«

Die Umstehenden schmunzelten – während die junge Schwester blutübergossen auf die Beinkleider des Chefs starrte, deren strahlendes Weiß durch einen großen braunen Fleck verunstaltet war.

Mit bebenden Lippen stammelte sie eine Entschuldigung – nur mit Mühe die Tränen der Beschämung unterdrückend.

»Na, nun beruhigen Sie sich, Kindchen – der Schaden läßt sich noch reparieren. Übrigens«, wandte er sich einem der Herren zu: »Das ist Schwester Ulrike, Kollege Wischhusen, unsere junge Lernschwester, die sich schon recht gut eingearbeitet hat. Nicht wahr, Schwester?«

Und als das immer noch bebende Mädchen nur zaghaft nickte, sagte der alte Herr lächelnd: »Aber Schwester – solch ein kleines Malheur kommt doch immer mal vor – das müssen Sie nicht so tragisch nehmen«, und ihr freundlich zunickend, ging er mit den anderen Ärzten auf die nächste Zimmertür zu.

Mit wankenden Knie schritt Ulrike in die Teeküche zurück – entzündete zitternd die Gasflamme, um frischen Kaffee zu kochen, und lehnte, bis das Wasser zu brodeln begann, mit hängenden Schultern am Tisch.

Mein Gott – mußte denn Wischhusen ausgerechnet hier auftauchen?

Wenn sie nur an den Blick dachte, mit dem er sie gemustert hatte, als ihr das Mißgeschick passierte! Hatte nicht eisiger Hohn darin gelegen, als wollte er sagen: Habe ich nicht recht – bist du nicht immer maßlos und unbeherrscht? Oh – es war schrecklich!

*

Regina Fahrenkamp schritt eilig durch das dichte Schneetreiben ihrem kleinen Häuschen zu, dessen hell erleuchtete Fenster ihr freundlich entgegenwinkten.

Heute würde Ulrike dasein – sie hatte ihren freien Nachmittag, und da sie nicht abtelefoniert hatte – sie rief öfter im Büro die Mutter an – ging Regina froher als sonst nach Hause.

Es war nur schade, daß sie immer mehrere Stunden von dem seltenen Zusammensein mit ihrem Kind versäumte, da sie ja ihre Dienststunden einhalten mußte. Allerdings würde Robert froh sein, wenn er seine Tochter ein Weilchen für sich allein hatte. Er neigte ohnehin zu Eifersucht – es war dem Kranken, der viele Stunden am Tage grübelnd in seinem Fahrstuhl saß – nicht entgangen, daß Ulrike ihm nicht mehr wie sonst gegenüberstand – so diese sich auch bemühen mochte, ihn das nicht fühlen zu lassen. Ebenso hatte er bemerkt, daß zwischen Mutter und Tochter jetzt ein viel innigeres Verhältnis bestand als in den letzten Jahren. Wenn er es sich auch nicht eingestehen wollte, so erkannte er doch nur zu klar, daß sein Kind ihn verurteilte – und das war für den einsam gewordenen Mann hart, sehr hart.

Schon oft hatte er im stillen Abrechnung mit sich selbst gehalten – verdammte er seinen grenzenlosen Leichtsinn und empfand sein Leiden als eine nur zu gerechte Strafe dafür. Und was ihn besonders quälte – er mußte in seiner Hilflosigkeit sich die barmherzige Fürsorge der Frau gefallen lassen, über die er in unseliger Verblendung hinweggeschritten war.

Zum ersten Mal in seinem Leben dachte Robert Fahrenkamp über die Empfindungen eines anderen Menschen nach. Wie mußte es Regina zumute sein, wenn sie scheinbar mit der größten Selbstverständlichkeit für einen Mann sorgte, der sie verraten und betrogen hatte – den sie schon lange nicht mehr liebte.

Bittere Reue empfand der hart bestrafte Mann – aber es wäre ihm unmöglich gewesen, das auch zu zeigen. Im Gegenteil! So sehr er die Anwesenheit seiner Frau herbeisehnte – förmlich auf jeden vorübergehenden Schritt zu horchen begann, wenn es Zeit war, daß sie kam – so grillig – ja manchmal sogar ausfallend wurde er, wenn sie da war.

Dabei immer gleichmäßig geduldig und freundlich zu sein, war für Regina wahrlich nicht leicht, während Ulrike, wenn sie solche Szenen miterlebte, nur mühsam ihre Selbstbeherrschung bewahren konnte und die Mutter, die ja täglich mit dem Kranken zusammen war, von Herzen bedauerte.

Aber unablässig wirkte Frau Regina auf ihr Kind ein und suchte Ulrikes Verständnis zu wecken, für das, was in dem Vater vorgehen mochte, und was sie, die reife Frau, mit sicherem Instinkt erfühlte. –

Und genauso wie sonst schwankte die Stimmung in der kleinen Familie hin und her, als man sich heute nach dem Abendessen noch ein Weilchen unterhielt.

Ulrike erzählte den Eltern von ihrer Arbeit im Krankenhaus, und Fahrenkamp erklärte das unwirsch als Mumpitz und Blödsinn, seine Tochter hätte auch etwas Gescheiteres tun können, und täte besser daran, wenn sie ihren kranken Vater pflegen würde, wie es ihre Pflicht und Schuldigkeit sei.

Mit keinem Wort verriet er, daß er im geheimen unendlich froh war, daß seine Tochter einen Beruf erwählt hatte, der sie davor bewahrte, einmal so völlig abzusinken – wie er.

*

Nun war auch schon wieder das Weihnachtsfest vorüber, das neue Jahr stand vor der Tür. Im Krankenhausgarten bogen sich die Zweige der Silbertannen unter der Last des Schnees, den es in diesem Winter schon reichlich gegeben hatte.

Sinnend stand Schwester Ulrike am Fenster des Schreibzimmer und schaute hinaus auf die winterliche Pracht. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust.

Es müßte schön sein, wieder einmal auf den geliebten Brettern lautlos durch einen Winterwald zu gleiten, wunderschön. Ob sie das wohl einmal wieder tun könnte?

Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich um – und sah in das lachende Gesicht Dr. Oberleitners.

»Na, Schwester Ulrike«, fragte der junge Arzt freundlich, »wo ging denn der abgrundtiefe Seufzer hin?«

»Das weiß ich selbst nicht, Herr Doktor«, erwiderte die junge Schwester etwas verlegen. »Man tut manchmal etwas, ohne sich dabei etwas zu denken.«

»Ich werde Ihnen sagen, was Sie gedacht haben, Schwester Ulrike –« Oberleitner war sehr hartnäckig – »Sie haben davon geträumt, wie schön es sein müßte, wenn man jetzt den ganzen Kram hier liegen lassen und mit den Bretteln ins Gebirge gehen könnte. Stimmt's?«

Verwirrt wich das junge Mädchen seinem triumphierenden Blick aus.

»Vor Ihnen muß man sich ja in acht nehmen«, versuchte sie zu scherzen, »an Ihnen ist tatsächlich ein Detektiv verloren gegangen.«

»Na, nun geben Sie es schon zu, Schwester Ulrike – habe ich recht oder nicht?«

In die Enge getrieben sagte Ulrike jetzt ehrlich: »Sie haben recht – ich bin immer sehr gern Ski gelaufen.«

»Und weshalb wollen Sie es nicht mehr tun?«

»Etwa da unten im Garten?« lachte das Mädchen.

»Nein – aber im Urlaub in den Bergen. Sie haben doch jetzt drei Tage Urlaub – die könnten Sie doch dafür ausnutzen. Oder haben Sie keine Ausrüstung mehr?«

»Doch, die ist vorhanden – aber –«

»Was hindert Sie? Nur Wenn und Aber?« forschte Oberleitner.

»Ich wollte meine Eltern nicht allein lassen, sie haben ohnehin wenig von mir.«

»Das wäre immerhin ein Grund, den man anerkennen könnte. Aber – ich glaube, ihre Eltern würden Ihnen von Herzen eine kleine Erholung gönnen, nach dem anstrengenden Dienst hier. Ist's nicht so?«

»Sicher«, gab Ulrike zu, »meine Eltern wären bestimmt nicht dagegen.«

»Na also –«, meinte Oberleitner zufrieden, »was gibt's denn da noch zu seufzen? Sie bleiben bis Silvester bei Ihren Eltern, ich mache es vermutlich gerade so, und dann fahren Sie am Neujahrstag in der Frühe fort.«

»Ich weiß nicht –« Das junge Mädchen war unschlüssig geworden, denn der Plan des Arztes war nicht übel, »ich bin in der ganzen Gegend noch so fremd.«

»Wenn es weiter nichts ist!« der Arzt war Feuer und Flamme. »Zu Neujahr wird ganz München unterwegs sein – da wimmelt es überall von Menschen. Und«, ein leises Rot stieg in das offene Männergesicht, »wenn es Ihnen angenehm wäre – können Sie sich mir anschließen.«

Etwas Ablehnendes trat in das Gesicht des Mädchens – –

Oberleitner erriet sofort den Grund und fügte schnell hinzu:

»Meine Schwester wird mit mir fahren, sie ist doch im Studium und immer vergnügt. Sie würden gewiß Gefallen aneinander finden.«

»Da kann ich wohl nicht mehr gut nein sagen«, gab sich Ulrike geschlagen.

»Davon reden wir ja schon stundenlang, Schwesterchen«, sagte Oberleitner, während seine Augen lustig funkelten.

Er hielt ihr seine Hand hin, und Ulrike schlug lachend ein.

»Na, endlich«, lachte Oberleitner, »war das eine Arbeit! Aber nun ran ans Geschäft – Zeit zur Visite. Alsdann, Ski Heil! Schwester Ulrike.«

Mit diesen Worten eilte er zur Tür hinaus, das heißt, er wollte es, denn er rannte Dr. Wischhusen in die Arme, der ihn lächelnd aufhielt.

Verblüfft schaute Oberleitner auf.

»Na, wissen Sie, mein Bester, ein junges Mädchen im Arm zu haben, wäre mir lieber«, brummte er vergnügt, und Ulrike noch einmal zulachend, ging er mit Wischhusen, der ihn schon gesucht hatte, die Abendvisite machen.

Ulrike blieb noch einen Augenblick versonnen stehen – der Doktor war wirklich ein netter Kerl – immer fröhlich und kameradschaftlich. Sie begann sich schon auf den Ausflug zu freuen – es würde sicher eine hübsche Abwechslung in ihrem täglichen Einerlei sein.

Ein kurzer Gedanke flog zu Wischhusen. Er hatte wahr gemacht, was er sich vorgenommen hatte – nie sprach er ein privates Wort mit ihr. Ein streng dienstlicher Ton herrschte zwischen ihnen. –

*

Es war noch dunkel, als Ulrike Fahrenkamp am Neujahrsmorgen das Elternhaus verließ, wo sie den Silvesterabend mit den Eltern verbracht hatte. Sehr still und bedrückt hatten die drei Menschen Rückschau gehalten auf ein Jahr, das voller Ereignisse und Leid gewesen war.

Erwartungsvoll schritt Ulrike jetzt zur Straßenbahnhaltestelle, die sie zum Holzkirchner Bahnhof bringen sollte, wo sie von Oberleitner und seiner Schwester erwartet wurde.

Schon von weitem winkte ihr der gute Doktor zu, so wie er sie im Schein der Lampen auf dem Bahnhofsvorplatz erkannte. Mit dem ihm eigenen Humor machte er die jungen Damen miteinander bekannt, die auf den ersten Blick herzliche Sympathie füreinander empfanden, als er mit Ulrike das Abteil betrat, in dem Fräulein Oberleitner Plätze reserviert hatte, denn der Zug wurde von den vielen Wintersportlern geradezu gestürmt.

Ein reges, fröhliches Treiben herrschte auf dem Bahnhof und im Zuge.

Mit erwartungsvollen Augen sah Ulrike in das Gewimmel und lachte hell zu den Späßen des Doktors, dessen Schwester ihm an Übermut in nichts nachstand. Von Herzen froh war die junge Schwester, daß sie sich zu diesem Ausflug entschlossen hatte, und beteiligte sich lebhaft an der Unterhaltung, so daß Oberleitner in dem fröhlichen Mädchen kaum die immer etwas stille Schwester Ulrike wiedererkannte.

In Tölz brachten sie zunächst ihre Rucksäcke in den kleinen Gasthof, in dem Oberleitner vorsorglich die Zimmer bestellt hatte. Nachdem sie dann noch einen kleinen Imbiß eingenommen hatten, ging es hinaus in die verschneite Welt.

Auf den ersten Blick erkannte Oberleitner, daß Ulrike, die in ihrem Skidreß, schwarzen Hosen und korallenrotem Anorak, reizend aussah, eine geübte Sportlerin war, der man schon etwas zumuten konnte.

»Einen guten Stil hams, Schwesterchen«, nickte er beifällig – »alsdann, brauchen mer ja net auf den Idiotenhügel zu gehen«, und schlug den Weg zum Blomberg ein, wo eine wunderbare Abfahrt lockte.

Aufatmend, mit freudetrunkenen Augen das herrliche Bild genießend, das sich ihr bot, die wunderschöne Landschaft mit den lustig bunten Sportlern, stand Ulrike oben einen Augenblick still, auf ihre Begleiter wartend.

»Na, Schwester Ulrike. Sie klettern ja, wie eine Katze«, rief Barbara Oberleitner ihr schnaufend und stöhnend entgegen, denn bei ihrer Neigung zur Rundlichkeit fiel ihr das Klettern schwerer als der zierlichen Ulrike –

»Bitte, nennen Sie mich nicht Schwester Ulrike – nicht hier«, bat das junge Mädchen, »es paßt nicht zu meinem Anzug. Sagen sie einfach Ulrike – denn heute will ich nichts als ein ›Skihaserl‹ sein, wie alle anderen.«

»In Ordnung, Ulrike – aber dann bitte auch Barbara«, sagte die junge Studentin vergnügt – und lachte dann dem Bruder entgegen, der erst jetzt oben, ankam.

»Also Toni – ich muß schon sagen – viel zugelernt hast du im vergangenen Sommer nicht«, rief die übermütige Barbara ihm zu.

»Abwarten«, gab Oberleitner pomadig zur Antwort, »Zeit lassen, heißt's in den Bergen, zumal, wenn die Scharniere noch nicht mit einigen Litern Schweiß geölt sind«, meinte er im Hinblick auf die noch etwas steifen Gelenke. »Wollen sehen, wie es morgen ausschaut, meine Damen. So ein kleiner, niedlicher Muskelkater – das wäre doch was, nicht?« Und dabei zwinkerte er vergnügt mit den dunklen Augen.

»Was kümmert uns morgen!« entgegnete Ulrike übermütig. »Heute ist heut!« Und mit einem kleinen, jauchzenden Schrei stieß sie sich ab und schoß in kühner Fahrt den Berg hinunter.

Verdutzt sahen die Geschwister dem zierlichen Persönchen nach – und dann ging es in flotter Fahrt hinterher.

Mit Ausnahme einer nicht sehr langen Mittagspause tummelten sie sich dann den ganzen Tag draußen umher, die Warnungen des Doktors, daß man auch des Guten Zuviel tun könnte, überhörend.

Frisch und angeregt wie lange nicht mehr, saß Ulrike mit den Geschwistern beim Abendessen. All ihr Kummer war vergessen, sie war wieder ganz das übersprudelnde Mädchen von einst – ja, sie stellte es selbst sogar mit heimlicher Freude fest, daß sie noch genauso jung sein konnte wie all die anderen ringsum. Manchmal war sich nämlich die kleine Ulrike schon sehr alt vorgekommen.

»Ich schlage vor, wir wechseln das Lokal und gehen irgendwohin, wo ein bißchen Betrieb ist«, ließ sich der unverwüstliche Doktor vernehmen, »oder sind die kleinen Mädchen müde?«

»Das könnte dir wohl so passen, mein Lieber«, versetzte seine Schwester lachend, »uns ins Bettchen schicken – aus reinster Fürsorge natürlich, und allein auf dunklen Pfaden gehen. Nein – ich muß schon ein bißchen auf dich achtgeben, sonst wirst du übermütig' stimmt's, Ulrike?«

»Na – da habe ich ja was Schönes angerichtet, als ich mir zwei Aufpasser mitgenommen habe!« grinste der junge Arzt und erhob sich mit seinen Damen, um den Tapetenwechsel, wie er es nannte, vorzunehmen.

Sie fanden auch bald ein hübsches Lokal.

»Ganz das, was wir brauchen«, stellte Oberleitner fest und sah sich nach einem Platz um. Auf einen noch freien Tisch in einer Nische steuerte er mit seinen Damen zu, die aber gar nicht zum Sitzen kamen, weil sie ihm sogleich von zwei übermütigen Sportlern zum Tanz entführt wurden. Sehr geistreich sah der gute Doktor nicht aus, als er sich verblüfft niederließ.

Und als die jungen Mädchen zurückkamen, meinte er scheinbar erbost:

»Nun möchte ich bloß wissen, wer auf wen aufpassen muß, meine Damen?« mußte es sich aber gefallen lassen, daß man ihn herzhaft auslachte.

Ziemlich erhitzt, denn sie hatte schon mehrere Male getanzt, wollte Ulrike sich etwas auffrischen und verließ deshalb das Gastzimmer.

In der nicht sehr breiten Tür mußte sie einer Kellnerin ausweichen und stieß deshalb unvermutet mit einem Herrn zusammen. Aufschauend prallte sie sofort zurück – denn das war ja ...

»Allmächtiger!« stöhnte sie. »Das ist doch die Höhe!«

»Was regt Sie denn so auf – Schwester Ulrike?« fragte eine tiefe Stimme, und Wischhusen schaute amüsiert in das entgeisterte Gesichtchen.

»Das können Sie auch noch fragen?« entrüstete sich Ulrike. »Müssen Sie denn überall da aufkreuzen, wo ich bin? Können Sie mir überhaupt nur noch jedes Vergnügen stören?«

»Das liegt durchaus nicht in meiner Absicht – schließlich leide ich ja genauso unter diesen unglücklichen Zufällen wie Sie«, erwiderte der Mann mit undurchdringlichem Gesicht.

Unsicher sah ihn Ulrike an. War das nun ein spöttisches oder ein vergnügtes Lächeln, das in seinen Mundwinkeln zuckte? Man konnte das nicht so genau erkennen.

»Ja, Fräulein Fahrenkamp, fügen wir uns mit Würde in das Unvermeidliche«, unterbrach Wischhusen ihren Gedankengang.

Ein wahres Gaunerlächeln ging über das reizende Mädchengesicht nach diesen Worten.

»Sie sagten doch eben: Fräulein Fahrenkamp, nicht wahr, Herr Doktor?« fragte sie listig. »Das war sehr nett.« Und als er sie erstaunt anblickte, lachte sie ihn freundlich an und – huschte an ihm vorbei.

Wischhusen sah sich nach einem freien Platz um, denn er erwartete noch Gesellschaft, zwei Damen und einen Herrn.

Während seine Blicke noch suchend umherschweiften, fühlte er einen kräftigen Schlag auf seiner Schulter und sah in das lachende Gesicht seines Kollegen Oberleitner.

»Mensch, Wischhusen, wo kommen Sie denn her?« fragte dieser vergnügt.

»Die Welt ist eben ein Dorf, mein Lieber«, entgegnete der Gefragte, in dem beim Anblick Oberleitners ein Gedanke aufgestiegen war, der alle aufkeimende Freude zum Erlöschen brachte.

»Suchen Sie Platz? Dann würde ich mich freuen, wenn Sie uns Gesellschaft leisten würden – ich sitze dort hinten.« Oberleitner wies auf den einzigen Tisch, an dem noch mehrere Plätze frei waren. »Mit meiner Schwester und – na, Sie werden staunen, Wischhusen.«

»Das habe ich bereits getan«, sagte Wischhusen trocken und fügte überlegend hinzu: »Ich weiß nicht, ob es sich einrichten läßt. Ich erwarte noch Bekannte.«

»Uns werden Ihre Bekannten sicher nicht stören, lieber Freund, und wenn sie obendrein noch gute Laune mitbringen, dann sollen sie uns sehr willkommen sein.«

»Dafür glaube ich mich verbürgen zu können«, erklärte Wischhusen und folgte seinem Kollegen an dessen Tisch, wo ihn Oberleitner mit seiner Schwester bekannt machte.

Wenig später erschien auch Ulrike wieder, die ein strahlendes Lächeln zur Schau trug. Allerdings war dieses Lächeln nicht mehr so ungezwungen wie zuvor, denn ihre ganze Freude war beim Anblick Wischhusens dahin. Auch die ihm gegenüber gezeigte Heiterkeit kam ihr nicht aus dem Herzen, sondern war nur ein Versuch, ihre wahren, reichlich unklaren Empfindungen diesem Mann gegenüber zu tarnen und außerdem ein Schutzwall, hinter dem sie sich versteckte.

Kaum hatte sie wieder Platz genommen, als Wischhusen, welcher so saß, daß er den Eingang sehen konnte, aufsprang und zwei Damen und einem Herrn entgegeneilte, bei deren Anblick Ulrike nun wirklich noch mehr als kurz zuvor überrascht war und mit einem leisen Ausruf auffuhr.

Niemand anders als Helga mit ihrem Bruder und Olly Paulus kamen mit Wischhusen näher. Und da hatte Helga auch schon die Freundin entdeckt und eilte mit ausgestreckten Armen auf diese zu.

»Ulli, Mädchen, bist du es denn wirklich?« fragte sie freudig erregt, der Angesprochenen kräftig beide Hände schüttelnd.

»Mein Gott, das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich dich hier treffen würde!« gab Helga immer wieder ihrer freudigen Überraschung Ausdruck. »Man hörte ja gar nichts mehr von dir, du Treulose!«

Und nun ging es ans Erzählen, wobei besonders die jungen Mädchen Erstaunliches leisteten, wenn auch Ulrike, eingedenk ihrer veränderten Verhältnisse, eine gewisse Zurückhaltung übte.

Gleich am Beginn gab es noch eine Überraschung. Olly Paulus und Peter Naumann stellten sich Ulrike als Brautpaar vor. Na – es hatte schon in Norderney angefangen, und nun wollte man bald heiraten, erklärten die beiden glücklich.

Nun endlich erfuhr Dr. Wischhusen auch an diesem Abend, daß Ulrikes Eltern nach München übersiedelt waren, weil die Mutter hier eine Stellung angenommen hatte – und daß der Vater gelähmt war.

Fast erschrocken schaute er das junge Mädchen an – jetzt wurde ihm vieles – alles klar. Arme Ulrike, dachte er, dich hat das Schicksal hart angepackt!

Und wieder war es, als könne das junge Geschöpf ihm gegenüber seine Gedanken erraten. Aber dieses Mal blickten die blauen Augen ernst und trotzig in die des Mannes. Ulrike lenkte das Gespräch sofort in andere Bahnen und verlangte energisch zu tanzen.

Auf ihren Wunsch hin erhob sich Oberleitner sofort und bat sie um einen Tanz, da die Musik gerade wieder zu spielen begann.

Eine Polka mit Skistiefeln zu tanzen, war gewiß nicht leicht, und es gab einige Paare, die das doch für zu anstrengend erklärten und aufhörten.

Aber der junge Arzt und seine Tänzerin ließen sich nicht beirren, sie tanzten, bis der letzte Ton verklungen war. Dann gingen sie Arm in Arm wieder an ihren Tisch zurück.

»Also, meine Herrschaften«, sagte Oberleitner, als er mit Ulrike wieder Platz genommen hatte, »das muß ich sagen – unsere Schwester Ulrike ist das wunderbarste Wesen, das mir je begegnet ist. Trotz der Skistiefel tanzt sie wie eine Schneeflocke so leicht – sie läuft Ski wie eine junge Göttin – und pflegt ihre Kranken wie ein Engel!« rief er lachend, die so über die Maßen Gelobte neckend anblickend. Wie ein großer Junge war er in seiner fröhlichen Laune.

»Mit einem Wort also – ein himmlisches Wesen!« setzte Peter Naumann die harmlose Neckerei fort.

Ulrike stimmte in das Lachen ein. Das Wortspiel Oberleitners machte ihr Spaß. Aber dann meinte sie tiefernst, als sinne sie über ein schwieriges Problem nach:

»Ich weiß nicht, meine Herrschaften – ich bin nicht so ganz davon überzeugt, daß ich mich den Himmelsbewohnern zuzählen darf.« Ein schneller Blick ging zu Wischhusen, der mit undurchdringlichem Gesicht dasaß, als ahne er, was nun komme.

»Vor einiger Zeit meinte jemand, ich hätte große Ähnlichkeit mit Teufels Großmutter – und nun weiß ich wirklich nicht, gehöre ich nun nach oben oder nach unten?«

Helles Gelächter brach nach diesen Worten aus – die Laune der jungen Menschen stieg um ein beträchtliches, und Witzworte flogen hin und her.

Wischhusen beteiligte sich nicht an der allgemeinen Neckerei; er stand auf – und ehe Ulrike ahnte, was er vorhatte, stand er auch schon vor ihr und bat sie um den Tanz, der gerade begann.

Da sie nicht gut nein sagen konnte, erhob sie sich und folgte ihm. Sowie sie außer Hörweite waren, fragte sie fast zornig:

»Mußte das sein, Herr Dr. Wischhusen?«

Mit unbewegtem Gesicht legte er den Arm um die zierliche Taille und tanzte mit dem grazilen Persönchen davon.

»Das mußte sein«, sagte er nachdrücklich, »damit ich Ihnen endlich einmal sagen kann, daß ich es nicht fair finde, wenn Sie immer wieder auf die alte Geschichte zurückkommen. Wie lange gedenken Sie dieses Spiel noch fortzusetzen?« fragte er in herrischem Ton.

»Solange es mir Spaß macht!« war die trotzige Antwort.

»Nun, dann will ich Ihnen die Freude nicht rauben«, stieß Wischhusen grimmig hervor.

Schweigend hatte er die junge Dame an ihren Tisch zurückgeleitet. Er wünschte nur, daß dieser Abend bald zu Ende sein würde, aber leider hatte es nicht den Anschein.

Ulrike hingegen begann sich mit forcierter Lustigkeit an der Unterhaltung zu beteiligen. Unwillkürlich wurde sie zum Mittelpunkt der kleinen Gesellschaft, riß alle mit ihrem überschäumenden Temperament mit sich fort. Besonders der gute Oberleitner zeigte immer deutlicher, wie sehr ihm seine junge Arbeitskameradin gefiel, was die Laune Wischhusens auch nicht gerade verbesserte.

Als sich die kleine Gesellschaft später trennte, nachdem man sich für den nächsten Tag verabredet hatte, da waren zwei Menschen von ganzem Herzen froh, daß sie endlich in ihrem Zimmer und mit sich allein sein konnten.

*

Oberleitner hatte richtig prophezeit, die jungen Damen hatten einen ganz ausgewachsenen Muskelkater am anderen Tag, wenn sie sich auch bemühten, das zu verbergen und am Vormittag tapfer mit den anderen eine ausgedehnte Skitour machten.

Für den Nachmittag wußte Helga Naumann einen besseren Vorschlag zu machen: eine Schlittenfahrt zur Wildfütterung in den Isarwinkel bei Fall.

Dafür waren Ulrike und Barbara auch gleich Feuer und Flamme – da konnten sie doch ihre schmerzenden Glieder ausruhen und hatten außerdem sicher noch ein Vergnügen ganz besonderer Art.

In drei Schlitten verteilt, startete dann die kleine Gesellschaft gleich nach dem Mittagessen.

Es erschien allen scheinbar selbstverständlich, daß Ulrike und Oberleitner in einem Schlitten fuhren, ebenso überließ man dem Brautpaar großmütig das Glück holder Zweisamkeit, so daß Wischhusen mit Helga Naumann und der Schwester seines Kollegen fuhr. Zwar etwas eng, wie Helga feststellte, aber dafür desto wärmer.

Und dann ging es hinein in den weißen Märchenwald, der so feierlich schön war, daß alles Laute, jedes Lachen verstummte. Selbst der lebhafte Oberleitner ließ sich in den Zauber dieser Fahrt einspinnen.

Eine ungewöhnliche Weichheit erfaßte den jungen Arzt – und was er bisher nur unklar empfunden hatte, das wurde ihm in dieser Stunde bewußt – daß er die kleine Schwester Ulrike liebte und sich nichts Schöneres denken konnte, als für das ganze Leben mit ihr verbunden zu sein.

Mit sehnsüchtigem, zärtlichem Blick schaute er auf das liebliche Mädchengesicht.

Und als spürte Ulrike diesen Blick, wandte sie ihm ihr Gesicht voll zu, blickte aber verwirrt sofort wieder geradeaus, denn was sie in seinen Augen gelesen hatte, erfüllte sie nur mit Angst.

Sie wußte, was dieser Blick bedeutete, und wußte aber auch, daß die Sehnsucht Oberleitners sich nie erfüllen würde. Eine tiefe Trauer erfaßte sie. Weshalb mußte sie ausgerechnet diesem prachtvollen, ehrlichen Menschen weh tun? Gerade ihm, von dem sie bisher nur Gutes erfahren hatte?

Alles Strahlen, alle Freude erlosch in dem zarten Gesicht und machte einer müden Traurigkeit Platz, die Oberleitner nicht entging.

»Was ist Ihnen, Schwester Ulrike?« fragte er weich, nach ihrer Hand greifend. »Sie sehen mit einemmal so müde aus.«

»Das macht wohl die ungewohnte frische Luft«, suchte sie ihr Aussehen zu erklären.

»Das wird es sein, Schwesterchen«, erwiderte Oberleitner herzlich und fühlte mit Bedauern, daß sich die kleine Hand aus der seinen löste.

In tiefem Schweigen wurde die Fahrt fortgesetzt, aber in beiden war nicht mehr die stille Heiterkeit wie zuvor.

Dann wurde es Zeit, an den Heimweg zu denken, denn Ulrike sowie die beiden Ärzte mußten noch am Abend in München sein, da sie am anderen Tag wieder Dienst hatten.

Dämmerung senkte sich herab, in ein kaltes Blau verwandelte sich das weiße Glitzern. Seltsam unwirklich sahen die tiefverschneiten Tannen aus, als wären es verzauberte Gestalten – grotesk, leise Furcht einflößend. –

Für die Rückfahrt nach München bot Wischhusen seinen Wagen an, in dem die vier ausreichend Platz fanden.

Es wurde wenig gesprochen auf dieser Fahrt. Die beiden jungen Damen hatten sich etwas schläfrig in die Rücksitze geschmiegt, und die Herren achteten beide auf die vereiste Straße, auf der zu fahren nicht ungefährlich war, auch für einen so guten Fahrer wie Wischhusen nicht.

Bis in den kleinen Vorort, wo die Siedlung lag, in der die Familie Fahrenkamp ein Heim gefunden hatte, fuhr Wischhusen, trotz des lebhaften Protestes, den Ulrike erhob. Aber schließlich mußte sie sich fügen und die Adresse nennen, sollte ihr Sträuben nicht unnötig auffallen.

Aber Ulrike mußte noch einmal heim, da sie sich umziehen mußte.

Wischhusen und Oberleitner hatten, ohne die junge Kameradin lange zu fragen, beschlossen, vor dem Haus zu warten, bis sie sich umgekleidet hatte. Es blieb dem jungen Mädchen gar nichts weiter übrig, als sich diesem Beschluß zu fügen.

Als der Wagen vor Ulrikes elterlichem Heim hielt, stieg Wischhusen, hinter dem das junge Mädchen gesessen hatte, schnell aus, um ihr beim Aussteigen sowie beim Tragen ihres Gepäcks behilflich zu sein.

Ein schneller Blick des Mannes streifte das Winzige, bescheidene Häuschen dieser Arbeitersiedlung, und etwas wie Mitleid huschte kurz über das Männergesicht. Unwillkürlich mußte er daran denken, daß die einstige Herrenreiterin früher gewiß in einem anderen Haus gewohnt haben mochte.

In erstaunlich kurzer Zeit war Ulrike zurück, und dann ging es in schneller Fahrt in die Stadt, um auch noch Fräulein Barbara abzusetzen, bis dann zum Schluß die drei Arbeitskollegen im Krankenhaus landeten, wo jeder schnell sein Zimmer aufsuchte. –

Mißmutig saß Ulrike Fahrenkamp noch einen Augenblick, bereits im Nachthemd, auf ihrem Bett. Das Licht hatte sie ausgeschaltet, um ihre Zimmernachbarin, die bereits fest schlief, nicht zu stören.

Die beiden Tage, von denen sie sich erhofft hatte, daß sie wieder einmal froh und unbekümmert in netter Gesellschaft sich dem geliebten Skisport hingeben könnte, hatten nicht gehalten, was sie versprachen. Fast wünschte sie, nicht gefahren zu sein. Denn einmal war ihre alte Feindschaft mit Wischhusen wieder hell aufgelodert, und zum anderen hatte sie eine Feststellung machen müssen, die sie ehrlich betrübte. Es war leider nur zu sicher, daß Oberleitners Gefühle für sie nicht nur kameradschaftlicher Art waren. Und da sie diese nicht zu erwidern vermochte, würde es sehr schwierig sein, die alte, schöne Unbefangenheit weiterhin, als ahne sie nichts von seinen Empfindungen, zur Schau zu tragen.

Sie hätte nicht zu sagen vermocht, was ihr unangenehmer war, das, gelinde gesagt, gespannte Verhältnis zwischen Wischhusen und ihr – oder die Verliebtheit Oberleitners.

In der nächsten Zeit gab es, wie immer nach Feiertagen, unglaublich viel zu tun. man kam gar nicht zur Besinnung.

So vergingen wieder ein paar Wochen in strenger, aber gern erfüllter Pflicht. Die junge Schwester wich, wo sie konnte, ohne daß es ihm direkt auffiel, Dr. Oberleitner aus. Zwischen Wischhusen und ihr herrschte wieder wie zuvor ein streng dienstliches Verhältnis.

Sie war inzwischen auch einmal bei den Eltern gewesen. Der Vater war etwas friedlicher als sonst – auch die Mutter sagte, daß er in letzter Zeit auffallend ruhig gewesen sei. Das erleichterte Ulrike ungemein.

Die junge Schwester verteilte gerade mit prüfenden Blicken die Mittagsportionen, als die Oberschwester etwas ärgerlich zu ihr kam und ihr das Messer, mit dem Ulrike das Fleisch in Scheiben schnitt, aus der Hand nahm.

»Sie werden am Telefon verlangt, Schwester Ulrike. Ich möchte Sie aber bitten, daß Sie dafür sorgen, daß man Sie nicht mitten in der wichtigsten Arbeitszeit mit Privatgesprächen behelligt.«

Dieser Tadel war der jungen Schwester sehr unangenehm, sie wußte, daß die Oberschwester Privatgespräche nicht gern sah.

Sie war in das Schreibzimmer geeilt und ergriff den Hörer, um sich zu melden. Aber – das junge Gesicht wurde fast so weiß wie die Haube auf dem blonden Haar. Schwester Ulrike griff unwillkürlich haltsuchend an die Tischkante.

Es war die Mutter, die dort am anderen Ende der Leitung sprach – die Mutter, um ihr zu sagen – daß Vater tot sei.

Das junge Mädchen hatte den Hörer aufgelegt, nachdem es der Mutter versprochen hatte, sofort Urlaub zu nehmen und zu kommen.

Aber noch immer stand die junge Schwester in einem Zustand völliger Entrücktheit da – unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Eine unwillige Stimme ließ sie zusammenfahren.

»Das ist doch unerhört, Schwester Ulrike, können Sie sich nicht kürzer fassen?« hörte sie die Oberschwester schon von weitem räsonieren, und jetzt stand sie schon gefolgt von Wischhusen, vor Ulrike und rief, mit einem Blick in das farblose, umflorte Gesicht erschrocken:

»Ja, um des Himmels willen – Schwester, wie sehen Sie denn aus?«

»Mein Vater ist gestorben«, erwiderte Ulrike tonlos.

»Ach, Sie armes Kindchen – wie leid tut mir das«, sprach die Oberschwester herzlich und schlang in echt mütterlicher Güte, die sie nur immer hinter einem etwas rauhen Wesen versteckte, ihre Arme um das verstörte Mädchen, mit guten Worten und lindem Streicheln die junge Seele aus ihrer Erstarrung lösend.

Stumm stand Wischhusen dabei – fand nicht ein armseliges Wort für das erschütterte Mädchen, dem er in diesem Augenblick wieder alle Kränkungen verzieh – und dem er am liebsten tatkräftig geholfen hätte, bei allem, was nun den beiden Frauen, Mutter und Tochter, bevorstand. Aber er hatte ja kein Recht dazu.

Die Stimme der Oberschwester riß ihn aus seiner dumpfen Versunkenheit.

»Ja, Kindchen«, erklärte die resolute Frau, »Sie werden nun wohl den Wunsch haben, möglichst schnell nach Hause zu fahren, denn Ihre Frau Mutter wird Sie schon erwarten, nicht wahr?«

Ulrike nickte stumm.

»Ich werde Schwester Ulrike mit meinem Wagen nach Hause fahren«, ließ sich Wischhusen vernehmen. »Mit der Straßenbahn würde es sehr lange dauern. Außerdem ist sie jetzt um diese Zeit so überfüllt.«

»Das wäre nett von Ihnen, Herr Doktor«, sagte die Oberschwester.

Wischhusen sah, daß Schwester Ulrike eine Bewegung machte, als wolle sie protestieren. Aber er sagte nur ruhig mit einem tiefernsten Blick, ehe er sich zum Gehen wandte:

»Ich werde am Schwesternhaus auf Sie warten, Schwester Ulrike.«

Wenig später saß Ulrike neben Wischhusen im Wagen, der in flotter Fahrt durch die verkehrsreichen Straßen glitt. Kein Wort wurde zwischen den beiden Menschen gewechselt.

Der Wagen hielt, man war schon da.

»Ich danke Ihnen, Herr Dr. Wischhusen«, sagte Schwester Ulrike leise, während sie ihre Augen zu ihm voll aufschlug, in denen auch ein stummer Dank stand.

Zögernd hielt sie ihm die schmale Hand hin, die er mit einem heftigen Druck ergriff.

»Ich wollte, ich könnte Ihnen helfen, Ulrike Fahrenkamp«, stieß er mit rauher Stimme hervor.

»Das kann niemand, Herr Doktor, durch so etwas muß jeder Mensch allein hindurch.«

»Leider ist das nur allzu wahr, Schwester Ulrike«, entgegnete Wischhusen mit einem Ernst, der etwas Schmerzliches hatte. Aber dann raffte er sich auf, und ihre Hand noch einmal kräftig pressend, sagte er weich:

»Nun gehen Sie, Ulrike Fahrenkamp, gehen Sie – und seien Sie so stark und tapfer – wie sonst.«

Ein kurzer Dank noch, dann ging die zierliche Gestalt mit müden Schritten durch das kleine Vorgärtchen ins Haus, dessen Tür heute nicht verschlossen war.

Tapfer und stark hatte er sie genannt.

Und als gäben ihr seine Worte, in denen eine unerwartete Anerkennung lag, Kraft, die Furcht vor dem Kommenden zu überwinden, stieß das junge Mädchen, jetzt mit einem kurzen Ruck die Tür auf, die zu dem kleinen Wohnzimmer führte, wo sie den Vater finden würde.

*

Und nun war alles vorüber. Seit zwei Stunden deckte die kalte Erde den irdischen Leib Robert Fahrenkamps, des Mannes, der das pulsierende Leben so heiß und glühend geliebt hatte, daß er an seiner übergroßen Lebensfreude gestorben war. Sicher hätte der kaum Fünfzigjährige noch gelebt, wenn er maßvoll im Genießen gewesen wäre.

Still saßen Mutter und Tochter mit dem alten, getreuen Merkel um den Kaffeetisch, denn auf dem Friedhof war es bitter kalt gewesen an diesem letzten Januartag. Da tat ein starker Kaffee gut.

Frau Regina war völlig überrascht gewesen, als der alte Freund plötzlich vor ihr stand. Aber dann stieg eine große Freude in ihr auf, zu wissen, daß ein Mensch gekommen war, bereit, ihr das Schwere tragen zu helfen.

Unendlich wohl tat ihr die Fürsorge des alten Herrn, der ihr sofort alles abgenommen hatte, was durch den Todesfall an sie herantrat.

Mit guten Augen sah Merkel die tiefbetrübte Frau an – er verstand, was in ihr vorging.

»Gönnen Sie ihm die Ruhe – Frau Regina. Glauben Sie mir, ihm ist jetzt wohl. Und bedenken Sie – er hat am Schluß seines Lebens noch eine große Freude gehabt. Ist in dem Bewußtsein gestorben, daß er doch noch etwas gutmachen konnte.«

Ja – es war eine große Freude gewesen, die Robert Fahrenkamp getötet hatte, weil sie sein schwaches Herz nicht mehr zu ertragen vermochte.

Man hatte ihn gefunden, mit einem Brief Merkels in der Hand – ein unendlich friedliches Lächeln auf den Lippen.

Merkel hatte ihm geschrieben, daß in dem Prozeß, den Eugen Keidel gegen die Feuerversicherung geführt hatte, dieser nunmehr endgültig als Sieger hervorgegangen war. Das bedeutete, daß Fahrenkamp achtzigtausend Mark, das war die Summe, welche die Versicherung zahlen mußte, erhalten würde.

Der Kranke war in all den vielen einsamen Stunden auf die Idee gekommen, zu versuchen, ob nicht doch noch etwas von seinem verlorenen Vermögen zu retten sei. Es bedrückte ihn namenlos, daß er durch seinen Leichtsinn seine Frau und Tochter in eine schwierige finanzielle Lage gebracht hatte.

Und um die ihn ungemein bedrückende Situation etwas zu mildern, hatte Fahrenkamp an Merkel geschrieben. An Merkel, auf den er oft einen unbezähmbaren Groll gehabt hatte, von dessen Hilfsbereitschaft er aber trotzdem überzeugt war. Und er hatte sich nicht getäuscht. Merkel war von dem ersten Brief Fahrenkamps derart erschüttert gewesen, daß er sofort bereit war, alles zu tun, um ihm zu helfen.

Dem alten Mann waren die Tränen über die runzligen Wangen gelaufen, als er den mit Schreibmaschine mühselig geschriebenen Brief gelesen hatte.

In den Briefen an Merkel, Regina hatte keine Ahnung von der Korrespondenz zwischen den beiden Männern, da Fahrenkamp den alten Herrn um Stillschweigen gebeten hatte, sprach der Kranke auch offen über das, was ihn so peinigte. Nicht jammernd und greinend beklagte er sein durch ihn selbst verpfuschtes Leben, sondern in der aufrechten Haltung eines Mannes, der weiß, daß er gefehlt hatte und nun die gerechte Strafe für seine Schuld auf sich nahm.

Diese Wandlung hatte Merkel zutiefst erschüttert und alle Kräfte in ihm noch einmal mobilisiert. Keine Mühe hatte der Siebzigjährige gescheut, um dem Kranken zu helfen, bis er ihm endlich den Erfolg melden konnte, den Erfolg, der das Leben des Unglücklichen zum Erlöschen brachte.

»Die Art wie er gestorben ist, nachdem er noch alles, was in seinen Kräften stand, getan hat, um gutzumachen und uns in sorgloseren Verhältnissen zurückzulassen, ist für ihn sicher versöhnlich gewesen – für uns, Ulrike und mich, ist es aber nur ein schwacher Trost. Denn wir können nicht mehr gutmachen, was wir versäumten. Zwar haben wir ihn gepflegt und alles, was ihm sein schweres Los erleichtern konnte, getan. Aber die rechte Liebe war doch nicht dabei ...«

Von Tränen übermannt, konnte Frau Regina nicht weitersprechen. Sie dachte an den Brief, den ihr Robert Fahrenkamp hinterlassen hatte. Man fand ihn in seiner Brieftasche, die er nie aus der Hand gab. Er schrieb:

Meine geliebte Regina!

Ja, Regina – heute kann ich wieder sagen wie damals, als wir beide noch jung und glücklich waren, meine geliebte Regina!

Lange bin ich gleichgültig über Dich hinweggegangen – nachdem ich erkennen mußte, daß wir einander völlig wesensfremd waren, daß Du niemals ein Leben nach meinen Wünschen mit mir führen würdest. Damals war ich Dir deshalb böse, heute sage ich: Gott sei Dank! Was wäre wohl aus uns geworden, wenn Du nicht so tapfer gekämpft hättest?

Ich bin allein – kann nichts tun, und da kommen jetzt oft Gedanken, die ich früher nicht gehabt hätte. In einem grausam hellen Licht sehe ich den Ablauf meines Lebens vor mir und weiß, was ich falsch gemacht habe, was ich versäumte. Aber es ist zu spät – man kann nichts mehr ändern.

Wenn Du diesen Brief lesen wirst, werde ich nicht mehr am Leben sein. Gönne mir die Ruhe und beklage mich nicht, das Leben konnte mir nichts mehr geben. Ich habe es genossen bis zur Neige, auf eine Art, die, so verdammenswert sie auch sein mochte, meinem innersten Wesen entsprach. Wenn ich nun dafür habe leiden müssen – nun, jeder Mensch muß einmal dem Schicksal seinen Tribut zollen – bei mir hat es lange gewartet – es war also an der Zeit. Es gibt viel mehr schuldlose Menschen, denen das ganze Leben nichts als Leid bringt.

Auch Du gehörst dazu – denn glücklich bist Du an meiner Seite nicht gewesen, ich habe Dich betrogen um Deinen Anspruch auf ein volles Frauenglück, das keine andere mehr verdient hätte als Du. Wenn ich auch genau weiß, daß ich, könnte ich noch einmal neu anfangen, wieder so handeln würde, wie ich es getan habe – denn das Leben war doch schön – dann bereue ich nur das eine: Nämlich daß ich die Kette, die Dich an mich schmiedete, nicht zerriß, damit sich Dir ein Weg zu einem Glück an der Seite irgendeines anderen Mannes öffnete. Ich weiß nicht, ob sich Dir jetzt, nachdem auch Du die Höhe des Lebens überschritten hast, noch ein Glück bieten wird. Aber Du bist noch immer eine schöne Frau, Regina – und deshalb rate ich Dir aus ehrlichem Herzen: Greif zu, wenn Du glaubst, das Rechte gefunden zu haben! Ich würde ruhiger schlafen können, wenn ich Dich in der Obhut eines guten Mannes aufgehoben wüßte. Ja, Regina – heute kann ich sogar selbstlos sein, kann Dir ein Glück an der Seite eines anderen wünschen, obgleich in mir die alte Liebe zu Dir wieder erwacht ist. Aber es ist nichts Erdhaftes, kein Begehren in meiner Liebe, sondern eher jene andächtige Verehrung, die man einem Heiligtum entgegenbringt.

Um etwas möchte ich Dich noch bitten, Regina: Achte darauf, daß Ulrike davor bewahrt bleibt, das gleiche Schicksal zu erleiden wie Du. Erzähle ihr von unserem Leben, schone mich nicht – wenn Du ihr dadurch helfen kannst.

Und nun, meine geliebte Regina, laß uns Abschied voneinander nehmen, denn ich glaube, daß ich einmal keine Zeit dazu haben werde.

Habe Dank für Deine Liebe und Güte – und versuche, mir zu vergeben, was ich Dir angetan habe.

Ich küsse Dich und unser Kind zum letztenmal Dein Robert

Dieser Brief hatte Regina bis ins Innerste aufgewühlt. Der offene, herzliche Ton, in dem Robert Fahrenkamp noch einmal zu ihr sprach, rührte an ihr Herz. Der einsame Kranke suchte in seinem Bekenntnis nichts zu beschönigen, sondern hatte klar und deutlich erkannt, wo seine Schuld lag. Sein Leben hatte unter einem Verhängnis gestanden, das abzuwehren er zu schwach war; er trug irgendein unseliges Erbe mit sich herum, das seinen Charakter geformt hatte.

Merkel unterbrach den Gedankengang Frau Reginas, im Bemühen, sie von ihren Grübeleien abzulenken und sie auf die Zukunft hinzuweisen, die durch Robert Fahrenkamp nun doch sorgloser sein würde, als es bisher schien.

»Was gedenken Sie künftig zu tun, liebe Frau Regina? Sie sind doch jetzt wieder eine immerhin wohlhabende Frau.«

»Darüber habe ich wirklich noch nicht nachgedacht, lieber Freund. Ich glaube, daß ich meine Arbeit nicht aufgeben werde, sie wird mir im Gegenteil guttun«, erwiderte sie nachdenklich.

»Und unsere Ulrike?« fragte der alte Herr das junge Mädchen, das in tiefe Gedanken versunken dasaß. »Wollen Sie weiterhin den schweren Beruf einer Krankenschwester ausüben? Es stehen Ihnen jetzt ja Mittel zur Verfügung, um sich auch für einen anderen Beruf ausbilden zu lassen, eventuell zu studieren.«

»Auf keinen Fall!« wehrte das junge Mädchen beinahe entsetzt ab. »Ich fühle mich so wohl und zufrieden in meinem Beruf, daß ich um keinen Preis eine Veränderung wünsche.«

Wohlgefällig betrachtete der alte Herr das junge Gesicht – ihm gefiel es außerordentlich, daß sich Ulrike Fahrenkamp so prächtig entwickelt hatte und ein zielstrebiger junger Mensch geworden war, den man unbedingt achten mußte.

Am nächsten Tag reiste der alte Herr wieder ab. Seine guten, alten Augen glänzten vor innerer Rührung – schien er doch zu ahnen, daß es ein Abschied fürs Leben war.

*

Ulrike Fahrenkamp hatte nach einer Woche ihre Tätigkeit wieder aufgenommen. Sie war zwar sehr blaß und stiller als sonst im Umgang mit den Ärzten und Schwestern, aber ihre Kranken merkten nichts davon. Da zeigte sie ein fröhliches, hoffnungsfrohes Gesicht, auch wenn es nicht immer leicht war. Ohne es zu wissen, errang sie sich aber dadurch in noch größerem Maße die Achtung ihrer Mitarbeiter, vom Chefarzt angefangen bis zur einfachsten Helferin.

Oberleitner war ehrlich betrübt gewesen, als er von dem Todesfall hörte und versuchte, dem Mädchen, dem sein ganzes, ehrliches Herz gehörte, das Leben nach Kräften zu erleichtern.

Wischhusen zeigte eine ernste Freundlichkeit und sprach jetzt öfter einmal mit der jungen Schwester, was er früher soviel als möglich vermieden hatte. Selbstverständlich waren es nur dienstliche Dinge, über die sie sprachen, aber Ulrike spürte den Wunsch des Mannes, eine Art Burgfrieden zwischen sich und ihr herzustellen und ging dankbar darauf ein.

Für Frau Regina war das Leben jetzt auch nicht leicht. Die Einsamkeit, die Abende allein in dem kleinen Häuschen, lasteten schwerer auf ihr, als sie sich eingestehen mochte.

An Andreas Eggebrecht hatte sie seit dem Tode ihres Mannes noch nicht wieder geschrieben, obgleich seitdem bereits zwei Monate vergangen waren.

Es war eine große Scheu in ihr – ja eine gewisse Angst sogar, ihm zu schreiben: Mein Mann ist tot! Sie konnte es einfach nicht – zu groß war die Furcht in ihr, damit etwas einzugestehen, an das sie nie – nie gedacht hatte.

Aber nun ließ es sich kaum länger hinauszögern. Zwei Briefe Andreas' hatte sie unbeantwortet gelassen, aber jetzt hatte er ihr kurz und bündig geschrieben, daß er durch ihr Schweigen derart beunruhigt sei, daß er, wenn sie auch diesen, den dritten Brief, nicht erwiderte, kommen würde, um zu sehen, was los sei.

Auf ihren Brief hin, in dem sie Eggebrecht einiges von dem, was sie jetzt noch besonders bedrückte, ahnen ließ, war ein zwar nur kurzer Brief von ihm gekommen, der aber bewies, welch feines, zartes Verständnis dieser Mann Regina entgegenbrachte. Ja, fast zog es wie der Abglanz eines Friedens in das betrübte Herz der Frau – eines Friedens, um den sie bisher vergeblich gerungen hatte.

*

Zu Ostern bekam Wischhusen acht Tage Urlaub, den er zu einer Fahrt nach Hause, das bedeutete für ihn Onkel Andreas, benutzte.

Mit unbeschreiblicher Freude klopfte Eggebrecht seinem Neffen bei dessen Ankunft auf die Schulter – er hatte den einsamen Winter nur schwer ertragen. Nur seine Arbeit am Tage, das Buch, an dem er abends schrieb, und die wenigen Briefe Reginas hatten ihm das Leben überhaupt erträglich gemacht.

Fast erschüttert von dem Strahl unendlicher Liebe, der aus den Augen des Onkels zu ihm drang, empfand Wischhusen eine leise Beschämung, daß er diesen gütigen Mann allein gelassen hatte.

Am nächsten Tag drängte es Wischhusen nach seinem Pferd, dem braven Doktor Faustus, zu schauen. Er sehnte sich förmlich nach einem frischfröhlichen Ritt in der wundervoll klaren Frühjahrsluft.

Beschwingt eilte er dem Reitstall zu, in dem die Pferde der Klubmitglieder, die keine eigenen Ställe hatten, untergebracht waren.

Der Doktor, wie Wischhusen sein Pferd kurz nannte, wieherte freudig auf. als es seinen Herrn erkannte, und rieb zärtlich seinen Kopf an der Schulter des Mannes, der ihm jetzt einige Stücke Zucker hinhielt.

Wohlig sog Wischhusen den langentbehrten Geruch von Pferden, Heu und Leder in sich ein – ah, das tat gut. Wie alle echten Reiter liebte er die Atmosphäre eines Pferdestalles und ging nun langsam von einer Box zur anderen, um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte. Jedes Pferd wurde mit Kennermiene betrachtet, und wenn er die Namen der Tiere und darunter die des Besitzers las, wurden alte Erinnerungen wieder wach.

»Erlkönig«, las er jetzt und darunter: Fräulein Kürten. Das war doch das Pferd, das einst Ulrike Fahrenkamp gehörte, auf dem er sie bei dem verhängnisvollen Rennen zuerst gesehen hatte.

»Hat das Pferd früher nicht einem Fräulein Fahrenkamp aus E. gehört?« fragte er den Stallburschen, der gerade in der Nachbarbox ein Pferd putzte.

»Ja – Erlkönig gehörte Fräulein Fahrenkamp. Aber die hat ihn ja verkaufen müssen, weil ihr Vater pleite machte, wie ich gehört habe. Und dann hat ihn eine Frau Windisch gekauft, die hat er aber abgeschmissen; sie gehörte ja auch nicht zum Klub.« Wischhusen mußte unwillkürlich lächeln, der gute Mann sprach ganz so, als ob nur die Mitglieder des Reitklubs etwas vom Reiten verstanden.

»Ja – und weil sich die Dame dabei die Knochen gebrochen hat, da hat sie ihn wieder verkauft. Und nun hat der arme Erlkönig wieder Pech. Das Fräulein von Kürten heiratet nämlich – einen Amerikaner, und da will sie das Tier nicht mitnehmen – und nu soll er wieder verkauft werden. Aber es will keiner 'ran – er is allen zu wild!«

Armer Erlkönig, dachte Wischhusen, dem das Tier leid tat, denn ebensowenig wie es einem Menschen zuträglich ist, wenn er nicht weiß, zu wem er gehört, ebensosehr gilt das für ein Tier.

Der redselige Reitknecht, der viel allein und deshalb froh war, einen Menschen gefunden zu haben, mit dem er sprechen konnte, fuhr fort zu erzählen, da Wischhusen sich immer noch nicht entschließen konnte, weiterzugehen.

»Ich hätte nicht gedacht, daß das Fräulein Fahrenkamp nu wirklich kein Rennen mehr auf Erlkönig machen wird, als sie das letztemal so geweint hat und dem Gaul versprach, ihn nich wieder mit einem Rennen zu quälen.«

»Was sagen Sie da?« horchte Wischhusen auf.

»Na – das Fräulein hatte doch im Sommer in H. den Gaul bald kaputt geritten, bei dem Reit- und Fahrturnier. Sie waren ja wohl auch dabei, Herr Doktor, und werden es woll auch gesehen haben. Nee – alles was recht is – so verrückt durfte das Fräulein nich reiten. Und am Abend – es war schon elf vorbei, da muß sie wohl doch das Gewissen geplagt haben, denn da is sie plötzlich angekommen – im Abendkleid mit 'nem Mantel drüber, man konnte das lange Kleid aber doch sehen. Und ich wollte zu ihr hin und ihr was sagen, wegen Erlkönig, daß der ganz erledigt gewesen war – aber da verschwand sie auch schon in der Box – und dann hatte sie geweint, daß es einen Stein erweichen konnte. Da bin ich nicht mehr hingegangen. Ich habe nur gehört«, eine leichte Verlegenheit huschte über das Gesicht des Erzählenden, weil er gelauscht hatte, »wie sie ihn um Verzeihung gebeten hat – und mit ihm gesprochen hat wie mit einem Menschen.«

»Und haben Sie denn auch verstanden, was sie sagte? Ich finde das nämlich zu drollig«, sagte Wischhusen, der sein lebhaftes Interesse nur schwer verbergen konnte und förmlich darauf brannte, mehr zu hören.

»Manches schon – aber alles nich. Sie heulte gar zu erbärmlich. Ich weiß nur, daß sie immer gesagt hat: ›Das habe ich doch nich gewollt, Erlkönig – ich wollte dir nich weh tun. Und ich weiß ja selbst nich, weshalb ich so verrückt war – und sie sollten uns doch nich auslachen.‹ Das hat sie gesagt – und dann hat sie ihm versprochen, nich mehr auf Rennen zu reiten – nur noch im Wald, hat sie gesagt. Und denn is sie wieder weg«, schloß der Reitknecht seine lange Rede.

Wischhusen machte es glücklich – es tat ihm ja so wohl, zu wissen daß ihm ein Rätsel gelöst worden war, an dem er noch immer herumgeraten hatte und das wie ein dunkler Schatten den Charakter des Mädchens, das er noch immer, immer liebte, verdunkelt hatte.

Es war keine bewußte Tierquälerei gewesen – nur das überschäumende Temperament Ulrikes hatte sie verleitet, ohne zu überlegen das Pferd zu zwingen, als es den Gehorsam verweigerte.

Er konnte nun besser denn je verstehen, wie sehr sie seine Worte, sein Spott getroffen haben mußte, denn sie hatte ja durch ihre Haltung an jenem Abend dem Tier gegenüber bewiesen, daß sie zwar unbeherrscht, aber nicht vorsätzlich böse gehandelt hatte.

Als er später durch den frühlingsfrischen Wald ritt, stieg der Wunsch in ihm auf, das Pferd, das einst Ulrike Fahrenkamp gehörte, zu erwerben. Ihr Erlkönig sollte nicht länger von einer Hand in die andere wechseln. Wen ging es etwas an, wenn er sich zwei Pferde hielt? Es würde für ihn, der von seinen Eltern ein ganz ansehnliches Vermögen geerbt hatte, auch finanziell keine Belastung sein.

Und nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, wurde er wieder etwas froher – etwas von Ulrike Fahrenkamp würde ihm doch gehören.

*

Der Sommer kam ins Land. Gleichförmig reihte sich Tag an Tag. Frau Regina sah an ihrem Gärtchen, wie das Jahr sich langsam erfüllte.

Mutter und Tochter hatten ihren Urlaub zur gleichen Zeit genommen, und Regina hatte leise lächeln müssen, als Ulrike sie bat, in diesem Jahr die Ferien gemeinsam zu verbringen.

Aber wieder an den Bodensee zu gehen, wie sie es jahrelang getan hatte, lehnte Frau Regina beinahe ängstlich ab, in einer Erregung, die der Tochter unverständlich war.

Man beschloß daher, in diesem Sommer in die nahen Berge zu gehen, in eins der kleinen, ruhigen Gebirgsdörfer, wo man Erholung finden würde von einem Jahr, das übervoll an Sorgen und Leid gewesen war.

Ruhig und still hatten die Damen dort ihre Tage verbracht, waren gewandert oder hatten, im Liegestuhl liegend, gelesen. Wunderschön war das gewesen, nur hatte die Mutter manchmal bedauert, daß ihr Kind allzu ernst geworden war. Wo war nur die überquellende Lebensfreude Ulrikes geblieben?

Schnell waren die kurzen Ferientage vergangen. Das gewohnte Leben nahm wieder seinen Fortgang.

Für Ulrike wurde es jedoch etwas unruhiger, da nach ihrer Rückkehr Oberleitner sich ihr wieder in stärkerem Maße näherte und seine Liebe zu ihr immer offener zeigte.

Das peinigte die junge Schwester ungemein – es schmerzte sie, dem jungen Arzt, den sie außerordentlich hochschätzte, weh tun zu müssen.

Wo es nur anging, wich sie ihm aus, aber der enge Kontakt, den sie dienstlich miteinander hatten, ließ das nur wenig zu.

Daß die Männer doch nie Ruhe gaben, dachte sie oft ärgerlich, und zürnte dem armen Dr. Oberleitner, daß er sich auch nicht im geringsten von anderen Männern unterschied.

Zwischen Wischhusen und ihr herrschte nach wie vor Burgfriede, ein Verhältnis, das sie einerseits begrüßte und zum anderen störend empfand.

Sie wußte eigentlich selbst nicht, was sie wollte. Nur so, wie es war, gefiel es ihr nicht. Sie hatte das Gefühl, als stünden sie beide, jeder für sich, unter einem Glassturz, der jede Annäherung ausschloß.

Nur manchmal dachte sie daran, daß er sie einmal tapfer und stark genannt hatte – und es sogar ehrlich meinte, ohne Spott.

Aber dann geschah eines Tages etwas, nein, es geschah nicht einmal etwas, sondern sie sah ein Bild. Ein Bild aus einer Illustrierten.

Eine ihrer Kranken zeigte es ihr und war nicht wenig stolz, daß sie den darauf abgebildeten Herrn kannte.

»Was sagen Sie nur, Schwester Ulrike, zu unserem Herrn Doktor?« Und dann hatte die Frau, ohne eine Antwort abzuwarten, laut, damit es auch die anderen Patientinnen hören konnten, gelesen:

»Dr. Hansgeorg Wischhusen, der Sieger in dem außerordentlich schwierigen Hindernisreiten am 10. September in Hannover. Fräulein Helga Naumann, die auch einen schönen Erfolg erzielen konnte, sie wurde dritte in der Springkonkurrenz für Damen, gibt dem Sportkameraden gerade zum Lohn für seine hervorragende Leistung einen herzlichen Kuß, wie dieser Schnappschuß unseres Reporters beweist.«

Während die anderen Frauen sich nun lebhaft mit dem sportlichen Sieg ihres Abgotts beschäftigten, denn Wischhusen wurde von den meisten angeschwärmt, verließ Schwester Ulrike unbemerkt den Raum.

Sie verstand es ja selbst nicht, warum ihr die Knie plötzlich zu zittern begannen, während ihr Herz wie toll raste.

Ein dringendes Bedürfnis, allein zu sein, erfaßte sie, und schnell eilte sie hinunter in den Garten, über dem schon eine leichte Dämmerung lag.

Es war noch sommerlich warm, als Ulrike durch die dämmernden Wege schritt, aber in der Luft lag schon jener Geruch, der für den kommenden Herbst so bezeichnend ist.

Schwester Ulrike setzte sich auf eine Bank, die sie besonders gern hatte, da die überhängenden Zweige der Trauerweide, unter der sie stand, diesem Platz etwas Heimliches, Abgeschlossenes gaben.

Was hatte sie denn nur so in Erregung versetzt? War es etwa Neid, weil sie nicht mehr dabei sein konnte?

Und dann war es, als risse ein Schleier vor ihren Augen entzwei, und was sie sah, ließ sie in ein wehes Schluchzen ausbrechen.

Ja, wohl empfand sie Neid, bitteren, häßlichen Neid – aber nur einzig deshalb, weil sie es ihrer Freundin Helga mißgönnte, auf einem so vertrauten Fuß mit Wischhusen zu stehen, daß ...

Sie vermochte diesen Gedanken nicht zu Ende zu denken. Zu sehr hatte sie die Erkenntnis erschüttert, daß sie Wischhusen, den Mann, den sie zu hassen vermeinte, liebte! Mit einer hoffnungslosen, qualvollen Liebe!

Ein unbeschreiblicher Aufruhr durchtobte die junge Seele – hilflos war Ulrike all den stürmenden Empfindungen preisgegeben, empfand eine brennende, verzehrende Eifersucht auf die Freundin, die, wenn nicht gar mehr, zumindest die Achtung des Mannes besaß, die Achtung, mit der sie ihren tollkühnen, schonungslosen Ritt bezahlen mußte.

Helga würde also die Frau sein, die sich Wischhusen erwählte.

Lange, lange saß das junge Menschenkind da, in bitterer Selbstqual alle Schuld ausschließlich bei sich suchend.

Seit dem Tag, an dem Ulrike ihre Liebe zu Wischhusen erkannte, ging eine immer deutlicher werdende Veränderung mit dem jungen Geschöpf vor – die nicht nur den beiden Ärzten, die sich immer sehr stark in Gedanken mit der jungen Schwester beschäftigt hatten, sondern bald auch allen anderen auffiel.

So durchsichtig blaß und schmal war das zarte Gesicht geworden, unnatürlich groß schauten die Augen daraus hervor, und auch die Figur hatte viel von ihrer weichen Rundung verloren. Selbst das Haar schien nicht mehr so goldig glänzend unter der weißen Haube hervor.

Mehr als einmal sagte die Oberschwester kopfschüttelnd:

»Wenn ich nur wüßte, was mit Ihnen los ist, Schwester Ulrike! Sie gefallen mir gar nicht – absolut nicht. Strengt Sie etwa der Dienst doch zu sehr an?«

Aber immer antwortete die junge Schwester mit einem Lächeln, das der Älteren ins Herz schnitt.

»Ich fühle mich durchaus wohl. Und der Dienst wird mir auch nicht zuviel. Im Gegenteil, er macht mir Freude.«

Und dabei blieb sie.

Es war Ulrike überaus peinlich, daß es anscheinend jedem auffiel, wie elend sie aussah. Krampfhaft bemühte sie sich daher in der nächsten Zeit, allen ein frohes Gesicht zu zeigen, was ihr jedoch nur schwer gelang.

Fast unerträglich waren ihr die bekümmerten Blicke, die ihr Dr. Oberleitner oft zuwarf. Oft schien es, als wolle er ihr etwas sagen, mehrmals setzte er dazu an, aber bisher war es der jungen Schwester noch immer gelungen, ihm auszuweichen.

Es war nur zu natürlich, daß auch Wischhusen sich große Sorgen um Ulrike machte. Manchmal packte ihn eine fürchterliche Angst, daß dieses zarte Geschöpf eines Tages wie ein Licht verlöschen würde, wenn er sich auch als Mediziner sagte, daß so etwas ohne eine regelrechte organische Erkrankung oder einen akuten Krankheitszustand bei einem jungen Menschen kaum möglich sein würde.

Wischhusen konnte sich auch nicht verhehlen, daß die junge Schwester ihm wieder, so es nur anging, auswich. Selbst die kurzen Unterhaltungen über die Patientinnen oder medizinische Fragen, die sie in den vergangenen Monaten miteinander öfter gehabt hatten, unterblieben seit längerer Zeit. Sie gab ihm auch nicht mehr die kleinste Gelegenheit dazu, sondern huschte sofort mit einer Entschuldigung fort, sowie er mehr als das allernötigste sprach.

Als Wischhusen sich vierzehn Tage später von Schwester Ulrike verabschieden wollte, weil er zu seinem Onkel zurückkehrte, mußte er erfahren, daß die junge Schwester für diesen Tag um Urlaub eingekommen war, weil sie mit ihrer Mutter eine dringende Angelegenheit zu erledigen habe.

Seufzend wandte sich Wischhusen ab – er hätte sich denken können, daß Ulrike Fahrenkamp viel zu ehrlich war, um ihn mit erlogenen guten Wünschen für die Zukunft zu verabschieden.

Weihnachten war da – das Fest der Liebe und Freude.

Schwester Ulrike verbrachte den Heiligen Abend bei ihrer Mutter, aber es war ein trauriger Abend geworden.

Ratlos schaute Frau Regina immer wieder hinüber in die Ofenecke, wo ihr einstmals so blühendes Kind mit großen traurigen Augen saß und völlig in sich zusammengesunken in die brennenden Lichter des Tannenbaums blickte. Eine furchtbare Angst krallte sich in das Herz der Mutter, wenn sie das Zerbrechliche Figürchen, das durchsichtige, blasse Gesichtchen sah.

War denn das noch ihre Ulrike – dieses lebensprühende, übermütige Geschöpf, das so unbekümmert fröhlich gewesen war, so sehr, daß die Mutter manchmal ärgerlich gewesen war?

Wahrlich, es schien ihr Schicksal zu sein, immer wieder neue Lasten tragen zu müssen, dachte die enttäuschte Frau – die gehofft hatte, daß Ulrike sich über ihre Gaben freuen würde.

Mit all der ihr innewohnenden zarten Güte umsorgte Frau Regina ihr Kind in den beiden Tagen, die es bei ihr war. Still und dankbar ließ sich das Mädchen diese liebevolle Fürsorge gefallen, preßte wohl auch manchmal ihre Wangen an die Hand der Mutter – aber das junge Herz war und blieb verschlossen.

Ruhig, aber doch nicht in einer so hoffnungslos traurigen Stimmung wie bei den beiden Frauen, verlief der Heilige Abend viele Kilometer weiter nordwestlich in dem gemütlichen Heim Dr. Eggebrechts.

Für Wischhusen hatte sich in dem einen Jahr seiner Abwesenheit nichts verändert, oder wenn, dann war es nur schlimmer geworden, aber in Andreas Eggebrecht war erneut die Hoffnung aufgestiegen, daß sein heißester Wunsch Erfüllung finden sollte.

Und während der Ältere sann, dachte er, daß er nun lange genug gewartet hätte. Pietätvoll hatte er die Rechte des Toten respektiert, aber nun war es an der Zeit – er war nicht mehr jung genug, um auf ein Glück, das in nebelhafter Ferne lag, zu warten.

Und so kam es, daß Frau Regina am Silvestermorgen einen Brief erhielt, in dem Andreas Eggebrecht ihr nicht nur die herzlichsten Wünsche für das kommende Jahr aussprach, sondern auch die Hoffnung, daß dieses Jahr ihnen die langersehnte Vereinigung bringen würde.

Mit bebenden Händen hatte Regina den Brief geöffnet, war gleich beim Anblick der wohlbekannten Handschrift in eine große Erregung geraten, ahnte sie doch, was auf sie zukam.

Lange überlegte sie, was sie tun sollte. Andreas hatte sie in Erinnerung, wie sie vor zwei Jahren gewesen war – inzwischen hatte sich viel ereignet, und die Ereignisse waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Weiße Fäden zogen sich jetzt durch ihr Haar – und da waren Fältchen in ihrem Gesicht, die damals noch nicht dagewesen waren.

Sie war jetzt vierzig Jahre alt, Andreas nur sieben Jahre älter – er hatte sich sehr gut gehalten.

Und was würde Ulrike sagen, wenn sie ihr erzählte, daß sie sich mit Heiratswünschen trug? Konnte sie überhaupt ihr Kind allein lassen, gerade jetzt, wo es in einer so jammervollen Verfassung war und die Mutter nötiger denn je brauchte? Es war sehr schwer, sich zu entscheiden – sie mußte das genau überlegen.

Zunächst schrieb sie deshalb einen langen Brief an Andreas, in dem sie ihm offen ihre Bedenken und Sorgen eingestand. Der geliebte Mann sollte ihr raten – er würde das Richtige finden.

Die Antwort, die auf ihren Brief postwendend eintraf, war so ganz Andreas Eggebrecht! Behutsam und liebevoll ging er auf alle ihre Gedanken ein und verstand es, die inneren Widerstände bei der zaghaften Frau einen nach dem anderen zu überwinden, so daß sie sich hinsetzte und ihm aus erleichtertem, glücklichem Herzen ihr Ja schrieb. –

An diesem Tag rief Frau Regina wieder einmal die Tochter während der Arbeitszeit im Krankenhaus an. Zufällig war wieder die Oberschwester am Apparat, aber sie fand kein Wort des Tadels, als sie die junge Schwester herbeirief. Sie hätte es nicht fertiggebracht, dem jungen Geschöpf, das sie wegen seiner Unermüdlichkeit und Zuverlässigkeit schätzte und liebte, ein ungutes Wort zu sagen – flößte doch auch dieser resoluten Frau die Wandlung, die mit Ulrike vorgegangen war, Angst ein.

Deshalb genehmigte sie auch sofort Schwester Ulrikes Bitte um ein paar Stunden Urlaub am Nachmittag.

Und so machte sich Ulrike gleich nach dem Essen auf den Weg zur Mutter.

Wie grenzenlos war aber die Überraschung Ulrikes, als ihr die Mutter manchmal stockend oder errötend die Geschichte ihrer Liebe erzählte und ihr Kind bat, seine Ansicht zu einer Wiederverheiratung der Mutter zu äußern.

Als Ulrike die Augen der Mutter mit ängstlich fragendem Ausdruck auf sich gerichtet sah – da kam etwas von der alten Lebendigkeit über das junge Mädchen: fast stürmisch sprang sie auf und sagte, die Mutter fest mit ihren Armen umschlingend:

»Aber Mutti, du Liebe, das ist doch wunderbar! Wie freue ich mich für dich! Gerade du hast es wie keine andere Frau verdient, noch einmal glücklich zu sein.«

Erleichtert und froh sah Frau Regina in das angeregte Gesicht ihres Kindes – so hatte ihr Mädel lange nicht mehr ausgesehen.

»Andreas schrieb mir auch, daß er sich freuen würde, wenn du mit mir kommst. Er möchte dir gern den Vater ersetzen«, sagte Frau Regina etwas befangen. »Du könntest auch, wenn dir so viel daran liegt, in seiner Klinik arbeiten – natürlich nur, wenn du willst«, fügte sie hinzu. Einen Augenblick sah Ulrike nachdenklich vor sich hin. Es war verlockend, was die Mutter da sagte.

Geduldig wartete Frau Regina – so schwer es ihr auch fiel. Am liebsten hätte sie ihr Recht als Mutter geltend gemacht, aber sie wollte Ulrike zu nichts zwingen, was diese nicht selber wollte. Frei sollte ihr Kind entscheiden.

Sie war aber doch sehr enttäuscht, als Ulrike ruhig und bestimmt erklärte:

»Ich möchte mich noch nicht entscheiden, Mutti. Verstehe das, bitte. Vielleicht komme ich bald zu dir – aber im Augenblick möchte ich noch hierbleiben.«

»Nun – wie du willst«, sagte Frau Regina, nicht ganz zufrieden. »Laß uns nur nicht so lange warten, denn ich werde nicht ruhig sein, ehe du nicht bei mir bist.«

»Aber Mutti, mach dir doch keine Sorgen. Denke doch einmal nur an dich – ich bin doch hier gut aufgehoben.« Und um Zeit zu gewinnen, setzte sie hinzu: »Ich werde schneller da sein, als du denkst, Mutti.«

»Das hoffe ich, mein Kind – wir gehören doch zusammen, nicht wahr?«

Zustimmend nickte Ulrike, und dann wurden noch Einzelheiten, besonders den voraussichtlichen Hochzeitstermin betreffend, besprochen.

*

Ja – es machte wirklich den Eindruck, als sei bei der jungen Schwester eine Wandlung zum Guten eingetreten. Sie machte nicht mehr einen so müden, traurigen Eindruck und sah besser aus als in der ganzen Zeit.

Offenbar hatte die junge Seele wieder zu sich selbst gefunden. Ulrike selbst fühlte sich innerlich wieder etwas freier und war gedanklich sehr mit der bevorstehenden Veränderung im Leben der Mutter beschäftigt, die sie wirklich aus vollem Herzen begrüßte.

Und Anfang Februar war es soweit, daß Frau Regina und Ulrike sich in den Zug setzten und der alten Heimat entgegenfuhren. Stillglücklich saß Frau Regina in der Fensterecke des Abteils und hing ihren frohen Zukunftsträumen nach.

Weniger ruhig war Ulrike – sie hatte eine heimliche Angst, daß sie in H. Wischhusen begegnen könnte. Zwar war es ziemlich unwahrscheinlich, denn immerhin war H. eine Großstadt – aber der Zufall hatte ihr schon oft einen Streich gespielt, und sie hatte deshalb beschlossen, sich in den wenigen Tagen ihres Aufenthalts dort so wenig als möglich in der Öffentlichkeit aufzuhalten.

Und dann war es soweit – der Zug fuhr in den Bahnhof von H. ein. Nur einen Moment standen Mutter und Tochter suchend auf dem Bahnsteig, da eilte auch schon ein großer, breitschultriger Mann auf sie zu, das Gesicht förmlich verklärt vor Glück.

»Regina – meine Regina«, klang es mit dunkler Stimme an das Ohr der Frau, »endlich bist du bei mir.« Und den Arm um sie legend, drückte er einen innigen Kuß auf die Stirn der geliebten Frau, die immer nur seinen Namen nannte: »Andreas.« Nichts weiter

Ergriffen war Ulrike etwas zurückgetreten und sah dieser innigen Begrüßung zu, die ihr mehr als alles andere sagte, wie sehr die Mutter gelitten haben mußte.

Jetzt blickte sich Frau Regina suchend nach ihrer Tochter um.

»Das ist meine Ulrike, Andreas, ich hoffe, ihr werdet einander verstehen und lieben lernen – ihr seid doch nun meine beiden liebsten Menschen.«

Prüfend forschten die klugen Augen des Mannes in den voll und klar zu ihm aufgeschlagenen Mädchenaugen, dann sagte er mit einem tiefen Aufatmen:

»Wie sollte ich dein Kind nicht lieben können, Regina – sie ist ja auch obendrein dein getreues Abbild. Genauso hast du in deiner Jugend ausgesehen. Also – auf gute Freundschaft, kleine Ulrike, ich denke, wir werden uns gut vertragen; meinst du nicht auch?« Und damit hielt er dem jungen Mädchen seine Hand hin, ohne weiteres das Du gebrauchend.

Ohne zu zögern, schlug Ulrike ein und sagte mit frohem Ernst:

»Das glaube ich bestimmt – wer meine Mutter liebhat, der ist auch mir lieb.«

In froher Stimmung verließen die drei Menschen den Bahnhof.

Als sich Andreas Eggebrecht und Regina Fahrenkamp später allein in dem Arbeitszimmer des Hausherrn gegenüberstanden – Ulrike war unter dem Vorwand, sich ein wenig auffrischen zu müssen, hinausgegangen –, sagte der Mann in überströmender Zärtlichkeit, die ihn wie von innen durchleuchtete:

»Meine Regina – wie habe ich diesen Augenblick herbeigesehnt! Immer habe ich mir vorgestellt, wie es sein müßte, wenn du hier, in meinem Hause, bei mir sein würdest. Und nun bist du da!« Und damit zog er die erschütterte Frau in seine Arme.

Und wenn sie noch einen Zweifel gehabt hätte, ob sie richtig handelte – dieser Augenblick zeigte ihr, daß sie recht getan, als sie sich entschloß, Andreas Eggebrecht das Glück zu geben, das er ersehnte – und das auch das ihre war.

Später saßen sie dann gemütlich um den Teetisch, wobei zu Eggebrechts Entzücken Regina schon die Pflichten der Hausfrau übernahm, was ihr der Mann mit einem innigen Blick dankte.

In lebhafter Unterhaltung verging die Zeit.

Geschirrklappern im Nebenzimmer ließ den Hausherrn auf die Uhr schauen.

»Wie doch die Zeit vergangen ist!« rief er verblüfft. »Da deckt unsere gute Frau Lisa schon den Tisch zum Abendbrot. So schnell sind die Stunden noch nie verflogen! Da wird ja auch gleich mein Neffe kommen. Übrigens – meine Wirtschafterin wird mich nunmehr verlassen, sie wollte schon lange zu ihren Kindern, brachte es aber nicht übers Herz, uns Junggesellen zu verlassen. Sie kocht nämlich ganz vorzüglich und glaubte, wir würden sonst verhungern, wenn sie ginge. Aber ich denke, du wirst das sicher ebensogut können, Regina.«

»Nun, ich werde jedenfalls versuchen, ob ich dich zufriedenstellen kann, du Materialist«, lachte Frau Regina, und Eggebrecht stimmte fröhlich ein.

So entging es ihm und Frau Regina, daß sich die Tür geöffnet und jemand das Zimmer betreten hatte. Nur Ulrike saß mit weitaufgerissenen Augen da, erblaßt bis in die Lippen, ohne sich rühren zu können.

Und nicht anders erging es dem Mann, der eingetreten war und nun fassungslos, als sähe er eine Vision, auf das junge Mädchen starrte.

Frau Regina wurde zuerst aufmerksam.

»Ulrike, Kind, was ist dir?« fragte sie besorgt.

Im gleichen Augenblick trat aber auch schon Wischhusen näher und zog die Aufmerksamkeit auf sich.

»Du bist schon da, Hansjörg – wie schön«, sagte Eggebrecht, und dann stellte er den Neffen den Damen vor.

»Wir kennen einander bereits«, sagte Wischhusen, zu dem Onkel und Frau Regina gewandt, als er Ulrike die Hand reichte. »Schwester Ulrike und ich haben ein Jahr lang im gleichen Krankenhaus in München gearbeitet.«

»Ja, ist denn so etwas möglich?« fragte Eggebrecht im höchsten Grade verblüfft. »Warum hast du mir denn das nie gesagt, Jörg?«

»Wie konnte ich das«, erwiderte der Neffe lächelnd, denn trotz der Schwierigkeit der Situation konnte er sich deren Komik nicht verschließen, »ich hatte ja keine Ahnung, daß Schwester Ulrike deine künftige Stieftochter sein würde – denn so ist es ja doch wohl?«

»Ja, natürlich«, gab der Onkel zurück. »Trotzdem ...«

»Du hast mir nur gesagt, daß du Frau Regina Herzberg heiratest«. Wie konnte ich annehmen, daß Fräulein Fahrenkamp die Tochter von Frau Herzberg ist?«

»Da habe ich ja etwas Schönes angerichtet«, lachte jetzt Eggebrecht dröhnend auf. »Es ist wahr – ich habe immer als Regina Herzberg, also mit deinem Mädchennamen von dir gesprochen, Regina, an deinen Frauennamen habe ich nie gedacht. Nun, es ist ja auch kein Unglück dadurch passiert.«

»Gewiß nicht«, stimmte Regina in seine Heiterkeit ein, »und ich kannte deinen Neffen nur mit dem Vornamen, aber auch der volle Name hätte mir nichts gesagt, denn ich habe ihn nie durch Ulrike gehört und wußte gar nicht, daß Herr Dr. Wischhusen in München war.«

»Wir hatten uns ja auch monatelang, fast ein Jahr, nicht geschrieben, Regina. Aber wie es auch sei – da seid ihr beiden euch ja wenigstens nicht mehr fremd – als alte Kollegen, stimmt's?«

Ulrike fand einen Augenblick Zeit, sich zu sammeln.

Die Wirtschafterin meldete jetzt, daß das Abendessen angerichtet sei, was von den jungen Menschen mit Erleichterung begrüßt wurde, denn beide atmeten tief auf. Und da dieses Aufatmen jedes beim anderen feststellte, lief ein leises, verständnisinniges Grinsen über ihre Gesichter. So gingen sie hinter Frau Regina und Eggebrecht in das angrenzende Speisezimmer etwas gelöster. Es schien ihnen anscheinend nicht mehr so schwer, einander gegenseitig zu ertragen.

Ja – sie aßen schließlich sogar mit recht gutem Appetit die leckeren Sachen, die ihnen Frau Lisa mit all den Kniffen raffinierter Kochkunst aufgetischt hatte.

Nach dem Abendessen fand Wischhusen Gelegenheit, Ulrike einen Augenblick allein zu sprechen.

»Da hätte uns also das Schicksal wieder einmal gegen unseren Willen zusammengeführt, Ulrike Fahrenkamp, fast sollte man darin etwas wie eine höhere Fügung sehen.«

»Sprechen Sie doch bitte um Gottes willen nicht vom Schicksal – höherer Fügung!« Erregt fiel ihm das Mädchen ins Wort. »Zufall, nichts als törichter, blinder Zufall ist das!«

»Vermögen Sie das wirklich noch zu glauben?« fragte Wischhusen langsam.

»Ja. Oder denken Sie etwas anderes? Bilden Sie sich etwa ein – daß dieser alberne Zufall wirklich etwas Besonderes sein soll?« gab sie heftig zurück.

»Warum nicht – ich bin manchmal abergläubisch«, entgegnete er scheinbar gelassen. Aber im übrigen, ich war etwas beunruhigt, als ich Sie das letztemal sah. Ich glaube, daß ich wenigstens darin nicht irre, daß Sie nicht nur wesentlich besser aussehen, sondern Sie sind auch wieder angriffslustig wie in Ihren besten Tagen.«

Eine dunkle Röte stieg in das feine Mädchengesicht. Ehe Ulrike jedoch antworten konnte, sprach er weiter:

»Wie es aber auch sein mag – tragen wir diesen, wie Sie es nannten, ›albernen Zufall‹ mit Fassung, es bleibt uns ohnehin nichts weiter übrig. Auch Sie werden nicht wollen, daß ein Schatten auf das Glück der uns so lieben Menschen fällt.«

Ulrike antwortete ihm nur mit einem stummen Neigen des Kopfes – man durfte jetzt wirklich nicht an sich denken.

Sie ahnte allerdings nicht, daß ihre Duldsamkeit wenig später noch auf eine harte Probe gestellt werden sollte.

Als man nämlich nachher noch behaglich bei einem guten Glas Wein beisammensaß, schlug Andreas Eggebrecht in Anbetracht des verwandtschaftlichen Verhältnisses, in das die einstigen Arbeitskameraden nunmehr miteinander treten würden, vor, daß sie Brüderschaft trinken sollten.

Über und über erglühend, saß Ulrike in peinlichster Verwirrung da, während es in den Augen Wischhusens aufblitzte.

»Nun – was gibt es denn da noch lange zu überlegen, meine Lieben? Ihr wollt uns das doch nicht etwa antun, daß ihr hier eine Fremdheit und Förmlichkeit in meine Familie tragt, die höchst überflüssig ist. Wie das klingt, meine Familie ...« Der Hausherr genoß dieses Wort wie eine Köstlichkeit, dem er, plötzlich still geworden, andächtig nachlauschte.

Das ergriff die beiden jungen Menschen mehr, als alles Zureden – ohne noch länger zu überlegen, ergriffen sie die Gläser und tranken sich zu.

»Auf du und du, Ulrike«, sagte Wischhusen mit einer Stimme, die ganz heiser klang.

»Ja, Hansjörg«, erwiderte Ulrike, ihm fest in die Augen sehend, in denen es plötzlich aufleuchtete, daß sie die ihren senken mußte.

Da ergriff Wischhusen mit zarter Gebärde die kleine zitternde Mädchenhand und zog sie an seine Lippen.

Fast gewaltsam mußte Ulrike den Bann abschütteln, der sich über ihr Denken legte, der sie einzuhüllen drohte wie eine weiche, rosige Woge – und das durfte doch nicht sein – auf keinen Fall.

*

Ungewöhnlich warm war es am nächsten Tag. Fast lag es wie ein Ahnen des kommenden Frühlings in der Luft.

Ulrike war mit der Mutter wieder in das Haus Eggebrechts zum Mittagessen gekommen, denn der Stiefvater hatte zu wenig Zeit, als daß er hätte ins Hotel kommen können.

Ulrike ging in den Garten. Eine seltsame, wohlige Mattigkeit überkam das Mädchen, das ganz in die Betrachtung eines Haselzweiges versunken zu sein schien.

Erst ein fester Schritt brachte sie in die Wirklichkeit zurück – als sie sich umwandte, sah sie gerade Wischhusen näher treten.

Er kam etwas früher als der Onkel, da dieser noch aufgehalten worden war, und als er Ulrike im Garten sah, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, zu ihr zu gehen.

Schon lange dachte Wischhusen nicht mehr mit Geringschätzung von dem Mädchen seiner Liebe – beherrschte ihn nicht mehr der Gedanke quälend, sein Herz einer Unwürdigen geschenkt zu haben. Was er anfangs nur vermutete – damals, in Norderney, das glaubte er jetzt mit Bestimmtheit zu wissen, daß in dem zierlichen Geschöpf edelstes, reinstes Menschentum vereinigt war und daß er sehr unglücklich sein würde, gelänge es ihm nicht doch noch, dieses Mädchen für sich zu erringen.

Während diese Gedanken noch durch seinen Kopf flogen, reichte er dem jungen Mädchen, das sich bei seinem Nahen umgedreht hatte, die Hand, in die sie zaghaft die ihre legte.

»Das ist ein herrlicher Tag heute, fast als wäre es Frühling. Man mag gar nicht im Zimmer sein und so wie du in der Sonne spazierengehen, Ulrike.«

Bei der vertraulichen Anrede zuckte das junge Mädchen zusammen.

Es war dem Mann, als könne er in dem lieblichen Antlitz lesen.

»Ist es denn so schwer, mich als Verwandten zu akzeptieren, kleine Ulrike?« fragte er weich.

Mit hilfloser Gebärde strich sich Ulrike über die Stirn.

»Ich weiß nicht ...«, begann sie zaghaft, »es gibt so viele Menschen auf der Welt, und ausgerechnet wir müssen immer wieder zusammentreffen.«

Ein leises, gerührtes Lächeln huschte um den Mund des Mannes.

»Das ist natürlich eigenartig, Ulrike – aber ich muß gestehen, daß, nachdem ich anfangs auch etwas erschrocken war, daß ausgerechnet du Onkels künftige Stieftochter bist, ich mich nun schon an den Gedanken gewöhnt habe. Ja, ich bin sogar ganz froh darüber – an dir weiß ich doch, was ich habe. Bei einer anderen ...«

Etwas argwöhnisch sah ihn das Mädchen an. Hatte er nicht wieder dieses niederträchtige, amüsierte Lächeln in den Mundwinkeln? Aber nein – sie hatte sich wohl geirrt. Ganz ernst sah er sie an.

»Aber egoistisch ist es doch, von mir zu erwarten, daß ich nun auch hurra schreie – nur, weil, weil man eben weiß, was man aneinander hat!«

Wischhusen beugte sich ganz nahe zu Ulrike hinunter und sagte mit verhaltener Stimme:

»Vielleicht irren wir uns auch und wissen noch gar nicht genau – was wir aneinander haben, Ulrike.«

Ein glühendes Rot stieg in das zarte Gesicht des jungen Mädchens, fest preßte es die Hand auf das wie rasend klopfende Herz. Und dann sah sie plötzlich wieder das Bild aus der Illustrierten vor sich, sah Helga Naumann, wie sie den Sieger küßte. Helga Naumann ...

Und um das Gespräch abzubrechen, das ihr die Fassung zu rauben drohte, sagte sie hastig:

»Ich glaube, wir müssen ins Haus gehen – meine Mutter sucht mich wahrscheinlich schon.« Und damit schritt sie auch schon voran.

Ein tiefer Seufzer entfloh der Brust Wischhusens – sie war gar nicht so ruhig, wie sie tat, die kleine, dumme Ulrike, dachte er hoffnungsfroh.

*

Der große Tag, an dem Andreas Eggebrecht seine Regina heimführen durfte, war gekommen. Mehr als zwanzig Jahre hatte er darauf gewartet, sogar dann, als es kaum zu hoffen war, daß sich sein sehnlichster Wunsch erfüllte.

Bei all ihrer Liebe würde wohl auch Frau Regina nicht ermessen können, was dieser Tag für den Mann bedeutete, der, wie von einer inneren Sonne erleuchtet, seine Regina über die Schwelle seines Hauses führte, endlich als sein Weib.

Mit Augen, aus denen sein ganzes, heiliges Glück leuchtete, sah er seine Frau an, die in ihrem schwarzen Jackenkleid aus schwerer Seide, unter dem sie eine kostbare Spitzenbluse trug, wunderschön und mädchenhaft jung aussah. Nur der kleine Strauß Orangen- und Myrtenblüten an ihrem Jackenaufschlag sowie der große Strauß weinrosa Rosen deutete darauf hin, daß sie Braut war.

Die beiden jungen Menschen, die als einzige der Trauung und der nachfolgenden kleinen Feier beiwohnten, fühlten mit Ergriffenheit, wie auch reifere Menschen noch ein Glück empfinden konnten, das sonst nur die Jugend für sich beanspruchte.

Wischhusen hatte wiederholt versucht, den Blick Ulrikes einzufangen, aber es glückte ihm nicht; beharrlich richtete sie ihre Augen auf etwas anderes.

Eigentlich war es verrückt zu glauben, daß man sich je die Liebe dieses Mädchens erringen konnte!

Nicht ein einziges Mal hatte ihm Ulrike bisher das Du gegeben seit dem ersten Abend. Geschickt wußte sie es so einzurichten, die Anrede zu umgehen. Und morgen, morgen fuhr sie wieder fort – wer weiß, wann sie wiederkam.

Als nach dem Essen Eggebrecht mit Frau Regina ein Weilchen in leisem Gespräch am geöffneten Fenster stand, in das die helle Sonne warm und wie im Frühling schien, sagte Wischhusen leise zu Ulrike:

»Wenn man deine Mutter und Onkel Andreas sieht, dann möchte man es ihnen gleichtun – das Schönste im Leben eines Menschen ist es doch, zu wissen, daß man den Menschen gefunden hat, den man zur Ergänzung des eigenen Ichs braucht.«

»Und weshalb ist das noch nicht geschehen?« fragte Ulrike scharf zurück. »Ich könnte mir vorstellen, daß es viele Mädchen gibt, die nur darauf warten, Frau Dr. Wischhusen zu werden. Ich für meinen Teil verzichte auf das sogenannte Glück der Liebe.«

»Ist das wirklich dein Ernst, Ulrike?« fragte Wischhusen schwer, während aus den grauen Augen aller Glanz verschwand.

»Ja, natürlich, warum denn nicht?« fragte das junge Mädchen kühl zurück. »Muß denn absolut immer geheiratet sein? Ich bin jedenfalls durchaus nicht zur braven Ehefrau geschaffen. Und im übrigen, mich langweilt dieser Blödsinn; ich könnte mir vorstellen, daß es noch andere Themen gibt, wenn man sich schon durchaus unterhalten muß.«

Diese kleine Teufelin verstand es allzugut, ihn immer bis zur Weißglut zu bringen.

Wahrhaftig, wenn er nicht genau zu wissen glaubte, daß es sich lohnte, um eine Ulrike Fahrenkamp zu kämpfen, daß sie in Wirklichkeit ganz anders war, als sie sich ihm gegenüber gab – er hätte schon lange keinen Gedanken mehr an sie verschwendet.

Das Mädchen brachte den Mokka herein. Frau Regina und Eggebrecht setzten sich zu den beiden jungen Menschen an den Tisch, ohne zu bemerken, daß eine unheilvolle Spannung über den beiden lag.

Liebevoll, mit den ihr eigenen schönen Bewegungen, versorgte Frau Regina die kleine Tafelrunde mit dem aromatischen Getränk. Dankbar nahm Eggebrecht das feine Täßchen aus ihren Händen entgegen.

»Wie schön, daß du immer bei mir sein wirst, Regina«, sagte er froh, »jetzt merke ich erst, was ich bisher entbehren mußte. Es ist nur schade, daß uns unser Töchterchen wieder verlassen will. Am liebsten ließe ich dich gar nicht fort, Ulrike, und deine Muter sicher auch nicht.«

»Das ist sehr lieb von euch, und ich freue mich auch sehr darüber, aber ich habe versprochen, wiederzukommen. Man erwartet mich in München mit Sicherheit.«

»Ist es ein besonderer Magnet, der dich mit aller Gewalt dort festhält, Ulrike?« fragte Eggebrecht neckend.

»Vielleicht...«, antwortete Ulrike mit einem vielsagenden Lächeln, war es ihr doch nicht entgangen, daß Wischhusen sie bei der Frage des Onkels gespannt ansah.

»Na, Mädel, du wirst mich doch nicht gleich zum Schwiegervater machen wollen, wo ich gerade erst Vater geworden bin?« lachte Andreas Eggebrecht.

»Vielleicht – Väterchen. Ich könnte mir gut vorstellen, daß du einen reizenden Schwiegerpapa abgeben wirst.«

*

Schwester Ulrike war wieder in München und tat eifrig und pflichtgetreu ihren Dienst.

Der große Ernst, der auf dem jungen Gesicht lag, fiel schon keinem Menschen mehr auf, man hatte sich allmählich daran gewöhnt.

Unermüdlich lief sie durch die weiten Gänge des Krankenhauses – folgte mit rührender Hingabe für ihre Kranken und sank abends todmüde ins Bett, um bald in einen bleiernen Schlaf zu verfallen.

Und wenn sich Schwester Ulrike vor der Reise etwas erholt hatte, so war davon nicht mehr viel zu bemerken.

Im Gegenteil. Immer elender und schmaler wurde das zarte Geschöpf – sah eher aus, als gehörte es zu den Patienten als zu den Pflegerinnen.

»Schwester Ulrike – es ist höchste Zeit, die Besucher nach Hause zu schicken«, sagte die Oberschwester etwas ärgerlich, als sie das kleine Schreibzimmer betrat, wo die junge Schwester untätig am Fenster stand und in den Garten hinunterschaute. »Wann wollen Sie denn heute fertig werden, wenn Sie noch immer nicht Temperatur gemessen haben und die Krankenzimmer noch voll fremder Leute sind? Schon halb fünf – eine halbe Stunde zu spät.«

Mit gesenktem Haupt ließ die erschrockene Ulrike diesen Tadel über sich ergehen, was jetzt öfter vorkam.

Sie merkte nicht, daß die Oberschwester sie trotz des Tadels fast liebevoll ansah.

Es war ja fast nicht mehr zu verantworten, dieses Mädchen noch arbeiten zu lassen, dachte die alte Schwester, das Kind sah ja zum Umpusten aus.

Ulrike war schon aus dem Zimmer gegangen, als die Oberschwester immer noch grübelnd vor sich hin blickte.

Oberleitner betrat den kleinen Raum und sah die Schwester in ihrer Versunkenheit.

»Aber Oberschwester Gertrud – so in Gedanken? Das kennt man ja gar nicht von Ihnen«, meinte er lächelnd.

»Ach, du lieber Himmel, Herr Doktor, kommen Sie etwa schon zur Visite?« rief die Angeredete ganz entsetzt.

»Ware denn das so schlimm?«

»Ja, gewiß, wir sind doch noch gar nicht fertig mit den Patienten. Noch nicht einmal gemessen. Schwester Ulrike ...«

»Was ist mit ihr?« fragte der Arzt hastig.

»Wir dürfen sie nach meiner Ansicht nicht mehr arbeiten lassen. Ich weiß nicht, was ihr fehlt – aber sie ist ja so furchtbar elend, daß ich jeden Augenblick darauf warte, daß sie uns buchstäblich umkippt.«

»Sie haben recht, Schwester Gertrud – wir dürfen da wohl nicht länger zusehen, wenn wir nicht unabsehbare Folgen heraufbeschwören wollen.«

»Und was wollen Sie tun, Herr Doktor?«

»Zunächst einmal mit ihr sprechen – und wenn das nicht hilft, muß ich, so leid es mir tut, den Professor um eine Entscheidung bitten.«

»Ja – das wird das beste sein«, sagte die alte Schwester und begann Wäsche aus dem großen Schrank zu nehmen.

»Ich gehe inzwischen nach Station vier und mache da erst Visite«, rief ihr Oberleitner schon im Hinausgehen zu.

*

Noch am selben Abend, als alle Patienten versorgt waren, kam Oberleitner in das Schreibzimmer, wo Schwester Ulrike wie immer noch saß und den Schluß machte. Die anderen Schwestern waren schon längst fort.

»Immer noch unermüdlich, Schwester Ulrike?« fragte der junge Arzt freundlich.

»Ich bin gleich fertig, Herr Doktor«, gab Ulrike zurück.

Mit dem forschenden Blick des Arztes beobachtete Oberleitner das junge Mädchen bei seiner Arbeit. Und was er sah, bestätigte ihm die Befürchtung der Oberschwester. Jeder Handgriff, das Aufräumen einiger Instrumente – alles geschah zerfahren, ohne Überlegung.

Es war wirklich höchste Zeit, daß etwas unternommen wurde, um dieses junge Geschöpf vor sich selbst zu bewahren.

»Schwester Ulrike, wann wollen Sie eigentlich in Urlaub gehen?« fragte er zunächst diplomatisch.

»In Urlaub – ich?« kam es ganz erstaunt zurück. »Aber Herr Doktor, ich war doch erst fort, als meine Mutter heiratete, und außerdem, ich habe jetzt noch keine Lust, Urlaub zu nehmen.«

»Sie sollten es aber doch tun, Schwester, Sie haben es wirklich nötig«, entgegnete Oberleitner herzlich.

»Bitte, Herr Doktor – verschonen Sie mich damit. Ich kann das nun wirklich nicht mehr hören – dieses ewige Gerede, daß ich elend sei und so. Schließlich muß ich ja am besten wissen, ob ich mich gesund fühle oder nicht. Und ich fühle mich gesund!« setzte sie fast trotzig hinzu.

»Und das möchte ich gerade bezweifeln, Schwester Ulrike«, erwiderte der Arzt langsam. »Sie mögen körperlich und organisch gesund sein – aber mit Ihren Nerven sind Sie buchstäblich und vollständig auf dem Hund, wie man so sagt.«

»Sind Sie mit meiner Arbeit nicht mehr zufrieden?« kam es tonlos von den zitternden Lippen des Mädchens, dessen Augen wie erloschen blickten.

»Wer sagt denn, daß jemand mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden ist, Schwester Ulrike«, begütigte der junge Arzt, in dem ein unendliches Mitleid mit diesem zarten Menschenkind aufstieg. »Sie machen es mir wirklich schwer.«

Schwester Ulrike brach in ein leises, verzweifeltes Weinen aus, das den Mann restlos erschütterte – ihn, der ihr alles Leid hätte abnehmen mögen.

»Sie – Sie wollen mir auch noch meine – Arbeit – fortnehmen – das Letzte – noch fortnehmen«, kam es abgebrochen über die blassen Lippen.

Oberleitner legte mit zarter Gebärde seinen Arm um ihre Schulter. Sie ließ es geschehen – schien es gar nicht zu bemerken.

»Was reden Sie da – Sie Kind – Sie ganz dummes, kleines Mädchen?« sprach er mit unendlich weicher Stimme auf das weinende Mädchen ein. »Niemand will Ihnen Ihre Arbeit wegnehmen – nur gesund sollen Sie erst wieder werden, die alte, fröhliche Ulrike sein – und dann dürfen Sie wieder arbeiten, soviel Sie wollen,«

»So hören Sie doch endlich auf!« Ungestüm machte sich die junge Schwester frei und schüttelte seinen Arm ab. »Merken Sie denn nicht, daß Sie mich fortgesetzt quälen? Lassen Sie mich doch in Ruhe – und lassen Sie mir meine Arbeit, mehr will ich nicht!« Und damit lief sie, als würde sie gejagt, hinaus.

Sehr niedergeschlagen blieb der junge Arzt zurück – das war ja noch viel schlimmer, als er dachte.

*

Völlig verstört suchte Schwester Ulrike ihr Zimmer auf, nachdem sie gesehen hatte, daß kein Licht brannte und Schwester Gerda sicher noch im Gemeinschaftsraum war. Sie konnte jetzt keinen Menschen ertragen.

Wie ein Mühlrad gingen ihr die Gedanken im Kopf herum – in dem armen Kopf, der so unerträglich schmerzte, daß man kaum denken konnte.

Das kam aber nur davon, weil man sie nicht in Ruhe ließ, weil sich dieser Dr. Oberleitner um Dinge kümmerte, die ihn absolut nichts angingen. Sollte er seine Patienten behandeln, soviel er wollte – aber sie sollte er ungeschoren lassen! Jetzt hatte sie nur diese gräßlichen Kopfschmerzen von seinen ärztlichen Bemühungen.

Nicht mehr arbeiten – wie der sich das dachte! Wo doch die Arbeit der einzige Trost und Halt für sie war. Wenn man ihr die Arbeit nahm, dann wäre es erst ganz aus mit ihr – ganz bestimmt.

Und deshalb würde sie jetzt auch ein Schlafmittel nehmen, damit sie gleich schnell einschlief, und dann wollte sie es ihm aber morgen zeigen und der Oberschwester auch, wie sie arbeiten konnte.

Am anderen Morgen wachte Schwester Ulrike trotz des starken Schlafmittels oder vielleicht gerade deshalb wie zerschlagen auf. Ihre Zimmergenossin, Schwester Gerda, hatte sie richtiggehend wachrütteln müssen.

Wirre Träume hatten Ulrike gepeinigt, nur schwer vermochte sie sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Ganz allmählich nur vermochte sie zu unterscheiden, was Traum und wirkliches Leben war.

Dann erwachte jedoch eine verzweifelte Energie in ihr. Derselbe Gedanke, mit dem sie eingeschlafen war, erfüllte sie wieder, ja sie hatte sich geradezu darin verbissen.

Und wirklich ging es heute besser als sonst. Man muß nur richtig wollen, dachte die junge Schwester, dann geht es auch. Wollen muß man!

Wenn sie jedoch einen Blick in den Spiegel geworfen hätte, der im Schreibzimmer über dem Waschbecken hing, dann hätte sie wohl selbst gesehen, was sie dieses Wollen kostete.

Maskenhaft starr war das schmale Gesicht, die Augen übergroß und glanzlos, mit tiefen, dunklen Ringen darunter, der schöngeschwungene Mund fast farblos, fest zusammengekniffen.

Besorgt musterte die Oberschwester immer wieder dieses entsetzlich elende Gesicht und war froh, daß sie bereits mit dem Arzt gesprochen hatte.

Es war zu dumm, daß es heute so besonders viel zu tun gab, denn es war Föhn, der machte viele Patienten unruhig und bereitete oft den Ärzten unliebsame Überraschungen. Deshalb operierte der Professor an solchen Tagen nur, wenn es sich durchaus nicht aufschieben ließ.

Früher als sonst war er daher heute fertig und kam gerade mit einigen Ärzten an der Oberschwester, die mit Schwester Ulrike im Gang etwas besprach, vorbei. Er blieb stehen und sah die Schwester scharf prüfend an, dann sagte er freundlich:

»Kommen Sie doch bitte heute nachmittag – sagen wir gegen drei Uhr, zu mir, Schwester Ulrike. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«

Ulrike nickte nur stumm, während ein fast verächtlicher Blick Oberleitner traf. Er hatte es also nicht lassen können und offenbar ihretwegen mit dem Professor gesprochen.

*

Der Professor sah Ulrike mit besorgtem Blick und griff nach ihren Händen.

»Was machen wir nun mit Ihnen, mein Kind? Sie sind tatsächlich erholungsreif. Herr Dr. Oberleitner hat nicht zuviel gesagt. Hm – der Föhn macht Ihnen heute sicher auch zu schaffen, nicht wahr?«

Ulrike wehrte ab.

»Ich spüre nicht das geringste, Herr Professor«, behauptete sie fest, obgleich sie sich wie zerschlagen fühlte.

»Es fällt mir schwer, Ihnen das zu glauben«, meinte der alte Arzt ernst, wenn auch voller Güte. »Nun werden Sie mir einmal sagen, was Ihnen so viel Kummer macht, daß Sie darüber vollständig zugrunde gehen«, sagte der alte Herr gütig und führte die Willenlose zu einem Stuhl, auf den sie sich gehorsam setzte, während er ihr gegenüber Platz nahm.

Nervös verflocht das junge Geschöpf die Hände ineinander, wagte nicht aufzublicken und sagte tonlos: »Ich habe keinen Kummer.«

»Mein liebes Kind – so wenig ich es ausstehen kann, wenn Menschen ihr Herz auf der Zunge tragen, ebensowenig schätze ich es, wenn sich jemand systematisch zugrunde richtet, weil er alles in sich hineinfrißt und nicht einmal seinem Arzt gegenüber den Mut zu einem offenen Wort hat. Und deshalb muß man Ihnen auch gegen Ihren Willen helfen.«

Voller Entsetzen sahen die übergroßen Augen des Mädchens ihn an. Was – was kam nun? Wollte man sie nach Hause schicken?

»Sie Angsthase«, begütigte der Arzt, der ahnen mochte, was in der jungen Seele vorging, »ist es denn so schlimm, wenn wir Sie einmal ein paar Tage ins Bett legen, damit Sie sich einmal gründlich ausschlafen? Was glauben Sie, dann sieht die Welt auf einmal ganz anders aus, das haben schon viele Leute erfahren und waren froh darüber. Und dann werden wir einmal weitersehen. Vielleicht sehen Sie es dann selbst ein, wie unvernünftig Sie gewesen sind und holen sich bei mir einen langen Urlaub – sagen wir vier Wochen. Und wenn Sie dann wiederkommen, dann sind Sie wieder solch ein fröhliches und tapferes Kerlchen, wie Sie vor einem Jahr waren. Recht so?«

Ergeben nickte Schwester Ulrike. Man würde ja doch tun, was man wollte, ohne sie zu fragen.

»Na also – das gefällt mir, Kindchen. Und nun werden wir die gute Schwester Gertrud rufen, die Sie hier auf der Station in ein schönes Zimmer und ins Bett bringen wird. Da können Sie klingeln, wenn Sie etwas wollen, denn im Schwesternhaus wären Sie zuviel allein.« Und damit schritt er auch schon zur Tür und winkte die Schwester, die mit Dr. Oberleitner in ehrlicher Sorge draußen wartete, herein.

»Sie bringen unsere Schwester Ulrike jetzt in ein schönes Bettchen, Schwester Gertrud, und dann wird sie erst einmal schlafen, bis die Guckerln wieder blank sind«, sagte er betont leicht. Er blieb so lange im Schreibzimmer, bis ihm die alte Schwester meldete, daß ihr Sorgenkind im Bett wäre.

»So, und nun noch ein Schlafmittel. Sie wissen, die übliche Dosis zur Schlaftherapie – etwas anderes können wir im Augenblick nicht machen«, erklärte der Arzt ruhig.

Als er wenig später in das kleine Zimmer schaute, lag die junge Schwester schon in tiefem Schlaf, ohne daß sie sich noch gegen die Überrumpelung gesträubt hätte.

*

Man hatte sich in der Klinik nun schon daran gewöhnt, daß Dr. Wischhusen viel ernster als früher geworden war. Selbst Schwester Helene, die ihn noch immer unvermindert liebte, hatte es aufgegeben, zu ergründen, weshalb der junge Arzt so finster – ja wirklich, man konnte es fast finster nennen – geworden war. Nur bei seinen Patienten zeigte er ein freundliches Lächeln, mit dem er sich aller Herzen gewann.

Manchmal verlachte sich Wischhusen jedoch selbst, daß er einem Mädchen nachtrauerte, das absolut nichts von ihm wissen wollte.

Seine einzige Zerstreuung war und blieb der Sport. Fast jeden Morgen ritt er aus, wenn noch der Tau an den Gräsern hing und es selbst in der Nähe der Großstadt noch still und ruhig war.

Dann hielt er manches Zwiegespräch mit dem guten Erlkönig, den er jetzt immer ritt, als könne ihm das treue Tier Auskunft geben über seine einstige Herrin. –

Dr. Wischhusen war gerade fertig mit dem Verbinden und suchte nun den Onkel in seinem Zimmer auf. Um diese späte Vormittagsstunde machten sie meistens zusammen eine kleine Zigarettenpause und besprachen dabei ihre gemeinschaftliche Arbeit. Manchmal kamen auch andere Herren, drei jüngere Assistenten, hinzu.

Heute saß der Onkel allein, hatte eine Zigarre in der Hand, an der er zu ziehen vergaß, und schien über eine sehr ernsthafte Sache nachzudenken. Das war nichts Ungewöhnliches.

Plötzlich sprang er auf und ging mit einigen großen Schritten in dem Zimmer auf und ab. Auch das war nichts Ungewöhnliches.

»Ulrike ist erkrankt, Reginas Kommen dringend erwünscht«, sagte er ganz unvermittelt.

Wie elektrisiert sprang Wischhusen auf. Es war ihm, als drücke ihm eine eisige Faust das Herz zu – ganz fest zu.

»Um Gottes willen, Onkel, was ist ...« Er vermochte nicht weiterzusprechen, die Stimme versagte ihm.

»Nichts Lebensgefährliches – wie man uns telegrafiert, aber mehr wissen wir auch noch nicht«, gab Eggebrecht Auskunft, ohne daß ihm die hochgradige Erregung des Neffen auffiel.

»Wird – wird Regina fahren?« fragte Wischhusen gespannt. Er nannte die Tante beim Vornamen, da sie kaum zehn Jahre älter war als er.

»Selbstverständlich. Sie wird gleich hier sein, dann wollen wir in München anrufen. Ich kann ja jetzt nicht hinübergehen, weil ich gleich eine Besprechung habe – du weißt ja.«

Im gleichen Augenblick wurde hastig die Tür geöffnet, und Frau Regina trat ein.

»Oh, Andreas«, schluchzte sie und lehnte sich ganz fest an den geliebten Mann, ohne zu beachten, daß der Neffe dabei war.

»Nun mal ruhig – ruhig, meine Regina«, sprach Eggebrecht mit dunkler Stimme. »Du sagst ja selbst, daß es nicht lebensgefährlich ist. Zeig mir doch bitte einmal das Telegramm.

Regina reichte ihm das Papier.

»Hm – Professor Breuning hat es selbst abgeschickt – nun, wir werden ja gleich sehen.« Damit ging er auch schon zum Telefon und verlangte die Verbindung mit München.

Sehr bald schon war die Verbindung da.

In unerhörter Spannung saßen Frau Regina und Wischhusen daneben, lauschten angstvoll auf jedes Wort, mit dem Eggebrecht antwortete.

Als er den Hörer auflegte, sah sein Gesicht schon bedeutend entspannter aus.

»Keine Sorge, Regina, dazu ist wirklich kein Grund. Ulrike ist einfach total überarbeitet und steckt in irgendeiner schweren seelischen Depression, deren Grund niemand kennt. Da sie sich sträubte, in Urlaub zu gehen, hat man sie nun einfach eingeschläfert und behandelt sie zunächst mit Schlaftherapie – das einzig mögliche in solchen Fällen. Daß man dich ruft, hat nur den Grund, Ulrike würde sich vielleicht dir gegenüber aussprechen, damit man die Ursache der Depression findet.«

Frau Regina atmete etwas erleichtert auf. Es war zwar schlimm genug, aber nicht so schlimm, wie sie gefürchtet hatte.

Auch Wischhusen fühlte sich etwas befreit, wenn auch seine Gedanken sofort unruhig zu arbeiten begannen, als könne er das Rätsel lösen, das der Erkrankung Ulrikes zugrunde lag.

»Dann wollen wir doch gleich einmal sehen, wann du am besten fährst, Regina«, sagte Eggebrecht und wollte erneut nach dem Telefon greifen.

»Wäre es nicht das beste, wenn ich Regina hinbringen würde?« sagte der Neffe schnell. »Das wäre sicher bequemer für sie – und außerdem auch für Ulrike, falls wir sie gleich mitnehmen können.«

»Das leuchtet mir ein, Hansjörg«, stimmte Eggebrecht zu. »Außerdem wäre es mir eine Beruhigung, wenn ich dich bei Regina weiß.«

»Ich danke euch, ihr Lieben«, sagte Frau Regina warm und griff nach der Hand ihres Gatten. »Es ist so schön, eure Fürsorge zu spüren.«

»Aber Regina – nun mach nur keine Geschichten«, wehrte Eggebrecht ab. »Das ist doch selbstverständlich.«

Aber Regina wußte, daß es gar nicht so selbstverständlich war – sie hatte es schon einmal ganz anders erlebt.

Schnell wurde noch einiges über die Reise gesprochen, und dann ging Regina mit Wischhusen hinüber in die Villa, um in Eile die Vorbereitungen für die Fahrt zu treffen. Man wollte keine Stunde verlieren.

*

Es war schon fast Nacht, als Frau Regina mit Wischhusen in München ankam, zu spät, um noch zu Ulrike zu fahren.

Sie suchten deshalb gleich ein Hotel auf, wo sie einen kleinen Imbiß einnahmen und dann sofort, nachdem sie noch Andreas Eggebrecht telefonisch ihre Ankunft gemeldet hatten, ihre Zimmer aufsuchten. –

Am anderen Morgen fuhren sie gleich nach dem Frühstück in das Krankenhaus, denn nun hatte Frau Regina keine Ruhe – und Wischhusen noch viel weniger, wenn er sich auch bemühte, das zu verbergen.

Ulrike schlief noch immer.

Bleich und eingefallen lag sie in den Kissen – seltsam spitz das zarte Gesichtchen, das alle jugendliche Rundung verloren hatte.

Frau Regina brach draußen in Tränen aus – das hatte sie nicht erwartet, ihr schönes, gesundes Kind so furchtbar verändert zu sehen.

Nur schwer gelang es Wischhusen, die erschütterte Frau zu trösten, war er doch selber maßlos erschrocken.

Es war beinahe eine Wohltat, als der Professor zu ihnen in das Ärztezimmer kam, in das sie die Oberschwester geführt hatte.

Der alte Arzt war sehr erstaunt, als er auch Wischhusen sah. Als er aber die Zusammenhänge erfuhr, war er sehr zufrieden.

»Dann können wir ja schließlich den Transport wagen, gnädige Frau«, sagte er zu Regina. »Da hat ja Schwester Ulrike auf dem ganzen Weg, wenn es notwendig sein sollte, was ich aber nicht glaube, ärztliche Betreuung.«

Und dann erzählte er den aufmerksam Lauschenden alles, was er wußte – und auch, was er vermutete als Ursache für die schwere Depression der jungen Schwester.

»Wir hoffen nun sehr, gnädige Frau, daß es Ihnen als Mutter gelingen wird, unsere Schwester Ulrike zum Sprechen zu bewegen, denn es tut uns außerordentlich leid, daß dieses tüchtige Menschenkind sich, wie man wohl annehmen kann, in eine Sackgasse verrannt hat, die der jungen Seele ausweglos erscheint.«

Dann besprachen die beiden Ärzte noch einige Fragen, den Transport und die Behandlung der Kranken betreffend, da man jede unnötige Erregung vermeiden wollte.

Frau Regina saß stumm dabei, sie hörte gar nicht mehr, was gesprochen wurde. Ihre Gedanken waren ganz bei ihrem Kind.

Die Herren erhoben sich und rissen damit die grübelnde Frau aus ihren Gedanken.

Mit herzlichen Worten verabschiedete sich der Professor, und dann gingen Regina und Wischhusen wieder in das kleine Zimmer, wo Ulrike immer noch schlafend lag.

Still war es in dem kleinen Zimmer, unheimlich still.

Nach langer Zeit, es mochten zwei Stunden vergangen sein, regte sich etwas in dem weißen Bett. Ein zitternder Seufzer war zu hören, die Hände glitten unruhig über die Decke.

Sogleich erhob sich Frau Regina, während Wischhusen an das Fenster trat, damit der Blick des jungen Mädchens, das zu erwachen schien, nicht sogleich auf ihn fallen würde. Er wußte ja leider nur zu gut, daß Ulrike von seiner Anwesenheit alles andere als entzückt sein würde.

Das Herz schlug Frau Regina bis zum Hals, als sie wartend am Bett stand – vorsichtig hielt sie die unruhigen Hände fest. Langsam schlug die Kranke die Lider auf. Dunkel und matt waren die Augen – noch ohne Blick, als wäre die junge Seele noch ganz weit fort.

Angstvoll schaute Frau Regina in die Augen ihres Kindes.

»Ulrike – Riekele«, flüsterte sie mit vor Erregung heiserer Stimme, aber kein freudiges Aufleuchten in den traurigen Augen, nur etwas bewußter wurde der Blick.

»Mutti – du? Wie kommst du hierher?« Langsam, ganz langsam sprach die Kranke, daß es die Mutter erschütterte und sie Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie wußte nicht, daß Ulrike noch zu sehr unter dem Einfluß des starken Schlafmittels stand und sich in einem halben Dämmerzustand befand.

»Man schrieb uns, daß du krank bist, mein Kind, und da bin ich gleich gekommen.«

»Krank – ich weiß nicht – wieso bin ich krank?« fragte das junge Mädchen mit schwerer Zunge.

»Nun – jeder Mensch wird einmal krank, mein Riekele, das ist ja nicht so schlimm. Und deshalb bin ich ja hier, daß ich mein Kind wieder gesund pflege«, sprach die Mutter weich und streichelte das blasse Gesicht.

»Jetzt werde ich dich erst einmal mit nach Hause nehmen, mein Herzenskind«, sagte Regina und mühte sich, recht hoffnungsfroh zu sprechen.

»Nach Hause? Ja?« Ulrike schien zu versuchen, sich Klarheit zu verschaffen, den Schleier, der über ihrem Denken lag, zu durchdringen.

»Hier ist auch noch jemand – der dir guten Tag sagen will, mein Riekele«, sagte Frau Regina in munterem Ton und winkte dem Mann, der reglos immer noch am Fenster stand.

In die Augen Ulrikes trat ein unruhiger Ausdruck, als Wischhusen zu ihr trat und, ihre Hand ergreifend, mit weicher Stimme sprach:

»Ja, Ulrike – ich bin gekommen, damit deine Mutter nicht allein mit solch einem kranken Hühnchen die weite Fahrt machen muß.«

Bei diesen Worten lichtete sich das Dunkel etwas, das über dem Denken Ulrikes lag – sein Anblick machte sie etwas wacher.

»Ich will aber gar nicht fahren. Weshalb soll ich krank sein?« Es schien, als prüfe sie die Gesundheit ihrer Glieder, während sie das fragte und sich dabei streckte.

Das bleiche Gesicht wurde abweisend.

»Ich weiß nicht, was das eigentlich alles soll? Mutti – bitte, geht hinaus, ich möchte mich anziehen«, sagte Ulrike deutlich verärgert, noch bevor ihr eine Antwort auf ihre letzte Frage geworden war.

»Nein, mein Kind, du wirft jetzt nicht aufstehen, sondern bleibst hübsch brav im Bettchen liegen, bis wir abreisen können. Sei lieb ...«

»Ich will aber gar nicht nach Hause – ich will hierbleiben«, kam es fast mit alter Heftigkeit über die blassen Lippen.

»Aber Kind, Liebes, du machst mir wirklich Kummer«, sagte Frau Regina ratlos, wahrend Wischhusen zurücktrat. Er hätte wissen müssen, daß sein Erscheinen die Kranke aufregen würde, und ohne daß sie es merkte, drückte er auf die Klingel.

Wenig später trat Oberschwester Gertrud ein und wünschte Ulrike einen guten Morgen. Mit einem Blick hatte sie sich mit Wischhusen verständigt.

»Na – heute sehen wir schon wieder anders aus, Schwester Ulrike. Und jetzt wird unser krankes Putthühnchen erst einmal etwas essen, nicht wahr?« Und damit eilte sie, begleitet von dem jungen Arzt, wieder hinaus.

»Was sagen Sie nur dazu, Herr Doktor?« fragte die alte Schwester bekümmert.

Der Gefragte zuckte die Schultern. »Es ist mir auch unverständlich, Schwester Gertrud. Aber lassen Sie die Kranke nun essen, und dann muß sie gleich wieder ihre Dosis bekommen. Wir werden ohnehin Schwierigkeiten haben, wenn wir mit ihr abfahren wollen. Sie will nämlich nicht.«

»Schauderhaft, wenn sich Menschen nicht helfen lassen wollen«, sagte die Schwester bedrückt, dann raffte sie sich aber in ihrer resoluten Art schnell wieder auf und verschwand in der Teeküche, um das Frühstück zu richten.

*

Seit vierzehn Tagen war nun Ulrike schon daheim. Der Mai machte in diesem Jahr seinem Namen wirklich alle Ehre. Er brachte wundervolle Sonnentage mit und verschwendete sich schier in einem Übermaß des Blühens.

Fast die meiste Zeit des Tages verbrachte Ulrike im Garten, wo sie an einem schattigen Plätzchen im Liegestuhl lag. ohne daß sie es merkte, immer treulich bewacht von Frau Regina oder der früheren Wirtschafterin, die Eggebrecht gebeten hatte, zur Unterstützung seiner Frau für einige Zeit zu kommen, was die treue Seele auch gern getan hatte.

Körperlich hatte sich Ulrike schon wieder gut erholt. Wenige Tage des Dauerschlafes hatten genügt, daß ihr Gesicht sich wieder rundete.

Die schwere Depression war zwar geschwunden, aber immer noch lag ein ungewöhnlicher Ernst auf dem lieblichen Gesicht. Man konnte nur hoffen, daß mit dem Zunehmen der körperlichen Kräfte die junge Seele auch wieder erstarken würde und die Kraft fände, das unbekannte Leid, an dem sie krankte, zu überwinden.

Heute war Sonnabend, da hatten die Herren am Nachmittag frei und saßen nun behaglich im Garten unter dem großen Kastanienbaum, von dem dann und wann ein leichter Blütenregen herunterrieselte.

Einladend war der Kaffeetisch gedeckt, und jetzt kam auch schon Frau Regina mit dem duftenden Getränk vom Hause hergeschritten.

Frau Regina hatte die kleine Tafelrunde mit Kaffee und Gebäck versorgt, das die alte Wirtschafterin so hervorragend zu backen verstand, wie man anerkennend feststellte.

Da kam auch schon Frau Lisa und brachte die Post an, denn es war für den Hausherrn ein Einschreibebrief dabei, den er quittieren mußte.

Etwas besorgt schaute Frau Regina auf, daß Frau Lisa nicht daran gedacht hatte, daß sie zuerst die Post sehen wollte, die für ihre Tochter kam, denn Ulrike beugte sich schon interessiert zu ihrem Stiefvater hinüber, ob etwas für sie dabei sei.

Eggebrecht gab dem jungen Mädchen ein großes, steifes Kuvert – eine Drucksache, wie Frau Regina etwas beruhigter feststellte.

Ulrike zog die dicke Karte aus Bütten heraus – klappte sie auf und schaute, nachdem sie gelesen hatte, fast entsetzt auf Wischhusen.

Frau Regina und Hansjörg Wischhusen wurden aufmerksam – der Hausherr las bereits seinen Brief – und war durch das lange Gutachten, das man ihm übersandt hatte, jäh aus seiner beschwingten Stimmung gerissen.

»Nun – was hast du für Nachrichten, mein Kind –?« forschte Frau Regina, besorgt in das tatsächlich erblaßte Gesicht blickend.

»Nur eine Verlobungsanzeige –«, suchte Ulrike auszuweichen.

»Und wer sind die Glücklichen?« fragte Frau Regina –

Ein scheuer Blick Ulrikes traf Wischhusen – dem das nicht entging.

»Helga Naumann hat sich mit dem Assessor Eisfeld verlobt«, sagte sie leise.

»So – so – die Helga«, sagte die Mutter sinnend. »Nun hat sie sich also wirklich mit dem langen Gerhard Eisfeld zusammengestritten –«

»Zusammengestritten?« fragte Wischhusen erstaunt, »gibt es das auch?«

»Dieses Brautpaar beweist es jedenfalls«, meinte Frau Regina lächelnd in das amüsierte Gesicht Wischhusens blickend. »Solange ich die beiden kenne, und das ist doch nun schon eine lange Zeit, haben sich die beiden gestritten. Wir Eltern haben oft über die beiden gelacht. Stimmt's Ulrike?« fragte sie die Tochter, Bestätigung heischend.

»Ja – Mutti –«, erwiderte diese gepreßt und senkte schnell wieder die Augen vor dem Blick Hansjörg Wischhusens, der sie so eigenartig ansah, als wolle er heimlich lachen und doch auch wieder so prüfend –

Und sie hatte nicht so ganz unrecht, mit ihrer Feststellung – denn Wischhusen hatte wirklich daran gedacht, ob es nicht doch möglich ist, daß auch sie sich einmal zusammenstreiten würden – und andererseits bewegte ihn die Frage, weshalb Ulrike ihn so entsetzt angesehen hatte, als sie die Anzeige las.

Irgendwie schien ihm etwas nicht zu stimmen. Oder war es nur Zufall, daß sie ihn ansah, als sie für einen Augenblick aus der Fassung gebracht worden war? Wieder zog ein dunkler Schatten über das Gesicht des Mannes.

Eggebrecht faltete nun sein Gutachten zusammen und beteiligte sich wieder an der Unterhaltung.

Wenig später erhob sich Ulrike und schritt, nachdem sie sich leise entschuldigt hatte, tiefer in den Garten hinein. Sie mußte sich erst über die gänzlich veränderte Situation klarwerden und hatte das dringende Bedürfnis, allein zu sein.

Noch konnte sie es gar nicht fassen, daß nicht Wischhusen der Mann war, den Helga Naumann liebte. Sie hatte sich so in diesen Gedanken verrannt, ständig davor gezittert, daß sie sich so schnell gar nicht damit abfinden konnte, daß alles anders geworden war.

Hatte sie sich alles nur eingebildet.

Wie unsinnig begann ihr Herz zu klopfen, als sie das dachte. Wenn all ihr Leid, all ihre Qual unsinnig gewesen wären!

Aber sogleich rief sie sich selbst zur Ordnung. Was hatte sich denn für sie geändert? Deshalb besaß sie noch immer nicht die Liebe des Mannes, dem ihr ganzes Herz gehörte.

Es könnte doch aber sein, flüsterte eine feine Stimme in ihrem Herzen.

Na, das wäre! prostete der Verstand. Schämst du dich denn gar nicht ein bißchen, Ulrike?

Aber er ist doch jetzt auch Muttis Neffe – eigentlich müßte ich sogar etwas netter zu ihm sein – suchte das Herzchen den Verstand zu erweichen.

Na – meinetwegen, aber nur ein ganz kleines bißchen. Vergiß nicht, daß du ein Mädchen bist, das sich einem Mann nicht an den Hals werfen darf. Denke daran – sonst müßte ich mich deiner schämen.

*

In der nächsten Woche schien es so, als lebe Ulrike wieder auf.

Sie nahm wieder stärkeren Anteil an ihrer Umgebung, war nicht so in sich selbst versunken, wie bisher. Auch die Augen schauten entschieden hoffnungsfroher in die Welt und strahlten wie früher.

Manchmal beteiligte sie sich auch etwas lebhafter an der Unterhaltung nach Tisch oder am Abend, wenn man noch gemütlich beisammen saß, und wich auch Wischhusen nicht mehr so ängstlich aus.

Offenbar hatte doch das kleine Herz den Sieg über den kühl wägenden Verstand davongetragen.

Voll tiefer Freude begrüßte Frau Regina die Veränderung ihres Kindes, wenn sie sich auch hütete, ein Wort darüber zu sagen. Und mit ihr freuten sich Eggebrecht und Wischhusen.

Hansjörig grübelte oft, wodurch diese augenfällige Wandlung herbeigeführt sein mochte, aber seufzend gab er es immer und immer wieder auf. Sie war und blieb ein großes Rätsel für ihn, die kleine Ulrike Fahrenkamp!

Ihre erwachende Zutraulichkeit erfüllte ihn zwar manchmal mit einem ungeheuren Glücksgefühl, aber das hielt nie lange an. Zu oft war er schon enttäuscht worden.

Deshalb kam er dem jungen Mädchen auch in keiner Weise entgegen, sondern ging nur auf ihre etwas aufgeschlossenere Art ein, mehr nicht.

Sein Herz hielt er mit beiden Händen fest – nicht ein Blick verriet dem Mädchen, was in ihm vorging.

An einem wundervollen Junimorgen saß die kleine Familie morgens im Garten beim Frühstück. Noch funkelte der Tau auf den Gräsern, aber die Vögel sangen in den Zweigen ihr jubelndes Lied, Rosen blühten überall. Golden stand die Sonne am Himmel und verhieß einen schönen Tag.

»Jetzt müßte man wieder reiten können«, meinte Ulrike versonnen, »das müßte herrlich sein.«

»Aber das würde sich ja wohl machen lassen«, sagte Eggebrecht freundlich, der sich mit seiner Frau freute, daß sich Ulrike wieder mehr dem Leben zuwandte. »Du könntest dir doch ein Pferd leihen. Soviel ich weiß, hat der Klub für solche Zwecke Pferde.«

»Das wäre nicht nötig«, sagte Wischhusen ruhig. »Ulrike kann eines von meinen Pferden reiten, wenn sie mag,«

»Meine Pferde, wie das klingt«, lachte Ulrike, »als ob der Herr Doktor einen ganzen Marstall hätte.« Sie verstand es immer nach recht gut, die direkte Anrede zu umgehen. »Aber ich würde gern von dem Angebot Gebrauch machen, wenn ich dem gestrengen Herrn nicht zu wild reite.«

Ein dunkles Rot überflog das Gesicht Hansjörg Wischhusens.

»Ich hoffe doch nicht«, sagte er kurz.

Ulrike preßte die Lippen fest zusammen.

»Dann könntet ihr ja morgen früh zusammen ausreiten«, mischte sich Frau Regina ins Gespräch, die jeden Wunsch Ulrikes, der dazu beitragen konnte, sie innerlich mehr und mehr gesunden zu lassen, immer lebhaft unterstützte. »Vielleicht könnte man ja auch wieder ein Pferd kaufen.«

»Das ist nicht notwendig, Mutti, so oft werde ich nicht reiten«, wehrte Ulrike auch sogleich ab.

Die kurze Antwort Wischhusens hatte sie wieder ganz mutlos gemacht, und sie dachte daran, daß sie ja doch bald wieder das Schwesternkleid anziehen würde. –

Im stillen tadelte sie sich, daß sie überhaupt etwas vom Reiten gesagt hatte. Da hatte er sich nur verpflichtet gefühlt, ihr eins seiner Pferde zur Verfügung zu stellen, obgleich er es bestimmt nicht gern tat. Daß sie so töricht sein konnte.

Forschend blickte sie deshalb am Abend in das Gesicht des Mannes, als er sie bat, sich am nächsten Morgen für einen gemeinsamen Ritt bereit zu halten. Wischhusen pflegte schon um sechs Uhr zu reiten, damit er rechtzeitig in die Klinik kam.

*

Ein wundervoller Morgen war angebrochen, als Ulrike an der Seite Wischhusens im Auto zum Reitstall fuhr.

Es wurde wenig gesprochen auf dieser kurzen Fahrt.

Etwas erregt betrat Ulrike den Pferdestall. Das Wiehern der Pferde, der herbe Geruch, der aus den geöffneten Türen drang, rief liebe Erinnerungen in ihr wach.

Und dann schritt sie mit Wischhusen an den Pferdeboxen entlang – hier und da stehenbleibend, bis ihre Augen einen Namen lasen ...

»Erlkönig«, sagte sie fast schluchzend, wahrend ihr die Tränen in die Augen stiegen, und da umschlang sie auch schon den Hals des Tieres und drückte ihren Kopf fest daran, während Erlkönig fröhlich wieherte und sein einstiges, schmerzlich vermißtes Frauchen beschnupperte.

»Mein Erlkönig – lieber alter Kerl, du –«, kam es bebend von ihren Lippen.

Und dann schaute Ulrike nach dem weißen Schild – sie hatte nur den Namen des Tieres gelesen – nicht mehr.

Erlkönig, stand auf dem weißen Schild – und darunter, mit kleinerer Schrift: Besitzer Dr. Wischhusen.

Ulrike erblaßte, suchte die Augen des Mannes, der still den Vorgängen gefolgt war und dessen Herz ein paar dumpfe Schläge tat, als er die Erregung des jungen Mädchens sah.

»Erlkönig – er – gehört –«

Ohne sich zu rühren, stand Wischhusen da, nur seine Augen redeten ernst und zwingend.

»Er – gehört dir?« fragte das Mädchen scheu, das Du gebrauchend, das er ihr gewissermaßen abgefordert hatte, als er nicht antwortete. Ulrike war innerlich zu tief ergriffen, als daß sie eine scherzhafte Umgehung der Anrede hätte gebrauchen mögen, nichts weiter fiel ihr ein, als das bisher so ängstlich gemiedene Du.

Ein Aufatmen – ganz tief, ging durch die Gestalt des Mannes. Heller blickten die Augen, als er antwortete:

»Ja, Ulrike, der arme Kerl tat mir leid. – Er sollte zum dritten Mal verkauft werden in kurzer Zeit. Als ich zufällig davon hörte, entschloß ich mich, Erlkönig zu erwerben.«

»Armer, lieber Kerl«, sagte Ulrike schmeichelnd und klopfte dem Pferd auf den Hals. »Wollte dich niemand behalten?« Und dann drehte sie sich Wischhusen zu und sagte mit offenem, ernstem Blick, während sie ihm die Hand reichte:

»Ich danke dir – Hansjörg«, fast unhörbar setzte sie seinen Namen hinzu.

Mit kräftigem Druck ergriff der Mann die zarte Mädchenhand.

Gewaltsam riß er sich zusammen – konnte aber nicht verhindern, daß die Hoffnung übermächtig in ihm aufkeimte, daß es doch noch ein Glück für ihn geben könnte – ein Glück, das ihm Ulrike Fahrenkamp, seine geliebte Feindin, vielleicht schenken würde.

»Willst du ihn reiten, deinen Erlkönig?« fragte er leise.

»Wenn ich darf?« gab sie zurück.

»Deshalb habe ich ihn ja – deshalb habe ich es dir ja angeboten –«, verbesserte sich Wischhusen etwas verwirrt, während ein ungläubiges Staunen in die großen Mädchenaugen trat, die mehr und mehr in einem wundersamen Glanz aufstrahlten.

Konnte denn das sein – was er da hatte aussprechen wollen – und dann doch nicht sagte – konnte es sein, daß er ihretwegen Erlkönig gekauft hatte? – In einem wahren Aufruhr schritt Ulrike hinter Wischhusen her, der sich schnell abgewandt hatte und mit der Bemerkung, ihr auch seinen Doktor Faustus zeigen zu wollen, die Stallgasse entlangschritt.

Aber der Doktor Faustus mochte ja ein sehr schönes Tier sein – er wurde auch zärtlich gestreichelt – mit ihren Gedanken war die junge Ulrike aber gar nicht dabei!

»Nun, dann wollen wir einmal versuchen, wie es ist, wenn wir zusammenreiten«, sagte Wischhusen fast fröhlich – fühlte er doch mit großer Sicherheit, daß ihm das geliebte Mädchen in dieser Stunde nähergekommen war als je zuvor. Ohne auf den Reitknecht zu warten, der sicher irgendwo draußen auf dem weiten Hof sich befinden mochte, legte er mit kräftigen Bewegungen dem Pferd den Sattel auf.

Schnell lief Ulrike zurück zu ihrem Erlkönig – wie sie ihn bei sich noch immer nannte, und begann ihn zu satteln, was sie als tüchtige Reiterin gut verstand.

Heimlich wunderte sie sich darüber, daß sogar ihr alter Sattel noch in der Box hing – fast konnte man glauben – es habe sich nichts verändert.

Froh trabten sie kurze Zeit später los, dem Reitknecht, der gerade über den Hof gelaufen kam, mit der Gerte zuwinkend. Der Gute blieb ganz verdutzt stehen, als er die Reiterin erkannte. –

Noch nie hatte Ulrike einen Morgenritt so mit vollen Zügen genossen, wie heute. Das langentbehrte Vergnügen ließ ihr Herz höher schlagen, ein frohes Lächeln umspielte den weichen Mund, und aus dem rosigen Antlitz leuchteten die blauen Augen in höchster Lebensfreude.

Seite an Seite trabten sie ohne zu sprechen dahin, in tiefen Zügen die reine Morgenluft einatmend.

Doktor Faustus wurde etwas unruhig. Das arme Tier war ja in letzter Zeit so sehr von seinem Herrn vernachlässigt worden, wurde immer nur einige Runden täglich von dem Reitknecht in der Bahn geritten – daß er jetzt einmal richtig ausgreifen wollte.

Wischhusen bemerkte sofort die wachsende Unruhe des Tieres bei dem leichten Trab – er ahnte, was in seinem guten Doktor vorging.

»Was meinst du, Ulrike – wollen wir?« unterbrach er das Schweigen und machte eine entsprechende Geste.

Das junge Mädchen verstand sogleich.

»Das fragst du auch noch?« lachte sie fast übermütig und dann, mit einem kleinen Zuruf, trieb sie ihr Pferd an, das sofort munter zu galoppieren begann.

Ein heller, jauchender Schrei entfloh ihren Lippen – als Erlkönig in gestrecktem Galopp mit ihr über den weichen Boden und dann über eine große Wiese ging. Herrgott, was ist das Leben schön! dachte Ulrike glücklich – und nicht viel anders waren die Gedanken des Mannes, der sofort der mutwilligen Reiterin gefolgt war, als sie mit ihrem Erlkönig zu galoppieren begann.

Ulrike musterte verstohlen Wischhusen, der elegant und sicher zu Pferde saß – kein Wunder, er war ja auch anerkannter, erfolgreicher Turnierreiter! Wahrhaftig, er war schon ein Mann, der ein Mädchenherz höher schlagen lassen konnte. Ausgezeichnet sah er in dem weißen Hemd aus, dessen Kragen offen war, und das in seiner blendenden Weiße sein gebräuntes Gesicht noch dunkler erscheinen ließ. Ein selten charaktervoller, männlich schöner Kopf, aus dem die Augen klar und zupackend in die Welt sahen.

Errötend blickte Ulrike sofort geradeaus, als Wischhusen sie ansah. – Nicht einen Blick warf sie mehr zur Seite, bis sie wieder vor dem Reitstall ankamen, und, ehe Wischhusen helfen konnte, vom Pferd sprang.

Mit strahlenden Augen stand das zierliche Geschöpf vor dem großen Mann – der wie gebannt in die jetzt in dunklem Blau schimmernden Augen blickte. Dunkle Glut stieg in das reizende Gesicht, als ihm Ulrike jetzt trotz ihrer Befangenheit die Hand entgegenhielt und mit warmer Stimme sagte:

»Ich danke – dir, Hansjörg«, und hastig, als habe sie es jetzt sehr eilig, heimzukommen, entzog sie ihm wieder ihre Hand.

Gerade wollten sie die Pferde in den Stall führen, als auch schon der Reitknecht herbeieilte und sie ihnen abnahm.

»Na – da wird sich aber der Faustus gefreut haben, daß er endlich mal wieder mitdurfte, Herr Doktor – der war schon immer ganz eifersüchtig auf den Erlkönig, weil Herr Doktor immer bloß den geritten hat. Na – und der Erlkönig, der wird sich auch mächtig gefreut haben – über das gnädige Fräulein – Tiere haben 'ne Seele – und ein gutes Gedächtnis – der hat Sie bestimmt wiedererkannt.«

»Ja – das hat er wohl«, sagte Ulrike freundlich, und konnte doch ein leises Schwanken in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

Die Entdeckung, daß Wischhusen sein altes, treues Pferd Erlkönig zuliebe vernachlässigt hatte, ließ ihre Hoffnung immer höher steigen.

*

Mittags, nach dem Essen, suchte Ulrike wieder ihr Lieblingsplätzchen im Garten auf. Noch immer pflegte sie dort ein Stündchen zu schlafen.

Es war wirklich ein idyllischer Winkel, den sie sich da auserkoren hatte – ganz hinten am Ende des weiten Gartens. Ein bißchen verwildert zwar, aber gerade deshalb besonders schön.

Wohlig streckte sie sich aus, nachdem sie das weiße Kleid sorgsam glattgestrichen hatte. Einen Augenblick träumte sie mit offenen Augen in das lichte Gezweig der Birken – über denen sich in seidigem Blau der Himmel wölbte. Eintönig klang das Summen der Bienen, die Lider mit den langen, schöngebogenen dunklen Wimpern senkten sich über die Blauaugen – Ulrike schlief.

Hansjörg Wischhusen fand heute keine Ruhe, die er sonst immer, ebenfalls im Liegestuhl, auf dem Balkon seines Zimmers hielt, der, von der mächtigen Krone einer Kastanie beschattet, wohltuend kühl war.

Schon nach wenigen Minuten sprang er wieder auf und ging hinunter in den Garten.

Wie unter einem Zwang suchte er den ihm bekannten Winkel auf, den Ulrike bevorzugte.

Er hätte nicht zu sagen vermocht, weshalb er Ulrike jetzt sehen wollte. Sehnsucht, nichts als brennende Sehnsucht trieb ihn, wenigstens einen Blick auf das geliebte Mädchen zu werfen. Fast mußte er über sich selbst lächeln, als er, wie ein verliebter Primaner, mit vorsichtigen Schritten auf die blühende Wildnis zustrebte.

An den Stamm einer Birke gelehnt, stand er dicht vor dem schlafenden Mädchen und nahm das liebliche Bild in sich auf.

Wischhusen machte eine Bewegung, – wollte, so heimlich wie er gekommen, wieder gehen. Da schlug sie die Augen auf – sah den Mann – der unweit von ihr stand.

Verträumt, mit einem Ausdruck unsagbarer Innigkeit, hing ihr Blick an der hohen Gestalt. Dann aber, wie sich besinnend, richtete sie sich hastig auf, stand verwirrt und befangen vor ihm, dessen Augen sie nicht losließen.

Tiefes Schweigen hing zwischen den beiden Menschen – nur die Augen fragten und antworteten. Immer drängender, immer heißer brannten die Augen des Mannes.

»Ulrike –«, mit dunkler, fast ein wenig heiserer Stimme rief es Wischhusen.

In ihren Augen lag ein wundergläubiges Staunen.

Da hielt es den Mann nicht länger.

»Meine Ulrike!« und dann hielt er die zarte Gestalt in seinen Armen.

Wie ein Hauch, so leise klang ein »Ja«, nichts weiter als das kleine Wörtchen an das Ohr des Mannes, und das genügte ihm wohl.

Er stieß einen unterdrückten Jubelruf aus – und dann drückte er seine Lippen ganz fest auf den jungen, roten Mund.

Mit einer Seligkeit ohnegleichen erwiderte Ulrike diesen Kuß, der all ihr Leid ins Wesenslose versinken ließ, spürte sie das harte Schlagen seines Herzens.

»Oh, du meine – meine Ulrike«, stammelte Wischhusen glückstrunken, den Kopf des Mädchens in beide Hände nehmend und ihr tief in die in wundersamem Glanz leuchtenden Augen schauend.

»Habe ich dich endlich, mein Mädchen – mein Liebes du?« fragte er mit bebender Stimme. »Hast du mich denn wirklich lieb, Ulrike?«

»Mehr als mein Leben liebe ich dich, Hansjörig, lieber Hansjörig«, sagte Ulrike fast feierlich.

Fester zog der Mann das Mädchen in seine Arme, ließ all seine mühsam zurückgedrängte Leidenschaft über das junge Menschenkind hinwegbrausen, das seine Zärtlichkeiten mit scheuer Hingabe erwiderte.

Es dauerte lange, bis die beiden Glücklichen aus ihrer Versunkenheit erwachten.

Mit einer verlorenen Bewegung strich sich Ulrike das goldig flimmernde Haar aus der Stirn.

»Kann es denn wahr sein?« fragte sie zaghaft.

»Ja, Ulrike – ja!« jubelte Wischhusen. Der ernste Mann war wie verwandelt, das schöne Männergesicht wie erleuchtet von einem Glück, das ihm die Brust zu sprengen drohte.

»Ich kann es immer noch nicht fassen, Hansjörig«, sagte Ulrike verträumt.

»Daß ich dich liebe – Ulrike? Oh, glaube es mir – mehr als alles auf der Welt liebe ich dich, so lange schon!«

»Schon lange, Hansjörig?« fragte das Mädchen ungläubig.

»Ja, mein Liebes, ich glaube sogar, schon seit ich dich kenne, gewußt habe ich es aber erst in Norderney.«

»Damals schon –? Oh, Hansjörg!« schluchzte Ulrike auf.

»Ja, mein Lieb, ich habe ja soviel nachzuholen«, sagte Wischhusen verhalten.

»Das haben wir wohl beide, mein Liebster, denn meine Liebe zu dir, das war doch meine Krankheit. Sie hat mich so elend werden lassen.«

Unendlich viel hatten sie einander zu erzählen – all das verschwiegene Leid vertrauten sie sich gegenseitig an.

Bis irgendwo eine Uhr mit langhallenden Schlägen mahnte.

»Wo ist denn nur die Zeit geblieben?« wunderte sich Hansjörg.

»Dem Glücklichen schlägt keine Stunde«, neckte Ulrike mit strahlenden Augen.

Ganz langsam gingen sie durch die verschlungenen Wege dem Hause zu – hin und wieder stehendbleibend, um sich zu küssen, und immer noch erzählend, von dem, was war.

Wieder schlug eine Uhr. Erschrocken sahen sich die beiden an, dann strebten sie eilig weiter. Längst war Kaffeezeit, und in der Klinik warteten die Patienten.

Frau Regina und Eggebrecht hatten sich schon gewundert, wo die »Kinder« blieben – aber als sie die beiden jetzt Arm in Arm daherkommen sahen, mit Augen, aus denen das helle Glück leuchtete, blieb ihnen buchstäblich vor Überraschung der Mund offen stehen.

»Andreas?« fragte Regina hilflos.

Dieser lachte herzlich auf.

»Ja, Regina, ich glaube, du wirst Schwiegermutter, die reizendste Schwiegermama, die es geben kann«, sagte er zärtlich, und dann erhoben sich beide, nahmen sich bei der Hand und gingen dem glücklichen Paar entgegen.

 

– Ende –